Wolfgang W. Liebelt
Gurdjieff
denudatus
II
Der unbekannten Lehre auf der Spur
Denudatus: Eine Anspielung auf H. P. Blavatsky‘s „Isis unveiled“ („Die entschleierte Isis“) sowie auf die „Kabbalah denudata“
In „Gurdjieff denudatus I“ bin ich von der Hypothese ausgegangen, dass es sich bei der Titelillustration der Broschüre für das „Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen“ um einen von Gurdjieff so genannten „Legominismus“ handelt, also eine Botschaft, die verschlüsselt wurde, um ein bestimmtes Wissen durch die Zeiten weiter zu tragen, ohne dass es erodiert, verfälscht oder vergessen wird.
Ich habe die Illustration „Schatzkarte“ genannt, weil es gewisse Analogien gibt; denn Schatzkarten erschliessen sich nur denjenigen, die den „Code“ kennen, also das Wissen besitzen, um die Botschaft zu verstehen und zu deuten.
Meine Hypothese, mit der ich mich auf den Weg gemacht habe, besteht darin, dass in der Illustration das Wissen verborgen liegt, wo wir die Kernwurzel von Gurdjieffs Lehre zu suchen haben.
Gurdjieff denudatus I und II widmen sich im wesentlichen der reinen Beschreibung und Interpretation der verbalen und grafischen Inhalte; in „Denudatus III“ werde ich dann das Fazit aus den geschilderten Fakten und Deutungen im Sinne einer Gesamtschau mit Schlussfolgerung ziehen.
Der vorliegende Band ist ganz der zentralen Ikone Gurdjieffs gewidmet - dem Enneagramm.
Das Enneagramm spielt in Gurdjieffs Lehre und Gedankenwelt eine zentrale Rolle. Dementsprechend hat es einen prominenten Platz in der Schatzkarte erhalten, wo es bildhaft ausgeschmückt erscheint.
Bevor ich mich den illustrativen Bildelementen widme, will ich im nächsten Kapitel das „nackte“ bzw. abstrakte Enneagramm und seine Komponenten beschreiben. Diese Erläuterungen sind dann für das Verständnis des Kapitels über das „illustrierte“ Enneagramm absolut erforderlich.
In diesem Kapitel wird die abstrakte Grundkonstruktion des Enneagramms beschrieben. Dabei wird es als universales, systemisches Prozessmodell aufgefasst. Die weiteren Kapitel widmen sich den Bildelementen der Titelillustration für die Broschüre des „Instituts für die harmonische Entwicklung des Menschen“.
„Allgemein gesprochen, muss man verstehen, dass das Enneagramm ein universales Symbol ist. Alles Wissen kann im Enneagramm zusammengefasst und mit Hilfe des Enneagramms gedeutet werden. Und so kann man sagen, dass man nur das weiss, beziehungsweise versteht, was man in das Enneagramm einfügen kann. Was man nicht in das Enneagramm einfügen kann, versteht man nicht.“
Dieses Zitat Gurdjieffs, überliefert von Ouspensky in seinem Buch „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“, bringt die Intention dieses und weiterer Essays rund um das Enneagramm sehr gut zum Ausdruck. Das Enneagramm hat zwar einen grossen Bekanntheitsgrad über seine Typologie erreicht; diese stellt aber nur eine der vielen Anwendungsarten des Enneagramms dar.
Ich habe mir die Aufgabe gestellt, die Logik bzw. die Grammatik des Enneagramms als systemisch-prozessuales Modell zu ergründen und anwendbar zu machen. Dabei gehe ich von einigen bereits gewonnenen Erkenntnissen aus, beschäftige ich mich doch seit mehr als 20 Jahren sehr intensiv mit dem Enneagramm.
Dieses Kapitel ist ein erster Überblick über die Komponenten des Enneagramms. Beginnen wir mit ein paar grundlegenden Betrachtungen. Die darin eingestreuten Zitate stammen alle aus „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“.
„Das Symbol als Ganzes … ist ein Kreis - ein vollendeter Kreis. Es ist die Null unseres Dezimalsystems, deren Ziffernzeichen ein geschlossener Kreis ist.“
Eigentlich ist das Enneagramm ein Dekagramm, wenn der Punkt „Null“ mitgezählt wird. Der zehnte Punkt ist dann die „Neun“, wobei die „0“ von der „9“ im grafischen Modell überdeckt wird. Gleichwohl ist sie als Startpunkt des Prozesses vorhanden. Doch auch, wenn es eigentlich zehn Punkte sind, bleibe ich bei der von Gurdjieff gewählten traditionellen Bezeichnung.
Im Sefer Jezirah, einem alten kabbalistischen Text, wird gefragt: „Was zählst Du vor der „1“?“
(Die Datierung für das Sefer Jezirah ist sehr unsicher. Gershom Scholem geht von einer Entstehung im 2./3. Jhdt. n. Chr. aus. Es spricht aber vieles dafür, dass bereits im 1. Jhdt. n.Chr. mündliche Überlieferungen verschriftlicht wurden., vor allem wegen den Parallelen zur Philosophie des Philos von Alexandria. So oder so ist fraglich, ob der/die Verfasser des Sefer Jezirah die Null bereits kannte(n), da sie erst 300 v.Chr. bis 600 n.Chr. in Indien in Verbindung mit einem dezimalen Stellenwertsystem und Zahlzeichen für 1 bis 9 entstand und von arabischen Gelehrten nach Europa gebracht wurde.)
Diese Anmerkung ist informativ, aber nicht entscheidend für die grundlegende Aussage, dass die „Null“ nicht zählt bzw. nicht gezählt wird.
Das ergibt sich auch aus der etymologischen Betrachtung. Unsere Bezeichnung „Null“ stammt aus dem Lateinischen: „nullus“ (= keiner, nicht), und in anderen Sprachen lautet die Übersetzung „nichts“, in Indien seit dem 5. Jhdt. „Leere“ (śūnya).
Die Null ist weder positiv noch negativ, sie ist sozusagen präexistent. So verhält es sich auch mit dem
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Cover: Jutta Znidar - www.artspace-JUTTA-ZNIDAR.ch
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2017
ISBN: 978-3-7438-4610-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Georg I. Gurdjieff, dessen Leben, Lehre und Werk mich seit mehr als 20 Jahren faszinieren und inspirieren