Cassidy schwitzte. Schon wieder.
Der Aufzug kroch im Schneckentempo hoch. Nervös starrte sie auf die Anzeige. Sie war im dritten Stock, nun im vierten. Die Türen öffneten sich und ein ihr unbekannter Mitarbeiter stieg zu. Einer von über siebenhundert. Sie grüßte freundlich, nickte ein wenig. Weiter ging's nach oben. Und immer weiter.
Die Unterlagen drückte sie gegen die Brust wie einen Schild. Mit den Fingern klopfte sie in monotonem Rhythmus dagegen. Ganz leise, schließlich wollte sie niemanden auf sich aufmerksam machen. Dann endlich: Ping! Der Aufzug hielt im zehnten Stock, in der Chefetage.
Seit beinahe einem Monat arbeitete sie hier. Und genauso lange machte sie nichts anderes, als von einem Ort zum anderen zu rennen. Sie war Mädchen für alles, meist trug sie die Post aus, so wie jetzt. Sie hatte Briefe für die Chefin dabei und Unterlagen, die unterschrieben werden mussten. Kein Blatt Papier verließ dieses Gebäude, ohne vorher von Olivia Cooper, die im ganzen Haus hinter vorgehaltener Hand Grande Dame genannt wurde, abgesegnet worden zu sein.
Die Chefin saß im obersten Stockwerk im hübschesten Büro, das Cassidy je gesehen hatte. Bald würde sie wieder über die weiß schimmernden, blank polierten Marmorfliesen laufen, um der Chefin des riesigen Chemiekonzerns Biological Chemicals die Unterlagen zu bringen.
Bemüht selbstbewusst schritt sie den Gang entlang und trat an die Rezeption.
»Ich bringe hier Unterlagen für Mrs Cooper«, sagte Cassidy höflich. Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Die zwei Damen, die im Empfangsbereich saßen, straften sie mit abfälligen Blicken. Schließlich war sie nur das Postmädchen mit der dicken Brille, dem Pferdeschwanz und der Billigjeans. In den oberen Etagen waren Designerkleidung und Hochsteckfrisuren vermutlich Pflicht. Die zwei Frauen waren hübsch zurechtgemacht, auffälliger Schmuck baumelte um Hälse und Handgelenke.
Eine der beiden hob endlich den Hörer ab und kündigte Cassidy bei der Grande Dame an. Nachdem sie aufgelegt hatte, sagte sie: »Mrs Cooper erwartet Sie.«
»Danke!«, entgegnete Cassidy freundlich und ging eilig auf die große Doppeltür zu.
Mrs Cooper mochte es pompös, das wusste jeder. Der Interior Designer gehörte zu den besten weltweit, hatte Cassidy gehört. Klammheimlich ging sie ins Innere und erschrak. Die Grande Dame war nicht allein. Ihr Sohn war auch da.
Logan Cooper war mit Abstand der bestaussehende Mann, den Cassidy je gesehen hatte. Leider nahm er sie nie richtig wahr. Normalerweise huschten seine himmelblauen Augen einfach über sie hinweg. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sich das Bild von ihr auf seiner Netzhaut verflüchtigt. Dabei sahen sie sich eigentlich recht häufig, sie begegnete ihm ständig im Aufzug, wenn sie wieder mal von ganz unten nach ganz oben geschickt wurde – und wieder nach ganz unten.
Mutter und Sohn unterhielten sich. Während Letzterer eine Mappe in der Hand hielt, in der er eifrig blätterte, stand die Grande Dame vor der Fensterwand und blickte hinab auf das gemeine Volk.
Olivia Cooper war das Herz dieses Konzerns, der Motor, der alles am Laufen hielt. Sie war nicht nur die Geschäftsführerin und Gründerin von Biological Chemicals, sie war wie ein Familienoberhaupt, die Frau an der Spitze.
»Du hättest ihn nicht feuern sollen«, sagte sie plötzlich an Logan gewandt.
»Er war ineffizient. Du beschwerst dich doch sonst nie«, entgegnete der Juniorchef.
Cassidy ertappte sich dabei, wie sie sich vorstellte, durch Logans dunkelbraunes volles Haar zu fahren, während sie seine wunderbaren Lippen küsste ...!
Er sah immer makellos aus: Die maßgeschneiderten Anzüge saßen perfekt, das Kinn war glattrasiert.
Wie wohl jede Frau in diesem Gebäude, himmelte sie Logan Cooper an. Sie war nicht stolz darauf.
Bevor sie noch mit dem Sabbern anfing, räusperte sie sich rasch. Zwei Augenpaare waren augenblicklich auf sie gerichtet.
»Ach, was bringen Sie mir heute?«, fragte Mrs Cooper.
»Ähm, die Marketingabteilung wünscht, dass Sie sich dies hier ansehen.« Cassidy stolperte zum Schreibtisch und legte dort vorsichtig die Unterlagen hin. Ihr war bewusst, dass die beiden auf jede ihrer Bewegungen achteten. Stellte sie sich tollpatschig an? Sicherlich. Ihr Gesicht glühte, das war ihr peinlich. Sie genierte sich, was sie noch stärker erröten ließ. Es war ein Teufelskreis.
Die Grande Dame seufzte und tippte unruhig mit dem Zeigefinger auf die aufgeklappten Schnellhefter.
»Das war’s vorerst, Logan«, sagte sie streng.
»Soll das bedeuten, ich soll dir nicht deine Zeit stehlen, Mutter?«, meinte er unfreundlich.
»Genau das bedeutet es. Dein Scharfsinn fasziniert mich immer wieder.«
Logan Cooper schnaubte spöttisch, bevor er die Mappe unter den Arm klemmte und aus dem riesigen Büro stürmte, ohne sich noch einmal umzudrehen. Cassidys Herz klopfte wie verrückt, als er an ihr vorbeirauschte. Er roch so wunderbar!
Sie hatte ihn noch nie wütend gesehen. In der Regel war er beherrscht, ein kühler Prinz, dessen undurchschaubare Miene es unmöglich machte, in seinem Innersten zu lesen. Vermutlich träumten genau deswegen so viele Frauen davon, ihm nahe sein zu können. Sie wollten Logan Coopers Seele ergründen. Wollte Cassidy das auch?
»Nun, meine Liebe …«, begann die Chefin. »Wie gefällt es Ihnen bei uns?« Energisch setzte sie sich hin und studierte die Unterlagen, die Cassidy ihr gebracht hatte.
»Sehr gut.« Die Grande Dame hatte ihr in den letzten Wochen kein einziges Mal eine derartige Frage gestellt.
»Sie mögen also Ihren Job?«
»Natürlich. Ich fühle mich geehrt, für Biological Chemicals zu arbeiten.« Mrs Cooper hob eine Augenbraue, nur die linke. Ihr Gesicht sah nun ganz asymmetrisch und beinahe furchterregend aus. Die Chefin war spargeldürr, trug ihr graues Haar sehr kurz und schminkte sich kaum. Sie war weit weniger feminin und elegant als ihre Sekretärinnen draußen vor der Tür.
»Sie tragen also gerne Post aus?«, fragte sie. Cassidy schluckte. Fürs Postaustragen war sie eigentlich nicht eingestellt worden.
»Ich möchte auch meine anderen Fähigkeiten unter Beweis stellen, aber ja, ich … trage gerne Post aus.« Unzufriedene Mitarbeiter konnten rasch durch zufriedene ersetzt werden, also nahm sich Cassidy vor, ihre Zunge zu hüten.
»Ist das so?«, erwiderte Mrs Cooper nüchtern. Es war ihr anzusehen, dass sie Cassidys Worten keinen Glauben schenkte. Plötzlich lehnte sie sich in dem großen Schreibtischsessel zurück, schlug die Beine übereinander und betrachtete Cassidy von ihren ausgetretenen Sneakern bis zum dunklen Haaransatz, der nicht zu ihrer blonden Mähne passte.
»Sie sind recht unscheinbar …«, stellte Mrs Cooper fest.
»Das tut mir leid«, rutschte es Cassidy heraus, woraufhin die Frau, die einen Millionenkonzern aufgebaut hatte, nur süffisant lächelte.
»Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern?«, fragte sie.
Cassidys Mund fühlte sich trocken an. Erwartete die Chefin eine Antwort auf diese Frage?
»An Logans Vater«, erzählte die Grande Dame im Plauderton. »Er ist genauso … unscheinbar und natürlich. Tollpatschig, aber herzlich.« Sie hob den Hörer des Tischtelefons ab, drückte auf eine Taste und sagte: »Logan, schick mir die Unterlagen von …« Sie sah zu Cassidy. »Wie heißen Sie, meine Liebe?«
»Cassidy Meyer.«
Mrs Cooper wiederholte den Namen und legte sofort wieder auf. Dann blickte sie auf ihren Computerbildschirm und schien nichts und niemanden um sich herum mehr wahrzunehmen.
Cassidy stand wie angewurzelt da und wusste nicht, wie sie sich nun verhalten sollte. Welche Unterlagen hatte Mrs Cooper von ihrem Sohn angefordert? Logan war derjenige, der das Personal auswählte. Jeder, der in diesem riesigen Gebäude arbeitete, hatte ihn persönlich von seiner Eignung überzeugen müssen. Auch Cassidy hatte ihm vor einigen Wochen gegenübergesessen und erstaunlicherweise war es ihr gelungen, ihn zu beeindrucken, auch wenn sie viel zu viel gestottert hatte und ständig errötet war.
»Ihr Lebenslauf ist ziemlich löchrig«, stellte Mrs Cooper plötzlich fest.
»Ähm …« Cassidy war in Deutschland aufgewachsen. In München hatte sie Statistik studiert. Es war ihr nicht gelungen, das Studium in der Mindestdauer abzuschließen. Später hatte sie verschiedene Jobs ausgeübt, die für ihre Karriere nicht relevant gewesen waren. Irgendwie war sie vom Weg abgekommen. Heute war sie fast dreißig und hatte kaum Berufserfahrung. Nach London zu gehen, war eine spontane Entscheidung gewesen. Ihre Mutter war in Banham aufgewachsen, einem kleinen englischen Dorf in Norfolk, hundertsiebzig Kilometer von London entfernt. Cassidy war zur Hälfte Britin.
Mrs Cooper wartete auf eine Antwort. Das war nicht gut. Cassidy schwitzte noch stärker. Das war erst recht nicht gut.
»Mein Leben war turbulent«, versuchte sie zu erklären.
»Welches Leben ist das nicht?«, meinte die Chefin unbeeindruckt.
Cassidy schwieg. Seit drei Monaten lebte sie in London. Einen Job zu finden, war weit schwieriger gewesen, als sie angenommen hatte. Das Geld brauchte sie dringend. Die Miete bezahlte sich nicht von selbst, dabei war ihr Apartment, das sie sich mit zwei Mitbewohnern teilte, winzig.
Mrs Cooper richtete wieder das Wort an sie. »Meine Liebe, mit Ihrem Lebenslauf werden Sie bei uns nicht weit kommen. Sollten Sie also geglaubt haben, sich Etage für Etage hocharbeiten zu können, dann muss ich Sie enttäuschen. Unsere Stellen sind mit Spitzenleuten besetzt, wir haben die weltbesten Chemiker, Controller, Marketingexperten –«
»Ich weiß!«, warf Cassidy ein. Jetzt hatte sie die Grande Dame unterbrochen. Das wagte wohl kaum einer! Ängstlich biss sie sich auf die Unterlippe.
»Wissen Sie das wirklich, meine Liebe?«, fragte Mrs Cooper streng. »Was wollen Sie dann hier? Mit Ihrer Ausbildung können Sie einen besseren Job ergattern, aber nicht bei uns.«
»Wollen Sie mich feuern?«, fragte Cassidy geradeheraus. Sie verstand nicht, was hier im Moment passierte und warum sie das Gefühl hatte, auf der Anklagebank zu sitzen. Hatte sie etwas falsch gemacht?
»Nein«, sagte Mrs Cooper kühl. Sie faltete ihre Hände auf dem Schreibtisch. »Ich habe einen anderen Job für Sie. Ich möchte, dass Sie als persönliche Assistentin für meinen Sohn arbeiten.«
Cassidy stutzte. Sie schob ihre dicke Brille die Nase hoch. Das Ding rutschte ständig nach unten, wenn sie schwitzte.
»Ich soll für Ihren Sohn arbeiten …?«, meinte sie verunsichert. Vermutlich wurde ihr Aufgabengebiet somit vergrößert und das wünschte sie sich sehnlichst. Sie hatte sich hier beworben, um Daten zu analysieren, nicht, um Post auszutragen und Stunden vor der Kopiermaschine zu verbringen.
»Mein Sohn braucht eine Frau an seiner Seite, die, nun ja …«, sagte die Chefin. Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen und einen Moment lang wurden ihre Gesichtszüge weich. »Er braucht eine Frau, die anders ist als alle Frauen, mit denen er bislang zu tun hatte.«
»Ich werde diese Aufgabe gerne übernehmen und mein Bestes geben«, ratterte Cassidy herunter. Sie durfte sich diese Chance nicht entgehen lassen! Als Logan Coopers persönliche Assistentin zu arbeiten, war sicher lehrreich. Aber ihm so nahe zu sein … Würde sie das hinkriegen? Wenn er vor ihr stand, fiel es ihr für gewöhnlich schwer, klar zu denken.
»Sie sollen ihn verführen«, sagte Mrs Cooper plötzlich.
»Ich soll … was?«, fragte Cassidy erstaunt. Sie musste sich verhört haben! Brachte allein der Gedanke an Logan sie schon derart durcheinander, dass sie an akustischen Halluzinationen litt?
»Sie sollen ihn verführen und ihm dann das Herz brechen«, erklärte die Grande Dame geduldig. Das Blut in Cassidys Kopf rauschte, wieder war sie rot! Und sie schwitzte jetzt mehr denn je.
»Warum?«, fragte sie perplex. Warum sollte Logans Mutter etwas Derartiges wollen?
Die Chefin blickte wieder auf den Computerbildschirm.
»Logan kennt nur die Sonnenseite des Lebens. Mag sein, dass ich die Schuld daran trage. Dieses Versäumnis möchte ich nachholen.«
»Wie soll ein gebrochenes Herz da helfen?«, hakte Cassidy schüchtern nach.
Machte sich Mrs Cooper über sie lustig? Nie und nimmer wäre sie in der Lage, Logans Herz zu erobern oder gar zu brechen. Er bemerkte sie ja gar nicht! Und das nahm sie ihm nicht übel. Cassidy was schlecht darin, andere für sich zu gewinnen. Sie hinterließ stets einen miserablen ersten Eindruck.
»Ein gebrochenes Herz kann einen Menschen für immer verändern. Nun, wie lautet Ihre Antwort?«, meinte die Chefin.
Cassidy blinzelte irritiert. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Dieses Angebot war höchst unmoralisch.
»Wenn Sie keine anderen Aufgaben für mich haben, dann entschuldigen Sie mich jetzt bitte«, sagte sie bestimmt. Cassidy hatte sich ganz sicher nicht bei Biological Chemicals beworben, um den Juniorchef an der Nase herumzuführen.
Sie wollte das riesige Büro verlassen, als Mrs Cooper sie aufhielt.
»Warten Sie, meine Liebe!«, rief sie ihr zu. Cassidy sah über ihre Schulter zurück. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Die Grande Dame schien sich über sie zu amüsieren. »Und dickköpfig noch obendrein … Sie sind wirklich die perfekte Kandidatin für diesen Job …«
»Nein, das bin ich ganz sicher nicht«, sagte Cassidy matt. Sie war kein schlechter Mensch, vielleicht kriegte sie deswegen im Leben nichts auf die Reihe. Erfolgreich zu sein, erforderte ein gewisses Maß an Skrupellosigkeit. Plötzlich fragte sie sich, wie Mrs Cooper es geschafft hatte, dieses riesige Unternehmen aufzubauen. Wie viele Leichen wohl in ihrem Keller lagen?
»Einen starken Willen, das wird immer besser … Wissen Sie, wie viel ich Ihnen für diesen Job anbiete?« Cassidy schüttelte den Kopf. Die Chefin nahm einen Zettel und schrieb etwas darauf. Dann faltete sie ihn langsam und schob ihn Cassidy hin.
»Ich bin nicht an Ihrem Angebot interessiert«, stellte Cassidy noch einmal klar.
»Seien Sie nicht so dumm, meine Liebe. Wenn man im Leben etwas erreichen will, darf man niemals auf die nächste Chance warten, sondern muss die erste ergreifen.«
Cassidys Beine setzten sich ganz von alleine in Bewegung. Sie war neugierig. Wie viel war es der Grande Dame wert, das Herz ihres Sohnes zu brechen?
Ihr Atem stockte, als sie den kleinen Zettel auseinanderfaltete und die Zahl darauf sah.
»Sollten Sie diesen Job erfolgreich erledigen, dürfen Sie sich über diese Summe auf Ihrem Konto freuen.«
Um so viel zu verdienen, hätte Cassidy in ihrem derzeitigen Job mindestens zehn Jahre arbeiten müssen.
»Was sagen Sie dazu? Meine Zeit ist knapp bemessen.« Die Grande Dame blickte auf ihre schmale Uhr am Handgelenk. Weißgold, vermutlich. Das Accessoire war hübsch und passte zu ihrem weißgrauen Haar …
Cassidys Gedanken drifteten ab. Wo war sie hier nur hineingeraten?
»Ich kann das Herz Ihres Sohnes nicht brechen«, sagte sie erneut. »Dafür müsste ich es erst erobern und das wird mir nicht gelingen.« Cassidy wusste, dass jemand wie Logan Cooper niemals Gefallen an ihr finden oder sich gar unsterblich in sie verlieben würde.
»Sie wären also grundsätzlich an dem Job interessiert?«, hakte Mrs Cooper nach.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Cassidy mit fester Stimme. Sie legte den Zettel wieder hin und flüchtete aus dem Büro.
Spätestens, wenn die Chefin die Unterlagen durchgesehen hatte, würde sie erneut gerufen, um die Papiere nach unten zu bringen.
Mit gesenktem Kopf ging sie an der Rezeption vorbei. Die Damen straften sie wie üblich mit abfälligen Blicken. Sie konnte die kleinen Schweißperlen, die ihre Stirn benetzten, deutlich auf ihrer Haut spüren.
Mit pochendem Herzen hechtete sie zum Aufzug und huschte in die Kabine. Peinlich berührt betrachtete sie ihr feuerrotes Gesicht in der Spiegelwand. Wie erwartet, bot sich ihr ein schauerlicher Anblick: Nicht nur ihre Wangen glühten, auch ihre Ohren waren knallrot! Ständig errötete sie. Wenn ihr etwas unangenehm war, oder wenn sie sich genierte – was häufig vorkam –, oder wenn sie einfach nur verunsichert oder nervös war.
Die Aufzugtüren öffneten sich und plötzlich stand Logan Cooper wieder vor ihr. Sein Büro war im ersten Stock, also drückte er auf die Eins.
Cassidy hatte einen Schritt nach hinten gemacht, ohne es zu bemerken. Logan schüchterte sie immer ein, da hatten er und seine Mutter etwas gemeinsam. Sie war bemüht, ihm nicht zu nahe zu kommen. Ihr Gesicht würde sonst noch Feuer fangen!
Er hatte sie weder begrüßt, noch ihr in die Augen gesehen. Wie immer ignorierte er sie. Der großartige Logan Cooper hatte Wichtigeres zu tun, als mit Mitarbeitern Grußfloskeln auszutauschen oder gar einige Worte mit ihnen zu wechseln. Cassidy versuchte vergebens, ihre glühenden Wangen unter Kontrolle zu kriegen, während ihr Blick auf Logans Rücken gerichtet war. Sie mochte seine breiten Schultern – wie so viele andere Frauen vermutlich auch. Jede Arbeitskollegin, mit der sie sich bisher unterhalten hatte, war wegen Logan Cooper ins Schwärmen geraten.
Er war auch wirklich ein Mann, dem man nicht alle Tage begegnete – außer man arbeitete hier. Und das lag nicht nur an den feinen Gesichtszügen und dem tollen Körper, sondern an seiner ganz besonderen Ausstrahlung. Logan war seriös und kultiviert. Er schien über allem zu stehen und sich von nichts und niemandem einschüchtern zu lassen. Nicht einmal von seiner Mutter und die schüchterte viele Menschen ein!
Der Aufzug hielt erneut. Jemand stieg zu. Cassidy erschrak, als Logan nach hinten trat. Er stand nun genau neben ihr. Sie wagte kaum aufzusehen. Am Ende tat sie es doch. Ihre Brillengläser waren beschlagen, so sehr glühte ihr Gesicht.
Zum Glück kriegte Logan nichts davon mit, er schaute sie ja nicht an. Für ihn war sie unsichtbar.
Seine Mutter wollte also, dass sie sein Herz stahl? Das war absolut unmöglich.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich und Logan verließ die Kabine.
Endlich kühlten Cassidys Wangen ab.
Logan war wieder auf dem Weg zu seiner Mutter. Es war der dritte Besuch, den er ihr heute abstattete. Ohne anzuklopfen, rauschte er in ihr Büro.
»Was ist denn schon wieder?«, sagte er forsch. Seine Mutter hatte nicht einmal aufgesehen. Ein Meteorit könnte draußen auf der Straße einschlagen, ihre starre Miene würde keinerlei Regung zeigen. Dabei wusste er ganz genau, dass sie alles um sich herum wahrnahm.
Der Grande Dame entging nichts.
»Deine schlechte Laune ist kaum mehr auszuhalten. Arbeite daran!«, gab sie streng zurück.
»Meine schlechte Laune rührt daher, dass du mit meinen Personalentscheidungen in letzter Zeit nicht mehr zufrieden bist. Davon abgesehen fühle ich mich wie ein Laufbursche.« Er schmiss ihr die Bewerbungsunterlagen von Cassidy Meyer auf den Schreibtisch.
In dieser Firma gab es niemanden, mit dem er sich öfter unterhielt als mit seiner Mutter. Seit Kurzem schien es ihr aber nicht mehr zu genügen, wichtige Dinge am Telefon zu besprechen. Sie verlangte von ihm, dass er in ihr Büro kam. Und da war er nun wieder, zum dritten Mal heute. Dabei war es noch nicht einmal Mittag.
»Warum interessiert dich plötzlich dieses Mädchen so sehr?«, fragte er.
»Du meinst Cassidy?«
»Du heckst doch wieder was aus …« Seine Mutter tat nie etwas ohne Grund. Eine derart unbedeutende Mitarbeiterin geriet für gewöhnlich nicht in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit.
Hektisch blätterte sie durch die Unterlagen. Darin befand sich nichts, was er ihr nicht schon per Mail geschickt hatte.
»Ich will, dass du sie feuerst«, sagte seine Mutter plötzlich.
»Warum?«
»Der Job passt nicht zu ihr.«
Der Job passte nicht zu einer Mitarbeiterin? Logan beschäftigte sich tagtäglich mit der Frage, welcher Mitarbeiter für den Job der richtige war – und nicht umgekehrt.
Er trat zur Fensterwand und sah nach unten auf die belebte Straße. Eigentlich hatte er Höhenangst, aber seine Mutter hatte ihm diese schon vor vielen Jahren auszutreiben versucht. Sie hatte ihn auf das Monument hochgeschleppt, eine einundsechzig Meter hohe dorische Säule im Zentrum Londons, die an den großen Stadtbrand von 1666 erinnern sollte. Dreihundertelf Stufen führten hoch zur Aussichtsplattform. Die letzten fünfzig hatte sie ihn tragen müssen. Damals war er sechs Jahre alt gewesen und für sein Alter schon recht groß und schwer.
Angst lähmt, pflegte seine Mutter zu sagen.
Dort, in luftiger Höhe, hatte er nach unten blicken müssen. Eine halbe Stunde lang. Er hatte ganz fürchterlich geweint, was der Grande Dame natürlich sehr missfallen hatte. Irgendwann war er des Weinens überdrüssig geworden.
»Das war alles, du kannst jetzt gehen«, sagte sie. Er verschränkte die Arme und sah nach oben, in den wolkenlosen Himmel. In London regnete es ständig, aber heute nicht.
»Was ist los mit dir? Gibt’s was, das ich wissen sollte?«, fragte er mürrisch. Sie verheimlichte etwas vor ihm, da war er sich sicher. In den letzten fünf Jahren hatte sie sich kein einziges Mal in seine Arbeit eingemischt. Sie wusste, dass er gute Leute auswählte.
Bei Biological Chemicals herrschte eine strenge Hierarchie. Die Vorgesetzten einer jeden Abteilung erstatteten ihm regelmäßig Bericht über die Leistung der neuen Mitarbeiter. Über Cassidy hatte er nur Gutes gehört.
»Etwas, das du wissen solltest? Ich will, dass du dieses Mädchen feuerst, das ist alles.« Sie öffnete die Unterlagen und hielt Cassidy Meyers Lebenslauf hoch. Mit ihren schmalen Fingern deutete sie auf das Foto.
»So sieht sie aus. Du solltest dir die Gesichter deiner Mitarbeiter merken, vor allem dann, wenn du sie feuerst.«
Jetzt lachte er laut auf. »So sentimental kenne ich dich gar nicht.«
»Cassidy war vorhin hier, erinnerst du dich?«, sagte seine Mutter harsch. Er kannte die Gesichter aller Mitarbeiter, er brauchte keine Fotos. Die Kleine war recht unscheinbar und errötete ständig. Aber sie war eifrig und bemüht, sie lernte schnell und kam nie zu spät. Für den Job, den sie ausübte, war sie überqualifiziert. Beim Bewerbungsgespräch hatte sie einen verzweifelten Eindruck auf ihn gemacht. Sie war auf diesen Job angewiesen. Verzweifelte Menschen arbeiteten hart.
»Nein, ich erinnere mich nicht«, log er.
»Wenn du sie nicht feuern willst, solltest du einen anderen Job für sie suchen.«
»Wie kommst du darauf, dass ich sie nicht feuern will?«, erwiderte er nüchtern.
»Du solltest dir eine Assistentin zulegen, dann musst du auch nicht mehr persönlich in meinem Büro erscheinen. Cassidy könnte das für dich übernehmen.«
Er brauchte keine persönliche Assistentin. Im Gegensatz zu seiner Mutter verzichtete er lieber darauf, zwei Gouvernanten mit starren Mienen wie Wachhunde vor seinem Büro zu positionieren.
»Und sie könnte dir Bericht erstatten, meinst du wohl?« In letzter Zeit wollte sie ständig wissen, was er so trieb.
»Ich bin deine Mutter, Logan. Aber vor allem stehe ich an der Spitze von Biological Chemicals. Und ich will wissen, was in diesem Gebäude vor sich geht. Wenn ich also über deine Arbeit informiert werden will, dann habe ich jedes Recht dazu. Ich bestehe darauf, dass du Cassidy Meyer zu deiner persönlichen Assistentin machst.«
Für die Grande Dame hatte es immer nur die Firma gegeben. Logan stand seit jeher an zweiter Stelle. Oder an dritter. Die vielen Liebhaber, von denen sie nach wenigen Monaten meist schon gelangweilt war, standen in ihrer Gunst höher als ihr eigener Sohn.
Wenn Logan etwas in seinem Leben gelernt hatte, dann, sich vor Frauen in Acht zu nehmen.
Er schnaubte verächtlich, schnappte sich die Unterlagen und verließ das Büro der Grande Dame.
Seine Mutter war eine knallharte Frau, deren Herz schon vor Jahrzehnten erkaltet war. Vielleicht besaß sie auch gar keins oder hatte nie eins besessen.
Irgendetwas schien sie zu beschäftigen, deswegen verhielt sie sich seltsam.
Ihm blieb im Moment nichts anderes übrig, als ihre Anweisungen umzusetzen. Genervt schlug er die Unterlagen wieder auf, während er auf den Aufzug wartete. Auf dem Foto war Cassidy gut getroffen. In natura war sie weniger hübsch. Die Türen öffneten sich und er lugte über den Rand des Schnellhefters. Cassidy Meyer erkannte er bereits an ihren ausgetretenen Sneakers. Seufzend hob er den Kopf und sah ihr ins Gesicht.
Ihre Wangen waren feuerrot. Außerdem vermied sie es, ihm in die Augen zu sehen. Litt sie an einer Sozialphobie? Oder errötete sie nur seinetwegen? Beides machte sie nicht zur idealen Kandidatin für ihren zukünftigen Job. Eine persönliche Assistentin, die in seiner Gegenwart rumstotterte und rot wurde, konnte er nicht gebrauchen.
Sie nuschelte »Guten Tag« und wollte an ihm vorbeigehen.
»Was machen Sie hier?«, fragte er. Sofort blieb sie stehen.
»Ich bringe Unterlagen für Mrs Cooper.«
»Schon wieder?«
»Ja.« Nicht genug, dass sie schnell errötete, jetzt bildeten sich auch noch klitzekleine Schweißperlen auf ihrer Stirn und Nase.
»Geben Sie mir das!« Er entriss ihr die Schnellhefter und legte sie auf den Rezeptionstisch. »Hier! Bringen Sie diese Unterlagen meiner Mutter.« Die beiden Damen sprangen auf wie aufgeschreckte Hühner.
»Natürlich! Sofort …«, sagte die eine hastig und machte sich auf den Weg. Die hohen Absätze klackten, während sie mit schwingenden Hüften zur Tür stöckelte.
Cassidy war derweil zur Salzsäule erstarrt. Sie schien nicht zu wissen, wie sie sich verhalten sollte. Logan betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Was dachte sich seine Mutter nur? Mal abgesehen davon, dass er keine Verwendung für eine persönliche Assistentin hatte, selbst wenn er eine bräuchte, er würde sich nicht für Cassidy Meyer entscheiden.
»Kommen Sie mit!«, sagte er forsch. Er ging an ihr vorbei zum Aufzug. Cassidy folgte ihm zögernd und stellte sich schließlich neben ihn. Er schielte zu ihr hinüber. Zumindest glühte ihr Gesicht nicht mehr. Schwärmte sie für ihn? In diesem Gebäude gab es kaum eine Frau, die das nicht tat.
Die Türen öffneten sich und er stieg in den Fahrstuhl. Mittlerweile hatte er das Gefühl, den Großteil seines Tages hier drin zu verbringen. Cassidy folgte ihm schweigend. Ständig hielt sie ihren Kopf gesenkt.
Logan verdrehte die Augen, dann legte er den Stopp-Schalter um. Noch nie hatte er von diesem Gebrauch gemacht. In neueren Fahrstühlen fand man einen solchen schon lange nicht mehr. Seine Mutter war immer gut darin gewesen, alte Dinge durch neue zu ersetzen – das traf vor allem auf ihre Liebhaber zu –, nur an diesen verdammten Fahrstühlen schien sie zu hängen.
Cassidy sah sich erschrocken um und Logan beobachtete sie interessiert. Wie mager sie war! Kaum Busen oder Po. Dazu diese schrecklichen Klamotten … Er würde sich diese Frau in nächster Zeit täglich ansehen müssen. Der Gedanke war alles andere als reizvoll.
»Warum ist der Aufzug stehen geblieben?«, fragte sie ängstlich.
Logan machte einen Schritt auf sie zu, Cassidy wich zurück. Bald schon hatte sie die Wand im Rücken. Er beugte sein Gesicht zu ihr hinab. Die Hitze, die von ihren Wangen ausging, konnte er auf seiner Haut spüren. Immer noch versuchte sie, seinem Blick auszuweichen.
Sie stand auf ihn, zweifellos. Ob sie nachts von ihm träumte? Sollte er sie fragen? Lieber nicht. Die Peinlichkeit würde sie noch ins frühe Grab bringen!
Stattdessen küsste er sie. Vorsichtig presste er seine Lippen auf ihre und wartete gespannt auf eine Reaktion. Ihr Traumprinz hatte sie gerade geküsst, das war sicher der beste Tag ihres Lebens!
Logan hatte es nicht nötig, sich an jemanden wie Cassidy Meyer heranzumachen. Aber er wollte wissen, was seine Mutter im Schilde führte. Sie hätte ihm ja auch einen männlichen Assistenten aufs Auge drücken können.
Mit gerunzelter Stirn löste er sich von Cassidys Lippen. Jetzt war sie völlig erstarrt. Dabei hatte er sie nur geküsst. Ein Kuss war kein Weltuntergang. Ein Kuss bedeutete nichts. Jedenfalls hatte dieser hier nichts zu bedeuten.
Erstmals sah sie ihm direkt in die Augen. Nun war er derjenige, der eingeschüchtert zurückwich. Ihre Wimpern waren lang und dunkel, die Iris leuchtete bernsteinfarben. Hässlich war sie nicht!
Er verzog das Gesicht zu seinem schiefen Grinsen, als ein erbarmungsloser Schmerz durch seine Wange fuhr. Sie hatte ihm eine Ohrfeige verpasst, mit einer Wucht, die er ihr nie zugetraut hätte. Seine Haut brannte, instinktiv legte er seine Hand darauf.
Sie betätigte den Stopp-Schalter und der Aufzug setzte sich wieder in Bewegung. Für den Rest der Fahrt schwiegen sie, während Logan seine schmerzende Wange hielt. So stark sah Cassidy doch gar nicht aus! Er würde die Stelle kühlen müssen.
»Folgen Sie mir!«, murrte er, als er den Aufzug verließ. Sie bewegte sich keinen Millimeter und fixierte ihn argwöhnisch.
»Wollen Sie gefeuert werden? Nein? Dann folgen Sie mir!«, donnerte er.
Diese Frau bedeutete Ärger, das stand fest. Dass sie in einer schwierigen Situation Handlungsfähigkeit bewiesen hatte, imponierte ihm jedoch. Vielleicht konnte sie ihm tatsächlich nützlich sein.
Mit wachsamem Blick folgte sie ihm in gebührendem Abstand bis in sein Büro.
»Setzen Sie sich«, sagte er müde. Er ließ sich auf seinen Schreibtischsessel fallen. Widerwillig leistete sie seiner Aufforderung Folge.
Seine Wange schmerzte nach wie vor, während er die Hände wie zum Gebet verschränkte und seine neue persönliche Assistentin nicht aus den Augen ließ.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie plötzlich.
»Ist das nicht offensichtlich?«, entgegnete er.
Wie weit sollte er dieses Spiel treiben? Würde sie ihm eine weitere Ohrfeige verpassen oder gleich eine Kopfnuss? Jetzt traute er ihr alles zu. Cassidy Meyer war schüchtern und machte einen unbeholfenen Eindruck, aber dumm war sie nicht. Sie hatte ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Zudem war sie zweisprachig aufgewachsen. Auch wenn sie bisher in Deutschland gelebt hatte, war ihr Englisch tadellos.
»Es gibt in diesem Gebäude weit hübschere Frauen als mich, die sich sicher gerne von Ihnen küssen lassen wollen«, sagte sie sehr uncharmant.
Langsam begriff er, was seine Mutter in diesem unscheinbaren Mädchen sah.
Cassidy wusste erstaunlich gut über die Vorgänge in diesem Unternehmen Bescheid. Die Damen, die hier arbeiteten, ließen sich gerne von ihm zum Essen ausführen. Ein solches Date endete meist mit Sex.
»Ich werde Sie nie wieder küssen, machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte er. »Trotzdem sind Sie gefeuert.«
Sie presste die Lippen zusammen und guckte böse. Wenn sie verärgert war, sah sie süß aus. Bislang hatte er sie nur mit feuerroten Wangen und kleinen Schweißperlen auf der Stirn gesehen. Ihre eigentlich sehr blasse Haut passte gut zu ihren warmen, braunen Augen und den kirschroten Lippen.
Was wohl in ihrem Kopf vorging? Logan war neugierig …
»Warum feuern Sie mich?«, fragte sie mit fester Stimme. Seit dem Kuss schien es ihr nichts mehr auszumachen, ihm in die Augen zu sehen. Das war erfreulich.
»Ich habe einen anderen Job für Sie«, sagte er kühl. »Ich brauche eine persönliche Assistentin und meine Mutter meint, Sie wären genau die richtige.«
»Und was denken Sie?«
»Dass ich Sie als meinen Bodyguard anheuere, sollten Sie als Assistentin nichts taugen.« Lächelnd rieb er sich die Wange. Der Schmerz war endlich abgeflaut. »Sie können gleich morgen anfangen. Ich will, dass Sie um acht Uhr vor meinem Büro stehen.«
Einen Moment lang war er sich nicht sicher, ob sie das Jobangebot annehmen oder ihm wieder eine scheuern würde.
»Ich werde pünktlich sein«, sagte sie. Daran zweifelte er nicht.
»Das war’s vorerst. Wir sehen uns dann morgen. Und ziehen Sie sich bitte was anderes an!«
»Was meinen Sie damit?«, entgegnete sie verwundert. Sie wurde wieder rot.
»Meine persönliche Assistentin sollte nicht unmodische Jeans und Sportschuhe tragen.«
Sie sah geknickt aus, als sie sein Büro verließ. Logan griff sofort nach dem Telefonhörer.
»Da hast du mir ja was eingebrockt«, sagte er zu seiner Mutter.
»Warum?«
»Du weißt, warum …«
»Ich dachte, du liebst Herausforderungen«, erwiderte die Grande Dame nüchtern.
»Du liebst Herausforderungen, ich nicht«, sagte er und legte auf.
Sie hatte in ihm ständig nur eine jüngere Ausgabe von sich selbst sehen wollen. Seine Bedürfnisse und Wünsche hatte sie stets ignoriert. Immer setzte sie ihren Willen durch. Die Welt war für sie ein riesiges Schachbrett. Ihre Figuren positionierte sie genau dort, wo sie ihr am nützlichsten waren. Auch Logan war nur eine dieser Figuren. War er ein König oder gar nur ein Bauer?
Logan Cooper war ein Frauenheld, das wusste jeder in diesem Gebäude.
Cassidy fuhr gedankenverloren mit den Fingern über ihre Lippen. Der Juniorchef hatte sie geküsst. Das musste sie erst mal verdauen! Und dann war ihr auch noch die Hand ausgerutscht … Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihm eine Ohrfeige zu verpassen? Verdient hatte er sie allemal, aber dafür hätte er sie feuern können.
»Warum starrst du Löcher in die Luft?«, fragte ihre Kollegin Lizzie.
»Tue ich das?«, erwiderte Cassidy.
»Ist dir etwa Logan Cooper über den Weg gelaufen?« Lizzie, die ihr naturblondes Haar immer zu einem modischen Zopf flocht, grinste von einem Ohr zum anderen.
»Wie kommst du denn darauf?« Cassidy spürte, wie sie rot wurde. Die Angst vorm Erröten belastete sie weit stärker als das Erröten selbst. Jeder konnte von ihrem Gesicht ablesen, was ihr durch den Kopf ging.
Sie hatte Logan Cooper geküsst – nein, er hatte sie geküsst. Das war wirklich nicht zu glauben! Wahrscheinlich hatte er es morgen schon vergessen.
Er spielte mit ihr, weil es ihn verärgerte, dass er sich dem Willen seiner Mutter beugen musste. Die Grande Dame war schließlich diejenige, die wollte, dass Cassidy seine persönliche Assistentin wurde.
»Oh, ich habe recht!«, flötete Lizzie aufgeregt. Lizzie war ein Klatschmaul. In diesem großen Unternehmen blieb ihr kaum etwas verborgen. »Er sieht wundervoll aus, nicht wahr? Halte dich aber lieber von ihm fern, sonst wirst du zur Zielscheibe.«
»Ziel… was?« Cassidy runzelte die Stirn, während Lizzie laut auflachte.
»Merk dir meine Worte gut!«
»Mich von ihm fernzuhalten, wird schwierig«, rutschte es Cassidy heraus.
»Hm? Warum denn das? Bist du … verliebt? Ist es mehr als eine Schwärmerei?« Lizzie war ganz aufgeregt. Cassidy presste die Lippen zusammen und entschied sich dazu, vorerst zu schweigen.
»Wenn du mir nichts verraten willst, dann eben nicht«, sagte Lizzie gespielt beleidigt. »Kommst du?«
Sie machten immer gemeinsam Mittagspause, die sie im Leon, einem Fast-Food-Café, verbrachten. Dort gab es frisches und günstiges Bio-Essen. Einen Power-Smoothie konnte sie jetzt gebrauchen, um Energie zu tanken.
»Bin gleich fertig.« Cassidy packte ihre persönlichen Sachen – und das waren wirklich nicht viele – in einen Karton. Ab morgen würde sie einen neuen Schreibtisch haben, oder nicht? Ob sie vorher mit ihrem Abteilungsleiter sprechen musste? Aber diesem war sie heute Vormittag noch nicht begegnet. Wie so häufig hatte sie Stunden vor der Kopiermaschine verbracht. Das Ding spielte ständig verrückt, aber niemand aus der Technikabteilung hatte Zeit gehabt, sich darum zu kümmern. Also hatte Cassidy die Sache selbst in die Hand genommen.
Sie verließ gemeinsam mit Lizzie das riesige Gebäude. Zu Fuß spazierten sie zum nächstgelegenen Restaurant.
»Hast du dich gut eingelebt in London?«, fragte Lizzie. Sie arbeitete schon seit zehn Jahren bei Biological Chemicals und war im Gegensatz zu Cassidy mit ihrem Job zufrieden. Für Lizzie war die Liebe wichtiger als die Karriere, und ihr frisch Angetrauter war offenbar superheiß, noch heißer als Logan Cooper – zumindest behauptete sie das ständig.
»Ich lebe mich überall schnell ein«, gab Cassidy zurück.
Sie suchten sich einen freien Tisch im Restaurant und bestellten etwas zu essen. Cassidy entschied sich für einen Grilled Halloumi Wrap, der keine fünf Pfund kostete. Lizzie aß einen Salat.
»Jetzt erzähl schon, was du verheimlichst«, platzte es plötzlich aus ihr heraus. »Du hast dich den ganzen Vormittag über so komisch verhalten.«
»Habe ich das?«
»Ja. Ich meine, komischer als sonst …« Cassidy verzog das Gesicht.
»Ab morgen habe ich einen neuen Job«, erzählte sie endlich.
»Du bist befördert worden?«, fragte ihre Freundin überrascht.
»So ungefähr …« Ihre moralischen Bedenken hatte sie recht schnell über Bord geworfen. Aber nur weil sie für Logan arbeitete, hieß das noch lange nicht, dass sie auch beabsichtigte, Mrs Coopers Plan durchzuziehen.
»In welcher Abteilung wirst du arbeiten?« Lizzie war neugierig. »Ich weiß, du bist zu klug für den Job, den du im Moment hast.«
»Ich soll Logan Coopers persönliche Assistentin werden«, flüsterte Cassidy. Warum flüsterte sie? Es laut auszusprechen, machte sie nervös.
Lizzies Miene veränderte sich sofort. Ungläubig riss sie den Mund auf.
»Der Logan Cooper? Wir sprechen hier vom selben?«
Cassidy nickte eifrig. Lizzie stocherte mit strengem Blick in ihrem Salat herum.
»Ich wusste gar nicht, dass du Logan kennst …«, sagte sie.
»Tue ich nicht!«, erwiderte Cassidy.
»Und warum hat er dich dann zu seiner Assistentin gemacht? Ich meine … dich …«
»Mich? Was soll das heißen?«, fragte Cassidy irritiert. Lizzie lächelte breit und tätschelte ihren Unterarm.
»Jetzt sei doch nicht beleidigt! Glaubst du, ich bin die Einzige, die sich darüber wundern wird? Du hast dir mit diesem Job viele Feinde gemacht!«
»Du übertreibst …« Sie kannte doch kaum jemanden in diesem Unternehmen persönlich. Keiner hatte sich bislang für sie interessiert – warum sollte das jetzt anders sein?
»Sag später bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!« Lizzie verputzte genüsslich ihren Salat. Ab und an schaute sie verträumt nach draußen auf die belebte Straße.
»Du musst mir aber alles erzählen, hörst du?«
»Was meinst du mit alles?«
»Du bist Logan Coopers persönliche Assistentin! Das ist die einmalige Chance, mehr über ihn zu erfahren!«
Cassidy kam sich albern vor. Sie schwärmte für Logan, das stimmte. Aber er war kein Gott, er war auch nur ein Normalsterblicher wie jeder andere in diesem Unternehmen – mit Ausnahme seiner Mutter. Die schien anderen Menschen wirklich so einiges vorauszuhaben.
»Jeder wird glauben, du hättest dich hochgeschlafen«, sagte Lizzie plötzlich.
Cassidy verschluckte sich beinahe. Kritisch sah sie an sich herunter.
Ihr knabenhafter Körper steckte in billigen Jeans, dazu trug sie einen schlichten Pulli. Für Kleidung gab sie monatlich keine hundert Pfund aus. Würde tatsächlich jemand denken, sie hätte Logan mit ihren weiblichen Reizen um den Finger gewickelt?
»Denkst du das wirklich?«, sagte sie. Lizzie zuckte mit den Schultern.
»Es ist seltsam, oder nicht? Warum gerade du?« Sie kaute an ihrem letzten Salatblatt. »Jetzt sei doch nicht wieder beleidigt!«
»Bin ich nicht«, log Cassidy. »Mr Cooper meinte übrigens, ich solle mich anders kleiden. Du musst mir helfen! Ich habe nur Jeans und Shirts in meinem Schrank!«
»Okay, okay! Ich kann dir was leihen!«, sagte Lizzie.
»Das würdest du tun?«
»Sicher. Ein Rock, eine Bluse, hohe Schuhe – das müsste reichen, oder? Ich kann dir keine Hosen leihen, deine Beine sind länger als meine. Ich bring' die Sachen morgen früh mit, okay?«
»Du bist die Beste, danke!«, rief Cassidy erleichtert.
»Freu dich nicht zu früh! Ich glaube nicht, dass dir meine Kleider stehen.«
»Das macht nichts, besser als Jeans und Pulli ist es allemal!«
Sie verspeiste glücklich den letzten Rest ihres Mittagessens.
Ab morgen begann ein neues Leben.
Cassidy kramte ihre Oyster Card aus der Brieftasche. Ohne diese war sie in London aufgeschmissen, wenn sie nicht zu Fuß bis zu ihrer Wohnung in Charlton laufen wollte. Dort stand ihr ein fünfzehn Quadratmeter großes Zimmer zur Verfügung. In London war es nicht ungewöhnlich, sich zu Wohngemeinschaften zusammenzuschließen. Da besaß man mit dreißig kein eigenes Haus. Cassidy war heilfroh, dass sie sich überhaupt dieses kleine Zimmer leisten konnte.
Mit der Tube fuhr sie bis zur North Greenwich Station. Trotz des Namens lag die Station näher an Charlton als an Greenwich.
Geduldig wartete sie auf den Bus und sah sich um. Sich in einer fremden Stadt zurechtzufinden, war ihr von Anfang an leichtgefallen. Auch in München hatte sie sich sofort wohlgefühlt, obwohl sie in einem kleinen Dorf aufgewachsen war, dessen Einwohnerzahl geringer war als die Zahl der Mitarbeiter von Biological Chemicals.
Ein roter Doppeldeckerbus fuhr in die Station ein. Die gelbe Nummer 422 war schon von weitem zu sehen. Cassidy setzte sich oben hin. Ihr Handy piepste. Grace, ihre Mitbewohnerin, hatte ihr eine Nachricht geschickt.
Pinky and Brain, Cassidys Mäuse, waren ausgerissen. Wie konnte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Amelie Winter
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Tag der Veröffentlichung: 05.03.2018
ISBN: 978-3-7438-5965-4
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