Eilig schrieb Kassandra an der Kolumne, die sie noch vor Redaktionsschluss fertigstellen musste. Isabella, ihre Kollegin, die seit zwei Wochen im selben Büro arbeitete, vermied tunlichst Blickkontakt mit ihr, was Kassandra ihr nicht verübeln konnte. Sie hatte mit Isabellas Mann geschlafen, ohne zu wissen, dass dieser verheiratet war. Erfahren hatte sie es ohnehin erst, als Peter, so hieß der unheilvolle One-Night-Stand, ihr verkündet hatte, er wollte sie wiedersehen. Nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Er hatte sich offenbar in sie verliebt und Kassandra fühlte sich elend.
Peter hatte sie in einer Bar kennengelernt. Sie war mit ihm rasch ins Gespräch gekommen. Er war auf der Suche nach einem Abenteuer gewesen, einem sexuellen Abenteuer. Dass er vorhatte seine Frau zu betrügen, verriet er ihr jedoch nicht. Er hatte ihr stattdessen das Märchen des einsamen Workaholics erzählt. In Wahrheit war er jedoch ein Familienvater, der nach der Arbeit noch in Bars ging, da ihn zuhause ein schreiendes Kleinkind und eine gestresste Ehefrau erwarteten. Dummerweise war Kassandra nun das Biest, die Schlampe. Peter war nur der arme Ehemann, der ihrem verhängnisvollen Charme erlegen war.
Isabella hatte ihren engsten Freundinnen von dem Vorfall erzählt und diese waren nun bemüht, Kassandras Leben zur Hölle zu machen. Frauen hielten doch zusammen, Freundinnen sowieso! Sie zeigten sich solidarisch und verbündeten sich gegen die Männerdiebin, ein Übername, der ihr nicht gefiel, ihr aber doch weit weniger auf den Magen schlug, als das böse Wort, das mit H anfing und mit e endete.
Eigentlich war Kassandra überzeugter Single. Für Partnerschaften war sie nicht gemacht, aber deswegen wollte sie nicht auf Sex verzichten müssen. Sie war beruflich immer sehr ehrgeizig gewesen: Klassenbeste in der Oberschule, das Publizistikstudium hatte sie mit Auszeichnung bestanden. Seit Jahren bastelte sie an ihrer Karriere, eine Familiengründung war in ihrem Lebensplan nie vorgesehen gewesen.
Ihre Mutter hatte in den letzten Jahren immer darauf beharrt, es müsste nur der Richtige vorbeikommen, dann würde selbst Kassandra endlich Gefallen an einer festen Beziehung finden. Der Richtige war aber nicht gekommen, und sollte er ihr doch begegnet sein, dann war er ihr schlichtweg nicht aufgefallen. Ihre Nase hatte sie schon während der Schulzeit immer in Bücher gesteckt. Sie liebte das geschriebene Wort und sie liebte Geschichten. Das reale Leben erzählte nun mal die spannendsten, weswegen sie unbedingt Journalistin hatte werden wollen. Den Dingen auf den Grund gehen, Ungerechtigkeiten aufdecken, die Menschen informieren – das war der Traum!
In der Schule war sie die Streberin mit den guten Noten, der dicken Brille und dem pickligen Gesicht gewesen. Erst während des Studiums hatte sie sich von Grund auf verändert. Sie hatte viel gelernt, die Welt außerhalb des Dorfes, in dem sie aufgewachsen war, kennengelernt. Und endlich war sie erwachsen geworden. Vielleicht war sie heute zu erwachsen ...
Seufzend griff sie nach dem halbvollen Pappbecher, den sie vorhin am Kaffeeautomaten geholt hatte. Andrea, eine von Isabellas Freundinnen, hatte sie nämlich zufällig - rein zufällig! - just in dem Moment angerempelt, als sie den Becher vor die Brust haltend, die Treppen in den ersten Stock, wo sich ihr Büro befand, in Angriff nehmen wollte. Das Ergebnis? Ein verschütteter Kaffee und eine ruinierte Seidenbluse. Sie hatte vorhin in der Toilette lange versucht, den Kaffee aus dem Stoff zu waschen. Es war unmöglich. Die braunen Flecken waren sehr unansehnlich, aber der Geruch war noch schlimmer. Isabella hatte ein gehässiges Grinsen kaum unterdrücken können, als sie Kassandra mit braungefleckter Bluse sah. Daraufhin waren sofort ihre hektischen Finger über die Tastatur geflogen. Vermutlich bedankte sie sich via firmeninternen Chat bei Andrea für deren Versehen, denn ein solches war es offenbar gewesen, wie Isabellas Freundin nicht müde geworden war, Kassandra mit scheinheiliger Miene zu versichern. Sie fühlte sich an ihre Schulzeit erinnert. Damals war sie permanent gehänselt worden. Frauen konnten richtig biestig sein!
Weit mehr irritierte sie jedoch, dass, während sich ihre Arbeitskolleginnen offenbar gegen sie verbündeten und bereits die nächste Racheaktion planten, Isabellas Mann sie permanent mit Nachrichten belästigte. Kassandra war im Bett nicht zimperlich. Und sie war offen für alles. Beinahe alles. Peter hatte aber keine besonderen Bedürfnisse geäußert. Sie hatte ihn oral befriedigt und das schien ihn total aus der Fassung zu bringen. Wahrscheinlich hatte Isabella ihm dieses Vergnügen noch nie bereitet. Die Welt wurde von Pornografie geradezu überschwemmt, aber in den Ehebetten gab's häufig nur Blümchensex. Alles andere war verpönt.
Verärgert über die penetranten Nachrichten eines verheirateten Mannes, kramte Kassandra ihr Smartphone aus der Handtasche, da das surrende Geräusch des vibrierenden Geräts nicht zu überhören war. Sie guckte nach und, wie erwartet, hatte Peter ihr eine Nachricht geschrieben.
Hey, Süße, warum meldest du dich nicht? Ich hätte heute Abend Zeit. Lust auf eine heiße Nummer?
Kassandra verzog das Gesicht. Derartige Zeilen brachten sie nun wirklich nicht in Ekstase! Männer reagierten auf sexuelle Freizügigkeit oft sehr befremdlich. Sie war nämlich keine Süße und sie hatte ganz bestimmt auch nicht Lust auf eine heiße Nummer, nun, da sie wusste, dass Peter verheiratet war. Kurz blickte sie zur Seite, wo ihre Kollegin immer noch eifrig Buchstaben in die Tastatur hämmerte. Sie hatte Kassandras Blick bemerkt und ihr Gesicht glühte nun vor Zorn feuerrot. Wahrscheinlich vermutete sie richtigerweise, dass Kassandra eine Nachricht von ihrem Mann erhalten hatte. Was Isabella jedoch nicht wissen konnte: dass sie keinerlei Interesse an Peter hatte. Dies klarzustellen, dafür schien es ihr ohnehin zu spät. Und was würde das auch nützen? Schweigen und Durchhalten war schon von jeher ihre Devise gewesen. Bewährt hatte sich dieses Verhalten jedoch nie.
Unfreiwillig drängten sich ihr Erinnerungen an die Schulzeit auf. Damals hatten sich zwei Mädchen, Jule und Sarah, regelmäßig über sie lustig gemacht, weil sie Flanellhemden trug, nicht figurbetont, die sie bis zum Kragen schloss und die ihr ohnehin viel zu weit waren. Ihre Mutter hatte ihre Kleider im Versandkatalog bestellt, da sie dort am billigsten waren. Kassandra galt in der Schule als prüde und unaufgeklärt. Ihre Schulkolleginnen machten sich einen Spaß daraus, sie bezüglich ihrer sexuellen Schüchternheit zu veralbern. Und heute war sie eine Männerdiebin. Die Ironie dieser veränderten Umstände ließ sie beinahe schmunzeln. Dabei war sie nie prüde gewesen, nur unerfahren und vermutlich auch desinteressiert. Sie hatte nie irgendwelche Jungs angehimmelt oder sich Poster von Boybands an die Zimmerwände gepinnt. Nur in einen war sie verliebt gewesen: Tobias.
Resigniert tippte sie in ihr Smartphone:
Das ist keine gute Idee, Peter. Das zwischen uns war eine einmalige Sache. Ich hoffe, du verstehst das.
Oh, das hoffte sie wirklich! Vor allem aber hoffte sie, dass er sie von nun an in Ruhe ließ. Peter war um die vierzig. Der One-Night-Stand mit Kassandra war im besten Falle nur Ausdruck einer Midlife-Crisis und nicht der Anfang einer Stalker-Karriere. Schließlich hatte er doch Isabella, eine attraktive Frau, und zwei süße Kinder mit blondem und rotbraunem Haar. Auf dem Foto, welches auf Isabellas Schreibtisch stand, lächelten die beiden Mädchen breit und offenbarten ihre beinahe identischen Zahnlücken. Wieder fühlte sich Kassandra elend.
Zehn Jahre lang hatte sie in einer Großstadt gelebt. Das Leben auf dem Land, in einem Dorf, das gerade mal fünftausend Einwohner zählte - daran musste sie sich erst gewöhnen. Da blieb es nämlich nicht unbemerkt, wenn ein Mann fremdging. Davon abgesehen, musste sie sich auch an ihren neuen Job gewöhnen. Sie schrieb für ein Gesundheitsmagazin mit einer erschreckend geringen Auflage.
Da es bereits nach zwölf war, machte sie sich auf den Weg in die Mittagspause. Vorher sperrte sie ihren Account, da sie davon ausging, dass Isabella und ihre Busenfreundinnen sich noch viele Gemeinheiten überlegen würden und im schlimmsten Fall sogar ihre Arbeit manipulierten.
Schnellen Schrittes verließ sie das Büro und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage. Dort angekommen, peilte sie ihr Auto an, auf dessen Windschutzscheibe ein weißer Zettel klebte. Sie nahm ihn an sich und las darauf:
Für eine schnelle Nummer, ruf mich an!
Darunter war ihre Telefonnummer vermerkt, die sie Isabella gegeben hatte, vor ein paar Tagen, als sie noch Kolleginnen waren, die sich ganz sympathisch fanden und vielleicht mal nach der Arbeit etwas trinken gehen wollten. Fehlte nur noch, dass jemand an ihrem Arbeitsplatz solche Zettel befestigte! Mobbing war eine fiese Sache, aber Kassandra ließ sich nicht beirren. Sie war ein kühler, analytischer Mensch. Wer seinen Emotionen entsprechend handelte, verhielt sich meist irrational. Und sie war nicht irrational, das entsprach nicht ihrem Wesen. Früher hatte sie in solchen Situationen ihre Nase noch tiefer in die Bücher gesteckt. Heute versuchte sie, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und alles andere auszublenden.
Wieder vibrierte ihr Smartphone. Peter schaffte es bravourös ihren Intellekt zu beleidigen! Sie war keine der Frauen, die sich Hals über Kopf verliebten. Denn auch das war irrational. Isabellas Mann schien aber zu glauben, sie sei ganz verrückt nach ihm. Und das nur, weil sie ihren Körper verdammt gut kannte und auch wusste, was sie mit diesem anstellen konnte. Der schüchterne Peter, dessen aufregendste, erotische Erlebnisse sich vermutlich vor dem Computerbildschirm mit seiner Hand in der Hose abgespielt hatten, schrieb nun:
Süße, zwischen uns hat es doch gefunkt! Ich will meine Frau schon lange verlassen. Ich tu's sofort. Für dich!
Schon wieder verzog Kassandra das Gesicht. Zum gefühlten tausendsten Mal heute. Sie packte das Smartphone entschieden in ihre Handtasche und machte sich auf den Weg nach Hause.
Zuhause war für sie immer der Ort gewesen, wo sie sich wohlfühlte und wo sie sich entspannen, die Welt aussperren und zu sich selber finden konnte. Zuhause war, wo ihre Mutter sie alleine aufgezogen hatte, in dem kleinen Einfamilienhaus mit der Schaukel im Garten. Aber auch die kleine Wohnung in der Stadt, in der sie die letzten zwei Jahre gelebt hatte, war ihr Zuhause gewesen. Sie war schon mehrmals umgezogen. Sie schaffte es für gewöhnlich spielend leicht, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden. Nun lebte sie wieder in der kleinen Ortschaft, wo sie aufgewachsen war, und trotzdem fühlte sie sich wie eine Fremde. Sie kannte die Menschen nicht, sie kannte die Straßen nicht. In zehn Jahren hatte sich viel verändert. Und damals, als sie mit neunzehn Jahren aufgebrochen war, um die Welt zu erobern, hatte sie nur einen Wunsch gehabt: endlich dieses Kaff verlassen zu können!
Sie fuhr die Einfahrt hoch zum Haus ihrer Mutter. Sie machte ihrem Ärger kurz Luft, als sie lautstark die Autotür zuknallte. Wenn ihre Mutter davon erführe, dass an ihrem Arbeitsplatz hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde, sie würde anderen Frauen die Männer ausspannen, dann …! Sie wäre enttäuscht, sehr sogar. Und vermutlich auch entsetzt. Sie wusste nichts von Kassandras Liebesleben, denn in der Regel sprach sie darüber nicht.
«Hallo, Ma!», rief sie enthusiastisch in den Flur, während sie ihre Schlüssel auf der Kommode ablegte. Ihre stilvolle Kunstlederjacke mit Turn-Down-Kragen hing sie in der Garderobe auf. Sie hatte Lust, sich einfach aufs Sofa im Wohnzimmer zu fläzen und sich den ganzen Nachmittag lang Sitcoms anzusehen. Aber daraus wurde wohl nichts.
«Ma?», rief sie noch einmal. Dieses Mal lag Besorgnis in ihrer Stimme. Sie hatte ihren alten Job aufgegeben und war hierher gezogen, um ihrer Mutter beistehen zu können, die schon seit Jahren an Diabetes litt. Sie hatte schon zwei Operationen an der Netzhaut hinter sich und nun sah es so aus, als würden ihre Nieren früher oder später versagen.
«Kassy? Du kommst so früh?» Die liebevolle Stimme ihrer Mutter ließ sie aufatmen. Mit einer hübschen, selbstgenähten Bluse trat sie in den Flur. Sie hatte jahrelang als Verkäuferin im Supermarkt gearbeitet und sich nebenbei auch als Näherin etwas dazuverdient. Aber die Aufträge waren irgendwann ausgeblieben. Niemand wollte sich handgenähte Kleider leisten, wenn’s doch alles so billig beim Textil-Discounter gab.
«Ich hab mir die Bluse ruiniert», antwortete Kassandra mit einem müden Lächeln und zeigte dabei auf die dunklen Kaffeeflecken.
«Doch nicht deine Lieblingsbluse», sagte ihre Mutter seufzend. Kassandra zuckte nur mit den Schultern, während sie die Post durchging, die auf der Kommode lag.
«Ein Brief ist für dich gekommen», sagte ihre Ma, just in dem Moment, als Kassandra ihn selbst entdeckte. Die Adresse war handgeschrieben. Neugierig öffnete sie ihn und las ihn aufmerksam. Ein Klassentreffen war geplant. Bei einem Grillfeuer und heißen Würstchen wollten sich ihre ehemaligen Mitschüler treffen und über Erinnerungen plaudern. Kassandra legte den Brief desinteressiert zurück und ging ins Wohnzimmer.
«Ich wusste nicht, dass du kommst, Kassy. Aber ich habe gerade eben erst zu Mittag gegessen und es ist noch etwas übrig.» Normalerweise fuhr Kassandra in der Mittagspause nicht nach Hause.
«Ich habe keinen Hunger, Ma! Mach dir keine Gedanken!» Sie legte sich aufs Sofa, zog die Stiefeletten aus und platzierte die Füße auf dem Couchtisch.
«War was bei der Arbeit?», fragte ihre Mutter neugierig. Diese Frage hatte sie ihr früher oft gestellt. Sie hatte immer wissen wollen, was in der Schule passiert war. Aber Kassandra hatte geschwiegen. Sie hatte nie etwas von den vielen Zettelchen erzählt, die durch die Bankreihen gereicht worden waren. Darauf hatten Jule und Sarah dumme Sprüche geschrieben oder Karikaturen gezeichnet, wo sie mit dicker Brille, pickeligem Gesicht und riesigen Brüsten zu sehen war, die sie unter ihren Flanellhemden vergeblich zu verstecken versuchte.
Ein Klassentreffen … war das deren Ernst? Sie war in die Großstadt gezogen, um es ihnen allen zu zeigen. Und nun war sie wieder da und würde als Verliererin gelten. Sie schrieb für eine Zeitschrift, die kaum einer kannte – und sie war Single! Weder beruflich noch privat hatte sie Erfolge vorzuweisen. Und bei einem Klassentreffen ging es schließlich um nichts anderes, als um das zur Schau stellen von Verdiensten.
«Nein, alles okay», log Kassandra gekonnt. Darin war sie geübt.
«Komm in die Küche, Kassy. Du musst etwas essen.» Kassandra erhob sich seufzend. Essen war in diesem Haushalt das Wichtigste überhaupt. Ihre Mutter hatte schon immer geglaubt, ein voller Magen könnte jedes Problem lösen. Ob ihre Klassenkameraden sie überhaupt noch erkannten? Ohne Brille, ohne Pickel und … schlanker? Das Leben in der Stadt war hektisch, zum Essen blieb kaum Zeit. Damals war Kassandra mollig gewesen – genau wie ihre Mutter – heute war sie eine schlanke, große Frau. Das hässliche Entlein war zum Schwan geworden, oder doch nicht? Ihr Gesicht hatte Charakter, entsprach aber nicht der gängigen Vorstellung von Schönheit.
Folgsam setzte sie sich an den Küchentisch. Sie hatte dieses Haus vermisst, so viele Erinnerungen hingen daran. Ihre Mutter hatte Nudeln mit Tomatensoße gemacht und schöpfte ihr nun großzügig das Essen auf einen altmodischen, geblümten Teller.
«Genug, genug! Das reicht!», sagte Kassandra sofort. Sollte sie sich wieder an die Kochkünste ihrer Mutter gewöhnen, würde sie ihrem damaligen Teenager-Selbst bald wieder ähnlich sehen.
«Was war das denn für ein Brief?», wollte ihre Ma nun wissen.
«Eine Einladung zum Klassentreffen», erwiderte Kassandra mit vollem Mund.
«Wirst du hingehen?»
Sie zuckte nur mit den Schultern. «Das wird ein Wettbewerb, in dem ich nur verlieren kann.»
«Was meinst du denn damit?», fragte ihre Mutter.
«Nichts, vergiss es, Ma!» Kassandra aß schweigend weiter und blickte dabei ab und an auf ihre schmutzige Bluse. Das Essen wollte ihr gar nicht schmecken.
Sie hatte früher häufig die Schule geschwänzt, um den Hänseleien zu entgehen. Den Job schwänzen, war leider nicht möglich. Kündigen schon gar nicht. Sie konnte sich glücklich schätzen, diesen Job gefunden zu haben. Auf dem Land gab es nicht so viele Möglichkeiten wie in der Stadt.
«Du solltest zu dem Klassentreffen gehen, Kassy!», sagte ihre Mutter.
«Ich weiß nicht, Ma … ich habe keine Lust.»
«Du hast keine Lust? Hör zu, ich will nicht, dass du meinetwegen immer zuhause rumsitzt!»
«Ich weiß, ich weiß …», erwiderte Kassandra sofort. Ihre Mutter machte sich Vorwürfe, sie hatte nie gewollt, dass ihre Tochter ihretwegen ihr Leben und ihren guten Job aufgab. Aber Kassandra wollte es so. Es war an der Zeit, ihrer Mutter die Liebe und Fürsorge zurückzugeben, die diese ihr all die Jahre über geschenkt hatte. Als alleinerziehende Mutter hatte sie es nicht leicht gehabt. Kassandras Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, da war sie gerade mal sechs Jahre alt gewesen. Ihre Mutter hatte alles dafür getan, um ihr die bestmögliche Ausbildung zu garantieren. Und sie war immer so stolz auf ihre Tochter gewesen … weil Kassandra doch so klug war. Immer Klassenbeste …
War sie klug? Wäre sie wirklich klug, hätte sie nie mit Peter geschlafen.
«Ich zieh mich rasch um und dann muss ich wieder los», sagte sie und machte sich auf den Weg in ihr Kinderzimmer. Nie hätte sie gedacht, dass sie eines Tages wieder hier schlafen würde, wo noch Poster von Ice Age, Matrix und X-Men an den Wänden hingen. Die Bluse war schnell ausgezogen und eine neue aus dem Schrank gefischt. Tief atmete sie ein, während sie sich im Spiegel kritisch betrachtete.
Du schaffst das, Kassy, sagte sie laut zu ihrem eigenen Spiegelbild. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Gemeinheiten ertragen müssen. Auch Isabella würde sie nicht kleinkriegen. Ganz bestimmt nicht.
Es war Abend und sie hatte den Arbeitstag erfolgreich hinter sich gebracht. Isabella schien vorerst damit zufrieden, Kassandra anzuschweigen und hinter ihrem Rücken zu tuscheln. Zumindest hatte sie am Arbeitsplatz keine Ruf mich an-Zettelchen vorgefunden, als sie dort nach der Mittagspause wieder eingetroffen war.
Ausgelaugt lag sie nun auf dem Bett in ihrem ehemaligen Kinderzimmer und las sich noch einmal konzentriert den Brief durch, den sie heute Mittag erhalten hatte und worin sie zu einem Klassentreffen eingeladen wurde. Wie hatten sie nur ihre Adresse herausgekriegt? Und wer war wohl für das geplante Treffen verantwortlich? Wer hatte es organisiert?
Das Schreiben enthielt eine Telefonnummer. Dort musste sie anrufen, um sich sozusagen anzumelden, wenn sie Interesse an der Teilnahme hatte. Würstchen und Gemüse für den Grill sollte sie selbst mitbringen. Es war Spätsommer, im Freien abends an einem Grillfeuer zu sitzen, hatte durchaus seinen Reiz. Trotzdem drehte sich ihr der Magen um, wenn sie daran dachte, mit allen ihren ehemaligen Schulkollegen wieder zusammengeführt zu werden. Jule und Sarah wiederzutreffen – darauf konnte sie getrost verzichten!
Die Neugier siegte jedoch und sie tätigte das Telefonat.
Es klingelte und lange antwortete niemand am anderen Ende der Leitung, bis sie schließlich eine Stimme vernahm, die sie nicht einzuordnen wusste. Es war eine männliche Stimme.
«Schallmeier», meldete er sich. Schallmeier … ihr Hirn arbeitete fieberhaft. Fabian Schallmeier … das war doch der Junge, der …
«Hallo?», tönte es laut aus dem Smartphone. Die Stimme war sehr hell, überhaupt nicht tief.
«Hi. Ich bin’s. Ich meine … Kassandra. Kassandra Seehofer. Ich habe die Einladung zum Klassentreffen erhalten.» Wieder Stille am anderen Ende der Leitung. Hatte sie etwas Falsches gesagt?
«Kassandra? Wow … also … dass ich von dir etwas höre, hätte ich nicht erwartet …» War er enttäuscht oder froh? Sie konnte es nicht beurteilen.
«Ich dachte, du bist …. Ich meine … seit wann bist du wieder hier?», fragte er.
«Seit anderthalb Monaten», erwiderte sie prompt. «Also, ich komme gerne. Zum Klassentreffen meine ich.»
«Super! Dann bist du schon der Vierte auf meiner Liste. Ist schwierig alle zwanzig zusammenzutrommeln.» Er lachte jungenhaft ins Telefon. Fabian …
Damals war das Gerücht umgegangen, dass Fabian sie … mochte. Sie hatte es aber immer für einen üblen Scherz gehalten, eine weitere Hänselei. Er war einer der coolen Jungs gewesen, die nach dem Minimalprinzip operierten: ein gegebenes Ziel mit kleinstmöglichem Einsatz zu erreichen. Das Ziel war es gewesen, die Klasse zu bestehen. Und gelernt wurde nicht mehr als nötig. Dass eine Streberin wie sie, jemandem wie ihm gefallen könnte, hatte sie überhaupt nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Fabian hatte sie aber nie getriezt. Das Gerücht hatten andere in die Welt gesetzt.
«Wie lange ist das jetzt her … beinahe elf Jahre?» Kassandra war dreißig, mit neunzehn hatten sie alle ihren Abschluss gemacht.
«Ja, das kommt hin. Freu mich jedenfalls, dass du dabei bist. Den Weg kennst du?»
«Er ist ja ausführlich beschrieben», erwiderte sie. Auf der Rückseite des Briefes war eine Karte aufgezeichnet. Die Karikaturen waren lustig, aber auch erstaunlich gut gemacht. Das sah Fabian ähnlich! Warum war sie nicht gleich darauf gekommen, dass er das Treffen organisiert hatte? Er war immer extrovertiert gewesen und interessiert am sozialen Miteinander. Nicht so wie sie, die ihre Zeit immer schon lieber in Gesellschaft von Büchern als in Gesellschaft von anderen Menschen verbracht hatte.
«Dann sehen wir uns am Samstag», rief er fröhlich ins Telefon.
«Ist gut», sagte sie und wollte auflegen.
«Ähm … wie geht’s dir denn so?», fragte er plötzlich.
«Gut. Danke. Und … dir?» Sie fühlte sich unwohl. Sie hatte sich mit Fabian früher kaum unterhalten. Und nun wusste sie nicht, worüber sie mit ihm reden sollte. Vermutlich würde sie ihn nicht einmal mehr erkennen, wenn er jetzt vor ihr stünde.
«Oh, mir geht’s großartig. Ich bin nicht unterzukriegen!», rief er fröhlich.
«Dann ist ja gut. Also, wir sehen uns.»
«Okay! Bis Samstag!» Dann legte er auf. Sie starrte eine Weile belämmert auf das Telefon, bevor sie die Nummer unter Fabbo speicherte. So wurde er damals genannt. Fabbo war jedermanns Kumpel gewesen. Er war mit jedem irgendwie befreundet, Junge wie Mädchen. Dass jemand wie er auf sie stehen könnte, hatte ihr nur Angst gemacht. Da war es sicherer gewesen, Tobias aus der Ferne anzuhimmeln, der sie in all den Jahren kaum bemerkt hatte. Tobias, der so klug war und gutaussehend … vor allem aber klug. Fabian hingegen war ein Spinner, der den Unterricht oft verschlafen hatte und nichts zu ernst nahm.
Sie hatte damals nichts von der Liebe gewusst. Sie hatte nichts vom Küssen gewusst oder von Sex. Die ersten Erfahrungen in dieser Hinsicht hatte sie erst viele Jahre später gemacht.
*
Lange hatte sie vor dem Spiegel gestanden und ihr Outfit mit großer Skepsis geprüft. Früher hatte sie dichte, naturgelockte, dunkelbraune Haare gehabt, die ihr bis zu den Ellenbogen reichten. Ihre Mutter hatte ihr bis zum zehnten Lebensjahr immer Zöpfe geflochten. Heute trug sie die Haare glatt und färbte sie mahagonibraun.
Ihr Make-up saß perfekt und die blauen Augen, die ohne Brille viel stärker zur Geltung kamen, leuchteten ozeanfarben. Sie trug eine elegante Jeans, dazu ihre ockerfarbene Kunstlederjacke und passende Stiefeletten mit hohen Absätzen. Sie sah gut aus, sicher viel besser als damals, vor so vielen Jahren. Ob Tobias sie überhaupt noch erkennen würde? Es war ja schließlich nicht so, als hätte er ihr früher besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt …
Enthusiastisch verließ sie ihr Zimmer, verabschiedete sich noch rasch von ihrer Mutter und entschwand das der Tür. Ihr Herz trommelte heftig und sie fühlte sich hibbelig. Sie hatte das seltsame Gefühl, eine zweite Chance zu erhalten und diese wollte sie sich keinesfalls entgehen lassen. Dabei dachte sie nicht wirklich daran, Tobias heute Abend näherzukommen, - vermutlich hatte er eine Freundin oder war sogar verheiratet -, sie wollte nur erleben, was sie damals versäumt hatte. Dieses unschuldige Gefühl des ersten Verliebtseins noch einmal spüren … selbst wenn es wehtat. Und vermutlich würde es wehtun.
Da ihr Auto in der Werkstatt war, musste sie sich mit dem Bus auf den Weg machen. Der Plan, den Fabbo aufgezeichnet hatte, war sicher verwahrt in ihrer Handtasche. Sie würde ihn noch brauchen. Einen Fahrplan der Nachtbusse hatte sie auch eingesteckt. Zu spät nach Hause kommen, wollte sie auf keinen Fall. Ihre Mutter würde sich Sorgen machen, da war sie sich sicher. Und sie wollte nicht, dass ihre Ma sich sorgte. Ihr Leben in der Großstadt hatte keine Eskapaden vermissen lassen. Die vielen Male, als sie angetrunken nach Mitternacht nach Hause getorkelt war, meist in Begleitung eines Mannes, den sie kaum kannte - davon hatte sie ihrer Mutter natürlich nie etwas erzählt.
Es war Zeit auszusteigen. Sie kannte die Gegend nicht. Für gewöhnlich war sie auf dem Weg zur Schule hier nur vorbeigefahren. Tatsächlich war sie nie zuvor ausgestiegen. Der Plan von Fabbo war sehr hilfreich, sie folgte den Anweisungen und erreichte einen Feldweg. Es fiel ihr schwer mit ihren Stiefeletten auf den Kieselsteinen zu balancieren. Natürlich würde Fabbo sich irgendetwas Halsbrecherisches ausdenken, er war schon immer ein Draufgänger gewesen. Ein Grillabend in seinem Garten kam wohl nicht in Frage. Gegrillt wurde in der freien Natur, weit abgeschieden von der Zivilisation.
Sie war schon zwanzig Minuten gelaufen, als ein Jeep von hinten an sie heranrollte. Er hielt an und die Fensterscheibe öffnete sich.
«Kassandra? Bist du das?», ertönte die ungläubige Stimme von Sarah. Jule saß natürlich auf dem Beifahrersitz. Die beiden hatten sich erstaunlicherweise kaum verändert. Und offenbar hatte auch sie sich weit weniger verändert, als sie glaubte.
«Hey …», grüßte sie matt.
«Willst du nicht mitfahren? Ist ein langer Weg!» Trotz ihrer modischen Kleidung, den Kontaktlinsen und dem perfekten Make-up war sie noch immer eine Verliererin. Zu Fuß versuchte sie mit hohen Absätzen einen mehrere hundert Meter langen Weg zu durchschreiten. Sie stand dumm da. Genau wie früher.
«Gerne. Danke», erwiderte sie knapp und zwängte sich auf die Rückbank. Kassandras Magen rebellierte. Sie bereute ihre Entscheidung, hierher zu kommen, bereits. Aber dafür war es nun zu spät. Sie würde zudem auch eine Rückfahrgelegenheit brauchen.
«Ich dachte, du bist im Ausland?», fragte Jule sofort.
«War ich. Aber nun bin ich wieder hier. Seit einem Monat.»
«Hast du nicht für eine große Zeitung geschrieben?», wollte Sarah wissen. Kassandra hatte für eine auflagenstarke Regionalzeitung geschrieben, ihr Name war in Journalistenkreisen aber nicht übermäßig bekannt.
«Im Moment schreibe ich für Gesund&Fit», gab sie zu. Die Höflichkeit gebot, die drei danach zu fragen, was sie denn beruflich machten. Beide hatten sich nach dem Abitur ausnahmslos in die Arbeitswelt gestürzt und erledigten typische Verwaltungsjobs, sie hatten keinen Hochschulabschluss. Also hatte Kassandra zumindest in dieser Hinsicht gewonnen!
Nach einigen Minuten holpriger Fahrt erreichten sie die kleine Blockhütte. Mehrere Geländewagen standen davor. Kassandra stieg aus und folgte mit tapsigen Schritten Jule und Sarah zur Hütte. Sie musste die Tatsache, dass ihre ehemaligen Peinigerinnen ihr gerade eben einen großen Gefallen getan hatten, erst verdauen. Zudem fühlte sie sich unwohl. Wieder war sie unerfahren. An diesem Ort hatte sie sich noch nie zuvor befunden.
Die Hütte verfügte über eine große Veranda. Nicht weit davon entfernt war eine Feuerstelle, umrahmt von Holzbänken, ideal für einen gemütlichen Grillabend. Die Jungs waren offenbar schon früher gekommen, um alles vorzubereiten. Sie saßen auf den Bänken, das Feuer loderte bereits, Fleisch und Gemüse gab es zuhauf. Kassandra hatte nichts mitgebracht. Ihre Handtasche war wohl nicht der richtige Platz, um dort Würstchen zu verstauen, und weitere Taschen hatte sie nicht mit sich herumschleppen wollen. Außerdem aß sie ohnehin nicht viel, nicht mehr. Auch wenn ihre Mutter großartig kochte, war ihr der Appetit in den letzten Wochen oft vergangen. Der Gesundheitszustand ihrer Ma und die ungewisse Zukunft hatten ihr schon einige schlaflose Nächte bereitet.
Die zwei Frauen traten selbstbewusst auf die Anwesenden zu, während Kassandra schüchtern voran stampfte. Sie hatte in der Schule häufig unsichtbar werden wollen. Wie oft hatte sie sich gewünscht, sie wäre ein Geist, sodass sie niemand beachten und vor allem nicht hänseln konnte? Aber seit damals hatte sich viel verändert. Heute war sie immer noch zurückhaltend, aber sie trat aktiv und selbstbewusst für die Dinge ein, die ihr wichtig waren. Sie konnte eigensinnig sein und ließ sich nur schwer von ihrem Standpunkt abbringen. Das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren war wichtig, um langfristig erfolgreich sein zu können.
Alle begrüßten sich euphorisch, lachten, tauschten einige Worte miteinander aus. Fabbo war der Erste, der den Neuankömmlingen, zu denen auch Kassandra gehörte, die Hand in freundschaftlicher Geste auf die Schulter legte. Auch ihn erkannte sie sofort. Und sie erinnerte sich wieder ... Sie erinnerte sich, warum sie das Gerücht, dass Fabbo sie mochte, gar nicht hatte glauben wollen. Einer wie er, der mit allen Mädchen so selbstverständlich umging … Auch ihr war er damals öfters sehr nahe gekommen, zu nahe. Er war ein Player …
Nun war sie an der Reihe mit dem Begrüßen. Sie fasste er aber nicht an. Stattdessen starrte er ihr eine Weile lang ins Gesicht, bevor sein Blick an ihr herunterwanderte und er sie bis zu den Schuhen inspizierte. Anerkennend zog er seine Augenbrauen hoch.
«Du siehst … ganz anders aus.»
«Ähm … danke», sagte sie bemüht freundlich. Ein Du siehst gut aus oder sogar Du siehst toll aus wäre ihr lieber gewesen. Schließlich war sie lange vor dem Spiegel gestanden, um sich perfekt auf diesen Abend vorzubereiten. Sie wollte alle beeindrucken, vor allem Sarah und Jule, die sie früher so gerne verspottet hatten, sich heute aber so verhielten, als wäre dies nie passiert. Natürlich wollte sie auch die Jungs beeindrucken.
Ihr Blick schweifte durch die Menge. Tobias entdeckte sie nicht. Als ob Fabbo ihre Gedanken lesen konnte, sagte er:
«Suchst du Tobi?»
Sie erschauderte ein wenig ob dieser Frage.
«Nein, natürlich nicht.»
Seine Antwort war ein schelmisches Grinsen und ein unübersehbar skeptischer Blick.
«Setz dich ans Feuer. Du frierst doch.» Er wies ihr mit einer Handbewegung den Weg. Beinahe glaubte sie, er wollte sie hin geleiten und deswegen anfassen, an der Schulter oder am Rücken, er tat es nicht. Auch wenn es ihr widerstrebte, sie verhielt sich plötzlich wieder wie das kleine Schulmädchen von damals! Das seine Nase nur in die Bücher gesteckt hatte und von niemanden angefasst werden wollte. Auch jetzt wünschte sie sich ein Buch oder ihr Notebook herbei, um dahinter verschwinden zu können. Dabei war sie heute ein ganz anderer Mensch! Sie war schließlich eine Männerdiebin. Peter fiel ihr wieder ein, der verliebte Schelm, der seine Frau betrog und sich einbildete, in sie verliebt zu sein. Vielleicht bildete er sich das gar nicht ein, sondern war nur an einer Affäre interessiert? Spielte er mit ihr? Ihr Selbstvertrauen schwand. Und dabei standen ihr die wirklich unangenehmen Fragen des heutigen Abends noch bevor: ob sie denn einen Mann hätte. Auf die Frage nach der beruflichen Tätigkeit folgte für gewöhnlich die Frage nach einem Partner.
Kassandra setzte sich brav an die Feuerstelle und rieb ihre Handflächen gegeneinander, um sich warm zu halten. Sie war die kalten Temperaturen zu dieser Jahreszeit noch nicht gewohnt und hätte einen dicken Anorak anziehen sollen. Aber der wäre auch weniger schick gewesen. Vermutlich hätte sie sich auch für flache Schuhe, am besten Turnschuhe, entscheiden sollen. Aber auch diese hätten das Outfit nur ruiniert. Und hier ging es doch um Äußerlichkeiten, oder nicht? War sie die Einzige, die glaubte, das hier sei ein Wettbewerb?
Die Gruppe wurde immer größer. Alle unterhielten sich, lachten, scherzten und bereiteten das Fleisch vor. Die Würstchen wurden auf kleinen Holzstäbchen aufgespießt, um sie später neben der Flamme zu garen. Fabbo, der endlich die heitere Plauderei eingestellt hatte, wickelte Kartoffeln in Alufolie. Kassandra bot ihre Hilfe an und als sie aufstand, um sich zu Fabian zu gesellen, rollte der nächste Geländewagen an. Ihre Wangen fühlten sich heiß an – lag es am Feuer? – als Tobias ausstieg und auf sie zukam. Er kam nicht direkt auf sie zu, aber …
Kassandras Knie waren ganz weich. Beinahe bemerkte sie nicht, dass der nächste, und vermutlich letzte, Wagen heranfuhr. Lisbeth stieg aus, mit ihr war Kassandra damals befreundet gewesen. Genau wie sie, war auch Lisbeth eine Außenseiterin gewesen. Aber das war lange her, zu lange wahrscheinlich. Sie war sich nicht sicher, ob sie heute überhaupt noch ein gemeinsames Gesprächsthema fanden. Aber das galt für alle Anwesenden. Bislang hatte Kassandra noch nicht viel gesagt. Keinen schien dies zu verwunden, war sie doch stets schweigsam gewesen.
«Kassandra!» Lisbeth stürmte auf sie zu und drückte ihr sofort zwei Küsse auf die Wangen. «Schön dich zu sehen! Ich dachte nicht, dass du kommst!»
«Und doch bin ich hier», erwiderte Kassandra nüchtern. Ob dieser überschwänglichen Begrüßung tat es ihr beinahe leid, sich in all den Jahren niemals bei Lisbeth gemeldet zu haben.
Schließlich setzten sie sich alle um die Feuerstelle und jeder durfte sich nehmen, was er wollte. Die Jungs hatten so viel Essen vorbereitet, dass genug für alle da war. Daraufhin wurden Bierflaschen verteilt und das Gespräch kam ganz von alleine in Gang.
Kassandra beantwortete Fragen und stellte selber welche, dabei schielte sie immer wieder zu Tobias, der sie genau wie damals in der Schule nicht bemerkte. Er sah noch immer gut aus, sehr gut sogar. Das kurze, nussbraune Haar, die dunkelbraunen Augen, dazu das ebenmäßige Gesicht – mit dem einzigen Unterschied, es war nicht mehr das Gesicht eines Jungen, sondern eines Mannes. Die dunklen Stoppeln waren unübersehbar, dabei hatte er sich sicher erst heute Morgen rasiert. Die Jungs hatten sich wirklich verändert, sie waren keine Jungs mehr. Nur Fabbo schien noch immer der Alte zu sein. Schon damals hatte er dunkelblondes, dichtes Haar gehabt, und ein stoppeliges Kinn. Er hatte sogar einen Ohrring getragen – und er hatte geraucht.
Tobias hingegen war nie ein Bad Boy gewesen.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Maren C. Jones
Bildmaterialien: www.pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2015
ISBN: 978-3-7396-2038-1
Alle Rechte vorbehalten