Rachel wurde das Gefühl nicht los, eine Zeitmaschine hätte sie ohne Vorwarnung in die Vergangenheit katapultiert.
Sie saß nämlich einem Mann Mitte dreißig gegenüber, dessen ausgewaschenes T-Shirt für seinen hageren Körper viel zu weit war. Er trug eine dicke Hornbrille auf der Nase und schmutzige Sneakers an den Füßen. Leo, so hieß der Kerl, war einer dieser Peter Pans, die niemals erwachsen werden wollten und sich im Keller ihrer Eltern hinter Regalen vollgefüllt mit Brettspielen verschanzten. Bei solchen Männern schlug Rachels Herz immer höher!
Ihr Freund war auch so einer. Und vor ziemlich genau einem Monat war sie mit ihm hier gesessen.
»Und nun dürfen Sie drei Felder weiter gehen«, erklärte Leo. Auf dem runden Tisch lag das selbst gebastelte Spiel, das er mitgebracht hatte. Seit einer halben Stunde würfelten sie und deckten Karten auf, aber Rachel hatte die Regeln noch immer nicht verstanden.
»Aber bedeutet dieses Zeichen nicht, dass ich einen Straßenbesen gratis kriege?«, fragte sie nach und deutete auf ein Kartonplättchen. Bei dem Spiel ging es darum, wer am schnellsten sein Straßenviertel von Müll befreite. Die Idee war ziemlich originell, deswegen hatte Rachel Leo, der hauptberuflich als Hausmeister arbeitete, eine Chance geben wollen.
»Ja, genau! Sie haben die Wahl! Entweder Sie machen drei Schritte nach vorne oder Sie kriegen das hier!« Er deutete auf die kleinen Besen, die er aus Zahnstochern und Draht gebastelt hatte. Sie hatten nur symbolischen Charakter, aber kehren konnte man recht gut mit ihnen. Rachel fegte damit einen Fussel vom Tisch. Sie hatte ihren Müllwagen aus Pappe mit kleinen Styroporwürfeln, die Müllsäcke darstellen sollten, vollgepackt und zehn Siegpunkte erzielt. Bei fünfzehn war das Spiel zu Ende. Eigentlich war’s ganz lustig.
»Und? Was sagen Sie?« Er hatte den letzten Dreck in seiner Straße fortgeschafft und wartete nun mit strahlenden Augen auf ihre Antwort.
Rachel seufzte tief und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um ihm klarzumachen, dass der Verlag, für den sie seit beinahe drei Jahren arbeitete, das Spiel wohl nicht umsetzen würde. Die Regeln waren alles andere als raffiniert und es gab keinen Grafiker in ihrem Team, der sich mit einem derartigen Design beschäftigen wollte.
Leo schickte ihr einmal die Woche eine neue Spielidee. Diese hier war bislang die beste gewesen.
Rachel besah sich ihre Spielfigur – einen Müllmann, orange bemalt – und sagte:
»Ich werde die Idee mit meinen Kollegen besprechen, dann gebe ich Ihnen Bescheid!« Hoffnung blitzte in seinen Augen auf und Rachel fühlte sich mies. Wenn Marcus, ihr Kollege, von dem Spiel erfuhr, würde er lachen. Und zwar nicht, weil’s so amüsant war.
»Danke! Vielen lieben Dank!« Er packte die Figuren und das Spielbrett wieder zurück in die Schuhschachtel, die er mitgebracht hatte. Als Rachel ihm zum Abschied die Hand reichte, wollte er sie gar nicht mehr loslassen. Ungeschickt schob er sich die Brille auf der Nase hoch und entblößte beim Lächeln seine schlecht gepflegten Zähne.
Sekunden später war er aus ihrem Büro verschwunden. Sie schwang sich nachdenklich auf den Sessel und drehte eine Runde. Das Telefon klingelte und sie hob rasch ab. Es war Marcus.
»Kommst du? Wir müssen Dinosaurus testen. Der erste Prototyp ist da. Wir brauchen dich!«
»Ich komme!« Dinosaurus war ihr neues Projekt. Es ging darum, vor den Dinosauriern zu fliehen. Die Spieler mussten schauen, dass sie nicht gefressen wurden. So was mochten die Leute. Vor Dinosauriern zu fliehen kam besser an, als Müll aufsammeln.
Rachel verließ ihr großes Büro, das ziemlich klein aussah, weil sich überall Spieleschachteln bis zur Decke stapelten, und ging nach draußen, in den Konferenzraum. Dort, am langen ovalen Tisch, testeten ihre Kollegen das neue Werk.
»Wer war der Kerl?«, fragte Marcus sogleich.
»Ein Hausmeister, der sich ein Spiel über Müllmänner ausgedacht hat.« Er lachte kurz auf, aber Rachel lachte nicht. Sie hatte Leo nicht lächerlich machen wollen!
Neugierig besah sie sich den Brontosaurus, der so lang wie ihr Daumen war.
»Ist gut geworden«, meinte sie anerkennend. Auf das Designteam war Verlass. Hier arbeiteten nur die klügsten und talentiertesten Köpfe. Dazu durfte sich auch Rachel zählen. Sie hatte etwas geschafft, das nur wenigen gelang. Zwei ihrer selbst entworfenen Spiele waren zum Spiel des Jahres gekürt worden. Wenn das begehrte rote Siegel mit den goldenen Lorbeerkränzen auf der Pappschachtel prangte, waren dreihunderttausend Verkäufe sicher. Pro Spiel, das über den Ladentisch ging, erhielt sie zwar kaum mehr als fünfzig Cent, aber dennoch war ihr Verdienst ganz ordentlich gewesen. Dabei hatte sie vor Jahren ihr Geld in einem Bioladen mit dem Zubereiten von Fruchtsäften verdient! Heute war sie Redakteurin in einem bekannten Spieleverlag. Es war ihre Aufgabe, die eingehenden Ideen zu prüfen. Und das waren so einige. An die zehn, täglich.
Rachel liebte Brettspiele und früher hatte sie immer Nick dazu genötigt, mit ihr Geister zu jagen, Mumien auszugraben und Siedlungen zu bauen.
Nick …
Es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte. Und das ärgerte sie sehr.
»Ray?« Marcus hatte den Ellenbogen in ihre Seite geboxt. »Du bist dran mit Würfeln!« Es gab nicht viele Jobs, wo man seine Zeit mit Spielen verbrachte. Sie nahm den Würfel an sich und ließ ihn im hohen Bogen über den Tisch fliegen. Einen Tarnumhang hatte sie gewürfelt. Wie bei Harry Potter konnte man sich darunter verstecken und war für die bösen Saurier unsichtbar. Diese Idee hatte sie gar nicht gemocht, aber sie war vom restlichen Team überstimmt worden. Also nahm sie ihre Spielfigur und begab sich aufs nächste Feld.
Die Tür zum Chefbüro öffnete sich und heraustrat ein Mann, den Rachel zu schätzen gelernt hatte. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren hatte Chris den Spieleverlag Univoso gegründet, für den Rachel heute arbeitete. Und hätte er damals ihrer Spielidee nicht eine Chance gegeben, dann wäre alles anders gekommen. Der Verlag wäre pleitegegangen und Rachel hätte sich von einem Job zum nächsten gehangelt. Darin war sie schon immer gut gewesen.
»Ray! Kann ich dich mal sprechen? Unter vier Augen!«, sagte er in ungewohnt barschem Ton.
»Klar«, sagte Rachel verwundert und stand auf. Sie marschierte an Chris vorbei und drehte sich erwartungsvoll zu ihm um, als er die Tür hinter ihnen schloss.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Theos Spiel … das wird nichts.«
Rachels Mundwinkel sanken im Bruchteil einer Sekunde nach unten. Theo war ihr Freund. Und Theo war großartig! Rachel liebte es, sich um andere zu kümmern. Egal, ob es sich dabei um ein Tier handelte, welches verwahrlost auf der Straße lebte, oder um Theo, der bis heute keinen richtigen Job gehabt hatte und seine ganze Energie in die Entwicklung von Brettspielen steckte.
»Was meinst du damit? Wir müssen es noch verbessern, sicher, aber …!« Chris bedachte sie mit einem strengen Blick.
»Die Idee ist scheiße und ich denke, das weißt du auch!« Rachel schlug schuldbewusst die Augen nieder. Die Idee war gut, eigentlich. Aber es war nichts anderes als eine billige Kopie von Catan. Eine Insel musste besiedelt, Straßen und Häuser gebaut und mit Rohstoffen gehandelt werden.
»Wir arbeiten seit einem Monat an dem Projekt – völlig umsonst!«, donnerte Chris.
»Warum hast du die Arbeit daran dann nicht früher abgebrochen?«
»Weil ich auf deine Intuition vertraut habe. Aber mittlerweile glaube ich, dass du uns zum Narren hältst!«
Sie hatte Theo, der von nichts anderem träumte als davon, endlich eines seiner selbst erfundenen Spiele in den Händen halten zu können, helfen wollen. Beschämt presste sie die Lippen zusammen.
Auf Chris‘ Schreibtisch war der Prototyp. Gestern erst hatten sie sich damit auseinandergesetzt. Dem Spiel fehlte es an Originalität. Chris nahm die Schachtel und schmiss sie demonstrativ in den Papierkorb.
»Tut mir leid, Ray«, sagte er.
»Nein, du hast ja recht. Ich werde Theo Bescheid geben.«
»Ich habe bereits mit ihm telefoniert. Gerade eben«, sagte Chris kühl. Rachels Herz drohte einen Schlag lang auszusetzen. Das würde Theo nicht gut aufnehmen! Sie hatte es ihm möglichst schonend beibringen wollen. Dass dieser Tag kommen würde, war ihr schon seit langem klar gewesen.
Chris setzte sich an seinen Schreibtisch und beachtete sie nicht weiter. Er war sauer, das wusste sie. Ihretwegen hatte das Team einen Monat lang umsonst an einem Spiel gearbeitet.
»Kommt nicht wieder vor«, sagte Ray kleinlaut und verließ mit hängenden Schultern das Büro ihres Chefs. Sie setzte sich wieder an den ovalen Tisch zu den anderen und betrachtete sich die Spielkarten. Sie waren sehr gut gemacht: übersichtlich und optisch ansprechend. Wenigstens versprach dieses Spiel, ein Erfolg zu werden!
Nach der Arbeit suchte sie den Pechvogel Theo auf, mit dem sie eigentlich erst zwei ungeschickte Küsse ausgetauscht hatte. Er lebte in einem klitzekleinen, schäbigen Apartment, das er nie aufräumte und worin er allen möglichen Krimskrams aufbewahrte. Er war nämlich nicht nur ein Brettspielfreak, sondern hortete auch Computerspiele und Superheldencomics.
Die Eingangstür zum Apartmenthaus stand sperrangelweit offen. Aus den Briefkästen im Inneren quollen Reklamebroschüren. Rachel ging die Treppen hoch in den ersten Stock, bis sie vor Theos Wohnungstür stand. Sie klopfte, er machte ihr aber nicht auf. Also rief sie ihn an. Das bimmelnde Geräusch, welches sie daraufhin vernahm, kam aus dem Inneren des Apartments. Er war also da? Vermutlich heulte er in sein Batman-Kissen!
Sie hämmerte energisch gegen die Tür.
»Ich bin’s, Ray! Mach schon auf!« Eigentlich war Ray eher ein Männername. Aber der Name passte zu ihr. Sie war nie besonders feminin gewesen. Während ihrer Studienzeit hatte sie ihr rotblondes Haar im Knaben-Look getragen. Frech und spitzbübisch hatte sie ausgesehen. Also ganz anders als die Frauen, mit denen Nick immer ausgegangen war. Um in sein Beuteschema zu fallen, mussten die wallenden Locken mindestens bis zum Ellenbogen reichen.
Ray hörte Schritte und alsbald öffnete sich die Tür. Theo sah ganz schrecklich zerknittert aus! Vermutlich hatte er seit Chris‘ Anruf das Bett nicht mehr verlassen. Das fettige Haar klebte geradezu an seinem Kopf. Rachel geriet schon wieder ins Schwärmen! Wie er sie mit seinen braunen Augen traurig anguckte …! Theo sah aus wie ein alleingelassenes Hundebaby.
»Was willst du hier?«, fragte er mürrisch.
»Dir sagen, dass es mir leidtut. Aber Chris findet das Spiel nicht gut genu-«
»Du hast doch gesagt, es wird auf alle Fälle veröffentlicht!«, schimpfte er los.
»Nun ja, ich habe gehofft, dass …« Sie brach ab. Eigentlich hatte sie sich von Anfang an nur etwas vorgemacht. Sie hatte den traurigen Welpen glücklich machen wollen! Plötzlich schlug er ihr die Tür vor der Nase zu. Sie stemmte sofort die Arme dagegen und sagte:
»Wollen wir nicht was essen gehen? Du solltest mal frische Luft schnappen!« In Theos Zimmer stank es bestialisch. Er aß nur Fertiggerichte und brachte seinen Müll manchmal tagelang nicht nach draußen.
»Essen gehen? Mit dir? Wozu?«
»Hm?« Sie blinzelte irritiert.
»Ich wollte nur, dass mein Spiel veröffentlicht wird! Mehr nicht. Du nervst doch!« Er drückte die Tür gewaltsam ins Schloss und Rachel schluckte schwer.
Sie musste sich verhört haben! Hatte er gerade eben mit ihr Schluss gemacht? Waren sie überhaupt ein Paar gewesen?
Sie vernahm Geräusche, offenbar spielte er am Computer. Tatatatata - ein Ballerspiel, so hörte es sich an. Nick hatte immer gesagt, sie sollte damit aufhören, die Welt und all die Menschen darin ständig retten zu wollen. Sie schnaubte verächtlich und stieß wütend mit dem Fuß gegen die Tür.
»Du dämlicher Idiot! Wenn du erfolgreich sein willst, dann überleg dir was, das nicht schon ein anderer veröffentlich hat!«, rief sie aufgebracht. Theo war völlig talentfrei. Und sie hatte es doch nicht nötig, wegen so einem Loser zu heulen! Trotzdem bildeten sich in ihren Augen nun riesengroße Tränen, die unaufhaltsam an ihren Wangen herunterkullerten. Nick hatte auch gesagt, sie sollte nicht so hässlich plärren. Ja, genau das hatte er gesagt! Wortwörtlich. Dass sie hässlich plärrte …
Also zog sie Rotz die Nase hoch und wischte sich tapfer mit dem Handrücken über die nassen Wangen. Sie hatte es so satt, ständig abserviert zu werden! Und dann auch noch von solchen Idioten, die gar nicht wussten, was sie an ihr hatten!
Noch ein letztes Mal trat sie mit dem Fuß gegen die Tür und stieß einige Schimpfworte aus, für die sie sich später schämte. Schließlich machte sie sich müde auf den Weg nach Hause, um in ihr Fantasia-Kissen zu heulen.
Nick hatte es geschafft.
Er saß in seinem Büro im fünfzehnten Stock und blickte durch das großflächige Fenster hinaus auf den Tower, den er entworfen hatte. Das Wohn- und Bürogebäude war hundert Meter hoch – und teils aus Holz. Es war sein bislang ambitioniertestes Projekt gewesen. Monatelang hatte er an den Entwürfen gearbeitet. Der Hybridturm sah nicht nur verboten gut aus, sondern war auch in der Lage, die Energie, die er benötigte, selbst zu produzieren. Mit Windturbinen, Solarpanelen und Brennstoffzellen ausgestattet, war er ein Musterbeispiel umweltfreundlicher Architektur.
Nick konnte stolz auf sich sein. Was wohl Ray dazu sagen würde? Um für das Bauwerk Platz zu machen, hatte ein historisches Gebäude weichen müssen. Demonstranten hatten tagelang die Straßen belagert und versucht, sich Gehör zu verschaffen, um den Bau zu verhindern. Ohne Erfolg. Nick hatte seinen Blick durch die Menge schweifen lassen und unbewusst schon nach Ray Ausschau gehalten. Es wäre nämlich typisch für sie gewesen, sich an einem derartigen Protest zu beteiligen.
Ray hatte immer alles retten müssen. Die Wale, später die Haifische, dann den Regenwald und die Arktis. Irgendwo hatte es immer eine Demo gegeben, wo sie nicht fehlen durfte. Sie setzte sich für die Rechte von Frauen und Minderheiten ein oder verlangte die Schließung aller Kernkraftwerke …
Und jetzt hatte Nick einen Tower entworfen, der weder Atomstrom noch Öl benötigte.
Er verzog das Gesicht. Ray hatte gewonnen, schon wieder.
Plötzlich vernahm er ein leises Klopfen. Rasch drehte er den Sessel um hundertachtzig Grad. Sein Kollege und Mitbewohner Oliver stand in der Tür. Er hielt ein paar Unterlagen in der Hand und sagte:
»Hast du Zeit, dir das mal anzusehen?«
Vor fünf Jahren hatte Nick, frisch von der Uni, nur Nachbesserungen am Computer vorgenommen und war für monotone Ausführungsplanungen zuständig gewesen. Heute war er ein aufstrebender Star am Architektenhimmel. Auf seinem Schreibtisch lag ein potentieller Auftrag aus Dubai. Wenn er hohe Türme bauen wollte, deren Spitzen die Wolken kitzelten, dann war dies der richtige Ort dafür. Nirgends wurde waghalsiger der Schwerkraft getrotzt.
»Was soll ich mir ansehen?«, fragte er.
Oliver wedelte mit einem Plan in der Luft herum.
»Mein neues Projekt. Ist ein ziemlicher Brocken. Ich will’s nicht vermasseln.«
Nick blickte auf seine Armbanduhr, die ein Vermögen gekostet hatte, und sagte:
»Wie wär’s gleich? Beim Mittagessen?«
»Perfekt!« Oliver lächelte glücklich und verschwand aus der Tür. Derweil raffte sich Nick auf und griff nach der Brieftasche und den Zigaretten. Dann warf er sich den Mantel über. Der Winter stand vor der Tür und es war kalt. Draußen im Gang holte Oliver ihn ein. Sein Kollege hatte eine dicke Mappe bei sich. Während er neben Nick herlief, richtete er den Kragen seiner Outdoor-Jacke, die zum Bergsteigen bestens geeignet war, aber als Bürokleidung nicht taugte.
Sie erreichten den Aufzug und fuhren in die unterste Etage, in den Gastronomiebereich, wo sie in einem Self-Service-Restaurant immer ihre Mittagspause verbrachten.
»Worum geht’s?«, fragte Nick und deutete auf die Mappe, während der Aufzug Stockwerk für Stockwerk nach unten fuhr. Sie waren nicht allein. Drei weitere Passagiere waren zugestiegen. Alle trugen schicke Anzüge und Aktentaschen.
Nick hatte es wirklich geschafft. Er war ganz oben angekommen.
Sein Blick schwenkte zur Seite, wo Oliver stand, der zur Wanderjacke nur Jeans und Turnschuhe trug. Aber er hatte sich eine rote Krawatte umgebunden - mit gelben Entchen. Wurde Nick gemieden, weil er andere einschüchterte, so wurde Oliver gemieden, weil er ein komischer Kauz war. Die Krawatte hatte er sich eigentlich zu einem völlig anderen Zweck angeschafft.
»Es geht um ein Hotel, modern soll es sein, andersartig … damit kennst du dich doch aus!«, sagte Oliver. Nick war schon immer mutig gewesen, seine Entwürfe waren ziemlich eigen.
Er schaute auf die Uhr, als wollte er sich vergewissern, dass er sie auch wirklich am Arm trug. Ray würde das Ding protzig finden und es sofort versteigern, um mit dem Erlös ein Robbenbaby vor dem Tod zu retten. Er schüttelt sich.
»Was ist?«, fragte Oliver besorgt.
»Nichts.« Wenn Nick an Ray dachte, lief es ihm ständig kalt den Rücken runter. Die Frau war total bekloppt – und spieleverrückt. Das hatte er natürlich auch nicht vergessen. Dass sie stundenlang über ihren Brettspielen saß. Meist hatte er ja mitspielen müssen. Fürs Studieren hatte sie kaum Zeit gefunden. Ob sie noch immer von einer Vorlesung zur nächsten rannte? Oder hatte sie sich endlich für ein Fach entschieden und einen Abschluss in der Tasche? Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass sie immer noch Spielideen an einen Verlag schickte, in der Hoffnung, entdeckt zu werden.
»Ich habe nur an Ray gedacht«, rutschte ihm raus.
»Die Ray?«, fragte Oliver nach. Nick hatte seinem neuen Mitbewohner von ihr erzählen müssen. Schließlich hatte er Oliver oft aus Versehen »Ray« genannt. Es war aus purer Gewohnheit passiert. Ray, reichst du mir mal die Butter? Ray, bringst du endlich mal den Müll raus? War deine verdammte Katze wieder auf dem Sofa, Ray?
Sieben Jahre lang hatte er mit dieser Verrückten in derselben Wohnung gehaust. Rückblickend wunderte er sich, dass er in dieser Zeit nicht den Verstand verloren hatte.
Ein Kling! ertönte und der Aufzug hielt. Sie stiegen aus und sein Freund und Kollege reichte ihm die Entwürfe im Gehen. Nick besah sich die Pläne rasch. Selbst wenn sie zu Mittag aßen, sprachen sie meist nur über Architektur und den Job.
»Ich sag dir, die Tochter ist heiß«, meinte Oliver plötzlich.
»Hm? Welche Tochter?«
»Die Tochter von dem Kerl, der das hier in Auftrag gegeben hat.« Er deutete auf die Unterlagen.
Nick lächelte gequält. »Ich nehme an, deswegen willst du’s keinesfalls vermasseln?«
»Ich brauche diesen Erfolg, Nick. Außerdem habe ich kein Interesse an der Frau, die wäre was für dich.«
»Für mich?« Nick zog überrascht die Augenbrauen hoch. Dann klemmte er die Papiere unter den Arm und bediente sich am Buffet. Er konnte zwischen rustikaler oder mediterraner Küche wählen. Oliver schaufelte sich bereits Schweinerippchen aufs Teller, während Nick sich für einen einfachen Salat mit Tomaten entschied.
Das Essen hier war gut. Da war er schon Schlechteres gewohnt! Wie Rays Küche. Er hatte es in all den Jahren nie übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass sie nicht kochen konnte. Sie tat es immer mit so viel Leidenschaft und Eifer. Sie war bei allem mit vollem Einsatz dabei, außer wenn’s ums Geld verdienen ging, da hatte ihr immer jede Motivation gefehlt.
In letzter Zeit dachte er häufig an sie. Warum bloß?
Er setzte sich an einen der freien Tische und Oliver gesellte sich Sekunden später zu ihm. Nick breitete die Unterlagen neben seinem Teller aus und beäugte sie kritisch, während ein Salatblatt nach dem anderen in seinem Mund verschwand. Er hatte schon während seiner Studienzeit immer die Bücher neben seinem Essen aufgeschlagen, wenn er in der Mensa nach Pappe schmeckende Spinattaschen verspeiste.
»Du solltest mal was Anständiges zu dir nehmen!«, meinte Oliver vorwurfsvoll. Bei ihm spannte sich das Hemd sehr am Bauch, Nick hingegen war schon immer schlank gewesen. Den Genen seines Vaters sei Dank! »Du isst ja wie ‘ne Frau«, hielt sein Freund ihm vor.
Nick blickte kurz auf, sagte aber nichts. Im Salat waren Nüsse, die brachten das Gehirn auf Touren.
»Die Entwürfe sind nicht schlecht«, ließ er Oliver wissen und deutete auf die Pläne. »Aber besonders originell sind sie nicht!«
»Deswegen bitte ich dich um Hilfe!«, erwiderte Oliver sofort. Nick faltete die Unterlagen sorgfältig zusammen. Vorsichtig steckte er sie zurück in die Mappe und genoss vorerst sein Mittagessen.
»Die Kleine solltest du dir wirklich mal ansehen!«, erzählte sein Freund im Plauderton.
»Nein, danke«, entgegnete Nick beiläufig. Er dachte wieder an seinen Tower … Morgen erschien die Zeitschrift Nachhaltig Bauen, darin wurde ihm eine Doppelseite gewidmet. Und in einer Woche wurde ein Beitrag über ihn im Fernsehen ausgestrahlt. Er war beinahe rot geworden, als das Kamerateam in sein Büro gerauscht war! Noch nie zuvor war er sich so wichtig vorgekommen …
»Bist du schwul?«, fragte Oliver aus dem Blauen heraus. Nick runzelte die Stirn. Sein Freund gestikulierte wild mit den Händen und rechtfertigte sich sofort: »Ich wollte nur mal fragen! Ich meine, ich habe damit kein Problem. Stehst du eben auf Männer! Jeder, wie er mag!« Er grinste aufgesetzt und Nick schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich bin nicht schwul«, sagte er schließlich.
»Wir wohnen jetzt seit anderthalb Jahren zusammen und kein einziges Mal hat eine Frau bei dir übernachtet«, stellte Oliver in Sherlock-Holmes-Manier fest.
»Und? Ich habe mich auf den Job konzentriert. Wie du siehst, war das eine gute Entscheidung. Vielleicht solltest du dir an mir ein Beispiel nehmen und weniger rumvögeln?« Das hatte gesessen! Oliver presste die Lippen zusammen und sah richtig beleidigt aus. Dabei hatte Nick früher auch nichts anbrennen lassen. Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen, mit wie vielen Frauen er schon im Bett gewesen war.
»Die Tochter von dem Hotelbesitzer würde aber zu dir passen«, meinte Oliver.
»Wenn sie so toll ist, dann versuch du doch dein Glück bei ihr!«
»Die spielt doch in einer völlig anderen Liga! Deswegen will ich, dass du sie klarmachst!«
»Ich soll sie klarmachen?« Mit solchen Begrifflichkeiten konnte Nick wenig anfangen. Er hatte noch nie eine Frau klarmachen müssen. Die Damen hüpften leichtfüßig aus eigener Initiative in sein Bett. Den Verführer zu spielen, war nie nötig gewesen.
Oliver holte tief Luft und sagte:
»Die Sache ist die, ich habe eine neue Freundin! Und ich will sie mal in die Wohnung mitbringen.«
»Tu das! Ich habe kein Problem damit!«
»Wenn sie aber erfährt, dass du Single bist, dann wird sie mit mir Schluss machen!« Nick kaute schweigend auf einer der Nüsse herum, während er sich über Olivers unglücklichen Gesichtsausdruck wunderte. Seine letzte Freundin hatte sich tatsächlich in Nick verknallt und das war zum Problem geworden.
»Das ist erst einmal passiert! Du übertreibst …«, sagte er. Oliver sah nicht überzeugt aus. »Sag ihr einfach, ich habe eine feste Freundin und gut ist!«, schlug Nick vor. Auch das schien seinen Kollegen nicht zufriedenzustellen. Mit grimmiger Miene tunkte Oliver Brot in die übrig gebliebene Soße auf seinem Teller. Nick wandte angeekelt das Gesicht ab. Ray hatte immer Kekse in den Kaffee getunkt. Auch da hatte er dann lieber in eine andere Richtung geschaut, sonst kam ihm sein Essen noch hoch.
Er nahm die Pläne an sich, trank eilig das Glas Wasser aus und verließ den Tisch. Oliver war ihm bald schon auf den Fersen.
»Ich geh noch eine rauchen«, meinte Nick knapp und deutete in die Richtung des Ausgangs.
»Können wir uns später noch mal über die Pläne unterhalten?«, flehte sein Kollege.
»Natürlich.«
Nick schlang den Mantel fest um den Körper, bevor er nach draußen trat. Die kühle Winterluft empfing ihn unbarmherzig. Mit nervösen Fingern holte er die Zigarettenschachtel aus der Manteltasche. Sein Blick war auf den Tower gerichtet. Das Ende seiner Kippe leuchtete glühend auf und Nick inhalierte tief. Er dachte nach.
Früher war er mit vielen verschiedenen Frauen ausgegangen. Lange Beine, schönes Haar, ein stilvolles Auftreten – so etwas gefiel ihm. Aber irgendwann hatte ihn jede Frau gelangweilt. Nur Ray nicht.
Und jetzt war er allein, während sie vermutlich wieder irgendeinen Spinner von der Straße aufgelesen hatte, den sie unbedingt mit ihrer Liebe und Zuneigung retten musste. Nur ihn hatte sie nie retten wollen.
Seine Gesichtsmuskeln waren erstarrt und das lag nicht an der Kälte.
Ray liebte man am besten auf eine rein platonische Weise - um sie nicht zu überfordern. Auch wenn sie es in dieser einen Woche, in der sie zusammen gewesen waren, ungeniert miteinander getrieben hatten! Doch dann war’s plötzlich vorbei gewesen. Er wusste bis heute nicht, warum.
Die Zigarette war aufgeraucht und die Sonne spiegelte sich in den großen Fenstern des Towers.
Nick nahm sich fest vor, Ray ein für alle Mal zu vergessen.
Er musste sich noch mal Gedanken über das neue Projekt machen. Die Scheichs hatten ihr grünes Bewusstsein recht spät entdeckt. Türme waren enorme Energiefresser. Ein vollverglastes Gebäude in der Wüste kühlen zu müssen, war absurd. Trotzdem war das die Chance seines Lebens. Vielleicht dachte er deswegen ständig an Ray. Weil sie ihm das sicher auch vermasseln würde! Sie spukte in seinem Kopf herum, wie ein Geist, der ihn heimsuchen wollte.
Verärgert fuhr er hoch in den fünfzehnten Stock und ging den Gang entlang bis zu seinem Büro. Er hing den Mantel an den Garderobenständer und setzte sich an den Schreibtisch.
Sein Büro war recht groß. Vor zwei Jahren war er noch in einem klitzekleinen Raum gesessen, mit drei seiner Kollegen. Seit der Tower fertiggestellt worden war und seinen Dienst ordnungsgemäß verrichtete, hatte sich sein Leben radikal verändert. Plötzlich war er berühmt.
Er checkte seine Mails und dachte erneut an das Wüstenhochhaus. In Dubai mussten die Arbeiter für wenig Geld in der sengenden Hitze Übermenschliches leisten. Manch einer hatte beim Bau eines derartigen Megaprojekts sein Leben lassen müssen. Nick hatte moralische Bedenken. Ray würde ihm davon abraten, da war er sich sicher.
Und genau deswegen zögerte er.
Nachdem sie sich seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatten, beeinflusste sie ihn noch immer. Es gefiel ihm nicht, aber was konnte er schon dagegen tun?
Rachels Wohnung war riesig. Es gab drei große Schlafzimmer und in einem davon türmten sich die Brettspiele, nach Genre und Alphabet sortiert. In der Mitte stand ein großer Tisch mit vier Stühlen. Dort saß sie nun mit ihrer Mitbewohnerin und mischte Karten.
Die beste Strategie gegen Liebeskummer war seit jeher, sich eine Lebenssituation vorzustellen, die noch viel, viel schlimmer war als ein gebrochenes Herz. Wie auf einer einsamen Insel festzusitzen, ohne Unterschlupf, während sich das Wetter zunehmend verschlechterte.
Sie hatte das Brettspiel Robinson Crusoe vor sich aufgebaut und legte nun das Szenario »Schiffbruch« für Carolin gut sichtbar auf den Tisch.
Mit mittlerweile über einer halben Million verkauften Spielen konnte Rachel es sich leisten, auf großem Fuß zu leben. Aber der viele Platz machte einsam. Und mit Einsamkeit konnte sie nicht umgehen.
»Ich kann das nicht, Ray«, jammerte ihre Mitbewohnerin und schaute ängstlich auf den Spielplan.
Carolin war alles, was Rachel nicht war. Schön, groß - und in einer Beziehung. Mit Matt, der eigentlich Matthias hieß, und auch hier wohnte.
Das Spiel war gar nicht so schwer, wenn man sich damit auskannte. Es war Rachels Liebeskummer-Spiel.
»Wer willst du sein? Der Koch oder der Zimmermann? Dann haben wir noch den Forscher und …«
Carolin entschied sich für den Soldaten. Sie drehte ihre Charaktertafel um, sodass sie nun eine Soldatin war. Das Geschlecht der Spielfiguren war frei wählbar.
Eine Soldatin … Das passte zu Carolin. Sie war stark, eigenständig und kämpferisch. Rachel wählte die Forscherin. Weil sie immer neue Dinge hatte entdecken wollen. Sie tat das auch jetzt. Die Insel, auf der Carolin und sie gestrandet waren, musste erst erschlossen werden.
Ray liebte kooperative Spiele, einige davon ließen sich auch alleine spielen. Nick hatte oft den Kopf geschüttelt, wenn sie Stunden damit zugebracht hatte, sich die bestmögliche Strategie zu überlegen. Er hatte ihr vorgeworfen, ihre Zeit und Energien für die falschen Dinge zu verschwenden.
Rachels Spieleleidenschaft teilten - abgesehen von ihren Arbeitskollegen - nicht viele. Auch Carolin nicht. Trotzdem hatte sie sich ausnahmsweise zu einem Spiel überreden lassen. Vermutlich nur, weil Ray ihr vorhin eine Nachricht geschrieben hatte, mit folgendem, äußerst prägnanten Inhalt: Theo, dieser Trottel, hat mit mir Schluss gemacht.
»Was ist denn passiert?«, fragte Carolin nun vorsichtig, während sie zwei Aktionssteine auf die Abbildung mit dem Unterschlupf setzte. Ein solcher musste schnell gebaut werden, ansonsten erlitt jeder Charakter in der Nacht eine Wunde.
»Nichts ist passiert. Chris will Theos Spiel nicht veröffentlichen. Und da hat er auch ganz recht, die Idee ist von einem bekannten Spiel abgekupfert«, erzählte Rachel.
Theo war nicht der Erste, der sie sitzen ließ, sondern der Fünfte. Und mehr als fünf Freunde hatte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Maren C. Jones
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Tag der Veröffentlichung: 11.12.2016
ISBN: 978-3-7396-9266-1
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