»Versuch's einfach mal!«, hatte Lisbeth, Rosalies beste Freundin, gesagt. Sie waren schon so lange befreundet, dass Rosalie ganz vergessen hatte, wie und wo sie sich überhaupt kennenlernten. Irgendwann, während dem Studium, hatten sie vermutlich im selben Seminar gesessen und den hochspannenden Vorträgen der Professoren gelauscht, im naiven Glauben, all das erworbene Wissen würde sich in naher Zukunft bezahlt machen. Und mit bezahlt, meinte Rosalie auch tatsächlich bezahlt. Sie erinnerte sich noch gut, wie sie nach sieben Jahren des Studiums der Soziologie und Psychologie einen Multiple Choice-Fragebogen hatte ausfüllen müssen. Warum haben Sie sich für Ihr Studium entschieden?, stand da. Eine der Auswahlmöglichkeiten war gewesen: zur Persönlichkeitsentwicklung.
Studieren der Persönlichkeitsentwicklung wegen - ein interessanter Gedanke! Sie hatte studiert, um mal einen tollen und spannenden Job zu haben. Nur leider hatte sie sich für die falschen Fächer entschieden. Heute unterrichtete sie an einer allgemeinbildenden höheren Schule. Die Stellen waren rar, das Gehalt dürftig. Sie war nach Wien gezogen, in der Hoffnung, dort bessere Jobmöglichkeiten vorzufinden. Doch in den letzten Jahren war ihr eines klar geworden: Eine Lehrerin würde es nie zu einem gewissen Wohlstand bringen. Eine Aushilfslehrerin ohne Aussicht auf eine Fixanstellung schon gar nicht, denn sie hatte nicht auf Lehramt studiert.
Die Altbauwohnung, in die sie gezogen war, sah zwar sehr hübsch aus, die Fenster waren aber schlecht isoliert und die Heizkosten explodierten, da die Räume riesig waren. Zudem stand die Dusche in der Küche, gleich neben dem Herd. Sie war nachträglich dort eingebaut worden und es hatte eine Weile gedauert, bis Rosalie sich daran gewöhnte, ihre Handtücher neben den Geschirrtüchern aufzuhängen.
Nun saß sie, wie so häufig, am großen alten Schreibtisch und sortierte ihre vielen Notizzettel. Sie führte penibel genau Buch über ihre Ausgaben. Alles wurde notiert: Vom Lippenpflegestift bis zu den zwei Euro, die sie heute in eine Sammeldose für Kinder in Not geworfen hatte, als sie in einer Drogerie einkaufen war. Das Geld reichte nämlich vorne und hinten nicht!
Ja, versuch's einfach mal … Lisbeths Worte fielen ihr wieder ein.
»Such dir einen Millionär! Du bist hübsch – noch!«, hatte sie gesagt, woraufhin Rosalie antwortete:
»Millionäre wachsen nicht auf den Bäumen.« Vor allem aber warteten sie nicht darauf, dass jemand wie Rosalie vorbeikam und mal am Baumstamm rüttelte, bis sie herunterfielen.
Sie legte ihre Notizen beiseite und öffnete ihr Notebook. Millionäre kennenlernen, tippte sie spaßeshalber in die Suchmaschine ein. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie nicht die Erste und Einzige war, die ein Interesse daran hatte, einen Partner zu finden, der sich, im Vergleich zu ihr, nicht übers liebe Geld den Kopf zerbrechen musste. Neugierig ging sie eine Liste von Tipps durch, die zweifelsohne für suchende Frauen wie sie erstellt worden war. Millionäre traf man also in angesagten Clubs oder auf dem Golfplatz? Spannend!
Seufzend widmete sie sich wieder ihrer bescheidenen Buchhaltung, als ihr Handy klingelte.
»Ja?«, sagte sie sofort. Es war Lisbeth, die sie vermutlich fragen wollte, ob sie sich die Sache mit dem Millionär überlegt hatte. Lisbeth meinte das nämlich todernst! Sie hatte Rosalie immer um ihr Aussehen beneidet: lange Beine, glänzendes Haar, dazu ein hübsches Gesicht. Rosalie erinnerte sich noch gut daran, dass sie vor vielen Jahren unvorbereitet zu einer wichtigen Prüfung erschienen war. Mit dem Lernen hatte es einfach nicht klappen wollen, aber mindestens ein Genügend brauchte sie, um sich für das Aufbauseminar anmelden zu können. Also entschied sie sich dafür, eine beinahe durchsichtige Bluse am Prüfungstag zu tragen, dazu hautenge Jeans und einen knallroten Lippenstift. Dass der Professor eine gewisse Schwäche für sie hatte, war ihr während des Seminars nicht entgangen. Tatsächlich hatte sie eine Zwei gekriegt, die Fragen waren nämlich ungewöhnlich leicht gewesen. Noch heute schämte sie sich für dieses Verhalten!
Wahrscheinlich hatte sie im Laufe ihres Lebens schon viele Männer um den Finger gewickelt, ohne es überhaupt zu merken. Es war auch zu einfach! Genau dieser Tatsache war es geschuldet, dass das männliche Geschlecht sie kaum zu betören vermochte. Männer waren schwanzgesteuert. Ein hübsches Gesicht weckte in ihnen - evolutionsbiologisch bedingt - den Trieb, sich fortpflanzen zu wollen. Das hatte sie in einem ihrer Psychologie-Seminare gelernt und im realen Leben bestätigt gesehen!
Nur leider wünschte sich Rosalie einen klugen Partner, der sich nicht manipulieren und von Äußerlichkeiten beeindrucken ließ. Lisbeth behauptete immer, sie sei zu wählerisch. Viel zu wählerisch!
»Hey, Rosi, ich habe was gefunden«, verkündete ihre Freundin nun stolz am Telefon.
»Was gefunden?«, erwiderte Rosalie, die den Spitznamen Rosi wahrhaft hasste. Das klang doch sehr altmodisch. Aber Lisbeth ließ sie es durchgehen, sie so nennen zu dürfen.
»Ich habe im Internet nach Partnerbörsen recherchiert! Da gibt’s ganz seriöse, da findet man auch wohlhabende Männer! Ich habe dir die Links per Mail geschickt!«
»Danke, Lissi, aber ich bin momentan echt nicht auf der Suche nach ‘nem Kerl.« Rosalie hatte in ihrem Leben schon unzähligen Beziehungsgeschichten lauschen müssen! Auch Lisbeth hatte ihr häufig die Ohren vollgeplärrt, wenn Ivo, ihr letzter Freund, wieder einmal Mist gebaut hatte. Das begann mit den Bartstoppeln im Waschbecken und endete mit einem Seitensprung.
Mit Männern hatte Rosalie in der Regel ganz andere Erfahrungen gemacht. Keine ihrer Beziehungen war besonders leidenschaftlich gewesen. Weder hatte sie leidenschaftlich gestritten noch leidenschaftlich geliebt. Wenn sie so darüber nachdachte, hatten ihre drei Exfreunde vermutlich nicht einmal gewusst, was Leidenschaft überhaupt war. Wusste sie es denn?
»Rosi, mit deinem Aussehen kannst du doch jeden haben!« Die Bitterkeit in Lisbeths Stimme war nicht zu überhören. Ihre Freundin hätte gerne mit ihr getauscht, da war sich Rosalie sicher. Lisbeth war nämlich recht klein, etwas mollig und ihre zu groß geratene Nase hatte sie schon oft begradigen wollen, es aber bislang nie gewagt. Auch Schönheitsoperationen bargen ein nicht zu unterschätzendes gesundheitliches Risiko! Nur war Lisbeth Folgendes nicht klar: Gutes Aussehen führte dazu, dass die Männer sich selten die Mühe machten auch hinter die Fassade zu schauen. Aber solche und ähnliche Bedenken fielen für Lisbeth unter die Rubrik Jammern auf hohem Niveau. Und vielleicht hatte sie ja recht damit!
»Ich will aber nicht jeden, Lissi«, erwiderte Rosalie müde. »Ich guck mir die Links mal an, okay?«
»Also ich an deiner Stelle …«
»Du bist aber nicht an meiner Stelle, ja? Wir hören uns später.« Rosalie legte auf, im Wissen ihre Freundin beleidigt zu haben.
Lisbeth hatte mit elf Jahren zum ersten Mal einen Jungen geküsst, mit dreizehn hatte sie Sex gehabt. Als Rosalie zum ersten Mal spürte, wie es war, wenn einem ein Junge die Zunge in den Mund steckte – und noch was weit Größeres zwischen die Beine –, war sie neunzehn Jahre alt gewesen. Ein Spätzünder, vermutlich! Angebote hätte es aber genug gegeben, schon viel, viel früher. Nur leider war sie von Natur aus ein vorsichtiger Mensch, der sich nicht kopflos in eine Liebesbeziehung stürzte.
Seufzend öffnete sie die Mail, die Lisbeth ihr geschrieben hatte. Single zu sein war in den Augen ihrer Freundin ein bedauernswerter Zustand. Rosalie wusste, dass sie es eigentlich nur gut meinte!
Die Liste der Links war lang. Zwei hatte Lisbeth jedoch hervorgehoben, mit der Bemerkung: sehr seriös! Rosalie bereute zutiefst, dass sie in Gegenwart ihrer Freundin regelmäßig über ihre finanzielle Situation gejammert hatte. Nur deswegen glaubte Lisbeth, ihr nun bei der Suche nach einem reichen Mann helfen zu müssen.
Rosalie hatte schon viele Männer kennengelernt, auch wenn sie nur mit dreien zusammen gewesen war. Sie erinnerte sich an den Schriftsteller, der in einem Wohnwagen hauste und an den aufstrebenden BWL-Studenten, der mal das Unternehmen seines Vaters übernehmen sollte. Sie hatte den einen nicht mehr geliebt als den anderen. Die Liebe verging, das Geld aber blieb – im besten Fall. Derartige Gedanken waren moralisch verwerflich, auch wenn sie der Wahrheit entsprachen. Romantische Gefühle hatten in der Regel ein rasches Ablaufdatum.
Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, sich einen Millionär zu angeln? Wenn sie sich ordentlich in Schale warf, dann hatte sie vielleicht eine Chance? Außerdem war sie jung, neunundzwanzig Jahre alt. Solange sie die Dreißig noch nicht überschritten hatte, war alles gut.
Mutig klickte sie auf einen der Links. Die Online-Partnerbörse machte wirklich einen seriösen Eindruck. Sie registrierte sich, loggte sich ein und sofort wurde sie von einer Vielzahl von Fragen bedrängt. Einen Persönlichkeitstest musste sie ausfüllen. Teilweise fühlte sie sich überfordert, da sie Dinge gefragt wurde, über die sie noch nie zuvor wirklich nachgedacht hatte. Wollte sie Nähe in einer Beziehung oder doch eher Distanz? Hatte sie ein Bedürfnis nach Schutz oder wollte sie Unabhängigkeit? Wie ging sie mit Konflikten um? Eine siebenstufige Skala stand ihr zur Einschätzung zur Verfügung.
Seufzend kämpfte sie sich durch die vielen Fragen. Unter anderem musste sie angeben, ob ihr Status, finanzielle Sicherheit und beruflicher Erfolg in einer Beziehung wichtig waren – ja, ja, natürlich ja! Und dann lud sie noch schnell ein Foto von sich hoch, das sie in den Untiefen ihrer Festplatte fand. Sie hatte ihr Profil erstellt und nun konnte es losgehen! Aber was genau ging los? Musste sie mit Männern Kontakt aufnehmen? Plötzlich kam sie sich schrecklich albern vor und knallte den Deckel des Notebooks zu. Hatte sie das wirklich nötig?
Schlecht gelaunt widmete sie sich nun den Tests ihrer Schüler, die sie bis morgen korrigieren musste. Einen konkreten Berufswunsch hatte sie eigentlich nie gehabt. Sogar nach dem Studium hatte sie noch immer nicht gewusst, wie ihr zukünftiges Leben aussehen sollte und womit sie sich wirklich beschäftigen wollte! Ursprünglich hatte sie vorgehabt, soziologische Untersuchungen durchzuführen, wissenschaftlich zu arbeiten. Aber leider war sie keine Einser-Studentin gewesen, die das Studium mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, und eine Karriere an der Universität verlangte genau das!
Aber irgendetwas würde sich schon ergeben, dachte sie damals. Und das stimmte auch. Aber an einem Gymnasium unterrichten? Hatte sie überhaupt Talent dafür? Ihre Schüler schienen ihr oft nicht zuzuhören und es lag vermutlich an ihr, da sie es nicht schaffte, deren Aufmerksamkeit angemessen zu bündeln.
Mit einem roten Stift markierte sie die Fehler, als sie eine SMS erhielt. Sie war von Lissi. Ihre Freundin schrieb:
Tut mir leid, Rosi. Aber guck dir doch mal die Links an! Du wirst es nicht bereuen!
Rosalie nahm nicht gerne Ratschläge von anderen an. Aber vielleicht war es an der Zeit, eine Ausnahme zu machen? Sie öffnete ihr Notebook erneut und da stand:
Sie haben drei neue Nachrichten.
Rasch öffnete sie die Mails und sah, dass bereits drei Männer mit ihr Kontakt aufnehmen wollten. Sie war nicht überrascht. Das Foto, das sie hochgeladen hatte, war nämlich klasse. Sie sah aus wie ein Model aus dem Katalog. Ihr Exfreund, der Schriftsteller, der auch Hobby-Fotograf war, hatte sie gerne abgelichtet. Auch nackt hatte er sie fotografieren wollen, aber das war ihr dann zu weit gegangen. Sie hätte es ihm zugetraut, die Fotos auszustellen. Und ihr war nicht daran gelegen, ihren nackten Körper einer großen Zahl von Menschen zur uneingeschränkten Betrachtung zur Verfügung zu stellen. Ihr Körper hatte ihn weit mehr fasziniert als ihre Persönlichkeit. Eine Tatsache, die sie mit großem Missfallen zur Kenntnis genommen hatte.
Neugierig durchforstete sie die Profile der Männer. Da gab es Matching Points, die anzeigten, wie gut sie zu den Männern passte, wie kompatibel sie war. Sogar die Liebe ließ sich nun schon berechnen! Alle Männer waren mindestens zehn Jahre älter als sie. Kopfschüttelnd wollte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Tests ihrer Schüler widmen, als eine neue Partneranfrage hereinkam.
Millionär sucht Frau mit Herz und Verstand, die Ausdauer, Geduld und viel Verständnis mitbringt.
Ausdauer, Geduld und viel Verständnis - das klang nicht besonders betörend! Dennoch betrachtete sie das Profil des Fremden genauer. In vielen Bereichen stimmten sie überein. Er schien ein eher distanzierter Mensch zu sein, dem seine Unabhängigkeit wichtig war. Er war einfühlsam, ehrgeizig, scheute Konflikte - und da war auch ein Foto. Ein ungläubiges Lachen verließ ihre Kehle. So gut konnte er nie und nimmer aussehen! Das Bild war ein Fake, zweifellos. Dennoch klickte sie auf Kontakt aufnehmen, noch ehe sie sich versah.
Was hatte sie schon zu verlieren?
Die Antwort folgte prompt und sie wurde zu einem Chat eingeladen. Ihr Herz klopfte wie verrückt, als sie sich darauf einließ.
Hallo schöne Frau!, stand da.
Ach, ihre Schönheit war wieder das einzige Thema.
Hallo schöner Mann!, konterte sie frech. Ist das Foto echt?
Ein Smiley war die Antwort. Und dann schrieb er: Ist denn dein Foto echt?
Natürlich. Ich bin ein ehrlicher Mensch.
Tatsächlich hatte Rosalie noch nie in ihrem Leben gelogen oder etwas getan, was gegen ihre Moralvorstellungen verstieß – bis auf den Vorfall mit der durchsichtigen Bluse.
Lust auf ein Treffen?, fragte er. Der ging ja ran!
Wo? Doch nicht in deinem Schlafzimmer?
Wieder war ein Smiley die Antwort.
Nein, nicht im Schlafzimmer. Ich dachte an einen neuen Club in der Stadt. Du lebst in Wien?
Sie hatte Wohnort und Postleitzahl angeben müssen.
Ja, tue ich. Schon seit einigen Jahren. Welcher Club denn?
Er nannte ihr den Namen und die Adresse und trug ihr noch auf, sich etwas Hübsches anzuziehen. Er würde eine rote Krawatte tragen und sie beschloss sich eine rote Blume als Erkennungsmerkmal ins Haar zu stecken. Dann verließ er den Chat und sie hatte ein Date. Das ging ja schnell …
Ob sie Lisbeth mitnehmen sollte? Das Ganze war ihr sehr suspekt. Als sie nach dem Club recherchierte, - es war ein Jazzclub und sie liebte Jazz -, bemerkte sie, dass dort wohl nur die Wohlhabenden zukünftig ihre Abende verbringen würden. Zumindest schien es nicht gelogen zu sein, dass er Kohle hatte.
Tomas betrachtete eingehend sein Spiegelbild, während er im Bad stand und sich die Zähne putzte, von links nach rechts, immer in gleichmäßigen Kreisen. Er sah müde aus, was nicht weiter verwunderlich war, schließlich hatte er bis eben an einem neuen Projekt gearbeitet. Er beugte sich nach unten, spuckte die Zahnpasta ins Becken, spülte den Mund aus und wusch sich noch das Gesicht. Er verwendete bewusst kaltes Wasser.
Ein rascher Blick auf sein Smartphone, welches er stets bei sich trug und im Moment auf der Ablage unterm Spiegel ruhte, verriet ihm, dass es bald ein Uhr nachts war, in mitteleuropäischer Zeit, und neun Uhr morgens, in japanische Zeit.
Er hatte um Punkt neun eine Videokonferenz, eine Teambesprechung. Nur war er das einzige Teammitglied, welches sich nicht vor Ort befand. Während seine Kollegen fit und ausgeschlafen waren, weil ihr Arbeitstag gerade erst anfing, litt Tomas an Müdigkeit. Er konnte ein Gähnen nicht unterdrücken und klatschte sich mit beiden Händen gegen die Wangen, um wach zu bleiben. Noch fünf Minuten bis zur vollen Stunde …
Rasch ging er zurück ins Wohnzimmer, wobei er über unzählige Kabel und technische Geräte steigen musste. In seiner Wohnung gab es nicht einen Quadratmeter freien Raum. Überall standen Computer, Notebooks, Bildschirme und Spielkonsolen. Marius, sein bester Freund, machte ihn regelmäßig darauf aufmerksam, dass er in einem wahren Saustall lebte, wo niemand freiwillig einen Fuß hineinsetzen wollte. Und dennoch besuchte er ihn regelmäßig!
Noch drei Minuten … Die Uhr tickte …
Tomas erreichte mit Mühe den Kleiderschrank in seinem Schlafzimmer und zog ein fein gebügeltes Hemd, eine Krawatte und eine Anzugjacke daraus hervor, die er noch aus dem Plastiküberzug befreien musste, den sie in der Wäscherei darübergestülpt hatten. Er zog sich in Windeseile an und betrachtete sich skeptisch im Spiegel. Die Frisur saß, die Krawatte auch, den Hemdskragen klappte er nach unten. Er sah gut aus! Die Spiderman-Pyjamahose passte zwar nicht zum restlichen Outfit, aber diese konnte auch niemand sehen. Er würde während der Konferenz am Tisch sitzen und die Kamera zeigte nur seinen Oberkörper. Mit schnellen Schritten stieg er über ein kaputtes Netzteil und ein altes 56k-Modem, bevor er sich schwungvoll an seinen Schreibtisch setzte. Die Wand hinter ihm schmückte ein großes Poster, welches den nächtlichen Blick über die Dächer Wiens freigab und den Eindruck erweckte, als würde er vor großflächigen Fenstern hocken, die Stadt im Rücken. Das Poster sah erstaunlich echt aus. Tomas inszenierte sich ganz gern. Die Realität war im Vergleich dazu auch recht düster: In seiner unmittelbaren Nachbarschaft gab es nichts weiter zu bestaunen als die grauen Fassaden von schmucklosen Wohnblöcken.
Noch dreißig Sekunden … Die Asiaten waren immer pünktlich!
Er loggte sich ein. Die Videokonferenz konnte beginnen und schließlich, genau um neun Uhr, war er in Japan. Nicht physisch, aber zumindest virtuell. Er blickte in eine Runde von Anzugträgern mit vollen Gesichtern, die ernster dreinblickten, als ihm lieb war. Die Besprechung konnte beginnen!
»Ohaiyou Gozaimasu«, sagte er höflich und vollführte eine 15 Grad-Verbeugung. Damit hoffte er, seinen Teamkollegen und Auftraggebern angemessen Respekt entgegengebracht zu haben. Sein Gruß wurde erwidert und das restliche Gespräch führte er in Englisch fort.
*
Am nächsten Morgen klingelte es an seiner Wohnungstür. Tomas murrte verschlafen und drückte sich das Kissen gegen die Ohren, aber das Geräusch war zu penetrant und vor allem wollte es nicht aufhören.
»Verdammt, was ist denn?!«, rief er aufgebracht, während er sich aus dem Bett kämpfte und dabei auf etwas kleines Hartes trat, das sich unangenehm in seine Fußsohle bohrte. Wahrscheinlich war es nur ein USB-Stick. Aufräumen lag ihm nicht. In seinem Schlafzimmer roch es schon seit einiger Zeit sehr unangenehm. Vermutlich vergammelte irgendwo ein Teil seines Mittagessens, das er sich gerne im Bett genehmigte, während er fernsah, da er auf der Couch einen süßen Fruchtsaft vor nicht allzu langer Zeit verschüttet hatte. Die Polsterung war nicht nur schmutzig, sondern auch klebrig. Gemütliches Chillen im Wohnzimmer vor dem Fernseher war seitdem unmöglich.
Und noch immer klingelte es. Tomas fluchte laut und humpelte nach draußen in den Flur. Natürlich stand Marius vor seiner Tür. Marius, sein langjähriger Freund und sein … Kindermädchen. So schien dieser seine Rolle jedenfalls oft zu begreifen!
»Was ist denn? Ich hatte gestern nach Mitternacht eine zweistündige Videokonferenz und du holst mich um …« Er blickte auf sein Handy und fuhr leise fort: »Zehn Uhr aus dem Bett. Zehn Uhr? Schon so spät?«
»Ja, schon so spät«, brummte Marius und hielt sich plötzlich die Nase zu. »Wie hältst du das nur aus? Hier stinkt’s doch wie auf einer Müllhalde!«, schimpfte er.
»Jetzt übertreib mal nicht«, brummte Tomas, trat zur Seite, um seinen Freund einzulassen, und guckte dabei immer noch verschlafen auf das Handy, welches ihm 10:02 anzeigte, UTC+1. Die Japaner hatten ihren Arbeitstag im besten Fall hinter sich und Tomas noch vor sich.
Marius Stimme ertönte aus dem Wohnzimmer: »Hast du nicht eine Putzfrau?«
»Die hat gekündigt!«, rief Tomas ihm zu, bevor er ihm folgte.
»Na, warum wohl?«, erwiderte Marius spöttisch. Tomas‘ Freund war fast einen Kopf kleiner als er, hatte erst kürzlich seinen zweiunddreißigsten Geburtstag gefeiert und vermutlich zu viel Torte gegessen. Das Wohlstandsbäuchlein konnte und wollte er nicht verstecken. Er trug legere Jeans, dazu ein kariertes Hemd, und dachte offenbar seit zwei Monaten, ein Spitzbärtchen würde seinem Gesicht mehr Reife verleihen. Seine Frau Lidia hatte ihm mit Scheidung gedroht, wenn er es sich nicht endlich wieder abrasierte, aber er war hart geblieben und die beiden liebten sich wohl zu sehr, als dass eine hässliche Gesichtsbehaarung etwas daran ändern konnte.
»Ist nicht meine Schuld! Die wollte doch tatsächlich, dass ich den Boden von meinem Kram befreie, bevor sie hier putzt. Aber das geht doch nicht …« Mit einer ausladenden Armbewegung versuchte er Marius klarzumachen, dass die Sachen nun mal nur auf dem Boden Platz fanden. Und sie wegzuwerfen war natürlich keine Option. Er hing an jedem einzelnen Teil.
»Wofür brauchst du diesen ganzen Kram eigentlich, hm?«, fragte sein langjähriger Freund und stieß mit dem schmutzigen Turnschuh gegen einen alten PC, der sich seit beinahe zwanzig Jahren in Tomas‘ Besitz befand. Darauf lief Windows 3.11 und das Teil funktionierte heute noch!
»Ich kann mich von so was eben schwer trennen«, sagte Tomas pampig.
»Schwer trennen nennst du das? Ich nenn das zwanghaftes Horten!«
Tomas verdrehte die Augen und setzte sich ans Ende der Couch, dorthin, wo sich kein klebriger Fruchtsaftfleck befand. Sein Freund Marius schien es vorzuziehen zu stehen.
»Also, was willst du? Außer mir die typischen Vorhaltungen zu machen?«
»Ich habe eine Frau für dich gefunden«, antwortete Marius ohne Umschweife.
»Was hast du?«, fragte Tomas verwundert. Eine Frau? Hatte er ihm eine Gummipuppe besorgt? Schon wieder? Wie damals als Geschenk zu seinem dreißigsten Geburtstag? Die Puppe, die er heute noch im Schrank bunkerte, war vermutlich auch schuld daran gewesen, dass seine Putzfrau das Weite gesucht hatte! Die Dinger sahen nämlich erschreckend real aus und alle Körperöffnungen konnten penetriert werden. Nicht, dass er es je versucht hatte! Mit dem Geschenk hatte sich Marius natürlich einen makaberen Scherz erlaubt!
»Ich habe eine Frau für dich gefunden! Hörst du nicht zu? Du musst hier endlich mal wieder raus, sonst wirst du immer … merkwürdiger!«
»Ich bin nicht merkwürdig«, entgegnete Tomas beleidigt. »Und was für eine Frau, verdammt! Ich brauche keine Frau. Ich meine, doch, ich brauche eine Putzfrau, aber keine … ähm …« Er kratzte sich am Hinterkopf und fühlte sich unwohl. Mit Frauen hatte er schon immer seine Probleme gehabt. Marius konnte das natürlich nicht verstehen. Der war mit seiner Sandkastenliebe seit beinahe zehn Jahren verheiratet und hatte zwei süße Rotzlöffel, einen Jungen und ein Mädchen, fünf und sieben Jahre alt. Er war Familienvater aus ganzem Herzen und turtelte mit seiner Lidia, als wären die beiden noch frisch verliebte Teenager.
»Du brauchst sicher eine Frau. Glaub mir! Und wie du eine Frau brauchst …«
Seufzend sah sich Tomas in der Wohnung um. Es roch wirklich unangenehm. Er würde später mal lüften müssen.
»Und wo hast du diese Frau gefunden?«, hakte er mürrisch nach.
»Im Internet. Heutzutage findet man alles im Internet! Wusstest du das nicht?« Er grinste breit und Tomas dachte erneut an die Gummipuppe, ob er wollte oder nicht.
»Und was will sie von mir?«, fragte er verwirrt.
»Dich kennenlernen, natürlich! Was denn sonst? Ich habe sie in einer Partnerbörse aufgespürt. Ein hübsches Ding, sag ich dir! Und frech ist sie auch! Hier!« Er hielt ihm ein paar Seiten Papier hin. »Ihr Profil! Was sie so gemacht hat, was ihr gefällt, was ihr in einer Beziehung wichtig ist!«
»Was soll ich damit?« Tomas schob die Zettel beiseite und lehnte sich zurück. Was er wirklich brauchte, war ein warmes Bad in einem Whirlpool, eine Nase Koks und einen Abstecher in sein Lieblingskasino in Vegas. Aber das erzählte er Marius natürlich nicht.
»Du sollst dich mit ihr treffen!«, rief Marius laut, als würde er glauben, Tomas litte an Schwerhörigkeit. »Und zwar morgen, im neuen Jazzclub. Du magst doch Jazz! Und sie auch! Also ist es perfekt! Ich habe schon alles organisiert. Wird nicht billig! Sie trägt eine rote Blume im Haar und du wirst dir eine rote Krawatte umbinden.«
Verwundert starrte Tomas seinen Freund an und fragte sich ernsthaft, ob dieser denn völlig den Verstand verloren hatte.
»Ich treffe mich doch nicht mit einer Wildfremden! Was soll das denn? Und warum will sie mich kennenlernen?«
»Vermutlich weil du Kohle hast. Aber das ist nun mal das einzig Positive an dir«, erwiderte Marius ungeniert.
Tomas schnaubte verächtlich. »Das weiß sie?« Er griff endlich nach den Zetteln, mit welchen sein Freund immer noch vor seiner Nase herumwedelte. Die Kleine war wirklich, wirklich hübsch.
»Das Foto ist ein Fake, ist doch klar«, sagte er matt.
»Warum?«
»Weil keine so hübsch ist und dabei noch Single.«
»Und was ist mit dir? Du siehst auch gut aus und bist noch Single«, erwiderte Marius.
»Ich habe eben gute Gene und keine Zeit für Beziehungsstress.«
»Vielleicht hat die Kleine ja auch gute Gene? Und auch keine Zeit für Beziehungsstress? Zumindest hatte sie bislang keine Zeit für Beziehungsstress …«
»Das Foto ist Fake und sie will sich nur einen reichen Kerl angeln. Das ist alles. Warum … Ich meine, warum schreibst du ihr, dass ich Kohle habe? Wie blöd kann man sein?«
»Was sollte ich denn sonst schreiben? Dass du charmant bist, freundlich, gesellig, humorvoll, großherzig -«
»Ich hab’s verstanden! Ich bin ein Arschloch und nicht liebenswert. Aber wenigstens habe ich Geld.«
»Das hast du gesagt!«
Tomas betrachtete das Foto und las sich ein paar Details durch. Sie nannte sich LostGirl.
»Wie heißt sie wirklich?«, fragte er seinen Freund.
»Keine Ahnung. Aber der Nick ist gut … hätte mir auch einfallen können … LostMan.«
»Ich bin nicht verloren, klar? Ich hab nun mal viel zu tun! Und wie kommst du dazu, dich für mich auszugeben?«
»Was sollte ich denn sonst tun? Ich habe doch für dich eine Frau gesucht und nicht für mich!«
»Ich habe dich aber nicht darum gebeten!«, rief Tomas genervt.
»Du wirst noch sterben ohne je gelebt zu haben, wenn das so weitergeht«, kommentierte Marius nüchtern.
»Oh, ich weiß genau, was es heißt, zu leben!«, empörte sich Tomas lautstark. »Schon den letzten Vegas Trip vergessen, hm?« Für Marius war es wohl der erste und letzte Trip in die Sin City gewesen. Er hatte fünftausend Dollar verloren und Tomas wurde schlagartig klar, daran hätte er seinen Freund lieber nicht erinnern sollen!
» … und warmherzig und großzügig. So großzügig die Schulden eines Freundes zu bezahlen, die dieser nur deinetwegen gemacht hat!«
»Hey, ich habe zehntausend verloren. Mir hat’s gereicht.« Seine Mutter hatte davon erfahren und ihm eine gescheuert. Eigentlich hatte sie ihn zweimal geschlagen, auf beide Wangen. Dabei hatte sie das noch nie zuvor getan und sie wusste auch nicht, dass er Millionen auf seinem Konto hortete. Da waren zwanzigtausend Dollar wahrlich nur Peanuts.
Marius verließ kopfschüttelnd die Wohnung und rief ihm im Gehen noch zu: »Morgen um sieben Uhr abends! Steht alles auf der Rückseite! Geh auf alle Fälle hin!«
»Mach ich, mach ich!«, erwiderte Tomas. Dann legte er die Zettel auf die Couch, bedauerlicherweise auf den klebrigen Teil. Nur mit Mühe konnte er sie wieder von der Polsterung befreien.
LostGirl … eine Online-Bekanntschaft. Im Internet hielten sich doch nur die Verzweifelten und Sozialphobiker auf! Trotzdem würde er hingehen müssen. Ansonsten würde Marius in Zukunft noch stärker an ihm herumkritteln, als er es ohnehin schon tat.
Sein Freund kam noch mal zurück und sagte:
»Und benimm dich bitte …«
»Hm?«
»Du weißt schon! Sei einfach du selbst!«
»Das bin ich immer!«, erwiderte Tomas verwundert.
»Ach ja? In deinen eigenen vier Wänden bist du ein Nerd, außerhalb dieser vier Wände ein absoluter Snob. Versuch’s mal mit der Mitte! Die Mitte, Tomas! Die Mitte!« Marius fuchtelte mit seinen Händen herum, was Tomas nur dazu veranlasste seine Stirn in tausend Falten zu ziehen.
»Hab’s verstanden! Die Mitte …«, wiederholte er tonlos. Marius schien nicht überzeugt, verließ dann aber endgültig mit hängenden Schultern die Wohnung.
Tomas erhob sich seufzend, öffnete die Fenster und sah sich um. Seine Wohnung war wirklich ein Schweinestall, aber er hatte die letzten Wochen ohne Pause wie ein Irrer an dem neuen Projekt gearbeitet. Er war IT-Ingenieur, spezialisiert auf Game-Engines. Und zweifellos war er sehr talentiert. Schon vor zehn Jahren hatte er eine Grafik-Engine entworfen, die er seitdem ständig weiterentwickelte, sodass sie heute weltweit zu den am häufigsten verwendeten Game-Engines zählte.
Tief atmete er ein und aus. Er fühlte sich schlapp, wie nach dem Entzug, dabei hatte er schon vor Monaten mit dem Koks aufgehört. Der Job war seine neue Droge, nein, er war schon immer seine Droge gewesen!
Wie erwartet waren die Japaner von der Qualität seiner Arbeit beeindruckt. Die Grafik war atemberaubend und fraß bei weitem weniger Arbeitsspeicher als üblich. Seine Spiele sahen aus, als kämen sie aus Hollywoodstudios, dabei liefen sie problemlos auf gewöhnlichen Notebooks.
Erschöpft ging er ins Bad. Sich auf die Suche nach einer Frau zu machen, war vielleicht gar keine schlechte Idee. Seit er sich von Anja getrennt hatte, lebte er zölibatär. Tomas verzog gequält das Gesicht, das tat er immer, wenn er an seine Exfreundin dachte.
Eine kalte Dusche war genau das, was er jetzt dringend brauchte. Neben der Müdigkeit verscheuchte sie hoffentlich auch die Gedanken an Anja.
Rosalie machte sich auf den Weg zum Club, mit der U-Bahn fuhr sie hin. Während sie ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe der Bahn-Türen betrachtete, überlegte sie sich, welchem Frosch sie heute Abend wohl begegnen würde. Lisbeth hatte sie nichts von dieser Verabredung erzählt. Der Club würde sicher rammelvoll sein, heute war die Eröffnung! Solange sie nicht mit dem mutmaßlichen Millionär alleine in einer dunklen Gasse endete, hatte sie nichts zu befürchten.
Seufzend blickte sie weiterhin geradeaus in ihr Spiegelbild. Sie trug die Haare offen, das Gesicht hatte sie etwas gepudert, die Lippen kirschrot bemalt. Sogar ihre Fingernägel hatte sie lackiert, natürlich auch kirschrot. Sie mochte den Schneewittchen-Look. Haar so schwarz wie Ebenholz, die Haut weiß wie Schnee und die Lippen rot wie Blut …
Sie sah gut aus. Vielleicht zu gut? Die Blume im Haar hatte sie natürlich nicht vergessen. Und das Kleid, das sie trug, war türkis und sehr elegant. Es reichte ihr bis zu den Knien. Ihr dunkler Mantel endete zehn Zentimeter weiter oben.
Schließlich war sie angekommen, verließ die U-Bahn und fuhr mit der Rolltreppe nach oben. Aus ihrer Handtasche kramte sie einen Stadtplan hervor. In dieser Gegend hatte sie sich noch nie aufgehalten. Aber Wien war zu groß, um jede Ecke zu kennen. Ihr Weg führte sie zu einem wohl erst kürzlich errichteten Gebäude. Die Fassade war glatt und schmucklos. Ein Neonschild war über dem Eingang angebracht. Joffrey’s stand oben. Davor gab es eine kurze Menschenschlange. Sie stellte sich vorsichtig an deren Ende und erkannte sofort, dass sie nicht overdressed war. Sowohl Frauen wie Männer waren recht schick gekleidet, als stünden sie vorm Volkstheater und nicht vor einem Club.
Ganz langsam wurde einer nach dem anderen eingelassen, und Rosalie dämmerte es mittlerweile, dass nur diejenigen den Club betreten durften, deren Name sich auf einer Liste befand. Ihrer würde niemals oben stehen! Der unbekannte Fremde, der offenbar sehr großzügig war, wenn er sie zu einem Treffen in einem derartigen Nobeletablissement einlud, kannte ihren Namen nicht!
Sie schluckte schwer, denn nun war sie dran.
»Ihr Name?«, fragte die Dame an der Empfangstheke freundlich. Ein bulliger Kerl, der zweifellos zur Security gehörte, sorgte dafür, dass niemand unrechtmäßig weitergelassen wurde.
»Ähm … Rosalie Beringer«, erwiderte Rosalie verunsichert. Die Frau tippte ihren Namen in den Computer und sagte sofort:
»Tut mir leid! Eine Rosalie Beringer steht nicht auf der Liste.« Sie kommunizierte mit dem bulligen Kerl via Handzeichen und Rosalie erwartete bereits, hochkant hinausgeworfen zu werden!
»Ich wurde eingeladen«, sagte sie rasch und spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Hatte sich der Unbekannte einen Scherz mit ihr erlaubt?
Die Empfangsdame betrachtete sie eindringlich, dann fiel ihr Blick auf die Blume in Rosalies Haar.
»Ach, die Frau mit der roten Blume!«, sagte sie überrascht. Sie winkte einen jungen Mann im Anzug zu sich, dessen kurzes, schlohweißes Haar zu seinem jugendlichen Gesicht nicht passen wollte. Die beiden tuschelten miteinander und bald darauf trat der Jüngling auf Rosalie zu und sagte höflich:
»Kommen Sie bitte mit mir, Frau …«
»Beringer«, ergänzte Rosalie.
Sie folgte verunsichert dem Jungspund mit dem weißen Haar – weiß war ja trendy – ins Innere des Clubs. Wärme schlug ihr sofort entgegen und leise Jazzklänge. Dazu angenehme Aromen, die sie nicht einordnen konnte. Sie fühlte sich augenblicklich wohl. Der Club war recht voll. Aber da der Raum sehr groß war, fühlte sie sich nicht eingeengt. Um die Bühne herum standen Tische und Stühle wie in einem Restaurant. Die Künstler schienen voll und ganz in ihrer Musik aufzugehen. Während das Solo des Saxophonisten sie in den Bann zog, richtete der Junge mit dem weißen Haar das Wort an sie:
»Frau Beringer? Hier lang bitte!«
Sie hatte geglaubt, sie würde an einen der Tische gebracht, stattdessen führte er sie über eine Seitentreppe nach oben auf eine Art Tribüne. Die VIP-Lounge, wie sie vermutete. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals und nervös strich sie ihren Mantel glatt. Sie hatte sich in der U-Bahn absichtlich nicht hingesetzt, weil sie Knitterfalten im Stoff vermeiden wollte. Sah sie gut genug aus, um sich hier mit einem zweifellos wohlhabenden Mann zu treffen? Ihre Knie zitterten … Vermutlich war er gar nicht einunddreißig, wie auf seinem Profil stand, sondern älter, viel älter … Hatte er ihr deswegen sofort geschrieben? Millionäre mochten doch hübsche, junge Frauen! Beinahe wollte sie sich umdrehen und kehrtmachen. Das mulmige Gefühl im Magen verstärkte sich zunehmend.
»Bitte sehr!«, sagte der junge Mann im Anzug höflich. Er hatte den Arm ausgestreckt und bedeutete ihr den Weg. Es gab hier oben keine Stühle, sondern elegante Ledersessel, die sehr bequem aussahen. Weiter hinten befand sich eine Bar. Sie war eine der wenigen Gäste und blickte sich rasch um, in der Erwartung, ihren Froschkönig gleich zu treffen. Bewusst suchte sie Blickkontakt mit den älteren Männern.
»Herr Seiwald verspätet sich. Wenn sie währenddessen etwas trinken möchten …«
»Ähm, nein, danke! Ich warte vorerst«, erwiderte sie rasch und zog sich den Mantel aus. Er nahm ihn ihr sofort ab und sie blickte ihm verwundert hinterher, als er damit verschwand. Wieder spürte sie Hitze in ihren Wangen, als sie sich endlich auf die Couch setzte, die genau für zwei Menschen Platz bot. Sie presste ihre Knie zusammen und zog am Saum ihres Kleides. Der Rock war viel zu kurz, wie ihr jetzt erst klar wurde. Erweckte sie damit einen falschen Eindruck? Sollte sie das Gefühl haben, er wollte für seine Großzügigkeit eine Gegenleistung, würde sie sofort aufstehen und verschwinden. Aber vorerst versuchte sie sich zu beruhigen und der Musik zu lauschen. Ein neuer Musiker war auf die Bühne getreten, der die anderen zu einer Jam Session herausforderte.
Rosalie war von der edlen Einrichtung und der guten Musik fasziniert, sodass sie nicht bemerkte, als jemand auf sie zukam.
»Darf ich mich setzen?«, fragte eine raue Stimme.
Sie sah kurz auf und blickte in das Gesicht des Mannes, den sie von dem Foto kannte. Ihr Mund stand ihr vor Überraschung offen. Das Foto war tatsächlich echt gewesen?
»Ähm, ja, natürlich.« Beinahe verhaspelte sie sich noch!
Er trug einen Anzug, schick, zweifellos. Und eine verdammt protzige Uhr. Eine Rolex? Mit Uhren kannte sie sich nicht aus. Außerdem umrahmte ein perfekt getrimmter Kinnbart sein schönes Gesicht.
Vorsichtig setzte er sich ihr gegenüber und gleich darauf wuselte ein Kellner auf sie zu, der danach fragte, was sie trinken wollten.
»Einen Whisky Sour, bitte!«, ordnete der Prinz an, der doch kein Frosch zu sein schien.
»Für mich bitte ein Glas Weißwein!« Sie mochte keine harten alkoholischen Getränke und Cocktails waren ihr in der Regel zu süß.
Die Bestellung wurde aufgenommen und nun waren sie alleine. Rosalie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Ihre Lippen fühlten sich trocken an, genauso wie ihre Kehle. Ein junger, hübscher, wohlhabender Mann interessierte sich für sie? Warum nur? Sie war keine Dame von Welt. Es war klar, dass er nur das Eine von ihr wollte.
»Verrätst du mir deinen richtigen Namen?«, fragte er charmant, als sie sich noch überlegte, welche Körperhaltung sie annehmen sollte. Eigentlich hätte sie sich gerne nach hinten gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und die Beine lang ausgetreckt. Aber in einem derartigen Etablissement und in dieser Gesellschaft wäre dies vermutlich mehr als unangebracht gewesen! Stattdessen schlug sie vorsichtig die Beine übereinander und streckte ihren Rücken durch, um möglichst aufrecht zu sitzen. Ihre Begleitung schien ihre Unsicherheit zu bemerken. Er musterte sie nämlich von Kopf bis Fuß und sein linker Mundwinkel wanderte kaum merklich nach oben.
»Ich heiße Rosalie. Rosalie Beringer.«
»Rosalie …«, wiederholte er. »Ein hübscher Name. Und warum bist du heute hier, Rosalie?«
»Hm? Weil Sie mich eingeladen haben?«, erwiderte sie verunsichert.
»Du musst mich nicht siezen«, sagte er. Dann stand er auf und setzte sich zu ihr, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit! Er rückte ganz nah an sie heran, sodass sie eine leichte Gänsehaut auf ihren Unterarmen fühlte.
»Wir wollen uns doch besser kennenlernen, oder nicht?«, säuselte er ihr ins Ohr. Sie erschauderte und dann, Sekunden später, erstarrte sie, da er seine Hand auf ihr nacktes Knie gelegt hatte. Ihr Herz hörte auf zu schlagen, als er an der Innenseite ihres Oberschenkels entlangfuhr. Was sollte sie nur tun? Sie konnte ihm unmöglich eine Szene machen, nicht hier! Stattdessen musste sie die Ruhe bewahren, ja, Ruhe bewahren …
Also schob sie entschieden seine Hand weg und zerrte erneut am Saum ihres Kleides, um ihre Knie zu bedecken. Er hatte offenbar verstanden, dass sie sein Verhalten nicht guthieß, denn er versuchte kein zweites Mal sie anzufassen.
»Für eine Frau, die sich auf ein Date mit einem Unbekannten einlässt, bist du ziemlich zimperlich!«, sagte er spöttisch. Rosalie schnaubte verächtlich. Es war eindeutig an der Zeit, den Club zu verlassen.
»Das Date war eine dumme Idee!« Sie stand energisch auf und wollte an ihm vorbeigehen, aber er streckte seine Beine lang aus und blockierte somit erfolgreich ihren Fluchtweg.
»Was soll das?«, rief sie aufgebracht. Er blickte streng zu ihr hoch und sagte:
»Setz dich wieder! Ich habe für zwei Personen für den ganzen Abend bezahlt. Das war nicht billig.«
Sie schluckte schwer und setzte sich widerwillig, als die Getränke gebracht wurden. Zu ihrer Überraschung nahm ihr Date wieder auf dem Couchsessel gegenüber Platz. Sie begrüßte es sehr, dass nun gut ein Meter Abstand zwischen ihnen war.
Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Glas Weißwein und nahm einen Schluck. Dabei entging ihr nicht, dass er sie aufmerksam musterte. Seine müden Augen verliehen ihm ein harmloses Aussehen. Aber harmlos war er nicht!
»Erzähl mir was von dir!«, forderte er sie plötzlich auf.
»Lieber nicht«, entgegnete sie emotionslos und sah nach unten, wo die Band spielte.
»Warum hast du dich auf das Date eingelassen, wenn du mir nichts über dich erzählen willst?« Er klang beinahe wie ein trotziges Kind und Rosalies Verdacht, mit der Zusage zu diesem Treffen einen großen Fehler gemacht zu haben, erhärtete sich zunehmend.
»Was willst du denn wissen?«, fragte sie.
»Das lasse ich dich entscheiden, was du mir erzählen willst.«
»Warum muss ich permanent Fragen beantworten? Warum hast du mir geschrieben?«
Ihr Gegenüber, dessen Namen sie noch immer nicht kannte, nahm einen kräftigen Schluck Whisky und sagte:
»Ich habe dir nicht geschrieben. Das war mein Freund Marius. Der denkt nämlich, ich brauche eine Frau. Sonst werde ich immer merkwürdiger. Und vielleicht hat er recht. Tut mir leid wegen vorhin. Die Sache mit dem Knie. Ich dachte, Frauen stehen auf Verführer. Aber was Frauen so denken und mögen ist nicht unbedingt mein Fachgebiet.« Er lächelte jungenhaft und Rosalie starrte ihn mit tellergroßen Augen an.
»Und was ist dein Fachgebiet?«, wollte sie wissen.
»Informatik, Computer, Games. Vor allem Games. Ich liebe Games. Ich entwerfe Frameworks für Computerspiele.« Er plauderte munter drauflos, während er noch einen Schluck nahm … und noch einen. An harten Alkohol schien er gewöhnt zu sein.
»Also? Was ist mir dir?«, fragte er nun.
»Ich bin … Lehrerin«, erwiderte Rosalie.
»Lehrerin? Wow … eine Idealistin?« Er grinste breit.
»Idealistin?«
»Na ja, du glaubst der nächsten Generation noch etwas beibringen zu können. Das nenne ich Idealismus.«
»Und ich hab’s hier wohl mit einem Pessimisten zu tun, hm?«, erwiderte sie amüsiert.
»Nein, ich bin nur merkwürdig, nicht pessimistisch. Also mach dir keine Sorgen!« Er lachte hell und Rosalie spürte,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: www.fotolia.com #74729194
Tag der Veröffentlichung: 31.12.2015
ISBN: 978-3-7396-3470-8
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