Autor: Christian Cor
„Warum muss ich nur so leiden?“
Mit diesen und ähnlichen Gedanken muss sich Viktor oft plagen. Sie befallen immer wieder sein Gemüt, wie ein schwarzes Meer aus Teer, welches seine Wellen immer wieder auf die Küste schellen lässt, jedoch kehren diese nicht ins Meer zurück, sondern bleiben an der Küste kleben und hinterlassen nur schwarze Spuren. Es ist eigentlich ein ganz gewöhnlicher Schultag von einem ziemlich seltsamen Jungen, der den Namen Viktor, also so wie diese berühmte Romanfigur Viktor von Frankenstein, dessen Geschichte ja bekannt sein sollte, trägt...
„Gott! Wenn ich hier noch länger rumsitzen muss, komm ich vor Langeweile um!“
Sitzen muss er in der neunten Klasse eines Gymnasiums. Das Schulgebäude kann einem Gefängnis alle Ehre machen... kahle, weiße Betonwände und Böden, ernste und matte Gesichter von Autoritätspersonen, lange und meist leere Flure, die sogar beim Umherschleichen auf diesen ein wiederhallendes Echo erzeugen und natürlich die grässliche Aura der Schwermütigkeit, die alle Instinkte zum Angriff, bzw. zur Flucht alarmieren.
Viktor befindet sich gerade außen, in der hintersten Bankreihe, damit er in der Ecke möglichst abgeschirmt von den Anderen im Klassenzimmer sein kann. Das gelingt ihm nur leider nicht immer, da er trotzdem mutwillig Proben und Hefteinträge mitschreiben muss, die ihn wieder zur „Gemeinschaft“ miteinbeziehen...
Seine häufigst aufzufindende Gestik, sind zwei auf seinem Schreibtisch verschränkte Arme und ein schwerer, mit Depressionen und Suizid geplagter Kopf, der sich es auf diesen Gliedmaßen gemütlich macht. Meistens stechen ihm dabei auch von seiner schwarzen Mähne abstehende Haare in die Augen, die er dann immer beiseite legen muss. Daher verwundert es einen nicht besonders, dass er von der Klasse selbst nichts mitbekommt und so tatsächlich nur über sich selbst und sein Umfeld nachdenkt.
„Jeden Tag hock ich auf denselben verdammten Stuhl und verbringe hier dieselbe Zeitspanne, nur um fürs „Leben“ zu lernen. Was ist denn das für ein Leben? Ein Leben, indem irgendwelche Marionetten über die Welt regieren? Ein Leben, indem man dem Willen der Geldgeilen ausgeliefert ist? Ein Leben, indem der mit der Brieftasche bewaffnete, nach dem neusten Modetrend jagende Mensch, alle Anderen übertrifft? Ein Leben, das mich in einer perfekten und unterwürfigen Gesellschaft eingliedern will?“
„Herr Ritter! Wollen Sie Ihre Gedanken nicht mit ihren Mitschülern teilen?“,
kommt es gerade von Viktors Deutschlehrer hervor, der ihn wieder beim intensiveren Gedankengang unterbrechen muss.
„Was gehen meine Gedanken euch überhaupt an? Zu faul eure eigenen zu machen? Wie widerliche Spürhunde seid ihr, die unbedingt alles aus meiner Privatsphäre rausgraben müssen!“
Natürlich antwortet Viktor nicht auf diese Weise, sondern dementsprechend: „Klar, könnt ihr gerne wissen... Ich hab noch nie so eine riesige Platte auf dem Hinterkopf eines Menschen gesehen, einfach erstaunlich!“
Auf dieser Aussage folgt ein Ausbruch von Gegacker und Gelächter, dass sie nur noch von dem roten Kopf des Deutschlehrers gestoppt werden kann und auch von dessen Besitzer unterbrochen werden muss: „Genug jetzt! So was Unverschämtes hätte ich ja von dir erwarten können, du schreibst mir bis zum nächsten Mal die Seiten fünfundvierzig bis fünfundfünfzig
aus dem Buch ab!“
„Werden wir ja sehen...“
Daraufhin dreht sich der Lehrer wieder von Herrn Ritter alias Viktor weg und fährt mit seinem Unterricht fort.
„Was sollte denn das?“, kommt es aus der flüsternden Stimme seines übergewichtigen Banknachbarn und einzigstem Freundes namens Matthias raus.
„Was?“
„Na das!“
„Keine Ahnung, warum mich dieses Beamtenschwein immer dumm runtermachen will…“
„Vielleicht weil du wie ein Satanist rumläufst?“
„Hey! Ich werde weder wegen ihm, noch wegen irgendjemand anderem mein Aussehen verändern!“
„Du wolltest es ja wissen…“
„Was wissen?“
„Warum er dich nicht ausstehen kann.“
„Ne, interessiert mich doch nicht...“
„Ja, natürlich…“
Ohne der Hilfe von Matthias wäre Viktor wohl schon längst aus der Schule geflogen. Viktor hält nämlich nicht viel von dem Schulleben, daher mogelt er sich lieber mit Spickzetteln und dem gelegentlichem Abschreiben von Matthias Arbeiten durch. Seiner Meinung nach ist die Schule nichts anderes, als ein Sozialisierungsprogramm und genau das ist es, was er so verachtet: Die Gemeinschaft, Vorschriften, Manipulationen und das System selbst. Deshalb und aufgrund der Langeweile, verweigert er jegliche schulische Aktivität und muss im Falle von schriftlichen Tests auf seinen Nachbarn zählen. Wahrscheinlich der einzigste Mensch, der ihn nicht für total verrückt hält. Anarchismus kommt nicht gerade bei jedem gut an und deren Verehrer schon gar nicht. Doch zum Glück ertönt der langersehnte Gong, den Viktor so ungeduldig raufbeschwört. Wenn er diesen hört, ist er immer so aus dem Häuschen, wie ein Kleinkind, das beim Vernehmen einer Eisverkäuferklingel vor Freude platzt. Der einzige Unterschied zwischen dem Kind und ihm besteht nur darin, dass letzter Erwähnter seine Freude für sich behält und nicht wie wild von dieser gerüttelt auf und ab springt. So legt er sich schnell seinen langen, pechschwarzen Mantel an und stürzt sich auf die Tür, folgt seinen festgelegten und oft genug benutzten Pfad aus der Schule, Richtung Bushaltestelle, steigt (wer hätte es gedacht?) in den Bus ein und fährt ab nach Hause. Manchmal wünscht er sich, er könne diese vergeudete Zeit besser nutzen, denn die ewige Warterei ist ja auch nicht gerade die reinste Lebensfreude. Doch was heißt schon besser nutzen? Ganz ehrlich, wenn er könnte, würde er sein ganzes Leben nur noch in seinem Bett verbringen und von seinem Tod schwärmen. Nebenbei bemerkt eines seiner größten Hobbies und daher auch einer seiner Freizeitbeschäftigungen.
„Wann nimmt das alles ein Ende?“
Im Vehikel selbst stürzt sich jeder Fahrgast auf eine Sitzbank, um nicht die ganze Fahrt über ihre müden Stelzen zu überstrapazieren oder besser ausgedrückt: Sie spielen „Reise nach Jerusalem“.
Geld verdienen, um es wieder auszugeben.
Aufstehen, nur um sich dann doch wieder hinzulegen.
Und wozu? Um das Kollektiv aufrechtzuerhalten, aber was kümmert das Allgemeinwohl mich persönlich? Ich verzichte gern auf jeglichen Schutz, wenn ich dafür zumindest eine Sekunde lang glücklich sein kann. Alle ach so gefürchteten Gefahren enden sowieso mit dem Tod und den fürchte ich schon lang nicht mehr...
„Trautes Heim, Glück allein!“, murmelt Viktor fast schon einem höheren Wesen dankend zu sich, als er seine Wohnung betritt, aber eben nur fast. Für einen echten Freidenker ist kein Platz für irgendwelche Gottheiten. Klar, natürlich ist es nicht „seine“ Wohnung, sondern die seines Vaters, doch wer ist da schon so kleinlich? Hauptsache es ist still und Viktor ist ungestört, abgesehen von seinem Schäferhund, der darf zu seiner Gesellschaft beitragen, immerhin ist er ja sein häuslicher Gefährte. Daher tätschelt er den Hund lieb, woraufhin er sich zu dem Tier runterkniet und ihn mit einem „lieber Texas“ ebenfalls begrüßt. Ja, Texas ist ein komischer Name für einen Hund, doch das Land selbst fasziniert Viktor nun mal so ungemein, sodass sein Haustier dafür büßen muss... allein der Gedanke an die menschenleere Wüste, dem Wildem Westen und den damals umherreitenden Gesetzlosen und den wilden Indianern, bringt Viktor zum schmunzeln. Gähnend begibt sich Vik in sein Zimmer, in dem er sehnlichst auf sein Bett zusteuert und sich fallen lässt. Fallen, in einer komplett berauschenden Starre auf seinem weichen Revier. Ein Schlaf, der ihn mit einem gewaltigen und mysteriösen Schritt, in einer höheren und schöneren Welt vertiefen lässt...seiner eigenen, freien Welt...dem Sitz, seines wahren Ichs... seiner Traumidylle.
„Hey! Steh auf du fauler Penner!“
Verschwommen ist es, als Viktor seine Augen öffnet. Seltsamerweise befindet sich eine Hand auf seiner Schulter, die ihn immer wieder mit einer hektischen Kraft wachrüttelt.
„Mm... was...?“
„Du sollst aufstehen!“
Langsam erkennt Vik sein Zimmer wieder und registriert seinen Vater vor sich.
„Ha! Endlich wach, was du Schmarotzer?“
„Mann! Was willst du Arsch von mir? Hab ich wieder was angestellt?“
„Werd ja nicht frech Bürschchen! Ich will sichergehen, ob du deine Hausaufgaben gemacht hast.“
„Ja ja, sind erledigt...“
„Pah! Wer glaubt, wird selig.“
„...kann ich jetzt wieder schlafen?“
“Schlafen? Du hast es gut! Den ganzen Tag kannst du pennen und musst dich um nichts kümmern! Aber wart nur ab, ewig wirst du hier nicht wohnen, dann wirst du zusehen müssen, wie du zurechtkommst!“
Mit dieser „Prophezeiung“ beendet sein Dad das Gespräch und knallt Viktors Tür zu.
„Mmpf, alter Dreckssack!“
Noch halb benebelt richtet sich Viktor aufrecht und erduldet seine nun entstandenen Kopfschmerzen. So schlaftrunken zu sein fühlt sich nicht halb so gut an, wie das Schlafen selbst.
„Jedes Mal das Gleiche. Hat einen dummen Arbeitstag hinter sich und ich muss es ausbaden.“
Viktor hat ziemlich oft Probleme mit seinem Vater. Als Kleinkind ist er streng erzogen worden, „züchtigen“ hat man das damals noch genannt, doch seit der neuen Generation ist es nicht mehr sehr human, seine Kinder durch Prügel zu erziehen. Diese gesellschaftliche Wandlung hat auch seinen Vater beeinflusst, was sich für Viktor als glückliche Fügung erwiesen hat, doch diese Erfahrung hat Viktor selbstverständlich zum Nachdenken über die Laune der Massen angeregt. Aber wie soll man dann dafür sorgen, dass was aus dem Jungen wird? Na durch Demütigungen und Vorträgen, wenn man schon seine Sprösslinge nicht verhauen darf, dann sollte man zumindest deren Stolz und Träume zerschmettern dürfen, sind ja eh zu arrogant, die Jugend heutzutage, oder etwa nicht?
„Scheiße! Jetzt kann ich überhaupt nicht mehr schlafen!“
Angeschlagen steigt Viktor von seinem Bett und schaut vorsichtshalber auf seine Wanduhr. Es ist Viertel nach Sechs, da ist sein alter Herr meistens schon daheim. Also hat er noch eine menge Zeit, bis er wieder zur Schule muss (allerdings kann man nie genug Zeit haben).
Und weil Viktor nichts Besseres einfällt, versucht er darüber nachzudenken, wie er seine Zeit totschlagen kann. Er überspringt den Gedanken, wieder einmal seinen Rechner anzuschalten um ein bisschen zu Zocken, da es kein besonders berauschendes Gefühl ist, mit Kopfschmerzen Pc-Spiele zu spielen. Auch stimmt ihn der Gedanke aus dem Haus zu gehen nicht zufrieden, da er nicht weiß, was er draußen anstellen soll und zum Lesen fehlt ihm die Lust.
„Was für ein scheiß Leben!“
Er legt sich aufs Bett und beschäftigt sich wiedereinmal mit seinen Überlegungen.
„Ist das öde. Nie lässt mir jemand meine Ruhe, irgendjemand kommt mir ja immer dazwischen. Die Schulpflicht, der alte Sack, dann noch die Finanzwelt, die ja in ferner Zukunft mein Leben total ruinieren soll und einfach alle da Draußen! Jeder bildet irgendeine Horde, nur um auf mir und andere Dinge herabzulästern. Alle interessieren sich nur fürs liebe Geld. Jedermann will was zum vögeln, alle wollen sie wissen, was im Fernsehen kommt und verdammt noch mal jeder will, dass ich mitmache! Mitmachen soll ich, bei diesem Teufelskreis, das ich Leben nennen soll! VERDAMMT! Ich will nicht mehr leben! Das alles muss doch ein Ende nehmen! Wieso kann ich nicht einfach abhauen? Weil egal wo ich hinlaufe, derselbe Kreis schon existiert? Wieso hab ich nicht die Macht, die Welt auf den Kopf zu stellen? Die Zivilisation, wie eine häuserzerschmetternde Abrissbirne zu vernichten und aus deren Fundamenten ein Utopia zu bilden, die regiert wird von einer freien und individuellen Bevölkerung, die alle einfach nur ihr Leben leben und mich in Ruhe lassen, einer Welt der Anarchie, in der ich machen kann, was ich will und wann ich will! In der nur die Naturgesetze herrschen, nicht irgendwelche zermürbten Politiker, die ohne ihre Einkommensstützen genüsslich von der Wildnis gefressen werden würden! Ein paar Herrschsüchtige weniger, würden mir persönlich nur gut tun und wenn ich draufgehe, was soll schon so schlimm daran sein? Ich hab eh die Schnauze voll von dieser Existenz!“
Viktor muss auf einmal grinsen und er weiß genau, dass er ohne dieses Chaos, dieser Freiheit, die er so sehnlichst sucht, unglücklich verkümmern wird. Doch er weiß nicht, dass er mehr von dieser Freiheit kosten wird, als ihm lieb ist...
Ich hasse einfach alles! Ich hasse euch alle! Ich hasse es besonders, morgens vom Bett aufstehen zu müssen und diesen dreckigen Tag begrüßen zu müssen. Ich sehe keinen Grund aufzuwachen, nichts ist schöner, als im Bett rumzuliegen, wahrhaftig nichts! Ich kann so nicht weitermachen, es muss ein Ende finden und ich weiß, ihr Alle seid Schuld daran, dass ich keine Ruhe finde, denn ihr habt doch all das hier Draußen aufgebaut, ihr habt mein Umfeld geformt, doch ich will meine eigene Umgebung erschaffen!
Am nächsten Morgen...
ein widerlich lauter, hoher Ton schrillt morgens, welcher Viktor aufweckt. Oder besser gesagt aufschreckt.
„Fuck! Bin ich wieder eingeschlafen?“
Normalerweise würde er sich nicht darum groß sorgen, wenn er mal zu viel Schlaf gehabt hat, aber er muss noch seine Strafarbeit fertig stellen, die er ja nicht von seinem Freund schnell morgens abschreiben kann, da dies ja sowieso zu seiner Aufgabe gehört.
„Mm... ein herrlicher Tag zum Schwänzen.“, denkt Viktor vergnügt zu sich. Alles ist wieder in bester Ordnung. Der Stress hat nur kurzfristig angehalten. Er muss sich keine Sorgen mehr machen. Im Moment zumindest nicht und auf den Moment kommt es ja nun mal im Leben an, nicht auf das Ungewisse.
Blau machen ist wirklich nicht schwer für ihn. Sein Vater ist ja sowieso schon um sieben Uhr aus dem Haus, zufällig die Zeit, in der Viks Wecker klingelt. Und in der Schule melden braucht er sich eh nicht. Fällt keinem Schwein auf, solange er nicht länger als einen Tag fehlt.
In ihm geht wieder ein wohlwolliges Gefühl auf, als er daran denkt, wie schön es ist sich einen zusätzlichen Wochenendtag zu gönnen, ja richtig, heut ist Freitag! Daher will Viktor seine gewonnene Freizeit richtig nutzen. So gegen circa zehn Uhr könne er ja aus dem Haus gehen und sich mit einem neuen Präsent erfreuen. Ein bisschen Taschengeld hat er ja angehäuft und er besucht gern den alten Fred. Also heißt es schnell einen hundert Euroschein einstecken und dann raus in die hektische Welt da draußen! Unterwegs achtet der Schulschwänzer natürlich auf Polizeibeamte, die ihn zur Schule mitschleifen könnten, doch zum Glück ist der Antiquitätenladen gleich um die Ecke. Freudig erregt betretet er den Laden, woraufhin die Türglocke auf den Eindringling aufmerksam macht und den Ladenbesitzer aus der Abstellkammer rauslockt.
„Hi Vik! Na? Wie war die Schule heute?”
„Haha, sehr witzig!“
Fred grinst den Jungen frech an.
„Man sollte über Alles lachen können Viktor, das lässt einen länger leben.“
„Ja, ich weiß...“, doch Viktor fragt sich insgeheim, warum er überhaupt noch länger leben soll. Der Ladenbesitzer kehrt Viktor den Rücken zu und während er sich auf den Weg zur Abstellkammer macht, ruft er zu ihm: „Ich hab da übrigens was für dich zur Seite gelegt, dass dich bestimmt begeistern wird!“
„Ach wirklich?“
Nun ist Viktors Neugierde geweckt worden.
Es gibt nicht viele Dinge außerhalb von Viktors Traumwelt, die ihn wirklich interessieren können und Fred muss nun mittlerweile die paar Ausnahmen kennen. Immerhin ist Viktor schon seit fast zwei Jahren sein treuster Kunde.
Zum Glück lässt ihn der Antiquitätenhändler nicht lange warten und legt behutsam eine hölzerne Münze auf den Tresen.
„Wow!“
Viktor ist einfach baff.
„Ich wusste doch, dass dir das gute Stück hier gefällt.“
„Ja, das kannst du aber laut sagen!“
„Es gehörte wahrscheinlich mal einem Barbarenstamm, hat mir zumindest der Typ, der das Teil loswerden wollte versichert...“
„Das ist gut möglich. Immerhin ähnelt die Darstellung dem Ragnarök*“, munkelt Viktor vor sich hin. Auf der Münze kann man zwei wolfsähnliche Ungetüme erkennen, die den Rand der Münze zieren. Unter deren Schweifen und damit vor deren Mäuler, befindet sich jeweils ein Kreis, welche allerdings nicht identisch miteinander sind. Eines der kreisförmigen Zeichnungen ist umrundet von Zacken, während der andere Kreis in sich drei weitere Kreise vereinigt.
„Also...“, spricht der Verkäufer „wie viel bietest du mir für das Ding an?“
„Ich weiß nicht, wärest du nicht besser daran beraten, dieses kleine Kunstwerk an ein Museum zu verscheuern?“
Der ziegenbärtige, alte Mann beginnt abermals freundlich zu grinsen, legt seine Hand auf Viktors Schulter und sagt: „Wieso diese Münze von Tausenden von Kritikern beäugen lassen, wenn ich nicht stattdessen einen guten Bekannten erfreuen kann?“
Viktor lächelt ebenfalls den gutmütigen Herrn an und legt seinen Hunderter auf den Tresen.
„Ehrlich, mehr hab ich nicht.“
„Ach, das wird reichen!“
*Der Ragnarök ist die keltische Version der Apokalypse, sprich dem Weltuntergang.
„Danke Fred!“
Mit einem breiten Lächeln im Gesicht, geht Viktor aus dem Laden und schaut gedankenversunken auf die Rune in seiner rechten Hand. Fragt sich nur, wo er die Münze aufbewahren soll? Er braucht echt eine Vitrine in seinem Zimmer, nur ob damit sein Vater ebenfalls einverstanden wäre? Zumindest jetzt muss es in seiner Manteltasche verweilen.
Daheim angekommen, legt sich Vik abermals in sein Bett. Er packt die Rune aus seinem
Mantel und schaut sich diese an.
„Wow, kaum zu glauben dass du nun mir gehörst, was?“
Auch wenn Viktor gegen Geld ist, verachtet er dennoch nicht den Materialismus. Ein wahres Paradox, aber nicht ungewöhnlich für einen Chaoten wie ihn. Er legt den Mantel ab, wirft diesen von seinem Bett aus auf seinen Computerstuhl und verfehlt glatt diesen. Doch was soll´s, noch mehr Unordnung kann sein Zimmer schon verkraften. Erneut richtet er seinen Blick auf die Münze und versucht sich vorzustellen, wie dieses ehemalige, gewöhnliche Holzstück zu diesem Kunstwerk geschnitzt worden ist. Eine viertel Stunde lang schaut er auf dieses Ding, doch dann entscheidet er sich lieber für ein Ballerspiel am Rechner, dennoch will er die Holzmünze nicht aus den Augen lassen und stellt sie neben seiner Computermaus.
Viks Wochenende verläuft kein bisschen anders ab, als seine restlichen freien Tage. Er spielt die meiste Zeit am PC, um seine unterdrückte Abenteuerlust nachzuleben, liegt im Bett rum, um einfach richtig Faulzulenzen, liest paar Seiten weiter an seinem momentanen Schmöker und zieht sich Cartoons rein. Eben ein gewöhnliches Wochenende, bis auf Sonntagnacht. An diesem seltsamen Abend kann er einfach nicht einschlafen. Dies hat natürlich seine Gründe. Zum einen, pennt er zu viel des Tages über, wie könnte er dann noch einschlafen? Und der andere Grund hat mit seiner „Vorfreude“ auf den nächsten Schultag zu tun. Doch seine Schlaflosigkeit hat dieser Nacht nicht zu ihrer bizarren Eigenschaft verholfen... nein, allein die Münze hat Schuld daran, jedoch weniger die Münze an sich, sondern das grüne Leuchten, dass von dieser ausgesendet wird.
„Ja spinn ich jetzt komplett?!“, schießt es schlagartig durch Viktors Kopf. Er erhebt sich von seinem Schlafplatz, reibt sich verwundert die Augen, während er auf die Münze zuschleicht und gafft irritiert auf das Holzstück, obwohl er momentan ziemlich verunsichert ist, ob dieser Rohstofftyp wirklich auf das Ding zutrifft.
„Ich muss wieder einmal träumen...“
Als er nun vor der Münze steht, bemerkt er, dass der grüne Lichtstrahl eigentlich aus zwei verschieden farbigen Lichtstrahlen besteht. Der eine ist bläulich und kommt aus dem Kreis, der drei weitere Kreise darstellen soll und der andere Strahl, der aus dem gezackten Kreis herausstrahlt, ist gelblich.
„Sind das... Sonnen und Mondstrahlen?“
Fasziniert und von der Neugier gepackt, nutzt Viktor seinen Greifreflex und hält nun die Münze in seiner rechten Hand.
„Kaum zu glauben... aber es ist so! Aus dem Teil kommen Lichtstrahlen! Vielleicht eine Art barbarisches Nachtlicht? Haha! Aber ernsthaft, wie entsteht so was bloß?“
Doch dieses Geheimnis soll ungelöst bleiben. Die Münze ist nur für seine Augen bestimmt. Niemand sonst soll diese je erblicken, denn sie verschwindet plötzlich. Nicht auf die verblüffende Art und Weise, wie ein Showmagier sein Opfer „verschwinden“ lässt, sondern direkt durch Viktors Hand!
„Aaahh!! Was...“
Er schreit, heult und tobt wie ein Verrückter, doch es nützt nichts. Die Holzrune quetscht sich durch seine Handfläche direkt ins Fleisch, sein Blut staut sich um den Münzrand auf und übrig bleibt eine sich wahnsinnig schnell verschließende Fleischwunde.
„Was zum Teufel?!?“
Auf dem Boden kauernd und vor Schmerzen wimmernd versucht er schockiert auf seine Hand zu blicken, nur um sicher zu gehen, ob dieses schreckliche Szenario endlich vorbei ist. Leider ist dem nicht so. Die Finger an seiner rechten Hand beginnen zu Knacksen und sich auf einer fast schon lächerlich wirkenden Weise zu verbiegen. Nur leider findet Viktor die Situation überhaupt nicht zum Lachen. Vik heult nur noch, quetscht mit seiner noch normalen Hand unterhalb der anderen, sprich dem Handgelenk, nur um den scheiternden Versuch zu wagen, die Schmerzen zu lindern. Viktor kann den Blick nicht von seiner Hand ablassen. Blutverschmiert ist sie, die zu ihr gehörenden Finger nun total verkrüppelt und die Abbildung auf der Holzrune kann man ziemlich deutlich an seiner Handfläche erkennen, fast schon wie eine Tätowierung sieht es aus. Während Viktor seine Hand analysiert, verblasst langsam das Leuchten der Münze, welche sogar durch seine Hand dringt, nur nicht so stark, wie zuvor.
„Ist es...vorbei?“
Einige Sekunden lässt Viktor verstreifen, seine Vorahnungen warnen ihn vor dem Schlimmsten, doch nichts geschieht. Ihm ist klar, dass er seine Hand verbergen muss. Die Neugier und Fürsorge der Massen könnte ihm zum Verhängnis werden. Würde er damit zu einem Arzt rennen, müsste er ihm erklären, wie es dazu kam. Dann würde er vom Notarzt zum Psychiater geraten, wegen seiner „lebhaften Phantasie“. Oder noch schlimmer: Er könnte sich einer Operation unterziehen müssen, damit seine Handfläche aufgeschnitten wird und die Holzrune sicher entsorgt werden könnte. Ob er dann noch seine Hand in Zukunft voll funktionsfähig nutzen können wird? Andererseits, in dem Zustand ist sie auch nicht gerade sehr nützlich. Und was würde mit der Rune geschehen? Man würde ihn fragen, woher er das Teil erstanden gehabt hätte und dann würde man ihm eventuell doch mit seiner Schwänzerei auf die Schliche kommen. Zwar nur ein geringes Problem, im Vergleich zu den anderen Aufgezählten, aber immerhin ein Problem! Deshalb nimmt Viktor einen schwarzen Lederhandschuh und streift ihn sich über den deformierten Greifer.
„Das wäre erledigt, doch was mach ich, falls ich meinen Vater geweckt haben sollte? Wie erklär ich ihm die Schreie? Und wie zur Hölle krieg ich das Blut vom Boden weg?“, überlegt er für sich. Vorsichtshalber öffnet Vik seine Zimmertür und begibt sich schleichend zum Schlafzimmer seines Vaters, dicht gefolgt von seinem Hund Texas, der neugierig Viktors verwundete Hand beschnüffelt. Wahrscheinlich erinnert ihn der Geruch des Blutes an seine verloren gegangenen Jagdtriebe, weswegen er den Duft so aufdringlich mit der Schnauze untersucht. Oder er kennt diesen fremdartigen Geruch einfach nicht und möchte ihn darum einen Augenblick lang festhalten? Auf jeden Fall bleibt er Viktor dicht auf den Fersen. Er öffnet die Tür, kann jedoch keine Atemgeräusche vernehmen und fragt vorsichtig: „Dad?“
Und da er auch keine Antwort bekommen hat, schaltet er das Licht an. Es ist vollkommen leer dort in der Stube, abgesehen von dem darin befindendem Mobiliar natürlich.
„Puh, scheinbar hängt der Alte heute wieder einmal stockbesoffen in irgendeiner Bar rum.“
Erleichtert schaltet er das Licht aus und macht sich auf, den vom Blut verdreckten Boden zu säubern. Die Zeit vergeht dabei nicht gerade wie im Fluge, doch das hindert die Sonne nicht daran aufzugehen und für Viktor bedeutet dies der Beginn eines neuen, jedoch identischen Schultages.
Schwer ist das Herz, welches einen Todessehnsüchtigen, wie mich plagt. Freudlos die Zeit, die wir auf Erden verbringen müssen. Lächerlich und dennoch hoffnungsvoll erscheint den nicht Frommen von uns das Warten, auf das Leben nach dem Ableben, aber trotzdem bin ich zu feige für den letzten Schritt, dem Schlüssel zum Ende der Zeit, in Form einer beliebigen Waffe oder eines ekelschmeckenden Giftes. Gibt es keine andere Alternative für mich? Warum sollte ich noch mehr Schmerzen einstecken? Doch was nützt mir schon der Tod, wenn ich diesen nicht genießen kann?
„Wie spät es wohl ist?“
Langsam erhebt Viktor seinen Schädel vom Schreibtisch und schaut über die Klassenzimmertür, wo die Wanduhr hängt. Es ist momentan halb zehn, zumindest laut dieser Uhr.
„Man, wieso kann die Zeit nicht schneller verrinnen?“
Enttäuscht wirft er seinen Schädel wieder gegen den Tisch, doch zum Glück für diesen, fangen seine verschränkten Arme ihn wieder unbeschadet auf. Wie ein zurückgelassener Hund, der treu auf die Rückkehr seines Herrchens wartet, liegt er da auf seinen Platz. Wenn er ein bisschen vor sich hin döst, wird die Schule bestimmt schneller vorbei sein. Doch dafür erscheinen die Pausen umso länger. Obwohl er bei diesen gerne, wie ein häufig in alten Western dargestellter Mexikaner, sitzend gegen die Wand gelehnt seine „Siesta“ hält. Der Vergleich ist besonders passend, wenn man seine Vorliebe für das hitzige Geburtsland der Gesetzlosen, aus den Filmen, bedenkt.
Der Rest des Schultages ist eher uninteressant, so wie immer eigentlich. Wenn Viktor nicht mit Schlafen und Philosophieren beschäftigt ist, dann beschäftigt er sich mit der Beschaffenheit seiner neuen Hand. Er kann es noch immer nicht glauben, dass dies alles letzte Nacht passiert ist. Wie kann eine gewöhnliche Holzmünze in seine Hand versinken? Was sind das für Lichter gewesen und wie sind diese entstanden? Und warum, warum ist es passiert? Was für einen Sinn hat es, das die Rune in seinem Fleisch steckt? Gibt es überhaupt einen Sinn darin? Es muss, es muss einfach einen Sinn geben! Nichts auf dieser beschissenen Welt geschieht grundlos! Zumindest kann er das nicht glauben. Doch wiedereinmal werden diese Fragen unbeantwortet bleiben. Aber auf die wichtigste Frage, die er sich stellt, gibt es eine Antwort, das steht fest. Welche Frage dermaßen wichtig ist? Ganz einfach, wozu ist die Holzrune erschaffen worden? Soviel sei gesagt, sein Leben wird dank ihr nicht mehr so sein, wie es einst gewesen ist. Ob es besser oder schlechter wird, das bleibt eine Ansichtssache, so wie sonst alles in diesem Kosmos.
Es gibt keine universelle Gutmütigkeit, die mir meine Wünsche erfüllt, doch ich selbst bin auch nicht dazu imstande!
Endlich ist es soweit, die Schule ist vorbei. Solange Viktor nicht an die nächsten vier Tage bis zum Wochenende denkt, kann dies noch ein erheiternder Nachmittag werden. Beim Hinausgehen holt ihn Matthias ein.
„Hey Vik!“, begrüßt er seinen schwarzgekleideten Banknachbarn.
„Ah, hi Matthias, willst du noch was von mir?“
„Ach na ja, wir haben heut in den Pausen kein Wort miteinander gewechselt. Das wollt ich eben nur schnell nachholen.“
„Wie du willst, aber lass uns schnell den Bus erwischen. Hab keinen Bock zu spät nach Hause zu kommen.“
„Ähm, ja okay...“
Sie beeilen sich, um die paar verlorenen Sekunden wieder gut zu machen. Solche können nämlich einiges über das Erreichen des Fahrzeuges entscheiden. Im Schulbus angekommen, können die zwei ihr Gespräch fortführen. Viktor beginnt mit der Unterhaltung:
„So, was gibt ´s?“
„Ach, nicht viel. Hab nur weiterhin an meinem Computerspiel programmiert.“
„Hey, nicht schlecht! Dieses Zombieballergame, oder?“
„Ja, man kann ihnen jetzt die Köpfe von den Schultern schießen!“
„Klingt nett, lass mich betatesten*, sobald du das Spiel fertig hast.“
„Klar, werd ich machen. Das kann aber noch dauern, du weißt ja so was braucht seine Zeit.“
„Erwähnst du häufig genug...“
„Und wie war dein Wochenende so?“
*Bedeutet nichts anderes, als ein Programm von zweiter Hand testen zu lassen, um eventuelle Fehler zu finden.
„Wie immer, hab nur im Bett gelegen und gelegentlich den Rechner angemacht. Manchmal auch die Glotze.“
„Aja...“
Ein kurzes Schweigen folgt auf Matthias Aussage, allerdings keine Stille. Andere Busfahrer
sind nicht zu überhören. Hätte man Lust paar Fremde zu belauschen, würde dies nun
problemlos gelingen. Doch warum soll man so etwas langweiliges tun?
„Netten Handschuh hast du da! Ist der neu?“
Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrt Vik, versucht dies aber nicht zu zeigen.
„Ähm, nein. Wie kommst du drauf?“
„Mir ist er einfach neu, nichtsweiter.“
„Ach so...“
„Ist dir nicht zu heiß mit dem Ding?“
„Ne, nicht wirklich...“
Endlich erreicht der Bus Viks Haltestelle, wodurch er sich aus der Affäre ziehen kann.
„Ich muss los, man sieht sich!“, verabschiedet sich Viktor von Matthias und stürmt raus.
Den Rest des Weges muss er zu Fuß gehen, bis er endlich seine Wohnung erreicht hat.
Dabei wird er wieder einmal begleitet von seinen Gedanken... Gedanken, die momentan den
Grund für seine Freundschaft mit Matthias hinterfragen... Gedanken, die den Wert von Freundschaften allgemein anzweifeln... Gedanken, die er besser für sich behält.
Nichts wird mehr geschätzt, als ein guter Freund. Doch warum eigentlich? Letztendlich hilft ein Kumpane mir nicht, meine Sorgen loszuwerden, höchstens sie zu vergessen und besonders unterhaltsam hab ich auch noch nie einen gefunden.
Die Tage vergehen, doch sind diese öd und fad. Nichts Aufregendes stößt Viktor zu, außer gewöhnlichen Alltagsbanalitäten. Er muss zur Schule, wird dort von den anderen Mitschülern mit dummen Sprüchen belästigt, versucht erfolglos den ganzen Unterricht zu verschlafen und wird Zuhause ebenfalls von den dummem Sprüchen seines Vaters bombardiert. Sein ganzes
Umfeld stinkt ihm eben, weshalb er sich weiterhin mit seiner inneren, schwarzen Welt beschäftigt. Es ist schon eine Woche verflogen, seit dem Vorfall mit der seltsamen Rune. Viktor regt sich schon langsam über seine Neugierde auf, die ihn immer wieder an das schmerzhafte Ereignis erinnern muss. Es bringt doch sowieso nichts, darüber zu grübeln und das ärgert ihn ungemein! Er muss sich rat- und tatenlos mit der Vergangenheit abfinden. Was auch immer damals genau geschehen sein mag, durchs Nachgrübeln allein wird er niemals mehr über die geheimnisvolle Rune herausfinden können Aber vielleicht helfen paar Informationen über das Barbarenvolk, welche die Holzrune geschnitzt haben, weiter? Dank diesem Vorschlag seiner „inneren Stimme“, begibt sich Viktor eines Abends zu Freds Antiquitätenladen. Voller Hoffnung auf ein paar Hinweise, die zu weiteren Antworten führen könnten. Doch dort ankommen wird er heute nicht... Die Straßen sind fast leer, abgesehen von einigen kleinen Kindern, die noch die letzten Minuten auskosten, bevor deren Mütter ihre Schützlinge wieder mit ins Haus nehmen, damit diese nicht den „Gefahren“ der Nacht ausgesetzt werden. Außer von einigen parkenden Autos und einem vorbeifahrendem Fahrrad, sind keine weiteren Fahrzeuge in Viks Sichtfeld. Besser so, denn von zuviel Verkehr ist Viktor immer zum Kotzen zumute, wegen dem Gestank und dem Krach, die diese Vehikel hinterlassen. Da das Antlitz der Erde ihm zu langweilig geworden ist, schaut Vik gen Himmel. Dieser ist noch nicht völlig finster, denn einige Strahlen der untergehenden Sonne schauen noch hervor. Und auch der Halbmond ist leicht zu erkennen, weißlich sieht er aus, vollkommen bescheiden scheint er im Vergleich zur Sonne zu strahlen, obwohl er höher als der Gaskörper steht. Genauer gesagt scheint er überhaupt nicht, noch nicht... Stattdessen wird er leicht von dem hellblauem Himmel übermalt, fast schon wie ein Wasserfarbenspiel wirkt der Himmel. Die untere Seite, die der Sonne gewidmet ist, lässt deren Himmelshintergrund orangerot ertönen. Viktor muss plötzlich an seine Münze denken. Auf dieser ist ja auch ein ähnliches Zusammenspiel zwischen diesen beiden Himmelskörpern zu erkennen! Schnell schaut er sich um, nur um sicherzugehen, dass er ungestört ist, während er sich seines Handschuhs entledigt. Dem ist zu seinem Glück auch so und er untersucht nun seine entblößte Hand. Die Symbole auf der Rune, oder eher auf dem Abbild seiner Handfläche, stehen auch auf dieser Weise. Zumindest von Viktors Sicht aus. Der Mond über der Sonne, also der Kreis mit den kleinen „Kraterkreisen“ in ihm über den zackigen Kreis.
„Seltsam, ob es dazu irgendeine Verbindung gibt? Ach was, ist bestimmt nur ein lustiger Zufall!“, grübelt Viktor im Geiste. Weiter und weiter treibt es Viktor voran. Sein Herz rast vor lauter Vorfreude, begierig nach einer neuen Erkenntnis. Dann bekommt ihm ein anderes, fremdartiges Gefühl und vorbei ist es mit seiner erwartungsvollen Haltung. Ihm ist irgendwie schlecht und er fängt das Taumeln an. Wie ein Besoffener verliert Viktor das Gleichgewicht, weshalb er Halt an einem naheliegenden Laternenpfahl sucht. Heiß wird es ihm, unglaublich heiß! Als würde seine Haut von den Knochen wegschmelzen. Verwirrt fragt er sich: „Was geschieht mit mir?“ Der Schmerz in seiner rechten Hand lenkt seine Aufmerksamkeit nun zu dieser zurück. Diese glüht wieder so seltsam, wie bei dem erstem Mal, nur nicht so stark. Aus diesem Grund bedeckt er seine Hand schnell wieder mit dem dazugehörigen Handschuh.
„Argh! Ich dachte, ich könnte dich zumindest kurzzeitig nackt lassen, doch da hab ich mich wohl gewaltig geirrt, nicht wahr du kleiner Bastard?“, beschimpft Viktor gedanklich seine Hand, aber diese fügt ihm dennoch stechende Schmerzbeschwerden zu. Wäre ja auch ziemlich seltsam, wenn die Blöße seines Greifers zu solchen Reaktionen fähig wäre, aber Vik verwundert schon gar Nichts mehr. Zumindest in dieser Hinsicht nicht. Er verbringt tatsächlich noch eine halbe Stunde damit, sich an der hilfreichen „Straßenstange“ festzuklammern, um sich ein wenig von der neugewonnenen Gefühlserfahrung auszuruhen. Dann beschließt Viktor, sich doch lieber hinzulegen und kehrt zu der Mietwohnung zurück, die er derzeitig sein Zuhause nennen muss.
Völlig erschöpft betretet Vik die Wohnung. Vor ihm steht sein Vater, der sich gerade wieder ausgehfertig gemacht hat. Er blickt Viktor schief an und fragt ihn: „Sag mal, warum schwitzt du, wie ein Schwein?“ Schnell sucht sein Sprössling nach einer passenden Ausrede und gibt Folgendes von sich: „Ach, da waren so ein paar Schulkameraden von mir auf Schläge aus...“
„Und? Wieso bist du nicht verletzt?“
„Hab mich lieber vom Acker gemacht.“
„Ts, du bist mir eine Lusche! Nächstes Mal verpasst du denen einen Arschtritt, den sie so schnell nicht mehr vergessen werden. Aber ich muss jetzt los, lass mich vorbei!“
Vik lehnt sich an der Wand und macht sich möglichst dünn, um seinem alten Herrn etwas Platz zu verschaffen. Anschließend schließt er die Tür hinter diesen und spottet flüsternd: „Ja ja, geh und lass dich wieder Volllaufen!“ Nun hat Viktor die Bude wieder einmal ganz für sich allein. Welch Glück! Von seiner Erschöpfung gelenkt, steuert er genau auf sein Zimmer zu, ignoriert diesmal den freudig wedelnden Texas und schmeißt sich ermüdet aufs Bett. Sogar seinen Mantel vergisst er auszuziehen, was ihn aber nicht beim Einschlafen hindert.
Langsam erwacht er wieder. Es ist kein sehr erholsamer Schlaf gewesen, eher eine schweißtreibende Bewusstseinsabstinenz, von der er eine miese Zerrung am Hals abbekommen hat. Fast schon, wie eine Nacht voller Albträume. Das Gefühl, nie mehr schlafen gehen zu wollen, überkommt den Gammler, doch wird sich dieser Schwur spätestens zu seinem nächsten Müdigkeitsanfall in leeres Gerede, bestenfalls in eine wertlose Erinnerung verwandeln. Noch immer erschöpft, jedoch nicht genug zum erneuten Eindösen, richtet sich dieser aufrecht. Halb benommen starrt er, auf dem Bett sitzend, seine Füße an, die sich an den festen Boden erst mal wieder gewöhnen müssen.
„Wie spät ist es überhaupt? Es ist ja noch völlig dunkel hier...“
Genervt sucht er im Dunkeln nach seinem Digitalwecker. Beim Betätigen des seitlich angelegten Schalters, geht ein kleines Licht an, welches an dem Wecker befestigt ist. Zehn nach fünf Uhr morgens zeigt das Display an, kein erfreulicher Anblick, denn es erinnert die Schlafmütze an den bevorstehenden Unterrichtsbeginn.
„Scheiße! Schon wieder Schule, warum verreck ich nicht gleich? Oder noch besser, warum sterben nicht paar Lehrer? Das wär´s jetzt, eine unbekannte Epidemie, die in dem Drecksgymi ausbricht.“
Entgeistert erhebt sich die Gestalt. Ärgernis und Widerborstigkeit machen sich in ihm breit, doch hat er noch ungefähr zwei Stunden für sich, bevor er seinen täglichen Pflichten nachkommen muss... na ja, eher seinen werktäglichen Pflichten. Viktor geht möglichst leise ins Wohnzimmer und schaltet die Glotze an, womit erneut sein gewöhnlicher Alltag beginnt, welcher nicht weiter nennenswert ist. Ein weiterer Tag, auf dem etliche Tage folgen werden, bis zu dem Letzten. Wie von allen anderen eben auch. Was für ein Leben...
Es ist momentan Donnerstag, am späten Nachmittag. Das Wetter verhält sich äußerst launisch, mal schauert es, mal ist es vollkommen ruhig. Typisch für eine klassische Herbstsaison, aber ziemlich ungewöhnlich, wenn dieses Schauspiel der Natur mitten im Juni stattfindet. Gewöhnliche Menschen würden über diesen Zustand klagen, Menschen wie Viktor aber lockt es zu solch Regentagen aus ihren engen Buden. Melancholisch, wie das Wetter selbst, streift das schwarze Nachtgespenst verträumt durch die Straßen und Gassen, begleitet von seinem treuen Gefährten Texas. Er genießt die kühle Brise, die ihm ins Gesicht bläst und das Regenwasser, das von ihm hinabtropft. Es hat für den wandernden Knaben eine Art seelischen Reinigungseffekt, obwohl er sich über die Existenz einer Seele nicht im Klaren ist. Doch das Schönste an regnerischen Tagen, bleibt für ihn die Menschenleere, die aufgrund des „schlechten Wetters“ die Fremden unter deren schützenden Dächern hetzt. Herzhaft beginnt er die feuchte Luft durch die Nase zu atmen. Daraus entwickelt sich dann ein Schnüffeln, wodurch Vik einen streng müffelnden Duft wahrnimmt. Fast schon automatisch, senkt er seinen Blick nach rechts, worauf er einen riesigen Scheißhaufen erblickt. Genauer gesagt den Kot eines Hundes. Erstaunt, dennoch erschaudert, bewundert Viktor die Leistung seines Riechkolbens. Auch sein Schäferhund „bestaunt“ etwas, allerdings nur den durchnässten Hundedreck auf dem Boden. Ohne weiter groß darüber seinen Kopf zu zerbrechen, geht er weiter. Texas schaut enttäuscht zurück, folgt aber trotzdem seinem Herrchen. Doch kaum paar Schritte mehr gelatscht, durchdringt ein anderer Geruch seine Nebenhöhlen. Argwöhnisch lässt er sich von seiner Nase leiten und findet nach einigen weiteren Schritten eine tote Maus vor sich liegen.
„Was soll das? Mutier ich hier zum Wolfsmenschen?“
Der Tod zeichnet ihre schwarzen, leblosen, kleinen Augen. Kalt und starr sind diese. Wahrscheinlich wurde das arme Tier von einem Fahrrad zerquetscht. Die platte Stelle an der Bauchgegend ihres Kadavers und der heraushängende Augapfel lassen dies vermuten. Normalerweise hätte Vik größtes Mitleid mit dem Tier, doch eigenartiger Weise bekommt er von ihrem Anblick einen ungewöhnlichen Hunger. Speichel sammelt sich in seinem Mund und er könnte schwören, den Geschmack von Blut an diesem zu erkennen! Vorsichtshalber spuckt er sogar auf den Boden um festzustellen, ob die Spucke ihre weiße Farbe beibehält.
„Fuck! Das ist zuviel!“, sagt Viktor angewidert zu sich und tritt paar Schritte nach hinten zurück.
„Komm Texas, Beifuss!“, befiehlt er seinem Hund und gemeinsam rennen sie weg, denn ein gesunder Rückzug scheint für den verstandverlierenden Jungen angebrachter zu sein. Der eine von den zwei durchnässten Gestalten rennt glücklich hechelnd, der andere fast schon panisch.
Einige Zeit später, befindet sich Viktor wie so oft, in seinem Bett. Regenwasser und Schweißtropfen beflecken seine Laken, während er mit breit gespreizten Gliedmaßen auf der weichen Matratze liegt. An der weißen Decke starrend, erinnert sich Vik an seine neugewonnenen Erfahrungen zurück.
„Was zur Hölle ist nur mit mir los?“
Ihm kommt das Verlangen, erneut seine rechte Pranke anzustarren, welchem er auch nachgibt. Die Verzierungen darauf sind genau so deutlich zu erkennen, wie an dem Tag, wo sie entstanden sind. Er schenkt den Abbildern der beiden Ungetüme sein Interesse.
„Das sollen Wölfe sein?“
Sein erster Gedanke, den er beim Umherschnüffeln gehabt hat, fällt ihm wieder ein: „Mutier ich hier zum Wolfsmenschen?“ Natürlich hält Viktor das für absoluten Blödsinn, doch was wenn doch? Hat er sich nicht wirklich verändert? Er strengt seine grauen Zellen an, um sich an weitere Momente zu entsinnen, die im Laufe des Monats geschehen sind.
„Zuerst die Holzrune... aber abgesehen von diesem Riesensplitter in meiner Hand, war doch noch diese unglaubliche Hitze in mir... und meine Neigung nach Hundescheiße und toten Nagetieren werde ich wohl so schnell nicht mehr vergessen!“
Die Gedankenspiele von einer möglichen Transformation, werden von seinem Haustier unterbrochen, das um einen Nachschub an Trockenfutter bettelt. Viktor geht dem Wunsch seines beharrten Freundes nach und lässt sich von dem Hund zum leeren Futternapf treiben.
Beim Einschenken von dem Hundemahl begutachtet Vik die Schnauze des Tieres. Dessen Reißzähne imponieren ihm sehr. Auch die anderen Zähne gefallen ihm, wie sie das trockene, harte Zeug mühelos zermalmen... Die bloße Vorstellung, ebenfalls solch eine Schnauze bekommen zu können, macht ihm die Spinnerei vom Werwolfwerden schmackhafter.
„Wäre cool, wenn ich mich wirklich verwandle. Dann könnte ich Jagd auf ein paar Lehrer machen... nein besser noch, dann könnte ich alles zerfleischen, was sich mir im Weg stellt!“
Ein heimtückisches Grinsen zeichnet sein Gesicht, so sehr erfreut den merkwürdigen Teenager seine Phantasierein. Doch verfällt er wieder in Selbstmitleid, weil er die Tatsache bedenkt, dass ihm nur in Tagträumen eine Lösung gegen sein Leiden angeboten wird. In der Realität bleiben ihm dieselben Probleme, die ihn wortwörtlich des Lebens müde machen.
Am baldigen Tag darauf, sprechen ein paar Schüler in der Aula, den Finsterling an: „Hey Ficktor!“
Angekratzt nimmt er den „freundlichen“ Gruß wahr und flucht innerlich: „Oh Mann! Nicht die schon wieder, fällt denen denn kein neuer Spitzname für mich ein?“ Er reißt sich zusammen und antwortet knurrend: „Was wollt ihr denn?“
Herablassend schaut Vik den Anführer der Vierertruppe an. Ein typischer Aufmuckertyp, in sportlichen Klamotten umherwatschelnd und mit einer von Haargel verseuchten Frisur auf dem Kopf tragend, mehr ist er nicht... ein weiterer, kümmerlicher Mensch, mit großen Ambitionen für gegenwärtige Modeerscheinungen. Dennoch stufen die anderen Schüler ihn als ihren Anführer ein. Gleich und gleich gesellt sich eben gern... über die anderen drei Versager muss man wirklich kein Wort verlieren. Sie versuchen ebenfalls so auszusehen, wie ihr Idiotenkommandant und die einzigen Laute, die sie von sich geben, bestehen aus stupiden Wiederholungen ihres „Meisters“, hyänenhaftem Gekicher und anderen Schleimerein.
„Bist du zu blöd dich zu rasieren?“, fragt der Deppenanführer Vik. Nun hat er es endlich geschafft. Das erste mal, dass Viktor tatsächlich schockiert auf einen seiner Sprüche reagiert.
„Wovon zum Teufel redest du da?“
„Na sieh dir doch den hässlichen Flaum auf deiner Oberlippe an! Hast ja ends die Schamhaare an deiner Fresse kleben!“
Die Vier lachen lauthals, eingebildet wie sie sind. Der Gehänselte streift sich mit seinem Finger über der Oberlippe und bemerkt es nun auch. Feine Härchen kitzeln seine Fingerspitze und nun ist es eindeutig: Viktor hat mit fünfzehn offiziell die Pubertät erreicht! Darüber war er so erfreut, wie jeder andere Jugendliche auch. Nämlich gar nicht! Mit dem Vorsatz im Hinterkopf, sobald wie möglich einen Spiegel aufzusuchen und den Möchtegernschnauzer abzurasieren, geht er gezwungenermaßen in sein Klassenzimmer, wirft den Ranzen neben seinen Stammplatz und pflanzt sich hin. Ihm wird schnell klar, dass womöglich die neuen Veränderungen in seinem Körper von dem Hormonzuschuss kommen, die er ja nun erleidet. Da sollen ja Sinnesschärfe und Gefühlsschwankungen ganz normal sein. Der Pubertätsgeplagte stellt sich schon „vorfreudig“ vor, wie er mit erhöhter Achselschweißaussonderung, einem lächerlich klingendem Stimmbruch und ständigen Dauererektionen fertig werden muss. Natürlich denkt er an den Sexualunterricht zurück, in dem er das Thema eher humorvoll betrachtet gehabt hat, doch jetzt weiß er nicht, wie er damit klarkommen soll.
„Ach was, Tiere haben doch ebenfalls kein Problem damit! Das wird schon nicht so schlimm werden... vielleicht bespring ich wie Texas damals ein paar Sitzkissen, aber mehr auch nicht... hoffe ich zumindest.“, redet Viktor sich ein. Die Schulklingel belästigt die Klasse mit ihrer Präsenz. Verwundert stellt Viktor fest, dass sein Banknachbar noch immer nicht erschienen ist.
„Komisch, ansonsten kommt Matt nie zu spät!“
Scheinbar ist Matthias für heute entschuldigt, denn auch im weiteren Schultagesverlauf taucht er nicht auf. Und das ausgerechnet heute! Heute werden die Schüler mit einem Überraschungstest in Erdkunde beschäftigt.
„Boaw! Das muss heute mein Glückstag sein!“, stellt Vik mit einem kräftigem Hauch an Sarkasmus fest. Für die Probe wird er garantiert eine sechs, bestenfalls eine fünf kassieren. Er hat doch keine Ahnung von Erdkunde, was interessiert einen auch schon die Benennung von Orten, die man vermutlich eh nie antreffen wird? Und ohne Matts Anwesenheit, hat der Lernfaule keinerlei Abspickmöglichkeiten. Dazu hat Viktor nur einen Gedanken: „Scheiß Schule!“
Ich will nicht zu euch gehören, lasst mich doch einfach zufrieden! Zwing ich euch etwa zu Dingen, die ihr nicht tun wollt? Ihr nehmt mir jegliche Freuden, meine Zeit, meinen Stolz und meine Ruhe. Was ist so schlimm daran, wenn ich apathisch bleibe? Was nur, was?!
Noch am selben Pechstag kehrt Vik von dem Ort des Grauens zurück und fährt den Rechner in seinem Zimmer hoch. Er hat die ganze Busfahrt über einen Ohrwurm von seinem Lieblingssong gehabt. Deswegen benutzt er die Multimediafunktion seines Computers, um Musik abzuspielen. Nach einem einfachen Doppelklick mit der Maus erklingt ein heftiges Schlagzeugspiel mit Gebrüll, anstelle von Gesang. Selbstverständlich kommen in diesem Deathmetal* auch Gitarre und Bass vor. Es hilft Viktor, die Wut in ihm zu bändigen, da jemand anderes für diesen den Schmerz von der Seele schreit. Sein Hund verzieht sich schleunigst nach draußen, weil er diesen Krach nicht verträgt. Entspannt schließt der Zuhörer seine Augen und lauscht dem Werk. Der Rhythmus beschert ihn mit Glücksgefühlen, die ihn wissen lassen, dass er genau das Richtige gemacht hat. Er spielt nach Beendigung des Liedes noch weitere ab, von denen nicht alle dieser Musikrichtung angehören. Auch traurige Balladen genießt er, da jeder Song den Wunsch nach einem weiteren auslöst. Solange geht das, bis der Hunger ihn zum Aufhören zwingt. Darum muss er zur Küche gehen und eines der
*Wie schon aus dem Kontext herauszulesen, handelt es sich beim Deathmetal um eine Musikrichtung, die man fast schon zu einem modernerem Rock & Roll zählen kann. Allerdings ohne Gesangseinlagen, sondern mit Gebrüll, oder eher bekannt als Gröllen.
Fertigprodukten zubereiten, die sich im Kühlschrank auftreiben lassen. Wie bereits erwartet, trifft sein Vater zwanzig Minuten später ebenfalls ein. Er hat momentan Mittagspause und möchte ebenfalls etwas von dem Fraß abhaben. Genauer gesagt von der Pizza, die sich im Ofen befindet.
„Und? Ist das Essen bald fertig?“, fragt er seinen Sohnemann.
„Klar Jeff, in ungefähr 5 Minuten.“
„Aha, gut...“, antwortet er. Es herrscht Schweigen, bis das Mittagsmahl endlich servierbereit ist. Jeff sitzt faul und erwartungsvoll, während Vik zwei Teller und einen Pizzaschneider besorgt. Brüderlich aufgeteilt landet jede Hälfte auf jeweils einen Teller und wartet nur darauf, verzehrt zu werden. Beim Nachgeben der Gier nach dem leiblichen Wohl, findet ein
Dialog zwischen den beiden statt. Jeffrey, also Viktors Vater fängt mit diesem an:
„Na Junge, wie war die Schule?“
„Scheiße! Wie war deine Arbeit?“
„Ts, die ist noch nicht erledigt. Das weißt du doch.“
„Ja, ich weiß...“
Viktor schaut entgeistert auf seinen Teller. Er kann es nicht leiden, mit seinem Versorger zu quatschen. Alles scheint ihm so... gespielt und gezwungen. Und außerdem kann er den Kerl gar nicht ab! Er ist doch, wie alle anderen Menschen auch. Alle halten sie zusammen, alle sind sie sich so verflucht ähnlich und alle verachten sie Viktor. Doch Jeff fängt wieder damit an, ihn voll zu labbern:
„Sag mal, du scheinst ja ein richtiger Mann zu werden.“
„Was? Au, du meinst den Flaum.“
Vik fasst peinlich berührt seinen baldigen Bartschmuck an. Er erzählt nun seinem alten Herrn:
„Darauf wollt ich noch kommen, ich bräuchte eine Rasierklinge von dir. Er geht mir schon
jetzt auf die Nieren!“
„Sicher doch, nimm dir einfach einen unbenutzten aus dem Wandschrank.“
„Okay... danke...“
Sie knabbern weiter an ihrem belegten Teig. Viktor versucht so schnell wie nur möglich das Zeug runterzuwürgen, damit er sich wieder in sein Zimmer verkriechen kann. Aber Jeffrey redet abermals auf ihn ein:
„Hast du endlich eine Freundin gefunden?"
"Nein..."
"Aha... na ja, ist wohl besser so, Frauen sind eh alles Schlampen, genau wie deine Mutter! Einfach so uns im Stich zu lassen...“
Mit so einer ernsten Gesprächswendung hat Vik nun wirklich nicht gerechnet. Die Scheidung beschäftigt ihn schon öfters, was ja nicht besonders verwunderlich ist. Darum nutzt er die Gelegenheit aus und fragt seinen Dad:
"Warum hat sie das getan?"
"Ich will nicht darüber reden..."
Das hört Vik nicht zum ersten Mal. Die typische Standardausrede von seinem Alten. Dabei muss sein Sohn doch wissen, warum dessen Mutter einfach so abhaut! Doch was soll man da schon machen? Wenn sein Vater nicht darüber reden will, kann er ihn ja schlecht dazu zwingen... oder etwa doch? Nach dem unangenehmen Mittagsessen eilt Jeffrey mit den Worten „Die Pflicht ruft.“ wieder zur Werkstatt. Weitere Autofahrer warten auf Lackierungen, Reifenwechsel und anderem Schrott. So hat der Junge die nötige Zeit, sich ins Bad zu begeben und vorm dortigen Spiegel seine ersten Erfahrungen mit der Rasierklinge zu machen. „Er ist bestimmt schuld daran, wer hält es schon mit diesem Langweiler aus?“
Eine ganze Woche ist nun verstrichen. Viktor hat dabei gelernt, warum Taschentücher die besten Freunde eines Teenagers sind und dass seine Geschichtslehrerin die heißeste Frau des ganzen Gymnasiums sein muss. Zugegeben, ziemlich viel Konkurrenz hat sie nicht... Der weibliche Körper scheint für ihn das aufregendste Forschungsgebiet seines Lebens zu sein, doch hat er das vergangene Geschehnis mit der Holzmünze nicht vergessen. Wie könnte er auch? Wegen diesem krüppligen Griffel ist Vik gezwungen, seine linke Hand zum Onanieren zu verwenden. Dabei ist er Rechtshänder! Doch was soll’s, Hauptsache die Wirkung ist dieselbige. Aber es ist nun für ihn an der Zeit, den nächsten Schritt zur Auflösung seines kleinen Geheimnisses zu wagen. Obwohl sein persönlicher Wille nichts ausrichten, geschweige denn verändern kann. Es trägt sich an einem Mittwochmorgen zu. Viktor schlendert durch die langen, seitengassenähnlichen Flure des Schulgebäudes, um an der Massendisziplinierung teilzunehmen. So wie es seine Pflicht ist. Nichtsahnend steckt er einen schmerzhaften Klaps weg, der ihm am Hinterkopf zugefügt wird. Zornig dreht sich Vik um, damit er dem Vollidioten ins Gesicht blicken kann, welcher zu solch sadistischen Späßen fähig ist. „Ich glaub es hackt!“, schimpft er. Ein dreckiges Grinsen sticht ihm ins Auge. Es gehört demselben Typen, der sich schon vor ein paar Tagen über Viks erhöhten Haarwuchs lustig gemacht hat. Als er ihn so vor sich stehen sieht, überkommt dem genervten Langhaar die blanke Wut. Scheinbar will die kleine Spottdrossel zu Wort kommen, doch lässt Viktors Faust dies nicht zu! Niederschmetternd wirft die geballte Hand sein Gegenüber zu Boden, doch damit nicht genug stürzt sich Viktor auf sein Opfer, um ihm weitere Schläge ins Gesicht zu verpassen. Verstört schaut der kleine Lackaffe drein, doch wechselt sich dessen Blick zu einer ängstlichen Mimik, denn seltsame Laute begleiten Viks Gewalttat, die fast schon monströs zu klingen scheinen. Wahrscheinlich wehrt sich deshalb der Angsthase nicht, oder er ist generell einfach nur ein Schwächling. Wer weiß, wie das Ganze ausgegangen wäre, wenn sich nicht einer der Lehrkräfte bei dem Gerangel hier eingemischt gehabt hätte. Der Lehrer hat sichtlich große Probleme, Vik zurückzuziehen. Schnell versucht der aggressive Schüler noch paar Tritte dem Wurm mitzugeben, doch wedeln seine Beine nur ziellos in der Luft umher. „Was soll das Theater hier?“, brüllt der Erwachsene erschüttert. Nicholas, der Name des atmenden Boxsackes, wirft ein: „Ich, ich hab gar nichts gemacht! Der Psychopath da hat mich einfach so angefallen! Man sollte ihn einsperren!“ Grimmig schaut der Lehrer Viktor an. Beide kennen sich eigentlich überhaupt nicht, aber ihnen wohnt dieselbe Abscheu inne, die sie aneinander hegen. Der eine hasst genau das, was der andere verkörpert. Ein ungezogener, verantwortungsloser, junger Hitzkopf und ein spießiger, verklemmter, alter Sack. Es mag nicht fair sein, dennoch schenkt der Lehrer dem eher normal aussehenden Jungen Glauben.
„Soso, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, ähm...“, sagt der Beamte zu Vik. Dieser ergänzt den Satz mit seinem Namen: „Viktor!“ Der Mann wirkt verblüfft. „Viktor? Nicht zufällig Viktor Ritter?“, fragt er. Viktor ist erstaunt. „Quatschen die im Lehrerzimmer schon über mich? Haben die denn nichts Besseres zu tun?“, denkt er sich. Es ist auch sein erster Gedanke nach der Rauferei. Er war nämlich seltsamerweise nicht mehr bei vollem Bewusstsein, nur noch lückenhaft kann Viktor sich an die Schlägerei erinnern. Der Lehrer wartet ungeduldig auf eine Antwort und mahnt den Unruhestifter: „Was ist? Traust du dich nicht, mir deinen Namen zu nennen?“ Vik versucht sich von seiner mentalen Zurückgezogenheit zu entfernen und bestätigt dem Lehrer mit einem „Ja, der bin ich.“ dessen Vermutung. Halb angewidert, halb neugierig betrachtet er nun Viktor näher. Es löst in dem Jungen ein unangenehmes Gefühl aus. „Aja... Hätte ich eigentlich an deiner komischen Kleidung erkennen müssen. Wir haben hier nicht viele Grufties* an dieser Schule. Scheinbar bringen die es nur äußerst selten so weit, wie hier.“, kommentiert der Lehrer. Viktor hasst es, wenn er als „Grufti“ bezeichnet wird. Für ihn ist das wieder einmal nur ein Beweis für das eingeschränkte Denken der Leute, die man passender weise als Schubladendenker bezeichnen kann. Immerhin gehört Viktor keiner einzigen Szenerie an, es sei denn, sein Zimmer wäre
*Ein Grufti ist ein abwertender Begriff für Menschen, die sich zur Gothicszenerie hingezogen fühlen. Sie werden auch des Öfteren mit Satanisten verwechselt, wegen deren Vorliebe für schwarze Klamotten.
plötzlich der Treffpunkt für irgendwelche selbstbewusstseinlose Herdentiere und das trifft doch eher auf die Schule selbst zu! Der Lehrer fügt noch hinzu: „Kommt mit ihr beiden, wir müssen zum Rektor um die Sache zu klären.“ „Ja, der Laufbursche muss seinem Chef Bericht erstatten!“, umschreibt Vik gedanklich den Satz seines Vorredners. Zu dritt begeben sie sich ins Sekretariat. Die „Empfangsdame“ fragt nach dem Anlass für deren Besuch und die Lehrkraft gibt die dementsprechende Antwort. Eben die typischen Formalitäten für Fälle wie diesen hier. Da der Direktor der Schule nichts anderes zu tun hat, als das Warmhalten und Vollfurzen seines Stuhles, werden Viktor und seine ungewollte Gruppe in dessen Büro reingebeten. „So, wo liegt hier das Problem?“, beginnt der Direx zu Fragen, anstatt mit einem normalen Gruß anzufangen. „Der Herr Schuster hier, wurde brutalst von diesem... Typen
zusammengeschlagen. Anscheinend hatten die beiden eine kleine Auseinandersetzung.“, entgegnet der Erwachsene von den Dreien. Vik denkt sich nur: „Ach nein, Schlägerein entstehen ja so selten aus Streiterein.“ Herablassend mustert der fette Kerl die beiden jugendlichen Streithammel. Er zieht abwechselnd eine Augenbraue hoch und runter. Es scheint fast so, als wollen die beiden haarigen Striche Alarm für einen Erdbeben oder einer ähnlichen Naturkatastrophe ausschlagen. „Nun gut...“, fängt die glatzköpfige Mastsau von einem Rektor an auszufragen: „Warum habt ihr das gemacht?“ Viktor will gerade anfangen seine Version der Geschichte zu erläutern, doch wirft der Direktor vorher ein: „Aber erst einmal müssen wir eure Eltern davon in Kenntnis setzen!“ „Scheiße! Wie wird das nur mein Alter aufnehmen? Hoffentlich gelassen.“, grübelt Vik vor sich hin. Das Alles ist zu viel für ihn. Warum hat er sich nicht, wie sonst auch, einfach beherrscht? Ist die Dresche es wirklich wert gewesen? Nun, rational gesehen vielleicht nicht... jedoch spürt Viktor keinerlei Reue in seinem Herzen. Im Gegenteil, es ist die Sache wert, egal wie es ausgehen mag. So gut hat er sich noch nie gefühlt. Er weiß, er muss nicht immer einstecken, selbst wenn Lehrer und andere Moralaposteln ihm dies weismachen wollen. Doch nicht mit Viktor, da haben sie sich geschnitten! Es wird ihnen noch Leid tun, sich mit der Schlägertype hier angelegt zu haben! Und tatsächlich, es wird ihnen Leid tun...
Eure Erziehungen und Benimmregeln fruchten bei mir nicht! Meinen Willen kann niemand brechen, auch wenn ich zugeben muss, dass ihr ihn ziemlich zerschmettert habt. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch leben will, aber etwas in mir zwingt mich dazu, weiterzumachen, ich glaub man nennt das den Überlebenswillen. Das liebe ich an diesem Zeitalter, alle Jugendlichen wollen lieber zu Kriminellen, echten „Gangstas“* werden, anstatt wie ihr erwachsenen Spießer euer Leben der Arbeitswut zu widmen, doch leider
zerstören sie dabei nur ihr eigenes Leben, genau wie ihr! Welch Teufelskreis...
Vik ist nach dem Eintreffen seines Vaters und der Mutter des Pfeilchenträgers für eine glatte Woche von der Schule suspendiert worden. Gut, nicht sofort nach dem Eintreffen, erst mal haben die Erwachsenen unnötig geschwafelt, doch es ist dennoch längst entschieden gewesen. Auch wenn diese Tatsache abgestritten worden wäre, falls jemand es gewagt haben sollte darauf rumzureiten. Jedenfalls, Jeffrey bringt seinen Sohn eigenhändig nach Hause. Mithilfe eines Kleinwagens, versteht sich. Die Autofahrt ist ziemlich unschön für Vik verlaufen. Sein Vater starrt wütend geradeaus, auch wenn er lieber seinen Sohn vorwurfsvoll anblicken möchte, aber Unfälle will er auch nicht bauen. Ab und zu lugen seine Augen doch in Viktors Richtung, denn er muss einfach wissen, ob sein Kind ein wenig Schuldgefühl zeigt. Aber nein, der Rotzlöffel lächelt stattdessen frech, wie er ist. „Du weißt gar nicht, wie schlimm sich so ein Schulausschluss auf deine Zensuren, nein noch schlimmer, auf deine Zukunft auswirken kann? Wer soll dich denn mit so einem Lebenslauf nur einstellen wollen, also ich an deren Stelle würde ja nicht einmal im Traum daran denken, so einen störrischen Esel wie
*Gangsta ist ein Begriff der Hip-Hopszenerie, welches vom amerikanischen Gangster stammt..
dich einzustellen! Betteln wirst du müssen, dir bleibt nichts anderes übrig, als ein Penner zu werden und was...“, predigt sein Vater, doch stoßt er dabei auf taube Ohren. Vik hat schon längst seinen akustischen Fähigkeiten ebenfalls eine „Suspendierung“ gegönnt und genießt noch immer seinen kleinen Aufstand, den er in der Schule angezecht hat. Die Regeln dort gelten nun nicht mehr für ihn, seine Rebellion wird den Lehrern ironischerweise eine Lehre sein. Sie werden dank ihm den Wert ihrer „Gesetze“ in Frage stellen, ja eine Bewegung hat er ausgelöst! Seine Mitschüler werden wie die Affen, die sie ja auch zweifelsohne sind, seinem Beispiel folgen und ebenfalls den Machtanspruch der Schule anzweifeln. Aber dann verschwindet sein Lächeln, denn er bedenkt, dass die hohen Tiere dort wieder einen Sündenbock suchen werden, dem sie alles in die Schuhe schieben können. Doch wer wird es diesmal sein? Das Fernsehen? Gewaltverherrlichende Videospiele? Finstere Musik? Was auch immer für eine Ausrede sie finden, es wird die Massen zufrieden stimmen. Wie eh und je...
Sie erreichen den Eingang zu dem Haus, der unter all den Mietwohnungen auch diesen von Jeffrey beherbergt. Jeff verabschiedet sich daher von Viktor, indem er ihm klar macht, seine Hormone in den Griff zu kriegen und fährt zurück zu seiner Arbeit. Nach einigen Treppenstiegen, gelangt Vik in den fünften Stock, wo er seine Wohnungstür aufschließt. Der „ausgestoßene“ Schulteilnehmer freut sich auf sein Nest, dass er nun eine ganze Woche lang nicht verlassen muss. Wahrscheinlich wird er dennoch die Bude hinter sich lassen, aber es ist ein Riesenunterschied, ob er es will oder dazu gedrängt wird. Glücklich, wie er gerade ist, streichelt er seinen Schäferhund, denn der Wunsch seine Freude mit ihm zu teilen ist immens. Trotzdem ist ihm davon nach weniger Zeit langweilig geworden und er beschließt mehr Zeit vor dem Fernsehapparat zu verschwenden. Auch wenn seine Aufmerksamkeit dabei ganz dem Fernseher gewidmet ist, konzentriert er sich gedanklich dennoch nur auf die Schulschlägerei. Welch herrlicher Vorgeschmack von der Freiheit es doch gewesen ist, die er in Zukunft sein Eigen nennen will. Zumindest, wenn es ganz nach seinem Kopf gehen würde. Jedoch scheint der Traum von Unabhängigkeit und Freiheit so was von unmöglich zu sein. Keinerlei Mühen und Arbeit können ihn näher an sein Ziel bringen, das weiß er einfach. Denn die einzigsten Wesen, die man wirklich frei nennen kann, sind es in Wirklichkeit doch nicht. Indianer sind an ihren Stämmen gebunden gewesen und sogar diese haben sie nicht vor der Tyrannei des weißen Mannes bewahren können. Und die umherwandernden Zigeuner, deren Freiheit von so vielen beneidet, beziehungsweise verachtet wird? Schön, das ist ein netter Gedanke, doch mal im Ernst, solange sie das Geld der zivilisierten Zweibeiner benötigen, kann man jene nie als unabhängig einstufen. Frei vielleicht, doch was ist das eine schon ohne das andere? Da kann man ja gleich Suppe ohne Wasser zubereiten! Es dämmert gerade dem jungen Philosophen, dass er die Glotze umsonst laufen lässt. Er schaltet auf den Ausschaltknopf seiner Fernbedienung und liegt einfach nur so auf der Couch herum. „Eine ganze Woche... man ist das geil!“, denkt sich Viktor. Er liegt auf der faulen Haut und denkt sich weitere Möglichkeiten für sein eventuell entstehendes Glück aus. Dabei kommt ihm wiedereinmal die Idee der Allmacht im Sinn, die er ja des Öfteren hat. Wie erlangt man Macht? Mit Geld, kein Zweifel! Mithilfe von Geld kann jeder Krüppel plötzlich ein König sein. Aber höchstwahrscheinlich wird er im Leben vollkommen versagen, so ist nun mal seine Einstellung. Er hat schon permanent den Kürzeren gezogen, warum sollte sich diese Tatsache jemals ändern? Wieso sollte ausgerechnet er, von allen Menschen auf dieser riesigen Erde, das bekommen können, was ansonsten niemand geschafft hat? Ja... er wird wohl immer ein Versager umgeben von weiteren Versagern bleiben. Eine Welt des Versagens, die haben ja all die Würmer da draußen selbst geformt, auch wenn dies einer ominösen Gottheit in die Schuhe geschoben wird. In manchen Fällen sind ja mehrere Gottheiten angeblich Schuld an dem kosmischen Unfall, was ja auch gut möglich ist... sofern man diese felllosen Affenwesen als Götter bezeichnen kann! Eingebildet genug wären sie ja schon, immerhin nennen sie sich selbst die „Krone der Schöpfung“. Genau solche Sprüche sind der Grund, warum Viktor sich lieber zur Tierwelt hingezogen fühlt. Die ungezähmte Wildnis, das Paradies für jeden Überlebenskünstler und die Hölle auf Erden für jeden verkackten Spießer, im wahrsten Sinne des Wortes! Langsam beginnt die Müdigkeit über Viks Geisteszustand zu triumphieren und im Gegensatz zu jeglichen anderen, unterdrückenden Einflüssen lässt der Eigenbrötler sich gern von dieser Befehle erteilen. Genau genommen den einen, einfachen Befehl: einzuschlafen und für ein paar Stunden von dieser stinkenden Realität zu entfliehen, auch wenn er vorher aufstehen und zu dem Bett in seinem Zimmer gehen muss.
Es gibt keine Bestimmung, kein Sinn des Lebens und daher auch keine Rechtfertigung zu leben.
Nach ungefähr acht Stunden erholsamen Schlafes bricht die Dämmerung ein und die Lust auf ein kleines Liebesabenteuer, welches Viktor herbeisehnt, ist dank seinem Morgenständer
eindeutig zu erkennen. Früher, also vor seiner Pubertät, konnte er den Drang nach einem guten Fick nicht nachvollziehen. Doch jetzt muss er jeden Tag daran denken, davon träumen, sprich davon schwärmen. Ist wohl völlig normal, vermutet Vik. Stimmt ja auch, es ist vollkommen normal. Auch seine nächste Handlung ist vollkommen natürlich. Er spielt solange an sich herum, bis er auf sein vorher aufgefaltetes Taschentuch ejakuliert. Der Kick, den er dabei verspürt dauert nur eine Minute an, vielleicht paar Sekunden weniger, so genau kann er es nicht abschätzen. Was er aber eindeutig feststellen kann, ist dass sich das Ergebnis der ganzen Prozedur nicht mehr so schön, wie bei seinem ersten Mal anfühlt. Es ähnelt mehr einer kurzen Erleichterung, die man nach dem Druck auf der Blase durchs Urinieren erhält. Nichts Besonderes eben. Darauf verzichten kann er aber auch nicht mehr, so vermutet er jedenfalls. Ob er es als Sucht einstufen kann ist nicht sicher, aber auch nicht relevant. Was ist schon dabei, Mittel und Wege zu finden, um ein beschissenes Leben erheiternder zu gestalten? Viktor verweilt noch in seinem Bett, streckt einzelne Gliedmaßen zurecht und gähnt herzhaft, bis das Telefon anfängt zu klingen. „Wer stört denn jetzt?“, fragt sich Viktor. Lustlos steht er auf und verlässt sein Zimmer, denn das Telefon wartet im Eingangsbereich auf ihn. „Bestimmt noch so ein dämlicher Verkäufer, der mir Versicherungen verticken will.“, mutmaßt Vik. Den Hörer von der Gabel abnehmend, empfängt er den Anrufer mit einem freundlichen „Wer stört?“
„Hi Vik, hier ist Matt.“, kündet Matthias an der anderen Leitung an. „Oh, hey Matt. Was gibt es denn?”, fragt Vik ihn, jedoch desinteressierter als er sich gibt. Was für einen Grund hat der schon, seinen häuslichen Frieden zu stören? Matthias erklärt, dass er mehr über den Wutausbruch von Viktor in der Schule erfahren möchte. „Aha, dahin läuft also der Hase... na gut, womit soll ich anfangen?“, fragt Viktor den aufdringlichen Anrufer. Matt fordert dann von ihm folgende Erklärung: „Warum hast du das gemacht?“ Der Ausgehorchte überlegt kurz selbst, warum er zu solch einer radikalen Konfliktbewältigung gegriffen gehabt hat. „Ich weiß es nicht.“, entgegnet Vik. „Keine Ahnung, welcher Teufel mich geritten hat, aber es kam über mich, sobald ich seine dreckige Visage erblickte! Anfangs dacht ich, es wäre sein Hieb auf meinen Nacken gewesen, der mich austicken ließ, doch jetzt... ich weiß nicht, aber ich bezweifle stark, dass so eine Kleinigkeit mich vor Wut kochen lassen würde.“, ergänzt er seine vorherige Aussage. Beide verstummen, doch Matthias fühlt sich dazu verpflichtet, die Stille zu unterbrechen. „Wow! Vielleicht solltest du Hilfe suchen? Ich meine, so etwas wie eine Selbsthilfegruppe.“ „Halts Maul! Verzapf nicht so einer Riesenhaufen gequirlter Scheiße! Es sind die Hormone, weiter nichts...“, unterbricht Viktor vollkommen ausrastend und laut brüllend seinen Zuhörer. „Okay, okay, lass uns das auf ein andermal verschieben. Du scheinst etwas Zeit für dich zu brauchen.“, merkt Matthias an und bevor dieser sich verabschieden kann, knallt Viktor wutentbrannt den Hörer auf die Gabel. Ja richtig, das Telefon ist noch etwas altmodisch, aber solange es funktioniert, wie ein Telefon nun mal zu funktionieren hat, ist ein neues völlig unangebracht. Fragt sich nur, wie lang es noch funktionstüchtig bleibt, wenn Viktor weiterhin so gewalttätig auflegt. „Verdammter Klugscheißer!“, schimpft Vik geistig und setzt sich auf sein Bett. „Muss mich mit seinem Mist langweilen! Als hätte ich irgendein Problem!“, brummt Viktor voller Zorn zu sich. Doch aus dem Zorn wird rasch eine Erkenntnis. Matthias hat vollkommen Recht, Vik hat ein Problem mit seiner Beherrschung. Obwohl, Problem? Wenn es wirklich so falsch ist, seine Wut auszuleben, warum fühlt es sich dann so verdammt gut an? Die reinste Befreiung von all dem Stress, den er erlebt ist das! Also warum zur Hölle soll er ein „Problem“ haben? Gut, Viktor weiß selbst, dass er bestimmt mehr als nur ein Problem hat, aber seine Rage gehört ganz sicherlich nicht dazu... oder doch? Vik schließt seine Überlegungen mit einem „Nein, das ist vollkommen okay! Mein Verhalten lässt sich leicht begründen, aus Basta!“ ab. Seine Gefühlswelt schwankt noch zwischen Ärgernis und Langeweile hin und her, deswegen ballert er in seiner virtuellen Welt herum. Er versetzt sich so tief in das Pcspiel hinein, als ob er selbst der Söldner mit dem Maschinengewehr wäre. Auch wenn das ganze ziemlich spaßig für Vik erscheint, behält er dennoch im Hinterkopf, dass Kriege bis zum Himmel stinken. Die Überlebenschance sinkt um einiges, wenn Schüsse richtig schmerzen, anstatt nur die Energieleiste am Bildschirm zu minimieren. Viktor spielt bis tief in die Nacht, dann werden die Sterne funkelnd vom Himmel hinabstrahlen und der Vollmond seinen Glanz mit der Welt teilen.
Stunden erscheinen nur wie wenige Minuten, wenn man seine Zeit den weniger langweiligen Dingen des Lebens widmet. So ergeht es Viktor, dem die Zeit sprichwörtlich wie im Fluge vergeht. Er hat es vorm Rechner sehr genossen und denkt momentan noch gar nicht ans Aufhören, aber schlagartig bemerkt Vik einen Zwang in ihm, der ziemlich fremdartig zu sein scheint. Er lässt alles stehen und liegen und springt von seinem Computerstuhl auf. Wie in Trance bewegt sich Vik zum einzigen Fenster in seinem Zimmer, um wie eine neugierige Katze hinauszustarren. „Was such ich hier?“, grübelt Viktor im Hinterstübchen doch da ist es schon um ihn geschehen! Seine Augen werden vom Mond verführt, dessen Rundung einem perfekten Kreis gleicht. Sanft erhellt dessen Licht einen kleinen Bereich des dunklen Nachthimmels und spiegelt sich wieder in Viktors Augen. Wie kleine Vollmonde wirken die Reflexionen in seinen Glupschern, ja man könnte glatt meinen, sie funkeln gelb, wie die Augen eines wilden Raubtieres. Der vom Vollmond hypnotisierte Knabe bekommt dasselbe Gefühl, dass ihm schon damals, auf dem Weg zum Antiquitätenhändler beschlichen gehabt hat. Im Klartext, dieselbe Hitze brodelt in ihm und er wird zur Zielscheibe der Gravitation. Gerade noch rechtzeitig findet er Halt an der Fensterbank, wobei er eine Topfpflanze umstößt. Sein Blick ist dennoch nicht vom Mond abgekommen. Wie alles verbrennende Lava fühlt sich sein Blutkreislauf an, fast schon als würde er selbst der Erdkern in Person sein! Viktor versucht vor lauter Panik zu schreien, bringt aber nur ein leises Japsen raus. Weit reißt er seinen Mund auf, denn die schnell heraussprießenden Eckzähne würden sein ganzes Zahnfleisch aufschneiden, welche sich aber nicht mehr als Eck-, sondern eher als Fangzähne definieren lassen. Sein Kiefer würde dem eines Vampirs gewaltig ähneln, wenn nicht auch seine unteren Fangzähne an Form gewonnen hätten. Auch die restlichen Zähne in seinem Gebiss werden ebenfalls spitzer und spitzer. Während sich sein Kiefer zu einer langen Schnauze ausdehnt, sendet seine rechte Hand das seltsame Licht von damals aus, welches einst noch außerhalb, auf dem Computertisch strahlte und aus der Holzmünze kam, nicht aus seinem eigenen Fleisch wie es momentan der Fall ist. Dabei verliert das Licht an Kraft, dann einen Augenblick später leuchtet es wieder mit der vorherigen Strahlungsfreude, als wäre es nie erschöpft gewesen und das ganze wiederholt sich eine Weile lang. So wie sein natürliches Werkzeug in jener seltsamen Frequenz blinkt, so scheint auch der Vollmond ebenfalls mit seinem eigenen, merkwürdig funkelnden Takt zu spielen. Als wollen die beiden außergewöhnlichen Lichtquellen miteinander harmonisieren, oder vielleicht sogar kommunizieren? Der vom Monde Geknechtete kann sich nicht vom Antlitz der gelben Kugel trennen, obwohl er lieber sich selbst und erstrecht seinen grünlich glänzenden Handteller begutachten möchte. Doch die Transformation muss zuerst abgeschlossen werden, bevor jegliche Handlungen seinerseits in Kraft treten kann! Seine Zunge wächst ebenfalls und passt genau deshalb perfekt in seiner neu entstandenen Schnauze rein. Die Schweißperlen auf seiner Stirn werden von seinem beschleunigten Haarwuchs aufgefangen. Unglaublich schnell wachsen feine Härchen an jeglicher Stelle seiner Haut, wo sie sich zu einem dichten, üppigen und schwarzen Fell entwickeln. Ja sogar seine Kopfhaut wird von diesem Tierfell bedeckt, allerdings müssen sich dadurch seine langen Haare verabschieden, die sich nun auf dem Fußboden verteilen. Jedoch erhält er eine neue Mähne, die seinen Kragen ziert, nämlich die, eines edlen Wolfsrüden. Viktors Ohren verformen sich ebenso spitz, wie seine Klauen. Die elfenähnlichen, beharrten Ohren verschieben sich mehr nach oben, anstatt seitlich angelegt, wie es bei der menschlichen Anatomie üblich ist, zu verweilen. Breiter und länger wandeln sich diese beiden um, sodass sie primitiven Pfeilspitzen gleichen. Dies geschieht leider nicht ganz unblutig, weswegen das besagte Blut an der ehemaligen Stelle der menschlichen Ohrmuscheln, das Fell verkleben. Viks Halslänge verdoppelt sich außerdem noch, wobei neue Wunden ebenso wenig zu vermeiden sind, wie bei der Ohrenumpositionierung. Die Qualen, welche die Verwandlung mit sich führt, sind zwar für den missgestalteten Wolfsmutanten unerträglich, aber mehr als Tränen bringt Viktor nicht hervor. Seine Kehle scheint wie zugeschnürt zu sein, sogar das Atmen fällt ihm dabei sehr schwer. Die Beine verformen sich zu Hinterlaufen, daher verlängern sich seine Füße, seine Knie verlieren den nötigen Neigungsgrad, wodurch der aufrechte Gang erschwert wird und die Zehen werden mit mehr Belastbarkeit und gräulichen Ballen ausgestattet, wie es bei jedem Zehengänger Gebrauch ist. Den Händen ergeht es nicht anders, diese bekommen ebenfalls gräuliche Ballen. Einen größeren an der Fläche für die Fingerwurzeln, und noch fünf Einzelne an den Fingerspitzen selbst. Beide Daumen verkümmern und entfernen sich von den restlichen vier Fingern, indem sie weiter nach oben verpflanzt werden. Auch hierbei lassen sich blutige Spuren auffinden. Er, oder besser gesagt es glaubt auch innere Blutungen und Veränderungen zu durchleben. Zu „guter“ Letzt wächst ihm ein Wolfsschweif, der sich aus seinem Steißbein entwickelt und eigentlich nur zusätzliche Schmerzen hinzufügt, anstatt irgendeinen Nutzen zu erfüllen, es sei denn Viktor beschließt sich ein paar Freunde der wölfischen Art zu machen... es ist vorbei, das Schlimmste hat er überstanden. Eine komplette Verwandlung hat sein Körper durchgeführt, mit Ausnahme von seinen Augen. Diese haben ihre menschliche Natur beibehalten, laut dem Spiegelbild seines Fensters nach zu urteilen. Sie sehen genauso aus, wie früher... smaragdgrün. Schwer atmend betrachtet der Wolfsmensch weiterhin seine Gestalt. Er ist erleichtert, weil er wieder ungehindert tief Luft holen kann. Endlich ist der Kloß in seinem Hals weg! Es machen sich so viele Gefühlsregungen in Viktors pelzigem Herzen breit, Faszination, Skepsis, Furcht, Freude... es ist ein Wunder, anders kann man es nicht nennen. Doch erstaunlicherweise folgen keinerlei Gedanken auf diesen Verstoß der Naturgesetze. Scheinbar hat Vik sein gesamtes Sprachzentrum an den Nagel gehängt. Er fühlt mehr, statt zu denken. Die einzigen Gedanken, die sich bemerkbar machen, nehmen die Gestalt von Bildern, Tönen und Gerüchen an. Eine geraume Weile lang dauert es, bis der Wolfsjunge sich von der Verwandlung komplett erholt hat und sich an seine neue Form gewöhnt hat. Es ist fast so, als müsse sich Viktor wieder an der grauenhaften Realität anpassen, nachdem er einen wunderschönen Traum erlebt hat. Erst einmal runter mit den Pranken von der Fensterbank und auf allen Vieren laufen üben, würde Viktor sich jetzt einreden, wenn er noch in Worten sein Vorhaben beschreiben könnte. Nach einigen tollpatschigen Schritten, die den Werwolf eher nach einem Werwelpen aussehen lassen, fängt ein unausstehlicher Juckreiz sich breit zu machen an. Die Klamotten stören das tierische Wesen, weswegen es beginnt sein Hinterbein als Kratzbürste zu verwenden. Mit seinen neuen, rasiermesserscharfen Krallen, reißt er das schwarze T-Shirt auf. Zerfetzt lockert es sich von Viktors Schultern und liegt nun als ein Fetzen Stoff auf den Fußboden. Wahnsinn, was für eine Schärfe müssen erst seine Vorderklauen besitzen, wenn doch seine hinteren Zehennägel im Vergleich zu den Vorderen stumpf wie Brotmesser wirken? Die blaue Jeanshose muss er sich mit den Zähnen vom Leib reißen, was mühelos bewältigt wird. Seine Unterhose hat er dabei ebenfalls entfernt. Abgesehen von seinem rechten Lederhandschuh, dessen Fingerspitzen von den verformten und spitzen Klauen zerfetzt worden sind, hat der Werwolf kein einziges Kleidungsstück mehr am Leib. Der Wolfsmensch schaut sich den Boden an, der von Menschenhaar, Blutflecken und kaputten Kleidungsstücken nur so wimmelt. Vorsichtig beschnüffelt er die Sauerei und findet sich mit dieser ab. Eigentlich hätte Vik erwartet, dass er die ganze Bude vor lauter bestialischer Wut in Trümmern zerschlägt, aber eigentlich ist er nur ein ruhiges Tier. Genauso wie in seiner menschlichen Hülle, da ist er auch eher ruhig. Doch fühlt er sich richtig wohl in seiner pelzüberzogenen Haut. Als Mensch hat er ständig nur die Probleme im Kopf, die ihm seine Umwelt bereithält, aber als Tier... da fühlt er nur sich selbst. Sein Zimmer, die Welt da draußen, das alles ist nichts weiter als ein riesiger Spielplatz auf dem er herumtollen kann. Der Wolf erschreckt sich, als jemand die Tür beiseite schiebt und ebenfalls auf einen weiteren Vierbeiner antrifft, die Rede ist natürlich von Texas. Der Schäferhund legt seine Ohren zurück und beginnt bösartig zu knurren, als er Viktor nun in diesem Wolfskörper erblickt, allerdings nur für zehn Sekunden. Dann beginnen seine Nüstern sich auf und ab zu bewegen und er bemerkt die Duftstoffe seines Herrchens, die sich zwar leicht verändert, jedoch nicht vollkommen unbemerkbar gemacht haben. Sofort richten sich Texas Ohren aufrecht und er stürzt sich schwanzwedelnd auf das Wolfsungetüm. Sie beschnüffeln sich näher und schlabbern sich gegenseitig die Schnauzen voll. In Viks Kopf spielen sich Filme von seinem Haustier ab und er erinnert sich daran, dass er seinen Hund früher den Kopf gestreichelt hat. Also richtet sich Viktor aufrecht, was ihm noch schwerer als das Laufen auf allen Vieren fällt. Texas blickt zu dem Wolfsmenschen herauf. Des Werwolfs Hinterlaufe können zwar den gesamten Oberkörper des Monsters tragen, sogar auf diesen Laufen kann er noch, aber nicht langwierig. Denn dann fällt ihm das ganze so schwer, sodass er sich mit seiner Pranke an der weißen Wand stützen muss. Mit der anderen, unbeschäftigten Pfote, versucht er den Hund zu streicheln, doch Texas weicht erst mal zurück, bevor er sich dann doch tätscheln lässt. Die Klauen müssen ihn vorhin verschreckt haben. Während Viktor den Hund liebkost, analysiert er seine Hand ein bisschen näher. Irgendwie sieht sie einer Wolfspfote schon ähnlich, allerdings kann man die Zehen noch als menschenähnliche Finger bezeichnen. Okay, beharrte mit Krallen bestückte Finger, an denen Wolfsballen kleben, aber dennoch Finger. Danach sieht er im Geiste die Runenverzierung auf seiner ehemaligen Hand. Daher hört er damit auf seinen Hund zu streicheln und betrachtet die Handfläche seiner rechten Pranke. Wenn er sich das Fell beiseite streift, kann man das Abbild des Ragnaröks deutlich erkennen. Nun sieht er die Rune, die fragwürdigen Vorfälle der letzten Wochen und die Verwandlung noch einmal im Geiste ablaufen. Das ist die Schlussfolgerung der werwölfischen Art, um den Zweck der Rune zu verdeutlichen. Länger kann sich Viktor nicht mehr an der Wand festkrallen und schmeißt sich deshalb wieder auf den Boden. Er hört mithilfe seines verbesserten Gehörs, das keine weiteren Geräusche in diesem Haus erzeugt werden, außer denen von ihm selbst, seinem Hund und dem hohen Rauschen, welches von elektrischen Geräten verursacht wird. Sicherheitshalber schnüffelt er noch mit der Nase in der Luft hebend, ob sich nicht doch sein Dad hier irgendwo in der Nähe versteckt hält. Nur schwache Duftstoffe von ihm sind aufzufinden, jedoch nur diese, die er an Möbeln und anderen Gegenständen hinterlassen hat. Da keine Herzschläge und keine verdächtigen Gerüche zu vernehmen sind, spaziert Viktor aus seinem Zimmer. Ein geistiger Film von seinem Vater, der das Haus verlässt schwebt ihm hervor. Das soll soviel heißen wie „Der alte Sack ist schon wieder zur Bar gerannt.“, auf Viks tierischer Art, versteht sich. Welch glückliche Fügung, dass Viktor so oft allein im Haus gelassen wird, denn ein tobender Mensch hätte ihm gerade noch gefehlt! Dem Tier überkommt ein starkes Hungergefühl, welches durch Bilder von Fleisch herbeigerufen wird, gefolgt von dem Duft frischen Blutes und einem Bewegungszwang, der wiederum nur durchs Rasen auf freien Plätzen besänftigt werden kann. Aber das ist kein Hindernis für Vik, denn nun ist er ja endlich frei und dazu in der Lage, seine Bedürfnisse zu befriedigen, die ihn momentan quälen. Das wird ein Abenteuer, nach dem er sich so lange gesehnt hat, besser als jeder Kinofilm oder noch so einem spannendem Schmöker, denn heute ist die Nacht des Werwolfs!
Ich möchte toben, brüllen, schreien, heulen, so laut es aus mir rausgeht! Aber nirgendwo darf ich das, es ist angeblich eine Ruhestörung, es gibt keinen Platz in der Zivilisation, für wilde Gefühlsausbrüche, deshalb will ich zu einem Ort, fern ab von der Gesellschaft, in der ich so laut sein kann, wie ich will. In der ich allgemein so sein kann, wie es mir in den Sinn kommt.
Die Haustür aufzuschließen ist Viktors einziges Problem, denn als Wolf kann er nicht gescheit mit Schlüsseln umgehen. Wie aber soll er dann aus dem Haus kommen? Das Fenster öffnen und vom fünften Stock aus runterspringen? Wohl kaum! Da hätte er sich lieber die Gestalt einer Werkatze aussuchen müssen, jedoch... sind Werwölfe nicht unverwüstliche Geschöpfe? Da er schon als Mensch eher lebensmüde, anstatt vernunftbegabt ist, rennt Vik ins Wohnzimmer, nimmt von dort aus Anlauf und zersplittert mit voller Wucht das Fensterglas, dank seines Körpereinsatzes. Irrsinnig schnell fliegt er mit den Vorderpfoten voraus in Richtung Betonboden. Der Gegenwind bläst ihm ins Gesicht, begleitet von dessen Heulen, als würde er um dieses leichtsinnig vergeudete Leben trauern. Die Lefzen des Werwolfs flattern während des Sturzes heftig, Sabber wirbelt durch die Luft und schwebt über Viktors Kopf hinweg, da es dieser Speichelansammlungen an Gewicht mangelt, im Vergleich zu dem kartoffelsackschweren Tier. Wie ein Wurfspeer saust das Wesen hinunter und landet schließlich auf den Straßenrand. Die Knochen seiner Vorderbeine brechen zuerst und dann der Unterkiefer des Raubtieres. Winselnd keucht es, hustet, liegt regungslos da und spuckt Unmengen seines eigenen Blutes aus. Sind diese furchtbaren Schmerzen es wirklich wert, Jagd auf ein bisschen Beute zu machen? Hätte der Kühlschrank nicht ebenfalls einige Leckerein bieten können? Bestimmt wird Viktor im Rollstuhl landen, sofern er sich jemals wieder zurückverwandeln kann. Doch diese Zukunftsaussichten gehen nicht durch den Kopf des Tieres, da es sich höchstens einen Rollstuhl oder den Anblick seines früheren Ichs hervorrufen kann. Stattdessen kommen der Kreatur Bilder von seinen gebrochen Knochen in den Sinn, als könnte es mithilfe eines Röntgenblicks durch seine Haut- und Muskelgeweben hindurchsehen, so plastisch sehen seine Hirngespinste aus. Nun sieht er, wie sich diese Knochen dank eines gelblichen Lichtes wieder verheilen. Ist das etwa das Licht des Mondes? Und tatsächlich, nach diesen mentalen Filmszenen entstehen knackende Geräusche, die von seinen Vorderpfoten und seinem zerschmettertem Unterkiefer ausgehen. Findet da wirklich ein Regenerationsprozess statt? Viktor wartet lieber ungeduldig auf das Verstummen der knackenden Laute, bevor er sich daran versucht, wieder aufzustehen und die Straßen zu erkunden. Er kann sich wirklich wieder fortbewegen, nicht einmal leichte Schmerzen verspürt das Fabelwesen. Allem Anschein nach stimmt es, was man bei Werwolfstreifen zu sehen bekommt, diese Biester sind nicht tot zu kriegen, ganz wie Kakerlaken! Silberne Revolverkugel und Gewehre blitzen durch Viktors Geist. Wahrscheinlich fragt sich der Werwolf, ob er ernsthaft vor silbernen Kugeln in Deckung gehen muss? Doch das ist jetzt unwichtig, jetzt ist es an der Zeit, ein paar neugewonnene Fähigkeiten auszukosten. Als Erstes rennt der Wolf auf den dunklen Straßen umher und verlangsamt sein Tempo nur, um weitere Gerüche wahrzunehmen. Er durchkämmt den naheliegenden Stadtpark nach Eichhörnchen, Mäusen, Ratten, Käfern und anderen möglichen Opfern. Zuerst probiert er sie einfach im Lauf zu schnappen, doch heimtückisches Anschleichen verspricht ihm mehr Erfolg auf saftige Appetithäppchen. Auf diese Weise hat er ja auch die fette Taube zwischen seinen Beißern gekriegt. Der Stadtvogel ringt um sein Leben, indem er unkontrolliert mit den Flügeln schlägt und mitleiderregend gurrt. Der Räuber lässt trotz der traurigen Schreie seiner Beute nicht von dieser ab und wirbelt sie mit einem beschleunigten Kopfschütteln hin und her. Es bereitet ihm große Freude, den Kampfeswillen der gefiederten Kreatur zu brechen, denn erst als das kleine Wesen mit dem Umherflattern aufhört, vereinen sich Ober- und Untergebiss des Werwolfs miteinander und beenden damit ein kleines Leben. Die Schwingen der Taube richten sich ein letztes Mal weit ausgebreitet nach oben und sacken langsam ab. Sie allein schauen aus dem Maul des Wolfsmenschen raus, der Rest des Taubenkörpers liegt auf Viktors Zunge. Nur der Kopf des Vogels geht zu Boden. Ein durchtrennter Hals hält eben nichts mehr fest. Zufrieden grunzend kaut der Wolf an seinem Mahl rum, solange bis nur noch kleine Fleischstücke und Federreste in seiner Schnauze aufzufinden sind. Die rötliche Körperflüssigkeit der Taube fließt durch die Zähne der Bestie direkt zu seinem Mundwickel, von wo es den Hals und das Maul des Tieres verfärbt. Der Geschmack ist einfach unbeschreiblich, völlig neuartig für Vik! Erst das rohe Fleisch, dann die Organe, wie zum Beispiel das Herz und die Lungen schmeicheln seinen Gaumen. Das alles vermischt sich jedoch mit unangenehmeren Geschmäckern, wozu der Darm des Viechs, die Federn und die Genitalien zählen. Angeekelt spuckt das Wolfsungeheuer die zermalmte Taube aus. Er schnüffelt in der blutigen, fleischigen Masse herum und fischt sich mit seinen vorderen Zähnen die schmackhafteren Bestandteile des Vogelbreis raus. Leider ist noch ein leichter Beigeschmack der weniger wohlschmeckenden Innereinbrühe rauszuschmecken. Das Tier kann nichts mehr von dem Zeug sehen und befasst sich lieber mit den winzigen Knochen seiner Beute, die sich einzeln verteilt in der Brühe versteckt halten. Na zumindest diese vergiften nicht die Zunge des Wolfsmenschen, allerdings sättigen sie die ungewöhnliche Kreatur auch nicht. Ihm schwirrt die saftige Wampe seines Schuldirektors vor seinem inneren Auge. Soviel Fett reicht bestimmt aus, um das Monster zufrieden zu stellen. Voller Gier hetzt es zur Schule. Der Weg ist normalerweise viel zu weit und daher nur mit dem Bus erreichbar, doch Viktors Wolfsbeine bewältigen diese Strecke mühelos und sogar in Höchstgeschwindigkeit. Ungefähr 40 Kilometer in der Stunde schnell ist der blitzgeschwinde Wildhund. Unterwegs gaffen verwundert einige Autofahrer, als sie das Tier mitten auf der Straße vorbeilaufen sehen. Von soviel Aufmerksamkeit eingeschüchtert schnaubt das Tier zähnefletschend und begibt sich lieber auf dunkleren Gassen, in denen er über Zäune und Gebüsche rüberspringen muss. Hier gelingt es dem Wolf wirklich unerkannt zu bleiben, außer einer Straßenkatze hat ihn niemand entdeckt. Obwohl die kleine Mäusefängerin von der Größe her eine perfekte Beute abgeben würde, verschont der Werwolf diese Kreatur der Nacht. Er stoppt nur kurz, um diese näher zu betrachten und empfängt von ihr ein freundliches Blinzeln, damit sie dessen Misstrauen tilgt. Ein vertrautes Gefühl beschleicht den Wolf, obwohl dieses als Mensch völlig fremd für ihn ist. Eine Art Urvertrauen verbindet die Katze und den Wolf, denn beide sind Jäger und beide sind sie ihrer wahren, wilden Natur treu geblieben, obwohl sie beide hier in der Zivilisation festgehalten werden. Beide machen in dieser Nacht das Beste aus ihrem Umfeld und holen sich das bisschen Wildnis heraus, dass sie in dem betoniertem Wald finden können. Wieso sonst hätte diese „Augensprache“ das wilde Wesen so berührt? Genau darum und höchstwahrscheinlich aus einem Hintergedanken heraus, miaut die Katze den Werwolf an und gibt ihm damit das Zeichen, ihr zu folgen. Sie scheint ebenso ungern von anderen Lebewesen beobachtet zu werden wie Vik, denn ihre geheimen Streifplätze sind einfach nur zu perfekt zum schattenhaften Umherwandeln und Schleichen. Die Wolfsgestalt muss sich komplett auf seinen Riecher verlassen, denn so schwarz wie das Katzenfell ist, genauso finster ist die Umgebung. Es wittert den Duft von Kinderschweiß, Süßigkeiten und sogar einigen benutzten Windeln. Bestimmt ist das irgendein Spielplatz, den Viktor bis jetzt nie bemerkt hat. Die Umrisse einer Schaukel sind für den Wolf vernehmbar, ebenso eine Wippe und auch ein Sandkasten. Die Katze springt auf einer gegenüberliegenden, ein Meter hohen Mauer, welche den Spielplatz von den Reihenhäusern trennt. Dann donnert ein ohrenbetäubendes Hundegebell durch die stille Nacht und die Katze sieht mit einem seltsamen Funkeln in ihren Augen zur Wolfsbestie rüber. Viktor versteht den Preis für das neugewonnene Jagdrevier, dem ihm die Katze vorhin gezeigt hat. Ein Störenfried weniger würde die Katze zufriedener stimmen, doch die Samtpfote besitzt nicht die Kraft, dem krachmachenden Erzfeind den Gar aus zu machen. Sie nicht, der Werwolf allerdings schon! Es hat nichts mit Gehorsam oder Dankbarkeit zu tun, die Viktor dazu veranlasst hat, über den Zaun mit seinen ungewohnt beeindruckenden Sprunggelenken Rüberzuhopsen, auch nichts mit dem brüderlichem Verbundenheitsgefühl, der die beiden Wilden gegen die Zivilisierten aufhetzt, sondern nur die blanke Wut, die der Wolf auf das laute Gekläffe des Bulldogenviehs verspürt, veranlasst ihn zu dieser Handlung. Wütend schnaubend reißt Viktor seine mit zackigen Beißern versehene Schnauze auf und eilt gegen die bellende, angekettete Bulldogge. Die hässlichen, überlangen Lefzen des Wachhundes wippen in der Luft hastig umher und verteilen Perlen von Sabber, wie zwei Steinschleuder sind diese misslungenen Maulverlängerungen zu vergleichen. Doch außer dem skurrilen Aussehensmerkmal, bieten sie dem Haustier noch einen erheblichen Nachteil... sie sind verdammt gute Angriffsziele. Der Wolfsmensch schnappt sich die linke Lefze seines weit entfernten Nachfahren und zerrt besessen an dieser herum. Das arme Haustier winselt, versucht aber sich nicht kampflos unterkriegen zu lassen. Es beißt an Viks Nase, sobald es mit einem kurzen Satz in der Nähe der Wolfsschnauze geschafft hat. Viktor brüllt bestialisch und verpasst seinem Gegner einen festen Hieb mit seiner rechten, vom Mal gezeichneten Vorderpfote, doch der Feind fängt sich mit einer perfekten Landung wieder auf. Nun steht der Drecksköter seitlich, neben Viktor. Die Kette des Wachhundes hat sich dank dem Prankenhieb des Werwolfs von der Hundehütte gelöst, daher zieht die kämpfende Töle daraus ihren Vorteil. Sie stürzt sich auf den Wolf und versucht ihm mit ihrem kräftigen Kiefer die Kehle durchzubeißen, allerdings erfolglos. Denn das wölfische Monstrum packt ihn mit den Vorderpfoten, so gut es eben ohne Daumen geht, an den Kragen und rollt sich mit seinem Kontrahenten auf dem Boden herum. Während dem Umherwälzen der ringergleichen Tiere, tauschen diese gegenseitig Kratzer und Bisse aus. Letztendlich drückt der Wolf die unterlegene Bulldogge mit dem Gesicht zum Straßenboden runter, zu dem sie sich durch die Rauferei hinbewegt haben. Ein drohendes Knurren beendet den Kampf zwischen den Beiden und Viktor senkt seinen Kopf hinab zum Hals des Hundes, das Maul hat er dabei weit aufgerissen und besabbert hungrig und gierig den Nacken seiner Beute. Doch er kann nicht zubeißen. Er wünscht sich im Augenblick nichts sehnlicher, als das Blut des feindlichen Gegenübers zu kosten und das fette Fleisch zu vertilgen, doch ihm erscheint Texas im Geiste, welcher genauso winseln konnte, wie der besiegte Hund dort unter seinem Gebiss. Wütend schnaubt der Werwolf, drückt mit seiner Kralle einen warnenden Abdruck in den Rücken des Verlierers rein, welcher garantiert eine auffällige Narbe hinterlassen wird und türmt triumphierend, jedoch nicht gesättigt davon. Er lässt die Katze und den Hund zurück, ist nicht sein Problem, wie die beiden ihre Streiterein beenden werden. Seine Angelegenheit besteht nur darin, so schnell wie nur möglich nach dem nächst besten Opfer Ausschau zu halten. Mit der Nase voraus lässt sich Vik durch die rabenschwarzen Straßen und Seitengassen führen. Diese ist sein einzigster Stadtplan, in diesem völlig fremden Stadtteil. Nur aufgrund vom gelegentlichem Herausstarren bei einigen Busfahrten, kann er überhaupt einen kleinen Teil dieses Viertels erkennen. Er erinnert sich an die Route, die der Schulbus immer nehmen muss und folgt dem geisterhaften Phantasiegebilde, welches auf der Straße fährt. Natürlich nur im Kopf des Wolfes, es fährt nun wirklich kein „Geisterbus“ auf den betonierten Autoteppichen herum. Nicht dass sich jetzt irgendwelche spirituellen Geisterjäger und paranormale Forscher ins Dunkle wagen, wir wollen doch nicht, dass ein Werwolf euch frisst... obwohl dieser Grund genug für eine neue Forschung bietet. Jedenfalls wird der Tierknabe fündig und erreicht die Bushaltestelle. Nur noch wenige Schritte trennen ihn von der neuen Witterung, die er im Büro des Schuldirektors auffinden will und wird. Als es zum Schuleingang eingetroffen ist, verhindert ein abgeschlossenes Türschloss jeglichen Zugang zum Gebäude. Der Wolfsmensch hebt seinen Kopf nach oben und stellt fest, dass die Fenster viel zu weit von ihm entfernt sind. Im ersten Stock, genauer gesagt... das einzige Fenster hier bei ihm unten, führt in den Keller. Doch anstatt durch dieses hinein zu schlüpfen, hört Viktor auf den wütenden Impuls in ihm. Er stellt sich auf seinen Hinterbeinen, taumelt gebückt und bestimmt auf die glasigen Doppeltüre zu und schmettert wutentbrannt seine Vorderpfoten gegen diese. Immer und immer wieder. Das ganze Glas splittert leicht bei den ersten drei Hieben, die Risse verteilen sich vom Schlagpunkt aus, bis zur oberen und unteren Kante der beiden Türen. Jede Pranke für sich bearbeitet eine Tür. Ein spinnennetzähnliches Gebilde von Rissen ist nach dem sechsten Schlag auf ihnen vorzufinden, bis schließlich die siebten und letzten Pfotenschläge die zerkratzten und beschädigten Glastüren zerdeppern. Hunderte von Scherben und Splittern regnen auf den Boden und verteilen sich gleich nach dem Aufprall überall im Eingangsbereich herum. Die Pfoten des wilden Werwolfs bluten heftigst. Mit den Zähnen muss er vorsichtig jegliche Scherbe aus ihnen herausziehen und der Schmerz gibt ihm zu wissen, dass er nicht immer so überstürzt handeln soll. Der Verheilungsprozess findet noch schneller statt, als beim Knochenbruch, der nach dem Fenstersturz entstanden worden ist. Auch diesmal verläuft rasch ein geistiger Film in Viks Kopf ab und dieselben gelben Strahlen kommen darin vor. Nun ist es an der Zeit für Viktor, das Schulgebäude zu betreten. Mit einem kräftigen Satz springt er über all die Scherben, die vor seinen Pfoten liegen, hinüber. Dabei landet er auf allen Vieren, wie es die Bestie bevorzugt. Er fängt mit seiner Nase all die Duftspuren in der Luft ein und eilt die Treppen herauf, was sich anfangs als mühselige Schufterei entpuppt. Doch er gewöhnt sich schnell ans vierbeinige Treppensteigen. Gleich in der Nähe seines jetzigen Standpunktes befindet sich das Sekretariat, durch welches er hineinmarschieren muss, sofern er den Arbeitsplatz seines Rektors auffinden möchte. Die Tür ist ebenfalls abgesperrt, doch die Bestie bedient sich diesmal ihres überirdisch starken Gebisses. Mit seinen Zähnen haftet es sich an der Türklinke fest und trennt sie gewaltsam von der Tür. Auf der Holztür erblickt man nur noch riesige Splitter und ein sternförmiges Loch, wo vorhin noch die Klinke gesessen ist. Jene spuckt der Wolfsmensch auf den Boden und rammt die Tür mühelos auf, da weder Schloss und Riegel ihn vorm Einbrechen hindern können. Die hölzerne Barriere schlägt mit einem rasanten Tempo gegen die Wand, an der sich ihre Scharniere befinden. Es kracht und lärmt dabei gewaltig. Viktor stampft schnaubend ins Sekretariat hinein und geht zum Büro der fetten Beute. Diesmal stören die Bestie keine weiteren Verriegelungen, da diese für den Raum hier unnötig sind. Es untersucht den langweilig eingerichteten Raum mit paar dahingeworfenen Blicken, steuert aber trotzdem nur auf den Sitzplatz vom Direktor zu. Intensiv schnüffelnd registriert Vik jede einzelne Duftnote auf dem Stuhl. Ein idealer Platz für das Hinterlassen von Gerüchen, denn auf dieser findet er Schweißabsonderungen vom Genitalbereich und dem After seines Opfers, welche den individuellen Geruch des Zweibeiners ausmachen. Sogar Sperma und Hosenstoffgerüche sind für den perfekten Riecher vernehmbar, leider. Entschlossen und voller Vorfreude auf den leckeren Happen, spürt der Wolf die Fährte des Menschen auf. Es konzentriert sich so stark auf den Geruch, dass er ihn schon imaginär vor sich schweben sehen kann! Der Duft führt das Wesen wieder nach draußen, Richtung Lehrerparkplatz und hört genau dort wieder auf. Ein Gestank von Benzin und Autoabgasen tummelt sich an dem Ort herum. Dem Werwolf wird von diesem Geruch ganz mulmig, richtig schlecht sogar! Er flüchtet vor diesem Ausdünstungsalptraum und gibt ein vom Hunger geplagtes, blutrünstiges Heulen frei, welches die ganze Umgebung vor einem bestehendem Massaker in Kenntnis setzt, zu dem Viktor problemlos in der Lage ist, eins zu veranstalten. Eine fette Taube wäre jetzt genau richtig, um den Wolf zu sättigen oder eine gewisse Hauskatze. Diesmal lässt sich Vik nicht von einem einschleimendem Blinzeln besänftigen, denn er hat vom letzten Mal mehr als genug gelernt, nämlich das Niemand, weder Mensch noch Tier, einem grundlos unter die Arme greift... obwohl ihm dies schon längst als Aufrechtgeher bewusst gewesen ist, doch der Tierwelt hat er einst mehr Rückgrat zugetraut. Es ist nicht begeistert von der Idee, sein ursprüngliches Ziel durch ein Kleineres und bestimmt magereres zu ersetzen, doch wie sonst soll er dem an ihm nagenden Hunger entgehen? Nichts desto trotz begibt sich das wilde Tier wiedereinmal auf Beutezug, festentschlossen seinen Drang nach rohem, frischem Fleisch zu befriedigen, doch außer einem Igel und einer kleinen Maus kann er Nichts ausfindig machen. Viktor will sich schon auf dem Heimweg machen, doch da wittert er etwas, dass den scheinbar nicht enden wollenden Hunger in ihm stillen könnte. Ohne gesunder, geistiger Verfassung taumelt sein Opfertier die Straße entlang. Billiger Schnaps und andere Alkoholika strömen von seinem Atem heraus, in Form kleiner Duftnoten, die sich mit dem ebenfalls enthaltenen Nikotingeruch verbeißen. Ein Dreitagebart und dreckige, zersauste Haare kennzeichnen dessen Aussehensmerkmale, nicht zu vergessen seine müffelnden und teilweise löchrigen Klamotten. Ob er ein Obdachloser ist? Auf jeden Fall ist er am Ende mit dieser Welt und das lässt sich nicht nur an seinem heruntergekommenen Äußeren verdeutlichen. Der hochgewachsene Mann hat den Glanz in seinen Augen verloren, mit dem jedes Lebewesen geboren wird. Es ist schon seltsam, Vik hat schon immer gewusst, dass die meisten Erwachsenen nach einiger Zeit mit glasigen Augen gezeichnet werden, doch der Jäger in ihm versteht erst, was das für ein wundervoller Fund für ihn ist, Menschen mit diesen glanzlosen Augen vorzufinden. Schon in der Psychologie stellt man sich die Frage, ob das Opfer den Mörder anlockt und nicht nur der Mörder seine Beute aussucht, wie es eigentlich verständlicher nachzuvollziehen ist. Scheinbar sind beide „Schuld“ am nächstem Schauspiel des Straßentheaters, der keine Zuschauer beinhaltet, erst wenn die Vorstellung längst vorbei ist. Der Wolf stellt sich vor seiner Beute hin, als würde er dem Besoffenen sagen: „Hey, hier bin ich!“ Die Pupillen des Trunkenboldes weiten sich und er scheint auf einmal vollkommen nüchtern zu sein. „Was sucht ein so großer Hund mitten auf der Straße?“, stammelt er mit wechselnder Stimmlage vor sich hin. Tatsächlich ist Viktor ein wirklich großes Tier, selbst für einen ausgewachsenen Wolf. Nicht riesig, aber dennoch so groß, wie ein Mensch. Die Kreatur wechselt ihre zuvor noch neutralen Gesichtszüge zu einem bestialischen Grinsen, wenn man wirklich behaupten will, dass Wölfe grinsen können... aber es ähnelt zumindest einem breitaufgelegten, mit hervorstehenden Zähnen besetztes Grinsen. Der Mensch vor ihm bemerkt nun endlich, wie ernst die Lage ist, in der er sich befindet und behält nicht nur seine vor Schreck aufgerissen Augen, sondern rennt wie ein Verrückter um sein Leben! Doch braucht der Werwolf den Zweibeiner nicht mit viel Eile zu verfolgen, denn so oft, wie seine Beute auf den Boden knallt, würde dies nur einen unnötigen und lästigen Energieverbrauch bedeuten. Er steuert zielbewusst direkt auf sein Opfer zu und drückt ihn bei dessen letzten Fall auf den Boden fest. Die klauenbesetzte Pfote umschlingt den gesamten Hinterkopf des Mannes und die Krallen des Monstrums haften, bedrohlich nah an den Augen des Betrunkenen, fest. Mit sadistischer Freude wartet die Bestie die nächste Reaktion des Opfers ab. Beide rühren sich nicht, stattdessen murmelt der Besoffene zitternd irgendein Gebet vor sich hin, dessen Zweck das Monster nicht begreifen kann. Ist ja auch kein Wunder, es versteht kein Wort von dem Geplapper. Gelangweilt von dem jeglichem Gegenwehr verweigerndem Mann schnappt Vik blitzschnell zu, packt und zerrt an der Kehle rum und erreicht auch die Gurgel, die er ohne zu Zögern vom Hals trennt. Die Halsschlagader lässt Unmengen von der wohlduftendend riechenden Körperflüssigkeit hinwegschwemmen, welche vorher noch das Blut in Strömen spritzen gelassen hat. Der gesamte Fußgängerweg im Radius des Leichenkopfes ist nun beschmutzt von der roten, eiweißhaltigen Flüssigkeit. Der Räuber kostet mit seiner Zunge das Blut, welches dieses wie ein Schwamm aufsaugt. Es ist wirklich so gut, wie es riecht. Schmeckt wie flüssiges Fleisch, nur intensiver als das, seiner winzigeren Opfer, einfach herrlich! Menschenblut scheint wirklich besser zu schmecken, als jedes andere Tierblut, dass es je geschmeckt hat. Der Wolfsmensch zerrt an dem Kadaver solange herum, bis es das störende Hemd vom toten Körper völlig zerrissen hat und reißt stückchenweise das Rückenfleisch vom Leichnam heraus. Welch Wohltat für seinen quengelnden Magen das Beutefleisch ist, doch vertilgt er auch die Organe unter den Rippen, die er mit seinen zermalmenden Zähne durchbricht, wie Zweigstöcke unter einem dicken Wanderstiefel. Das Herz und die Leber bekommen dem Biest besonders gut, doch den Darm probiert es nicht einmal, denn der ist bestimmt so schmackhaft, wie der Taubendarm zuvor, nämlich scheußlich! Zerkauende und runterwürgende Geräusche gibt Viktor von sich, die laut genug sind, um weitere Menschen anzulocken. Es ist ein Liebespärchen, welches von dem genüsslichen Schmatzen des Werwolfs stutzig geworden ist. Blanke Wut überfällt das Tier, denn es fühlt sich gestört von dem neugierigen Pack, das ihn aufgespürt hat. Das restliche Fleisch ignorierend, sprintet Viktor auf die beiden Turteltauben zu, immer schneller werdend, bis er mit einem Sprung, wie ein Pfeil durch die Luft schießt. Zwar versuchen die beiden Menschen kehrt zu machen und so geschwind, wie nur möglich, sich aus der Affäre zu ziehen, doch den männlichen von den Zweien kann Viktor zu Boden werfen. Ein Glück für die junge Frau, denn sie rennt wie ein aufgescheuchtes Reh um ihr Leben. Nicht einmal einen kurzen Rückblick schenkt sie ihrem Liebhaber, der von Vik zerfleischt wird. Wieder hat sich ein gekonnter Genickbiss bewährt, denn der tötet sofort und effektiv. Die Raserei in dem Wolf nimmt kontinuierlich ab, je mehr es an dem Nacken des Mannes zerrt. Das abgetrennte Halsfleisch spuckt der Wolfsmensch wieder aus, denn seine Lust auf Völlerei ist schon wegen der vorherigen Beute gänzlich verschwunden. Es rast hektisch in eine Seitengasse rein, springt auf den Müllcontainer und zieht sich nach einem weiteren Sprung auf die nahgelegene Mauer hoch, allerdings nicht gerade ohne jeglicher Anstrengung, denn es rutscht leicht von der hochliegenden Ebene ab. Schließlich steht der Wolf nun auf dem Hausdach, welches dieser nie mit seinen menschlichen Sprunggelenken erreichen hätte können, denn es ist zwei Stockwerke hoch. Von hier oben bekommt das Biest eine leichte Aussicht, mit der es die Straßen nach menschenverseuchten Plätzen ausspähen kann. Es trabt auf dem Dach entlang und sucht eine geeignete Absprungstelle, von der aus das Raubtier hinabstürzen und wieder festen Grund unter den Pfoten bekommen wird. Hastig eilt Viktor zu seinem Zufluchtsort, seinem Zuhause. Seine Umgebung scheint an ihm vorbeizusausen, als würde das Tier selbst sich nicht fortbewegen, nur den bedrohlich rasch nähernden Hindernissen seitlich und mit leichten Sprüngen ausweichen. Ständig drückt er sich vom Boden ab und hebt sich hüpfend wieder in die Luft, dabei leicht vom Boden entfernt und für eine kurze Sekunde schwebend, solange bis ihn die Vorderpfoten wieder zum erneuten Weiterlaufen abfangen, um den Lauf fortzusetzen. Ja, das muss das Gefühl der Freiheit sein, das Viktor so sehnlichst vermisst hat. Eins mit dem Wind zu sein, der ihn vorantreibt oder in manchen Plätzen ihm mit einer kühlen Brise gegen das beharrte Gesicht bläst. Jede einzelne Fellsträhne seines Körpers spürt die sanften Streicheleinheiten, die ihm durch den Hauch der Wildnis zuteil wird. Auch an solch einem zivilisierten Ort, der jeglichen natürlichen Grund und Boden zunichte gemacht hat, kann Vik die Wildheit erfahren, für die er als Mensch nicht empfänglich gewesen ist. Er selbst hat diese geschaffen, er hat durch sein bestialisches Treiben auch an diesem Schandplatz wieder die ungeschriebenen Gesetze der Natur aufleben lassen, indem er sich das Recht des Stärkeren und sich der eisernen Regel vom Fressen und Gefressen Werden bemächtigt hat. Der Wahnsinn kann sich endlich frei entfalten und das Chaos nimmt nun seinen Lauf. Es ist alles genau so, wie es sich Viktor schon immer gewünscht hat. Nur sind die Methoden, die er verwendet wirklich frei von jeglicher Konsequenz? Und steckt nicht doch noch ein Mensch in ihm? Wenn ja, wird er sich wieder in seine alte Gestalt zurückverwandeln können, oder ist dies nur Mythos und Hollywoodgewäsch, der in der Realität nichts zu suchen hat?
Das Monstrum erreicht die Eingangstür zu all den Mietwohnungen, in der auch seine eigene ihren Sitz hat. Es muss nur mit dem Kopf gegen die Tür drücken, um diese aufzumachen. Was für ein verantwortungsloser Hausmeister das sein muss, der jedem Einbrecher und Obdachlosen hier „willkommen heißt“. Oder vielleicht ist er ein sehr mitfühlender Mensch, wenn er jedem Fremden hier Asyl gewährt... nun Hauptsache eine menschenfressende Bestie wie Vik, kann hier ohne Schlüssel eindringen. All die Treppenstufen, die bis zu seinem Stockwerk führen, durchläuft das Tier, ohne einen kurzen Rast einzulegen. Nicht einmal abbremsen muss es, so geschickt ist es auf seinen vier Beinen geworden. Mit der Haustür verfährt Viktor genauso, wie damals bei der Sekretariatstür: Klinke mitsamt Schloss und Riegel durchbeißen und den Wiederstand der Haustür ignorieren. An mögliche Eindringlinge denkt es gar nicht erst, denn wozu kann es schon Knurren und Zuschnappen? Der Gestank von billigem Wodka und anderen alkoholischen Genussmitteln stechen dem Tier stark in die Nase, ja selbst den Geschmack kann er auf seiner Zunge erahnen. Sein Vater ist also im Haus, hoffentlich dicht genug, um dem Einbruch keinerlei Aufmerksamkeit zu widmen. Nur seine einzigste Zufluchtsstätte im Sinn, bewegt sich der Wolf in sein Zimmer. Texas befindet sich noch im Wohnzimmer, mit dem Kopf verwundert aus dem zerbrochenem Fenster blickend und das nur, um die Ankunft seines wölfischen Herrchens abzuwarten. Doch der treue Hausgeselle hat Viktors Präsenz bemerkt, vermutlich dank einem seiner hervorragenden Sinne. Er bellt den Wolf gutherzig an, worauf Vik verstört die Ohren nach Hinten verzieht und in seine Bude reinstürmt, denn das gellende Geräusch eines Hundegebells bekommt einem empfindlichen Wolfsgehör nicht sehr angenehm. Der Raum sieht genauso unberührt aus, wie nach seiner Transformation. Der Rechner ist noch an und menschliche Haare, Kleidungsreste und auch ein wenig Blut beschmutzen den Fußboden. Hier hat die Verwandlung begonnen und hier soll sie auch beendet werden, sofern Viktor herausfindet, wie eine Rückverwandlung angewandt wird. Der Werwolf versucht sich an seine menschliche Gestalt zurückzuerinnern, stellt sich die Verwandlung vom Tier zum Menschen bildlich vor und regt seinen Körper zu seltsamen Zuckungen an, doch nichts geschieht. Außer sich vor Wut und Verzweiflung, hüpft der Wolf aufs Bett und wieder zurück zum Boden, wirft sich gegen die Wand, wobei er sich mit den Pfoten gegen dieses Gemäuer abstößt und abermals auf den Boden landet. Jaulen, Grunzen und Knurren gibt das Wesen von sich, auch ein gepeinigtes Winseln kommt aus ihm hervor, denn es hat keine Lust bei Tageslicht in dieser Gestalt entdeckt zu werden. Zu viele Gefahren würde sein Antlitz mit sich aufziehen, zu viel Ärger und zu viel Schmach, erstrecht wenn es im Zoo von lauter Fremden angestarrt wird. Das haarige Etwas beruhigt sich langsam und findet sich mit seinem Schicksal ab, bis es wieder von einer „Vision“ ereilt wird. Blaues Licht kann er darin sehen, welches seine Gliedmaßen menschenähnlicher macht und jegliches Fell vom Körper abfallen lässt. Die Schnauze von dem Phantasiegebilde wird zu einer gewöhnlichen Nase und einem Mund zurückgebildet, die Ohren abgerundet und an ihrem Ursprungsort versetzt. Klauen und Zähne verlieren sämtliche Spitze und Schärfe, die sie einst zu tödlichen Waffen gemacht hatten, Viks dickes, glattes und schwarzes Menschenhaar verschönt, wie zuvor in menschlicher Hülle, seinen Kopf und der Wolfsschweif verkümmert zu einem gewöhnlichen Steißbein. Nach dieser Vorstellung im Wolfsgeiste überkommt dem Wolfsmensch ein wundervolles Gefühl. Es ist auf einmal völlig gelassen und fühlt sich richtig bekifft. Dann erfüllt sich die visuelle Vorhersehung und manifestiert sich in der Wirklichkeit. Viktor nimmt wieder die Gestalt an, an die er seit fünfzehn Jahren gewohnt ist und das Beste dabei ist, dass es sich als eine vollkommen schmerzfreie Prozedur herausstellt. Wie in dem geistigen Film, verformen sich seine wölfischen Gliedmaßen zu ganz gewöhnlichen Menschenarmen und Beinen. Die Ballen an Händen und Füßen verschmelzen sich wieder mit seiner Haut, das Fell entfleucht von seinem Körper und bedeckt den Fußboden und die Klauen verlieren an bedrohlicher Größe zu harmlosen Zehen und Fingernägeln. Ein bisschen traurig ist ja der Verlust dieser wertvollen Tötungswerkzeuge schon, aber bestimmt wachsen sie bei der nächstbesten Gelegenheit wieder nach, wahrscheinlich beim nächsten Vollmond. Viktors Schnauze schrumpft bis zum ursprünglichen Menschengesicht zusammen, seine Zähne werden stumpf und klein, die Ohren ähneln nun mehr Affenlauschern, anstatt raubtierischen Ohren und sein Wolfsschwanz verliert er auch. Die Verwandlung wird mit dem übermäßig schnellen Haarwuchs beendet, die Viks prachtvolle, dunkle Mähne zurückgibt. Sogar dieselbe Länge, wie vor der Verwandlung besitzen seine Kopfhaare, als hätte er nur eine Perücke kurzzeitig an einer Garderobe abgegeben. Oder ist sein Hirn ein Superrechner, der jeden Millimeter zuvor ausgemessen und das Ergebnis für genau so einen merkwürdigen Fall abgespeichert hat? Da steht er nun, ein nackter, junger Mann nach einem unglaublichen Erlebnis. Erleichtert atmet Vik auf und sein treuer Texas kommt zu ihm ins Zimmer angedackelt. Viktor tätschelt seinen kleinen Freund sanft und verspielt. Er fühlt sich dem Hund irgendwie noch näher, als ohnehin schon. Viktor kann jetzt die inneren Vorgänge von Texas nachempfinden, da er über dasselbe Bewusstsein verfügt gehabt hat, ausgenommen von dem schwarzweißen Umfeld, den sein tierischer Kumpane wahrnimmt, denn Vik behielt als Wolf seine menschlichen Augen. Am liebsten würde Viktor über das alles so intensivst, wie nur möglich nachgrübeln, doch er verspürt nur dieses immense Glücksgefühl, welches jegliche Gedankenvorgänge zu blockieren scheint. Es ist ja nichts Schlimmes dabei, nein im Gegenteil, allerdings hofft Viktor doch wieder im sprachlichen Stil denken zu können. Tatsächlich, nach fünf scheinbar nie vergehen wollenden Minuten verschwindet auch diese extreme Glückseligkeit in den Burschen und er hört danach auch damit auf, sein Haustier zu streicheln. Erst einmal zieht sich Viktor paar Jogginghosen und ein Unterhemd an, bevor er sich darin aufmacht, sein Zimmer von dem rätselaufhäufenden Unrat zu entlasten. Mensch- und Wolfshaare packt Vik in einen Müllsack, die Stoffreste knotet er zu einem neuen Spielball für den Hund zusammen und das bisschen Blut auf den Boden ist er ja schon dank einem gewissen anderen Vorfall gewohnt zu entfernen. Während der leichten Arbeit hier gehen Viktor einige Gedanken durch den Kopf: „Wahnsinn, ich kann es einfach nicht fassen! Ich bin ein Werwolf, wow! Was für ein irrer Trip das war! So mächtig hab ich mich noch nie zuvor gefühlt, einfach geil! Scheinbar bin ich unverwundbar, doch was wenn eins meiner Organe verletzt wird? Bis jetzt hatte ich nur Fleischwunden und Knochenbrüche, okay nur ist untertrieben... aber was wenn mich jemand mit einem Speer oder ähnlichem Gegenstand durchs Herz bohrt? Ach, wie sollte heutzutage jemand an solchen Waffen herankommen... Sekunde... Knochenbrüche von mir verheilen ganz von allein?“ Viktor blickt auf seinen rechten Greifer und sein Geistesblitz bestätigt sich, die Finger an der Hand sind wieder ganz normal, keine verkrüppelten Taster mehr. Einzig und allein das Mal auf der Handfläche hat die Mutation überlebt. Viktor tobt vor Freude, er beginnt breit zu grinsen und aufzuhüpfen, diese Verwandlung bietet ihm nur Vorteile, obwohl die Entstehung dieser Transformation doch eigentlich die Schuld an seiner vorher noch defekten Hand getragen gehabt hat. Doch was soll ’s, Hauptsache bleibt doch, dass seine verkrüppelten Finger wieder genesen worden sind. Als Viktor mit dem Aufräumen endlich fertig geworden ist, bemerkt er erst, wie erschöpft er im Grunde doch ist. Von dem bisschen Ordnung schaffen kann Vik doch nicht seine gesamten Lebensgeister verloren haben, deshalb schlussfolgert er, dass die Werwolftoberei ihn dermaßen ermüdet haben muss und wahrscheinlich der Zuschuss an euphorischen Botenstoffen, der durch seine Adern nach der Rückverwandlung geflossen ist, ihn für einige weitere Minuten wach gehalten hat. Ansonsten würde er jetzt nicht regelrecht aufs Bett zusammenklappen und auf der Stelle einschlafen.
In der Bushaltestelle warten Viktor und Matthias auf den nächsten Bus, der sie von der Schule abholen soll. Viel Zeit lässt das Transportmittel sich nicht und dessen Türen öffnen sich, sobald das vorher erwähnte Fahrzeug zum Stillstand kommt und den Schulkindern Eintritt gewährt. Viktor setzt sein Bein schon auf der kleinen Treppenstufe ab, als dann unerwartet die Hand vom Busfahrer Vik zum Anhalten verstehen gibt, indem diese mit nur einer geringen Distanz vor Viktors Gesicht schwebend den Zugang verweigert. Mit einer sehr tiefen Stimmlage fordert der Mann den langhaarigen Knaben auf, sich zwischen Matthias oder dem plötzlich auftauchenden Wolf zu entscheiden. „Mehr Platz hab ich nicht für euch da drinnen!“, erklärt der neuzeitige Kutscher Vik und genau in diesem Augenblick wacht Viktor auf, ohne eine Entscheidung fällen zu können. Noch halb zwischen Traum und Wachen befindend, versucht Viktor die Gespräche der „Außenwelt“ mitzuverfolgen, allerdings nicht mit einschlagendem Erfolg. Sein Vater ist wach und er unterhält sich mit Jemandem, dessen Stimme fremd für Vik ist. Nur Bruchstücke, wie „...welches Balg bricht so gewaltsam Türen auf?“, „...warum zum Teufel wurde hier nichts gestohlen?“ und „... keine Sorge Herr Ritter, ich werde mich um die Reparatur hier kümmern, sobald ich dem Vermieter über diese Demolierung hier Bescheid gegeben habe!“ kann Viktor heraushören. Die anderen Worte sind von seinem Hirn scheinbar verdrängt worden, welches sich noch an „diese“ Welt anpassen muss. Das arme Ding muss ja schwer beschäftigt sein, während Viks Schlafphasen. Er schließt deshalb noch mal seine Augen und atmet tief durch, denn allem Anschein nach ist dieser Atemvorgang die wohlbekommenste Methodik, einen klaren Verstand zurückzugewinnen. Der Siebenschläfer riskiert einen Blick auf die Uhr und schätzt mithilfe der Zeit die ungefähre Dauer seiner Erholungsprozedur ein. „Nur vier Stunden Schlaf? Wirklich?“, stellt er verwundert fest, denn trotz seiner schlagartigen Erschöpfung, die nach der Umwandlung entstanden ist und diesen weiteren vier Stunden Schlafmangels, fühlt Viktor sich wacher, als je zuvor. Nur wegen der kleinen Atemübung vorhin? Wohl kaum, da muss mehr dahinterstecken oder besser gesagt mehr in ihm stecken. Mehr Energie, mehr Kraft, mehr Lebensfreude! Der ehemalige Trauerkloß fühlt sich quicklebendig, ein Gefühl dass ihm eher in den seltensten Fällen vertraut ist. Jeder Atemzug ist einst eine wahre Folter für ihn gewesen, die das Toxin seiner Gedankenvorgänge stimuliert und den gewaltigen Brocken des Selbsthasses seine Arterien verstopfen gelassen hat. Doch nun lächelt er leicht, seine Umgebung mag sich nicht verändert haben, doch seine Möglichkeiten in dieser Welt das Chaos zu verbreiten und somit seine eigene Traumwelt zu schaffen sind nun extremst gestiegen. Ja, er ist endlich kein Mensch mehr, jene Kreaturen, die für ihn weniger Wert als die größte Giftmülldeponie des Kontinents besitzen. Viktor ist nun eine Evolutionsstufe höher, als diese degenerierten Primaten, nein höher als jedes Lebewesen auf diesem Planeten! Welch Kreatur kann schon zwischen zwei verschiedenen Formen hin und her wechseln? Niemand, außer ihm! Oder möglicherweise einigen anderen Werwölfen? Warum sollte er der Einzige sein? Obwohl es bestimmt nicht viele Runen, wie die Seinige existieren, oder doch? Und da steckt er nun wieder fest in seinem Gedankenkreislauf, verdammt hat er das vermisst! Die ganze Zeit mit voll konzentrierten Sinnen durch die Gegend zu marschieren strengt wirklich ziemlich an, jedoch ist kein Erlebnis in diesem Universum vergleichbar mit diesem Tierbewusstsein. Viktor entschließt sich, dem Treiben vor der Haustür auf dem Grund zu gehen, aber niemand, außer seinem Vater ist aufzufinden. Jeffrey sieht Vik verblüfft an und fragt seinen Jungen: „Was? Du bist schon auf?“ „Ja... ich hab was gehört.“, bestätigt Viktor, obwohl die Antwort ja offensichtlich ist. „Sieh dir das an!“, deutet Jeff hysterisch auf den demolierten Türgriff. „Wer bringt so was zu Stande?“, murmelt er sich selbst in seinen nicht vorhandenen Bart. Viktor versucht etwas zusagen, doch sein Dad wirft ihm noch ein „Bestimmt hast du diese Freaks angelockt! Ihr riecht euch bestimmt zehn Meilen gegen den Wind!“, gegen den Kopf. „Wie recht du hast, zumindest ein Freak wie ich bringt das zustande.“, denkt sich Vik mit einem selbstzufriedenen Grinsen auf der Fratze. Sein Vater tobt noch eine Weile, bis er sich mit einem Sechserpack Bier auf den Sessel pflanzt und die Glotze anschaltet. „Oh allwissender Fernseher, was verkündest du uns heute?“, spottet Viktor geistig, während er sich seinen Vater ehrfürchtig vor dem Fernseher niederknien vorstellt und ihn sogar die Steckdose küssen sieht. Wahrscheinlich der Arsch des Apparates... jedenfalls hockt Jeff garantiert wieder das ganze Wochenende davor und Viktor muss sich wohl ums Essen sorgen. „Man, fehlt nur noch, dass ich noch die Putze spielen und ihn Schatzi nennen soll. Kein Wunder, dass meine Mom ihn verlassen hat. Scheiß Macho!“, ärgert sich Vik und begibt sich zur Küche, in der er nicht nur sich und seinen Alten, sondern auch den Hund füttern muss. „Na ja, immerhin geht er auch ab und zu mit Texas Gassi...“
Die verdammte, von der Schulpflicht freigesprochene Woche zieht sich leider nicht gerade in die Länge. Die Haustür ist repariert worden und in Viktors Kopf tummeln sich tausend Fragen und Mutmaßungen über seine neue Wolfsform herum. „Was ist ein Werwolf genau? Ein Mensch der sich in einen Wolf verwandelt, oder doch etwas mehr?“, „Was kann mich noch umbringen?“ und „Wie zum Teufel funktioniert die Metamorphose eigentlich?!?“, sind unter anderem in den Gedankenvorgängen von Vik enthalten. Da der Grübler auch auf diese Fragen keine Antworten finden kann, beschließt er sich im Internet über Werwölfe schlau zu machen. Dabei begegnen ihm Themen wie Lykanthropie, Hexenverbrennungen, alte Mythen, Sagen, Märchen und alberne Filme, die scheinbar das Horrorgenre beleidigen wollen. Aber keine aufschlussreichen Fakten. „Man, bin ich dämlich! Hab ich etwa ernsthaft erwartet einen intensiven, zoologischen Bericht über eine vom Aussterben bedrohte Menschenrasse aufzufinden?“, schimpft Viktor über sich, gedemütigt von seinem mangelnden Sachverstand. Er lässt sich soweit nach hinten legen, wie es ihm sein Schreibtischstuhl gestattet und verschließt die Augen, um seinen Überlegungen mehr Konzentration hinzuzufügen. „Gut,
Lykanthropen sind Menschen, die sich für Tiere halten... wahrscheinlich verwirrte Menschen,
die ernsthaft den Worten von Dorfpredigern Glauben geschenkt haben. Der Mensch steht über dem Tier, der Mensch ist kein Tier, er ist aber auch kein Gott, ja klar! Was dann? Eine Pflanze? Ein kleines Gänseblümchen? Eine habgierige Tulpe, die Atombomben werfen kann? Wie obskur! Shit, ich schweif wieder ab... also der Geisteskranke glaubt er sei kein Tier, verwandelt sich aber in eins? Triebe kann man eben nicht leugnen und sich selbst belügen macht einen scheinbar wahnsinnig. Schön und gut, aber das hilft mir nicht weiter! Ich weiß, dass ich mich verwandelt habe, allein die Tür ist Beweis genug! So stark kann ich als Mensch nicht sein, niemals! Und laut den Mythen ist ein Werwolf einfach ein Typ, der dank schwarzer Magie zum Wolf geworden ist... gibt es überhaupt schwarze Magie? Magie an sich klingt für mich nicht mehr so absurd, wie es vor einigen Monaten geklungen hätte, aber schwarz? Was soll das heißen?“ Viktor verhaart einige Sekunden und nimmt sich einen Augenblick Zeit, bevor er im Netz nach schwarzer Magie sucht, doch jegliche Mühen bleiben vergebens, allem Anschein nach bieten öffentliche Quellen keinerlei Hilfe für das, was sich in Viktor zusammenbraut.
Nun fängt die Schule wieder für den Morgenmuffel an, der grimmig aus dem Fenster des Schulbusses blickt. Dreckiger Asphalt verpestet sein Sichtfeld, doch im Gefährt selbst sieht es auch nicht besser aus. Außer man steht auf Kaugummibeklebte Sitze, versteht sich. „Wenn ich doch nur auf den Straßen laufen könnte, wie beim Vollmond damals...“, seufzt Vik gedanklich. „Vollmond, warum eigentlich nur bei Vollmond? Hat das was mit dem Heulen der Wölfe zu tun? Werwölfe sind Gestaltenwandler... und abhängig vom Mond?“, munkelt er. Verstohlen checkt Viktor seine Umgebung ab. Die meisten Schüler sitzen vorne oder in der Mitte, Hauptsache in der Nähe der Türen. Und gerade viele Menschen sind auch nicht im Vehikel drinnen, bestimmt bemerkt niemand den von finsteren Gedankenspielen befallenen Jungen, der in der hintersten Reihe all den Gestalten auf ihren Sitzplätzen den Tod wünscht. „Einen Versuch ist es wert und wenn es klappt, erleichtere ich die Welt um einige menschliche Bazillen und einem fahrendem Abgaseproduzierer.“, mit diesem Entschluss, versucht Viktor die Verwandlung heraufzuprovozieren. Die Frage jedoch bleibt: Wie? Er probiert es mit dem genauen Beobachten seines Körpers, konzentriert sich auf die Sehnsucht nach der Metamorphose und der einseitigen Wiederholung von Befehlen, die er an sich selbst richtet und auf einfache Worte beschränkt, aber all dies ohne Erfolg. Viktor ist schon der Meinung, dass nur der Vollmond seine tierische Seite entfesseln lassen kann, als ihm eine andere Möglichkeit durch die Birne geschossen kommt. Wenn er denkt, wie das Tier vielleicht ist er dann das Tier? Ganz wie das philosophische Zitat „ich denke, also bin ich“, nur ob dies wirklich als Zauberformel zum Wolfsmenschwerden gebraucht werden kann? Ein Versuch kann ihm zumindest nicht schaden und er vertieft sich innerlich, indem er sich seiner Atemvorgänge und seines Herzschlages bewusst wird und alle anderen Gedanken verwirft. Leider gelingt es Viktor nicht auf Anhieb, denn häufig redet er auf sich ein, was er genau vorhat und wie es endet. Als Wolf sind die Worte in seinem Kopf einfach nicht vorhanden gewesen, aber als Mensch muss er nun diese leugnen, obwohl sie eindeutig anwesend sind. „Entschuldigung... stört es dich, wenn ich mich hier hin sitze?“, beginnt eine leise Stimme Vik zu fragen, doch was ihn wirklich stört, ist das Ablenken von seiner schwer erreichten Konzentration. Schlagartig reißt er die Augen auf und sieht das kleine Mädchen vor sich, welches zurückhaltend auf den Platz neben ihm zeigt. „Nein, ist schon okay.“, gibt Viktor ihr zu verstehen und stellt seinen Schulranzen hinter seine Füße, der ansonsten ihr den Sitzplatz geraubt hätte (weshalb der Ranzen eigentlich auch auf den Sitzplatz gelegen ist, nämlich um einer Vogelscheuche Konkurrenz zu bieten). Viktor weiß, dass er nicht mehr unbemerkt seine „Werwolfsmeditation“ ausführen kann. Er wird es wohl bis daheim verschieben müssen. Gereizt schaut er abermals aus dem Fenster, ein neuer Schultag steht bevor, welcher es wagt, ihm die Zeit zu rauben. „Gehst du auch auf das Sophie-Scholl-Gymnasium? Oder steigst du später aus?“, fragt die Sitznachbarin ihn. „Doch ich geh auch aufs Gymi, wieso?“, antwortet Vik ohne ihr einen Blick zu würdigen. „Ach... ich bin neu hier und will mich nicht verfahren.“ Vik nickt leicht und sitzt ansonsten nur starr auf dem Platz. „Ich nerv dich doch nicht, oder?“, fragt sie ihn und diesmal sieht er ihr ins Gesicht. Blaue Augen und langes, dunkelbraunes, geflochtenes Haar hat sie, wahrscheinlich ist sie in der fünften Klasse, sieht auf jeden Fall recht jung aus. Sie besitzt eindeutig einen akzeptablen Kleidungsgeschmack, denn ihre dunkelvioletten Anziehsachen passen genau zu Viktors düsterem Geschmack. Die Tatsache, dass sie mit einem Kleid, anstatt langweiligen Hosen rumläuft, imponiert ihm nur noch mehr. „Nein, tust du nicht. Ich bin nur mies drauf.“, entgegnet Viktor ihrer Frage.
„Gut, ich will niemandem zur Last fallen.“
„Ach was, mit einem Gesprächspartner ist die Fahrt bestimmt nicht so langweilig.“
Sie lächelt leicht und stellt sich als Melanie vor. Viktor stellt sich ebenfalls vor: „Mein Name ist Viktor.“
„Viktor?“
„Ja genau.“
„Wie ist die Schule hier?“
„Scheiße, wie jede nehme ich an...“
„Ja, wohl wahr...“
Die Antwort gefällt ihm, wodurch sie ihm sympathischer geworden ist. Eine Weile ist es ruhig zwischen den beiden und dann fragt sie: „Kannst du mich später rumführen?“
„Was?“
„Na hier in der Schule. Außer du hast keine Lust natürlich, würde ich verstehen.“, nach dieser Antwort blickt sie errötet auf den Fußboden. Wofür schämt sie sich so? Steht die Kleine etwa auf Vik? Er stimmt zu und fragt nach der Nummer ihres Klassenzimmers. „Weiß ich nicht, darum muss ich ja vorher ins Sekretariat.“
„Okay, dann bring ich dich erst mal dorthin und in der ersten Pause warte ich vor deinem Klassenzimmer, abgemacht?“, klären die beiden ab und sie nickt zustimmend. Es ist normalerweise nicht Viktors Art, sich um Fremde zu kümmern, doch findet er das Mädchen irgendwie niedlich. So vorsichtig und zurückhaltend, wie ein echter Wolf, auch wenn der Allgemeinheit diese Charaktereigenschaft eines Wolfes nicht bekannt sein mag. Für diese bleibt ein Wolf, eben nur ein Wolf. Ein blutgieriger Räuber, der keinerlei andere Gefühle kennt... der Säuglinge von ihren Wiegen stiehlt und das „unschuldige“ Vieh reißt.
Ich muss gestehen... nicht nur mein Wohlbefinden, sondern auch mein Weltbild
hat sich verändert, seitdem ich nun das bin... Anarchie ist immer noch schön und gut, doch Ideologien gehen mich nichts mehr an! Egal in welche Welt ihr mich rein steckt, ich werde das Tier in mir niemals aufgeben, für Nichts und Niemanden! Ich brauch keine Gesellschaft, am besten ihr lässt euch freiwillig in einen riesigen Stall sperren und wartet auf mich, euren Metzger, bis ich etwas zu knabbern benötige.
Er hält selbstverständlich sein Wort, so wie es einst für die Gentlemen eine Tugend gewesen ist, doch ohne jeden Zwang und ohne jegliche außenstehende Anerkennung. Liegt vielleicht an seinem englischen Blut, aber ist wohl doch eher unwahrscheinlich, dass Herkunftsorte mit Charaktereigenschaften zusammenhängend ist. Es ist und bleibt die Umgebung, die einen Menschen formt und beeinflusst. Im Sekretariat hat man ihn für ihren größeren Bruder gehalten, bis die unterschiedlichen Familiennamen diese Illusion zum Platzen gebracht hat. Ihr widerwilliges Eintreten ins Klassenzimmer verzückt den verschrobenen Jungen, der sich an seine Abneigung gegenüber diesen Räumen erinnern lässt und nach einem „Bis später dann!“, gehen die zwei ihrer Wege. Obwohl deren „Wege“ sich nicht groß unterscheiden. Darf es natürlich nicht, wenn man alle Schüler hier gleich formen möchte. Für Vik heißt es nun selbst ins Klassenzimmer zu eilen und wieder einmal gedankenversunken vor sich hin zu dösen. „Warum nicht hier? Hier und jetzt als Wolf das Zimmer zu verwüsten wäre doch grandios! Allein die Vorstellung das Lehrerblut auf die Tafel fliegen zu sehen macht mich hungrig.“, gelüstet es den unverwandelten Wolfsmenschen. Er erinnert sich an die ersten Menschenopfer, die ihm keinerlei Bedenken gebracht haben. Warum soll sich Vik schon um Fremde scheren? Sie sind ein nötiges Opfer, um die Bestie zufriedenzustellen und überhaupt, warum sollen deren Leben wichtiger sein, als das der fliegenden Stadtratte und den anderen Beutetieren? Er probiert es wieder, genauso wie im Bus. Dem Atem jegliche Beachtung schenken und die umherbrausenden Gedanken ignorieren. Ist mal was anderes, anstatt hier zu pennen und macht den Unterricht mal nützlicher. Dass Matthias neben ihm im späteren Unterrichtsverlauf mit neugierigen Blicken und Flüstern zu unterbrechen versucht, entnervt Viktor so sehr, dass ihm der Gedanke kommt, einfach seitlich auszuholen. Doch er muss sich konzentrieren, wieder ein Wolf sein, eine reißende Bestie auf all die Schafe und auf deren Hirten vorm Pult loszulassen, ein Dämon unter all den Gläubigern zu werden. Doch dann fällt ihm was ein, kann er als Werwolf sein Versprechen halten? Unmöglich! Vielleicht könnte er als Blindenhund die kleine Melanie durch die Flure führen... Viktor spricht knurrend zu sich: „Was soll´s, am Nachmittag kann ich es weiter versuchen.“
„Was versuchen? Viktor was ist los mit dir?“, flüstert Matt weiterhin zu Vik und bekommt scheinbar unerwartet eine Antwort von seinem Schulkollegen: „Hä? Hast du was gesagt?“
„Du kannst also doch noch reden? Was war eben mit dir?“
„Oh, nichts Besonderes... ich hab nur eine Meditationsübung angewandt, wegen meinen Wutausbrüchen, kennst du ja schon...“, redet sich der Wolfsmutant raus. „Ah, hast du doch meinen Rat beherzigt? Gut gemacht!“, lobt Matthias ihn. „Verdammt, tätschle mich doch gleich und wirf mir noch ein Leckerli zu.“, flucht Viktor imaginär. Also heißt es doch, wieder einschlafen, beziehungsweise auf der Sitzbank zu vergammeln...
Wenn ihr euch wie Schafe aufführt, dann werd ich wirklich den Wolf für euch spielen. Mal sehen, wer dann die Krone der Schöpfung darstellt. Exjäger und Geldsammler, oder ich?
Nach dem Ertönen der Schulklingel, die den Anfang der ersten Pause darstellt und auch deren Ende verkünden wird, streift Vik durch die Flure, um das Klassenzimmer des kleinen Mädchens aufzusuchen. Matt muss er abwimmeln und ihm klarmachen, dass er etwas vorhat. Ist aber halb so wild, Viktor will des Öfteren seine Ruhe und deshalb verzieht sich sein Kumpel zu all den anderen Computerliebhabern. Und siehe da, sie steht schon hier. Einsam und verlassen neben dieser Tür und von allen Anderen gar nicht wahrgenommen, da jene mit dem Hinflitzen zur Pausenaula beschäftigt sind. Sie lächelt sanft, als Viktor auf sie zukommt.
„Da bist du ja!“, begrüßt sie ihn munter. „Klar, warum sollte ich denn nicht da sein?“, gibt er zurück. Sie zuckt mit den Schultern und beide gehen gemeinsam los. Er führt sie zum Hausmeister, der mitten im Schulgebäude einige Snacks zum Verkauf anbietet, gibt den Standort der Sporthalle preis und einige Klassenzimmer, die man für spezielle Unterrichtsfächer betreten muss, da in diesen schon die nötigen Ausrüstungen enthalten sind, wie zum Beispiel das künstliche Skelett eines Menschen für den Biologieunterricht. Dabei sind sie ins Gespräch gekommen und Viktor hat sie immer mehr zu schätzen gelernt. Sie erzählt ihm von ihrer früheren Schule, dass ihre Eltern sie immer damit nerven, neue Freunde finden zu müssen und sie sich nicht immer in ihrem Zimmer verbarrikadieren soll, da ihr etwas Sonne gut täte. Wie schon gesagt, Vik mag sie. Die beiden sind so sehr in ihrer Unterhaltung vertieft worden, dass er beinahe die abschätzenden Blicke der anderen Schulbesetzer übersieht, doch diesen durchbohrenden und hasserfüllten Blick von dieser Teenagergöre hat er nicht meiden können. „Was hat die denn für ein Problem?“, fragt er sich laut und hofft, dass die dumme Tussi ihn ebenfalls gehört hat. „Das war meine große Schwester.“, erklärt Melanie ihm. „Sie ist hübsch, was?“, fügt sie noch hinzu und Viktor ist verwundert. Warum stellt sie ihm so eine unwichtige Frage? Ist hier Geschwisterneid im Spiel? „Ach na ja, schlecht sieht sie nicht aus...“, sagt Viktor ihr und beobachtet genauer die Reaktion von seiner jüngeren Freundin. Sie schweigt... Vik weiß zwar nicht, was zwischen den Beiden los ist, aber er ist ja ein Einzelkind und froh darüber, nicht noch mehr familiäre Probleme mit anderen Geschwistern zu haben. „Also sehen wir uns später im Bus?“, fragt sie ihn und er bejaht ihre Frage mit einem Nicken. „Also dann, bis später!“, „Bis später!“, verabschiedet sich Vik anschließend. „Seltsam, ist die Pause schon vorbei?“, munkelt Viktor, denn er hat die Schulklingel nicht gehört, aber die Uhr im Pausenraum zeigt, dass es Zeit für den Unterricht ist. „Ja ja, die Zeit, unser Herr und Meister...“, seufzt er und gammelt die restlichen Unterrichtsstunden im Klassenzimmer herum, bis zur zweiten Pause.
Diesmal verbringt Viktor seine Pause mit Matthias. Er erzählt ihm von den neuen Hardwareerrungenschaften, die er gleich in seinem Rechner eingebaut hat, obwohl Vik davon nicht allzu viel versteht und wie weit er mit seinem Zombiespiel gekommen ist. Mit geheucheltem Interesse verfolgt der Zuhörer das Gequatsche, ist aber mehr an seinen Überlegungen mit der kontrollierten Verwandlungstechnik beschäftigt, an der er am Nachmittag feilen will. Die demolierte Eingangstür der Schule ist auch kurz erwähnt worden. Viktor spielt den Erstaunten und Matthias erzählt davon, dass dank dem Schaden die Schule einen ganzen Tag lang ausgefallen ist, aber Vik hat ja sowieso seine Suspendierung gehabt. „Hast du schon die scharfe Neue in unserer Schule gesehen?“, fragt Matt und Viktor ist darüber schockiert, weil die einzigste Neue, die ihm begegnet ist mindestens vier Jahre jünger ist und von einer Frau noch so gar nichts an sich hat. „Ähm, ich denke nicht, erzähl mal.“, antwortet er darauf. „Nicht? Ich sag dir, die hat ends die Kurven, ist brünett und einfach der Hammer! Wahrscheinlich auch noch eher exotisch.“
Da fällt Viktor die Schwester von Melanie ein, die ist ja auch neu hier und passt wirklich auf die eher ungenaue Beschreibung hinein. „Lief sie bauchfrei rum und hatte diese engen Jeans an?“, vergewissert sich Viktor bei seinem Kumpel und er grinst lüstern: „Au ja, die mein ich!“
„Dann hab ich sie gesehen... ja sah ganz in Ordnung aus.“
„In Ordnung? Man, die war doch eine Granate!“
„Ja, mag sein, ich hab die Tussi nur kurz gesehen, kann es also nicht genau beurteilen.“
„Was ist denn los mit dir? Gefallen dir keine Frauen, oder was?“
„Nur weil ich dir nicht gleich meine Wichsvorlagen preisgebe, bin ich doch nicht verkehrt rum!“, denkt sich Vik, aber er sagt einfach konkret: „Immerhin lauf ich nicht mit einem Dauerständer durch die Gegend umher. Ist doch echt peinlich.“
Wieder herrscht Stille, der wohl beste Teil für Viktor in einem Gespräch und Matt verzieht sich. „Ich schau mal was die anderen so treiben.“, sind seine letzten Worte zu diesem sinnlosen Geplauder gewesen, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. „Endlich allein.“, denkt der alleingelassene Junge sich und entspannt erst einmal richtig. In Gesellschaft scheint es ihm nicht so leicht zu fallen sich zurückzulehnen, womöglich einer der plausibelsten Gründe für seine Liebe zur Zurückgezogenheit. „Er hat Recht, sie ist verdammt heiß. Und ja, sie hat Kurven, besonders ihr fetter Arsch, man war der heiß! So was sieht man bei all den magersüchtigen Tussis in der blöden Schule nicht... aber sie interessiert sich eh nicht für mich... und warum quatscht mich Matt mit sowas voll? Will er mir seine Heterosexualität beweisen oder will er sie mit mir teilen? Dumme Menschen, reden drauf los, ohne zu wissen, warum... eines Tages könnte Melanie mich genauso nerven, wie all die anderen auch... obwohl sie doch irgendwas an sich hat, dass sie einzigartig macht, ich spür es einfach. Bin ich in sie verschossen? Unmöglich, doch zieht sie mich an, das ist nicht zu verleugnen...“
Einen vergeudeten Schultag später, findet Vik seine kleine Freundin im Bus wieder und setzt sich zu ihr. Sie hat ihm die ganze Zeit über den Platz freigehalten, wirklich nett von ihr. Das seltsame Paar wird oft von den anderen Businsassen beäugt, trotzdem lassen die beiden sich nicht stören. Jüngere Schüler werden oft von den älteren als dumm und kindisch eingestuft, ansonsten hat sie nichts Ungewöhnliches an sich. Er fragt nach ihrem ersten Eindruck von der Schule hier und erhält die befriedigende Antwort: „Scheiße!“, alle Mitschüler öden sie an, die Lehrer stecken mit ihrer entrüstenden Art sie an und die Schule langweilt im allgemeinen, so sagt sie und so denkt Viktor ebenfalls darüber. Es freut ihn, endlich einmal Bestätigung für seine Ansichten über dieses Drecksgebäude zu finden, welches ihm das Leben erschwert. Ansonsten reden seine Mitschüler nur über Ausbildungen und Prüfungen, aber zum Glück nicht mit ihm.
„Was machst du freizeitmäßig so?“, will Viktor von ihr wissen. „Also... meistens sperr ich mich in mein Zimmer ein und hör Musik Und du?“
„Dasselbe, nur zock oder lese ich mehr.“
„Videospiele sind nicht so mein Ding...“
„Und was hältst du von Büchern?“
„Comics find ich besser!“
„Ach ja, hab ich auch früher gemacht. Superheldencomics, stimmt´s?“
„Nicht wirklich…”
Die gegenseitige Ausfragerei über deren Hobbies geht schier weiter, auch Viktors Vorliebe für Antiquitäten kommt ins Gespräch und deshalb erzählt er voller Stolz von dem Ritterdolch, seinem Kompass, dem Indianerfederschmuck und von seinem original, mexikanischem Sombrero, nicht diese billigen Imitate, die man heutzutage als Souvenir kaufen kann. „Den musst du mal in der Schule tragen, wäre bestimm lustig!“, scherzt sie. Als der Bus dann Melies Haltestelle erreicht hat, verabschiedet sie sich mit einem: „Bis Morgen dann!“
Ein weiteres Beispiel für sinnlose Kommunikationen, in einer frühen Bekanntheitsebene, deren Beendigung von äußeren Umständen erzwungen worden ist und zügig ad acta gelegt werden muss, wodurch später Platz für weiteren potentiellen Gesprächsstoff gesammelt werden kann, in Form von neuen „nennenswerten“ Erlebnissen und „Abenteuern“, nur um diesen sozialen Teufelskreis am Leben zu erhalten. Was Menschen nun mal so treiben, wenn ihnen langweilig ist und worauf Wölfe nur in sinnvolleren Situationen zurückgreifen... wie und zu welchem Zweck sich jedoch Werwölfe unterhalten, ist bis heute noch unklar. Aber in dieser speziellen Situation, hätten die haarigen Vierbeiner sich wohl einfach nur beschnüffelt.
Ihr lobt die gesamte Menschheit für Werke, die einzelne Menschen vollbracht haben! Mal im ernst, ihr alle zusammen, seid nicht mehr wert, als ein Haufen Scheiße, nur bildet sich der Dreck nichts auf seine Existenz ein! Einzelne, sonderbare Menschen, die nur ihre eigenen Interessen verfolgt haben, solche Menschen haben zur Wissenschaft, zur Kunst oder anderen
höheren Dingen beigetragen. Ihr benutzt deren Werke, ihr starrt die an und dann glaubt ihr ernsthaft, ihr wäret vergleichbar mit deren Schöpfern? Das ist doch lächerlich! Das unterscheidet wohl den Menschen wahrhaftig von den Tieren: Die Schmeißfliege wird nicht ihre ganze Spezies für den Fund eines Pferdeapfels lobpreisen!
Wieder ist Viktor in seiner guten Stube, der einzigste Part in seinem Alltag, indem ihm nie langweilig wird. Texas rast überglücklich auf seinen zweibeinigen Freund zu, Viks Dad ist in der Arbeit und lässt sich dort von seiner wertvollen Zeit berauben, während Viktor selbst sich eine Kleinigkeit vom Kühlschrank schnappt. Seinen Hund vergisst er natürlich auch nicht und füllt dessen Vorrat an Trockennahrung nach. Beide kauen gemeinsam an deren Mahlzeiten herum und Vik schmeckt sein Fraß nicht, so wie jedes verdammte Essen, dass ihm nach der Wolfserfahrung vorgesetzt worden ist. „Es stimmt wohl was man so sagt, wenn ein Hund einmal Blut geleckt hat, dann kann er davon nie wieder genug kriegen... und wird daher eingeschläfert, weil sie eine potentielle Gefahr für die Gesellschaft darstellen, fast genauso wie Kriminelle, das sind in deren Augen auch keine „Menschen“ mehr. Nur werden letzter erwähnte eingekerkert, anstatt gehängt, außer in Amerika, da soll ja noch die Todesstrafe vertreten werden. Tiere sind laut dem Gesetz nur Gegenstände und die Würde eines Menschen ist ja bekanntlich unantastbar.“, mit diesen Gedanken blickt Viktor zu seinem Hund, der verwundert seinen Blick erwidert. „Für mich bist du mehr als ein Ding, kleiner Freund!“, sagt Viktor zu ihm und streichelt ihn. „Mehr wert als ein Mensch sowieso...“
In seinem Zimmer selbst liegt er auf der Matratze und muss sich zwischen etwas Schlaf oder der geplanten Wolfsverwandlung entscheiden. Schließlich entscheidet er sich für die Übung, denn noch ist er ja ungestört. „Hoffentlich erschreck ich Texas nicht mit diesem Müll.“, grübelt Vik, der seinen Hund neben dem Fußende seines Bettes, auf dem Boden liegen sieht. „Erst einmal aufrecht sitzen und nun, denk wie ein Tier Viktor, sei ein Tier, sei ein Wolf, ein stolzer Wolf.“, konzentriert sitzt er auf sein Bett, schiebt seine inneren Monologe beiseite und verdrängt jene ins Unterbewusste, nur nicht mit baldigem Erfolg. Der Junge muss sich in Geduld üben und schafft es immerhin eine halbe Stunde lang beharrlich zu bleiben, jedoch erfolglos. Kein Haar ist an ihm gewachsen, die Zähne sind platt und eher quadratisch, anstatt zu spitzen Pfählen zu wachsen, einfach nichts. „Man, ich muss mich mit dem Vollmond zufrieden geben.“, kapituliert er geistig und streift sich die nach vorne gefallenen Haare vom Gesicht weg, dabei bemerkt er seine rechte Hand. „Du hast doch in jener Nach geleuchtet, nicht wahr? Genau wie der Mond selbst... leuchtende Strahlen schossen von dir, vom Vollmond und von den gebrochenen Knochen in meinem Kopf heraus? Jene hängen bestimmt voneinander ab. Dass ist bestimmt die Naht, die das gesamte Gefüge des Verwandelns zusammenhält, ja so muss es sein!“
Er versucht das Ganze noch mal, doch diesmal stellt er sich genau diese magischen Lichter vor, die ihm so oft erschienen sind. Blaues und gelbes Funkeln fusionieren sich in seiner Phantasie zu einer ganzen Kugel, leicht grünlich, jedoch schnell wieder zu den zwei verschiedenfarbigen Lichtern zurückformend, die sie ja sind, ja das muss der Kern des Vollmondes sein, ohne seiner steinernen Hülle, reinste Energie! Er spürt sie, so intensivst, dass er zu Zittern beginnt. Sein ganzer Leib schüttelt sich und die vorgestellten Lichter versuchen aus den Öffnungen seines Handschuhs zu entweichen. Rasch reißt er seinen Griffelwärmer hinunter und sieht exakt dasselbe Leuchten, das bei Vollmond aus dem Handteller herausgeschossen gekommen ist. Vik verwandelt sich, er macht es schon wieder! Die merkwürdige Kraft durchströmt seinen Körper, verteilt sich wild in jenem und zerreißt ihn fast! Krämpfe und Zuckungen verursacht der Vorgang hier, sein Fell bildet sich auf der Hautfläche, die Ohren, Zähne und Fingernägel wachsen und wachsen, bis Viktor aufhört, an das Lichtgebilde zu denken. Mitsamt seiner abgebrochenen Imagination verschwinden auch die Strahlen auf seiner rechten Pranke. Schön und gut, doch warum sind seine Hände noch immer so beharrt? Das sind keine Pfoten, dazu fehlen die Ballen und auch keine Hände, irgend so ein Mittelding! Nur noch Klauen und Haare unterscheiden diese Pranken von menschlichen Händen. „Was ist mit dem Rest von mir?“, überlegt sich Viktor, der neugierig einen Spiegel aufsucht. Texas fällt auch eine seltsame Veränderung an seinem Herrchen auf, doch er hat diesen ja schon als Wolf gesehen, dagegen langweilen die paar Haare an Vik das Tier eher. Vor dem Spiegel gaffend, neigt Viktor seinen Kopf in allen möglichen Seitenlagen, um mehr Einblick über sein Äußeres zu verschaffen. Sein langes Haupthaar hat sich nicht im Geringsten verändert, dafür hat er aber noch am Gesicht und an allen anderen Stellen seines Körpers kurzes, struppiges Haar kleben. Unter seinem T-Shirt ebenfalls, wie er es nach der Entledigung dessen festgestellt hat. Seine Schnauze ist kürzer, als die von einem Wolf, aber dennoch lang genug, um auffällig zu sein. Er zieht seine Lefzen nach oben und begutachtet die dadurch hervorscheinenden, monströsen Zähne. Viktor ähnelt nun eher einem der klassischen Filmmonster, anstatt einem Wolf. Dank dem Abbrechen von seiner Metamorphose ist er ein Hybrid geworden, kein Mensch und auch kein Tier. „Cool, ich bin ein Dämon! Ich sehe aus, wie von der Hölle ausgespuckt.“, grinst er vergnügt vor seinem Abbild, aber wie verwandelt das Mischwesen sich zurück? Auch dafür findet er eine Lösung und zwar in seinen Erinnerungen, denn das Problem hat er schon einmal gehabt. „Es war blau... blaues Licht...“, ruft die Kreatur sich ins Gedächtnis hervor und umschlingt geistig mit diesem blauen Schimmer seinen Körper. Die Rückverwandlung erfolgt völlig schmerzlos und genauso berauschend, wie das letzte Mal, mit der einzigen Ausnahme, dass Vik sich dabei selbst beobachten kann. Es ist ein hervorragendes, unbeschreibliches Ereignis, einfach unglaublich! Sein Maul zieht sich zurück, zu einem normalen, menschlichem Gesicht, die Nase gewinnt wieder ihre ursprüngliche Form zurück und die Haut ist so kahl, wie es sich für einen Homo Sapiens geziemt. „Geile Sache, leider hinterlässt das ganze eine riesen Sauerei!“, merkt Viktor an, während er den buschigen Haarhaufen auf dem Boden anstarrt. Besessen starrt er auf seine rechte Hand, sie ist für ihn kein nützliches Werkzeug mehr, sondern etwas göttliches, die Hand Gottes oder des Teufels, je nachdem, wie man es nimmt. „Pure Allmacht! Das was ich schon immer wollte!“, frohlockt es Vik und genau wie in der Wolfsgestalt, überkommt ihn ebenfalls impulsartig ein bildlicher Gedanke, die Vorstellung von den beiden Lichtern, vollkommen unkontrolliert umschlingen diese seinen rechten Arm, er kann es deutlich sehen, fast so, als wären sie wirklich da. Doch sind diese Lichterscheinungen nichts weiter als Vorboten für die wirklich existierenden Lichtstrahlen, die dem vorherigen Beispiel nachahmen und wirklich seinen Arm bedecken, als blute seine Hand nach dem Eindringen der Rune, genau wie damals, nur fließt Licht anstelle von der dickflüssigen Körpersubstanz, die sein Kreislauf in Takt halten. Viktor hat keine Ahnung, warum, aber diesmal verwandelt sich nur sein rechter Arm, der Rest des Körpers bleibt menschlich. Er kann nur vermuten, dass es sich um die Aufmerksamkeit auf seinen rechten Arm und auf die herbeibeschworenen Lichter zurückführen lässt, etwas anderes kommt ihm nicht in den Sinn. „Haben die Farben der Lichter irgendeine Bedeutung? Mit dem blauen Licht kann ich mich zurückverwandeln, beide zusammen lassen mich mutieren doch was bedeutet das Gelbe?“, fängt er an, die magischen Strahlen näher zu begreifen, doch allen Bemühungen umsonst, es fällt ihm nicht ein, zu welcher Macht das gelbe Licht fähig ist, obwohl er schon einmal von diesem Gebrauch gemacht hat.
Ich will nur mich selbst versorgen müssen...
Im Laufe der nächsten Tage, trainiert Vik fleißig seine neugewonnene Gabe, sich selbst und einzelne Körperteile zu verwandeln, denn er vermutet, dass ihm diese Kraft weit voranbringen wird in seinem einst so deprimierenden Leben. Jeder Tag macht ihn munter, anstatt ihn runterzuziehen, in seinem finsteren Sein, jener Grotte, dessen pechschwarzen Wände Stahlträger der Melancholie in seinem Herzen dargestellt haben. Doch es hat sich alles verbessert, seit dem er sich mehr und mehr mit seinem Körper beschäftigt und die Plagegeister in seinem Schädel ins Vergessen gejagt hat. Endlich hat Viktor Gefallen an etwas gefunden, dass ihn mit Lebensfreude bereichert und nicht an dieser zerrt, sowie all die anderen Dinge, die er so sehr verachtet. Das seine einzigste Freude aus dem Spielen mit der Sense des berüchtigten Schnitters besteht, juckt ihn dabei gar nicht. Eine Art Waffe ist aus ihm geworden, nur kann niemand außer ihm selbst mit ihr umgehen. Inzwischen ist er auch mit Melanie eng befreundet. Beide unterhalten sich vergnügt, teilen ihren Missfallen über die Schulpflicht und reißen Witze, vollgepackt mit schwarzem Humor. Es dauert nicht sehr lang, da entscheiden sich beide, auch außerhalb der Schule einen Treffpunkt auszumachen. Im Moment ist gerade so ein Tag, in dem Vik nach Schulschluss mit zu ihr nach Hause kommt. Mittlerweile registriert er das Gebäude nur noch kurzfristig, doch anfangs hat er seine jüngere Freundin um dieses kleine Anwesen beneidet. Keine lästigen Vermieter, keine neugierigen Nachbarn und locker doppelt soviel Platz, als jener, welcher in seiner Mietwohnung zur Verfügung steht. Ihre Eltern sind auch klasse, begrüßen ihn immer freundlichst, als gehört er ebenfalls schon zu deren Familie. Laut Melanie mögen die beiden seinen dunklen Mantel und seine Frisur, weil es diese an deren Herkunftsland erinnert. Ursprünglich haben die beiden in Spanien gewohnt und dort sind schwarze Klamotten nichts Ungewöhnliches gewesen. „So wie Zorro eben.“, hat Melie damals den hiesigen Modegeschmack verglichen. Nur ihre Schwester kann den Gast nicht leiden, ist eben schon zu sehr an den deutschen Ottonormalverbraucher gewohnt, für den jegliche düstere Kluft und von der Einheitsfrisur außerhalbstehende Haargeschmäcker geschütztes Markenrecht für Nekrophilie und Satanshuldigung kennzeichnet. „Beschissenes, christlich-dogmatisches Bayern.“, flucht der Münchner Grufti immer bei solchen Themen, die ihn wahrscheinlich ständig über den Ursprung des Vorurteils aufklären möchten, jedoch in Wirklichkeit nur einen kleinen Aspekt für die unendliche Dummheit der Massen aufdeckt. Alles spricht nach einer weiteren Verbesserung für Viks Alltag und das sogar ohne es auf dem Konto des Tieres in sich gutzuschreiben, wenn nicht dieses Schuldgefühl in ihm gewesen wäre. Er hasst nämlich Melanies Schwester, doch gleichzeitig begehrt er sie. Matthias hat schon Recht gehabt, sie ist verdammt scharf! Ob Viktor eher geil auf sie ist oder einfach nur heißhungrig bei ihrem Anblick wird, ist ihm selbst nicht ganz klar. Er weiß nur, dass er auf das saftig aussehende Stück Fleisch wild ist, das sie jedem verführerisch vorführt... die Rede ist von ihrem Bauch. Nicht zu mager, aber auch nicht zu fett, ideal eben. Ihr breites Becken lädt zum draufsteigen ein und ihr Arsch macht ihn nur rasender, richtig prall, bestimmt schwabbelt er richtig gegen Viktors Lenden, wenn er sie hart genug rannehmen würde und ihre Titten sind ebenfalls ein schöner Anblick, bieten aber wiederum nicht genug Fleisch zum Fressen... äh Anfassen! Andererseits, all das Blut, das seiner Kehle hinuntertropfen könnte, wenn er ihr nur einen festen Biss verpassen würde... doch sind diese Vorstellungen nur Spekulationen und dürfen keinesfalls zur Realität werden. Er will seine neugewonnene „Seelenpartnerin“ nicht an deren Schlampe von Schwester verlieren, außerdem weiß er nicht einmal genau, wie sie heißt.
„Anna? Antonia? Anastasia? Ach, ist auch egal!“, überlegt der junge Mann. Die Comics, die ihm von Melanie vorgeführt werden bringen ihn zum Glück auf andere Gedanken. Er findet bestimmt eine andere Frau zum vernaschen, vielleicht sogar eine, die ihm ebenfalls zugetan ist und ihn nicht verachtet für das, was er nun einmal ist.
„Mann, der Tiefkühlfraß ist mir eindeutig lieber!“, wirft Viktor seinem Vater vor, welcher diese zusammengebraute Brühe Vik zum Fraß vorgeworfen hat. „Du isst nun mal was auf dem Tisch kommt, klar?“, gibt er genervt zurück. Kritik kann er nun mal nicht verkraften und etwas Besseres aus den Resten der diesigen Woche zu zaubern ist er nun mal nicht in der Lage. „Beschissene Samstage... aber immerhin keine Schule.“, schimpft der undankbare Sohn innerlich und schlürft wiederwillig mit seinem Löffel von der suppenähnlichen Mahlzeit. Samstag ist bei ihnen Restetag, das spart Geld und Zeit und blabla, was auch immer für Vorträge Viktor dazu hören bekommt. Im Endeffekt stinkt es, leider wortwörtlich. „Ich sollte mich hier und jetzt verwandeln und die Innerein von diesem alten Hurensohn verschlingen.“, malt sich der Werwolf aus, während er versucht seinen Blick von der Gurgel des Hausherren abzuwenden. „Was hast du heute noch vor?“, fragt sein Vater ihn mit schlürfendem Unterton. „Keine Ahnung, vielleicht den Rechner anschalten.“
„Na toll, wieder am PC spielen! Hast du denn nichts Besseres mit deinem Leben anzufangen?“
„Ne, du vielleicht?“
„Du großschnäuziges Arschloch! Verzieh dich in dein Zimmer!“
Mit einem „nichts lieber als das“ bricht Viktor das unangenehme Gespräch ab und verkriecht sich in sein Bett. Darauf findet er zum Glück immer Ruhe. Er regt sich die nächsten Stunden über seinen spießigen Vater auf und darüber, dass er dem Drang diesen zu Zerfetzen nicht nachgegangen ist, bis seine körpereigenen KO-Tropfen ihm den Rest geben und er einpennt.
Es nachtet gerade, als Viktor von seinem mehr oder weniger erholsamen Schlaf erwacht. Wie so oft steht er mit einem Ständer auf, dem er höchstwahrscheinlich einigen erotischen Traumgestalten zu verdanken hat, also greift er zu einem Taschentuch und spielt an sich herum, dabei die Schwester von Melanie im Kopf. Kurze Bilder von ihr steigen ihm in den Kopf, die ihn umso mehr stimulieren. Die Beine gespreizt, gebückt, nach vorne gebeugt, in allen möglichen Positionen zeigt sich die Phantasiegestalt dem Onanierenden und das nur um ihm „zur Hand“ zu gehen. Das Ungewöhnliche dabei ist nur, dass er länger als gewöhnlich „mit sich selbst“ beschäftigt ist und das Endergebnis sich für ihn angenehmer anfühlt, als es normalerweise der Fall ist, fast schon so, wie bei seinem ersten Mal. Leicht verschwitzt und leise keuchend belobigt er gedanklich diesen Moment: „Wahnsinn! Das war das geilste Gefühl, den ich beim Runterholen je hatte! Lag es daran, dass ich an sie gedacht hab? Furchtbar, ich wollte mich doch zurückhalten... jedoch verlier ich langsam die Beherrschung. Ich weiß, ich muss sie unbedingt haben! Koste es, was es wolle!“
Bücklinge und Kriecher verlangen nach Disziplin, denn sie fürchten sich vor unseren natürlichen Trieben. Sogar in deren Phantasie herrschen Verbote und Tabus! Diese Schwachmaaten scheinen sich genau darum Ihresgleichen diese „Bosheiten" zuzutrauen, die sie sich selbst nicht ausmalen können und die nach deren Köpfen durch Bestrafung ausgetrieben werden müssen. Doch mal Klartext, ihr werdet das Feuer dadurch nur schüren, also wagt es lieber nicht, wenn ihr euch schon jetzt in die Hosen macht!
Viktor spielt gerade mit seinem Schäferhund, auch wenn es sein Vater absolut hasst, den Hund nach dem Spielzeugball rasen zu hören. Texas hat ja schon einmal den Couchstuhl umgestoßen und den Thron umzuwerfen passt seiner Majestät gar nicht. Doch wen juckt es? Er ist doch sowieso wieder nicht da und das scheint den Hund mehr zu freuen, als es schon Vik begeistert. Da wirft er nun das runde Ding, das gegen das Fenster prallt und der nichtsahnende Teenager blickt erstarrt aus dem Fenster. Hoch oben steht der Vollmond und sieht auf den Erdboden hinab, die dunklen Straßen sehen nicht mehr so finster aus, wie in den anderen Nächten und fast schon demütig, kniet Viktor vor dem Licht nieder, aber nicht freiwillig. Er weiß, was jetzt auf ihn zukommt und verflucht sich selbst dafür, nicht genauer auf den Kalender geachtet zu haben. Die schmerzvolle Verwandlung erwartet ihn und er fürchtet sich vor diesen Gedanken, ohne seine Liebe fürs Dasein als Tier zu bedenken. Wie damals, zu jener Nacht, überströmt ein dichtes Fell seine Haut, wirft auch zugleich seine menschliche Mähne ab, vergrößert seinen gesamten Kiefer und stattet ihn mit bestialischen Klauen aus. Seine Gelenke, seine Gliedmaßen und seine Zehen und Finger verbiegen sich, bis aus dem schlaftrunkenen Jungen der energiegeladene Wolf geworden ist. Doch diesmal ist der Schmerz gering gewesen. Wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich hat er sich dank dem Training an das Wechseln von Gestalten gewöhnt. Viktor hat es ja gewusst, dass ihm diese Übungen von großem Nutzen sein würden. Sofort zerfetzt der Wolfsmensch seine eigenen Klamotten, da er das unangenehme Gefühl auf seinem Pelz nicht ertragen kann. Ein schier unkontrollierter Drang nach Fleisch und eine Sprintwut überfallen den Werwolf, doch will er nicht hinaus. Er hat sich nicht darauf vorbereitet, hier ungestört Ein- und Austreten zu können, so wie er es eigentlich vorgehabt hat. Ein tiefes, brummendes Knurren gibt seinen Groll bekannt und ein lautes Heulen befreit die Kreatur von seiner Verstimmung. Dieser wilde Ruf bewegt Texas dazu, ihm zu folgen und gemeinsam springen die Beiden auf alle Möbelstücke herum, werfen Tische und Stühle zu Boden und jagen sich gegenseitig verspielt durch die Wohnung. Anfangs ist das Ganze schon chaotisch zugegangen, doch einige Stunden später haben die wildgewordenen Tiere nicht nur Erschöpfung erleidet, sondern eine regelrechte Verwüstung in den Räumen verbreitet. Der Kühlschrank ist auch nicht vor ihnen sicher, denn der Wolf braucht nur seine Schnauze gegen das seitliche Schließfach zu pressen und schon geht sie auf und bietet den hungrigen Mäulern genug Leckerein an. Ist nicht gerade das, was der Wolfsmensch unter einem saftigem Mahl versteht, jedoch muss es für heute Abend reichen. Der Hund erkennt seine eigene Position in dem „Rudelduo“ an und wartet auf die Reste, die Vik ihm beiseite lässt. Außerdem pinkelt Viktor überall im Haus herum, um sein Revier zu markieren, wie es manch Zweibeiner nennen würde. Schlussendlich geht auch dem Werwolf die Puste aus und er fokussiert auf das imaginäre, blaue Licht in seinem Körper, dass seine wölfische Form verschlingt und ihn wieder zum Menschenjungen verwandelt. Erleichtert und übermüdet schnauft er nackt und aufrechtstehend auf, wonach er sich benebelt auf den Fußboden setzt, da er seine Beine nicht mehr spüren kann, vor lauter Adrenalinausschüttungen, die sein Hirn freigesetzt hat und ihn somit tatsächlich glauben lässt, das nichts anderes als sein Kopf existiert, der gefüllt voller ekstatischen Stimmungen ist. Es fühlt sich beinahe so an, als wäre die Fröhlichkeit in seiner Birne wässrig, welche alle Synapsen des Gehirns anfeuchtet, diese auf eine angenehm wirkende Weise betäubt und fast aus den Ohren überschwappt. Kurzweilig genießt er den Zustand, wird aber von der Vorstellung des herrschenden Durcheinanders und dem darauffolgendem Wutausbruch seines Vaters erschreckt. Deswegen hechtet er mitten ins Chaos, um die Konsequenzen seines verspielten Werwolftreibens aufzuheben, indem er wieder für Ordnung sorgt... so halbwegs. Bissspuren und fehlende Kühlschrankinhalte lassen sich nicht vertuschen. Nicht ohne der entsprechenden Zeit- und Geldquelle. Den Pissegestank muss er mit Reinigungsmitteln und anderen Chemikalien vertuschen. Total übermüdet, aber endlich fertig mit dem Saubermachen möchte er sich natürlich seine verdiente Bettruhe gönnen, doch in ungefähr einer Stunde wird schon sein Wecker anfangen zu klingeln. „Wirklich fantastisch! Jetzt muss ich unausgeschlafen zur Schule! Verdammt noch mal!“
Viktor öffnet vorsichtig die Hauszimmertür. Er traut sich nicht recht, seinen Vater anzutreffen, denn seit gestern Abend, oder besser gesagt seit heute Morgen, hat er ihn nicht gesehen. Möglicherweise hat sein Alter gestern Nacht erfolgreich eine Barmieze abgeschleppt und bei ihr übernachtet, ansonsten hätte er ihn in der Früh bemerkt. Wenn nicht gesehen, dann zumindest das Haus verlassen hören. Wie auch immer, Vik hofft innigst, dass ihm nichts Merkwürdiges aufgefallen ist. Obwohl dies bedeuten würde, dass er umsonst aufs Schwänzen verzichtet gehabt hätte, nur um seinem Vater eine Weile länger auszuweichen. „Hey, ich bin wieder daheim!“, ruft er durch die Wohnung, nicht auf eine laute, aufdringliche Art aber auch nicht überhörbar. Niemand antwortet ihm, deshalb vermutet Viktor, dass Jeffrey noch nicht die Gelegenheit gehabt hat, sich eine Mittagspause zu nehmen und noch außer Haus ist. Texas dagegen stürzt sich freudig auf sein Herrchen, springt mit seinen Vorderpfoten auf Viks Schultern abstützend und leckt ihm freudig das Gesicht ab. Wäre Viktor diese Begrüßungsweise fremd gewesen, hätte es ihn bestimmt umgehauen, doch nach einer gewissen Zeit scheint man sich an fast alles zu gewöhnen. Er streichelt ihn gewohnheitsmäßig und nimmt ihn an die Leine für einen gemeinsamen Spaziergang.
Man hat mal versucht sogenannte Wolfskinder wieder gesellschaftstauglich zu machen, daraufhin sind sie ums Leben gekommen. Forscher verstehen nicht warum... ich schon...
Nachdem Texas deren Auslaufsroute mit reichlich Urin und einem Kothaufen geschmückt hat, sind Viktor und der Vierbeiner zurückgekehrt. Sein Vater meckert schon lauthals über den speisenarmen Kühlschrank. „Hey du Parasit, hast dich gestern Abend vollgestopft, was?“, fragt er den unfreiwilligen Mitbewohner. „Bald, sehr bald bin ich hier raus, das schwöre ich!“, nimmt sich Viktor innerlich vor und steckt seine Missgunst beiseite in einer gedanklichen Todesverwünschung gegen seinen Dad. „Ja, hab ich...“
„Muss wohl am Vollmond liegen, ich leg dir demnächst Geld auf den Tisch, dann kannst du was zum Essen besorgen. Aber nicht zuviel Fast Food, kapiert?“, sagt der Hungerleider von menschlicher Gattung zu seinem Sohn. Vik antwortet darauf nicht und versteckt sich lieber wieder in seinem Bett, unter der Decke. „Blablabla! Jetzt darf ich mir nichts Leckeres zum Futtern holen, nur weil das Schäfchen was Gesundes zum Grasen wünscht. Na warte nur, ich werde schon fressen, was mir zusteht. Und ich bin kein Parasit! Ich bin ein Jäger, ein stolzer Räuber! Kein Gemüsefetischist, wie du!“
Er wälzt sich unruhig in seinem Bett herum. Schön dunkel ist es unter der Decke, so wie er es mag. Anders kann er sich nicht näher mit der Einsamkeit verbunden fühlen. Viktor will dringend einschlummern, doch ist er nicht müde genug. Zu viele Worte hinter seiner Stirn beschäftigen ihn. Vik ist es vollkommen bewusst, dass er seinen Vater Stück für Stück zerlegen kann, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wie es wohl ist, in einer vernünftigen Familie zu leben? Vielleicht wäre ich dann kein solch durchgeknallter Soziopath? Nein, ich kann nicht verrückt sein, ich denke doch nicht wirr und meine Mitmenschen sind ja auch nicht gerade die sympathischsten Lebewesen auf dieser Erde. Erziehung hat wohl nicht soviel mit Charakterbildung zu tun, wie man annimmt, oder täusch ich mich da gewaltig? Nun, vielleicht liegt es an meinem Umfeld, vielleicht hass ich darum alle Zweibeiner? Doch wieso zum Teufel komm ich darauf, dass ich verrückt sein soll? Nur weil mich mein Alter ab und zu so nennt? Nur weil ich von den anderen gemieden werde? Na ja, von nun an kann man mich eh nicht mehr mit der Allgemeinheit unter einem Hut stecken... ich bin ja jetzt ein Tier! Einst war der Mensch mein Fressfeind, ein Konkurrent von vielen im täglichen Kampf ums Überleben, nun ist er zur Beute degradiert worden, herrlich. Ich allein kann etwas gegen die Überbevölkerung unternehmen, die Straßen werden so leer sein, wie es mir gefällt. Mir stehen alle Türe offen, nichts kann mir in die Quere kommen, warum also bin ich noch hier? Texas kann ich bestimmt mitnehmen und ansonsten verzichte ich gern auf alle Besitztümer, solange ich endlich unabhängig werde und niemandem dienen muss!“
Kurz darauf hört Viktor das Telefon läuten und sieht sich leider dazu gezwungen, aufzustehen und das Klingeln des Kommunikationsgerätes abzubrechen. „Ja?“
„Vik, komm sofort zu mir nach Hause! Ich muss dir was Hammergeiles zeigen!“, sagt ihm die Stimme eines jungen Mannes durch die Sprechanlage. „Ja ja, warte bis ich drüben bin Matt und wehe, es ist nichts wichtiges.“, antwortet er seinem Kumpel Matthias. „Wichtig vielleicht nicht, aber es wird dich umhauen!“
Und so macht sich Viktor ausgehfertig, um sich überraschen zu lassen.
Einige Straßen von Viks Zuhause entfernt, befindet sich schon das Heim von seinem Schulkameraden. Nach dem Benutzen der Türklingel, neben der ein kleines Schild mit dem Familiennamen von Mathias draufgeschrieben hängt, dem Emporsteigen der Treppen bis zum zweiten Stock und dem Eintreten in die Behausung, weist Matt seinen Gast darauf hin, ihm in sein Zimmer zu folgen. „Meine Eltern sind nicht hier, ansonsten wäre das Risiko zu groß, dir das hier zu zeigen!“, sagt Matthias zu Viktor, während er einen Schuhkarton vom obersten Kleiderschrankregal aufnimmt und ihn auf sein Bett stellt. „Mach dich auf was gefasst!“, warnt er Vik vor und öffnet dabei die kleine Pappbox. Es stimmt, Viktor ist überrascht, allerdings nicht auf eine heitere Art, eher schockiert, aber so schlimm ist es nun auch nicht. Darin befindet sich ein Colt, ein gewöhnlicher Revolver oder wie es die Banditen im wilden Westen auch nannten: Ein Schusseisen. „Scheiße man, wo hast du das Teil her?“, fragt Vik ihn. „Gefällt ´s dir nicht?“, beantwortet Matthias mit einer leicht verunsicherten Gegenfrage. „Doch doch, das Teil ist ziemlich cool, nur woher kriegst du so einfach eine Waffe her?“
Mit tiefbrünstigstem Stolz in der Stimme sagt Matthias: „Ich hab da so meine Beziehungen.“
„Nicht schlecht, ist sie auch geladen?“
„Logisch ist sie geladen, was denkst du denn?“
„Dass Munitionen für eine einfache Dekoration nicht von großer Notwendigkeit sind...“
„Was?“
„Na du willst die Knarre doch nicht wirklich verwenden? Sie ist doch bestenfalls nur Wandschmuck, oder?”
„Ja ja, natürlich...“, Matthias schweigt für eine Weile. Viktor hat schon oft genug Menschen mit diesem Drang zum Schweigen gefunden, sobald jene etwas für sich behalten wollen oder wie es diese Spezies nennt: Das Notlügen. Gibt es etwas noch Heuchlerischeres als Notlügen? Lügen soll ja so schlecht fürs „Karma“ sein, aber dennoch bedarf es des Begriffs Notlüge, nur um sich von dieser Schandtat zu distanzieren, dabei ist es doch genau dasselbe, nur mit einer anderen Vorsilbe. Ehrlich gesagt, Vik hält nichts von Lügnern und von Lügen noch weniger. Nur Feiglinge und Schleimer bedienen sich dieser „Kunst“. Möglicherweise ist es deswegen so schwer für ihn, sich unter seinesgleichen zu Recht zu finden. Andererseits, dass er sein werwölfisches Treiben verschweigt, kann man ja auch als Lüge bezeichnen, was wiederum aus Angst vor Konsequenzen zurückzuführen ist. Was Matthias nun genau mit dem Ding vorhat ist ein Rätsel für Vik, aber kein großes, denn was kann man schon mit einem Revolver anfangen wollen? Entweder er will in der Schule Amoklaufen, was ja nichts neues für die Nachrichten wäre, bestimmt aufgrund seiner Videospielneigung, das er allgemein für seinen fetten Wanst gehänselt wird und er nie eine Möglichkeit findet, seiner Wut Ausdruck zu verleihen interessiert da bestimmt nur die Wenigsten. Oder er plant einen Überfall? Könnte Viktor sehr gut nachvollziehen, ihm sind auch einige Male solche Gedanken in den Kopf gegangen. Aber am Wahrscheinlichsten ist doch, dass er sich mit dem Ding nur großfühlen will, um sein mangelndes Selbstbewusstsein zu steigern. „Willst du sehen, wie weit ich mit dem Spiel gekommen bin?“, lenkt Matthias mit dieser Frage von der Waffe ab, die scheinbar für den Moment bedeutungslos und langweilig geworden ist. „Klar, was hast denn neues eingefügt?“, fragt Vik und beobachtet die ganzen Befehlstexte in dem Programm seines Freundes. Zahlreiche Erklärungen von dem Zweck der Zeilen und gelöste Logikfehler bleiben Viktor dabei nicht erspart, obwohl er davon nur bruchstückweise etwas versteht. Letztendlich führt Matt das Programm aus und gibt dadurch den momentanen Status des Spieles preis, mit der Viktor schon mehr anfangen kann. Bilder und Töne kann jeder nachvollziehen, selbst wenn man keinerlei Ahnung von Computerspielen, geschweige denn von der Programmiererei hat.
Auf den Straßen, die mittlerweile von der dunklen Nacht heimgesucht worden sind, muss Viktor seinen Weg bis nach Hause verfolgen. Mittlerweile verschmelzen seine Gedanken zum einzigen Zentrum in seinem Bewusstsein, währenddessen die Finsternis und die schwarzaussehenden Teerböden des Fußgängerweges nur zweitrangig für ihn werden. Fast blind ist er dabei, aber wie gesagt nur fast. „Der Typ hat echt Probleme, scheinbar verbindet das uns beide. Doch wozu? Ich will ihm nicht helfen, warum auch? Er hat seine Knarre und ich meine Fangzähne. Wir beide haben an Macht gewonnen, nur bin ich auch noch unverwüstlich, die Konsequenzen seines Waffengebrauchs würde ihm sein Leben kosten oder einen gratis Gefängnisaufenthalt bescheren... da ist mir mein Leben doch um einiges lieber. Wer weiß, wann mich solch ein Teufel gepackt hätte, gäbe es nicht meine haarige Seite in mir.“, plötzlich bemerkt Viktor doch sein Umfeld. Er ist an einer Bushaltestelle angekommen, auf der Bank sitzen fünf verschiedene Kerle, die reichlich gefüllt mit Bier sein müssen, ihrem Geruch nach zu urteilen. Als diese kleine Gruppierung den alleinumherziehenden Jungen erblickt, stehen die Typen von ihren Plätzen auf. Einige von ihnen tragen Parkajacken, andere von denen Klamotten mit Tarnmustern, doch alle haben sie denselben, schlechten Haargeschmack, die einer Glatze, jener radikalen Selbstverstümmelung, auf die Skinheads wie diese hier auch noch stolz sind. „Hey du scheiß Punk!“, grölt einer der hässlichen Primaten. Allen Anschein nach der Anführer der zurückgebliebenen Neonazibande. Sein Ziegenbart ist als einzigstes mit Haarschmuck besetzt, auf seinem beulenähnlichen Schädel. Viktor schweigt und blickt ihn hasserfüllt in die Augen, auch wenn er dabei nach oben sehen muss, aufgrund seiner unterlegenen Körpergröße. „Kannst du nicht antworten? Du solltest nachts nicht alleine auf die Straße gehen, das ist ziemlich gefährlich.“, nach dieser Behauptung blickt er triumphierend hinter sich, um sein Ego mithilfe der einschleimenden, grinsenden Gesichtern seiner Kumpanen zu stärken. Eine andere Form von Bestätigung kann der Skinhead momentan nicht kriegen. Selbstgefällig und auch irgendwie unheimlich grinst Viktor zufrieden, denn er sieht um den Tod bettelnde, dumme Schafe vor sich, daher antwortet er: „Ich bin der einzige Grund, warum man die heutige Nacht fürchten sollte!“ Unbeeindruckt starrt Viktors Gegenüber ihn an und befiehlt den anderen Eierköpfen, sich auf den großmäuligen Teenager zu stürzen. Freudig legen sie ihre Fäuste in ihre Handteller und drei von ihnen spielen mit ihren hölzernen Baseballschlägern herum. Alle gehen langsam auf Vik zu und an der vordersten Front holt einer von ihnen mit seinem Schläger aus. Auch wenn diesem elendigen Haufen Viktors vorherige Aktion entgangen sein mag, er hat sich bestens vorbereitet. Zuvor auf seine Zähne und seinem Kiefer konzentrierend, mit der Kraft des grünen Lichtes, hat er den Baseballschläger mit jenen Beißerchen aufgefangen. Keine Schnauze, aber stark genug, um die billige Holzwaffe mit einem Biss zerbersten zu lassen. Nun merken auch diese grenzdebilen Schweine, in welcher Scheiße sie feststecken! Noch einige Splitter ausspuckend, schlingt Viktor seine nun mit klauenbesetzten Finger um den Hals des Angreifers, wie fünf kleine Würgeschlangen fühlen sie sich auf die Gurgel von Viktors Opfer an und ihre Zähne, also die Fingernägel haben sich bereits in sein Fleisch gebohrt. Nicht tief genug, um die Beute zu töten, aber das wird sich schon noch ändern! Immer heftiger zudrückend, schnürt der Übermensch seinem Widersacher die Kehle zu. Die anderen Vier haben den Schock der Verwunderung abgeschüttelt und handeln ebenfalls. Einer von ihnen ergreift die Flucht, dabei laut brüllend: „Der Leibhaftige! Der Leibhaftige, bei Gott, der Leibhaftige!“, sehr zutreffend, da ja der Teufel selbst angeblich auch ein Werwolf gewesen sein soll. Die anderen Zwei ziehen an den Armen ihres hilflosen Freundes, um ihn von dem Dämon zu befreien und der Dritte der noch freilaufenden Bastarde, versucht mit seinem Baseballschläger bedrohlich auszusehen. Das Monster lässt auch los, nur um denen einen kleinen, physikalischen Streich zu spielen und die beiden mit dem Toten nach hinten fliegen zu sehen. Dann stampft Viktor nach vorne und lässt seine bis zum Hals hängende Zunge hin- und herbaumeln. Den Anführer packt er am Ziegenbart und zieht ihn nach oben, dabei seine erfolglosen Selbstverteidigungsversuche ignorierend, die aus Schlägen gezielt auf Viks Arm bestehen. Die Klauen auf seiner anderen Hand, hat er zu einem einzigen Pflock gebildet und das ohne jeglicher Verwandlungstechnik... diese fünf aufeinander gelegten Fingernägel rammt er dem Menschen gegen die Brust und als dann die Klauen in dem Körper seines Gegners drinnen stecken, reißt er den „Pflock“ auseinander, wieder zu den fünf einzelnen Fingern, die aus sadistischer Freude die Organe des Rechtsradikalen „kitzeln“. Anschließend wirft er den Dreckssack auf den Boden, wie Abfall, der er auch zweifelsohne ist und begibt sich zu dem anderen Aufmüpfigen, der verzweifelt versucht, von dem grauenhaften Schauspiel fortzukriechen. Wie eine dicke Made kriecht er auf den schmutzigen Asphalt herum und Viktor will ihn zerquetschen, denn darum hat er ja, wie die anderen Würmer zuvor, gebettelt. Warum sonst haben sie sich mit ihrem Schlachter angelegt? Und Vik nimmt seine Aufgabe als „Metzger“ sehr ernst, deswegen springt er mit voller Wucht auf das Kreuz seines Feindes und springt auf und ab auf das menschliche Trampolin. Natürlich bleibt der fremdenfeindliche Punkhasser nicht ruhig auf dem Boden liegen, weshalb die Schuhe von Vik auch seinen Magen bearbeiten, nachdem er sich auf die andere Seite gewälzt hat und dabei verzweifelt seinen Baseballschläger festhält... als bringe diese jämmerliche Waffe etwas gegen Viktor, erstrecht nicht, wenn das Teil nicht einmal geschwungen wird! Das Würgen und Kotzen des springerstiefeltragenden Diktaturfetischisten spornt das Mischwesen nur zu heftigeren Sprungeinsätzen an, bis ihm davon langweilig wird und auf die Gurgel des Glatzkopfes springt. Da sind es nur noch zwei... der mit dem Baseballschläger stürzt sich direkt auf Viktor zu und holt mit einem Schlag aus, als er Viks Nähe erreicht hat. Das Mischwesen packt diesmal mit einer Hand reflexartig das längliche Holz, zieht den Knüppelschwinger näher zu sich und rammt ihn mit der anderen Pranke seine Daumenkralle ins Auge. Entsetzt und qualenleidend, schreit sein Opfer auf, danach schaufelt Viktor mit seinem Fingernagel das Auge aus den Augenhöhlen heraus. Es kullert auf dem Boden herum und dessen Besitzer krümmt sich zu Boden, dabei versucht er mit beiden Händen die Blutung zu stoppen. Der Letzte von denen ist vollkommen starr vor Schreck, doch als Viktor auf ihn zugeht, fällt seine Beute in die Knie und bettelt um sein Leben. „Hättest dich von mir fernhalten sollen!“, antwortet Viktor schwerfällig, denn so ein groteskes Maul ist nicht zum Sprechen geeignet. Erstrecht nicht, wenn man sich beim Sprechen fast in die Zunge beisst, oder eher abbeißt. Vik greift sich sein letztes Opfer und haut einige Male dessen Kopf gegen die Sitzbank der Bushaltestelle, bis das Gesicht des Menschleins matschig und unerkennbar geworden ist. Tod, überall Tote und es ist nichts Trauriges dabei! Viktor ist sehr zufrieden mit sich selbst. Niemand kann es mit ihm aufnehmen, er hat sich nichts bieten lassen und er steht verdammt noch mal ganz oben auf der Evolutionsliste! Jetzt macht er sich auf und davon, um sich vom „Tatort“ zu entfernen. Je stärker dabei der Gegenwind wird, desto weiter hat bereits die Rückverwandlung stattgefunden, von der Vik gebraucht macht, um nicht weitere, willkürliche Passanten zu erschrecken. „Zu Schade, dass einer von denen abhauen konnte... aber ich schnapp dich schon noch! Sei es in deinen Alpträumen, ich werde dich zerfetzen!“
Einst suchte ich den Tod, doch nun bin ich der Tod! Ich bin Schuld an das Ableben eurer Liebsten, ich bringe jedes Herz zum Stillstand, ich verbreite Furcht und Ekel. Hasst mich, akzeptiert mich, leugnet mich oder gebt euch mir freiwillig hin!
Doch egal, wofür ihr euch entscheidet, es wird immer dasselbe Ende nehmen, wenn ihr mir begegnet. Eure Zeit ist gekommen, indem ihr das erntet, was ihr gesät habt: Mich!
„Man, wieso kann ich nur die Köpfe runterballern und die nicht einfach vom Rumpf reißen?“
Seit Viktors neuer, „besseren“ Hälfte und den Erfahrungen, die er als Blutschlürfer und Rohfleischkostanbeter erhalten hat, reicht ihm das virtuelle Morden nicht mehr aus, um diese unmenschliche Gier zu besänftigen. Kein roter Pixel wirkt wirklich real genug, die Todesschreie klingen zu gespielt und der Hauptcharakter in diesem Computerspiel handelt nicht gewalttätig genug, als besäße er keine Killerphantasien! „Na ja, was soll’s... wenn es im Spiel nicht möglich ist, muss ich es wohl in der Realität besser machen...“, denkt sich der Zocker und schaltet das Wunderwerk der Technik wieder aus. Er selbst steht auf, nimmt seinen leeren Turnbeutel mit, der eigentlich für gewisse Schulstunden gedacht ist und streichelt noch seinen Liebling. „Bye Texas!“, verabschiedet sich Vik von seinem pelzigen Gefährten, bevor er sich ins Nachtleben stürzt, um sein Doppelleben auszukosten, sowie die meisten Menschen zu dieser Tageszeit auch. „Wo gehst du hin?“, ruft sein Vater aus dem Wohnzimmer hinaus und Viktor antwortet: „Ich geh mich vollaufen lassen, weißt? Warte nicht auf mich... ach tust du doch sowieso nicht.“ In einigen Stunden wird Jeffrey sich ebenfalls vom Acker machen. Hoffentlich begegnen sich die Beiden dabei nicht, aber schade um ihn wäre es auch nicht. Ein Toter mehr, na was soll ’s? Diesmal hat Viktor an alles gedacht, er will nicht schon wieder seine Klamotten wegwerfen müssen, deswegen geht er in den Stadtpark und schleicht sich möglichst unbemerkt zu jenem Baum, den er vor einiger Zeit als nützlich eingestuft hat. Das einzig Besondere an diesem Gewächs ist die Tatsache, dass er innen hohl ist, sowie die meisten Lehrkräfte von Vik und die haben möglicherweise sogar noch eine Eigenschaft gemeinsam: Der Baum ist einst von einem Blitz getroffen worden. Für die Besucher dieses Parks ist diese einst so majestätische Pflanze nichts weiter, als ein unangenehmer Anblick, ha schon wieder hat Viktor eine Gemeinsamkeit mit seinen schulischen „Vorgesetzten“ gefunden. Nun zum springenden Punkt... Viktor sieht sich noch mal gründlich um, entledigt sich seiner Garderobe, die zur Zeit eh nur aus sportlich wirkender Tracht besteht, selbst auf seine Unterwäsche hat er verzichtet, wegen dem schnelleren Ent- und Bekleiden, doch welch wildes Tier friert schon ohne seiner Unterhose? Der Mantel ist auch im Haus geblieben, dennoch friert Viktor nicht, muss wohl an seiner neuen Ausdauer liegen, na ja schön, noch ist es ja August, da sind die Nächte noch nicht so kalt. Das er trotz des Sommer nie auf seinen Mantel verzichtet gehabt hat, ist da schon viel krasser. Rasch stopft er seine Anziehsachen mitsamt den Hausschlüsseln in den Turnsack, welchen wiederum er in den Baumwipfel (wenn man das noch so nennen kann) des hölzernen, kniehohen Versteckes reinlegt. Dieser Einfall ist nicht Viktors kreativem Verstand zu verdanken, sondern dem plötzlichem und verständlichem Interesse für Werwölfe, über die er vor eins, zwei Monaten im Internet recherchiert gehabt hat. Dort ist auch einiges über alte Mythen und Legenden aufzustöbern und einige Geschichten erzählen von Menschen, die mithilfe eines Wolfsfelles selbst zum Wolf werden und dieses besagte, magische Fell haben sie angeblich in hohlen Bäumen oder Baumstümpfen aufbewahrt. Nun erzwingt Viktor schnellstmöglichst die Verwandlung zu dem Tier, das schon damals soviel Furcht verbreitet gehabt hat und heute noch mehr Schrecken verbreiten wird, dem großen, bösen Wolf. Es ist die schon für Viktor gewöhnlich gewordene Prozedur, die ihn aber trotzdem mit soviel Euphorie beschenkt, dass sein Körper scheinbar zu Zerbersten droht, obwohl dieser eventuell wirklich dem Platzen nahe ist. Ein weiteres Risiko, dass der Jüngling gern in Kauf nimmt, wenn dies die Erfüllung seines größten Traumes bedeutet, endlich frei und ungebändigt zu sein! Es dauert auch nicht sehr lange, eins bis drei Minuten möglicherweise und schon tauscht ein Wolf den Platz mit einem apathischen Jungen, der von der Vergessenheit in diese Welt gerufen worden ist. Wer solch eine Macht besitzt, das Irreale in die fleischliche Welt zu befördern, muss wahrlich ein Gott sein. Doch im momentanen Bewusstsein neigt diese Kreatur nicht, zu solch grotesker Selbsteinschätzung. Es ist, was es nun mal ist, ein von Trieben gelenktes Wesen. Im Augenblick, genügt ihm das Erkunden seines Reviers, aber den Baum verpasst er eine eindeutige Markierung und erleichtert sich auf dessen Wurzeln. Das tote Holz gehört dem Werwolf, ansonsten niemandem, das muss einfach jeder riechen können und wem es nicht passt, der soll darum kämpfen! Außerdem ist es wirklich nicht ratsam, die verstauten Gegenstände da drinnen zu benässen, aber das ist ja wohl selbstverständlich, zumindest in den Augen für Menschen, oder besser gesagt für deren Nasen. Der Wolf streunt herum, beschnüffelt aufgeregt mit erhobener Schnauze die Luft im Park, die Bänke, Fußwege, Wiesen, was er damit auftreiben kann, jedoch nicht gründlichst, denn die Duftnoten haben sich kaum verändert seit dem letzten Mal, indem es den Park besucht gehabt hat. Allerdings spürt es einen Geruch auf, den es nur wage erkennen kann. Es ist ein Mensch, in Gedanken taucht eine unerkennbare Frau auf, aber die Umrisse geben dem teilweise noch menschlich erhaltenen Erinnerungen eine wage Vorstellung. Wer ist das bloß? Der Wolfsmensch versucht lautlos der Fährte zu folgen, damit das bevorstehende Opfer nicht misstrauisch werden kann, immerhin ist es schwierig für die menschliche Beute ihn im Dunkeln der Nacht zu erkennen, da das schwarze Fell des Wolfes fast perfekt mit der finsteren Umgebung verschmilzt und der Räuber beinahe unsichtbar für die Augen fremder Nachtschwärmer geworden ist. Viktors Nase allerdings verliert durch die mangelnden Lichtverhältnisse nicht an deren gewünschten Orientierungssinn und daher ist der Werwolf seiner Beute klar im Vorteil. Egal wie aufmerksam diese nun ist, Menschen verlassen sich nun einmal zu sehr auf ihre optischen Fähigkeiten, da diese für gewisse, zivilisierte Alltagssituationen von enormer Wichtigkeit ist und die anderen Sinne dadurch einfach verkümmern müssen. Ist ja klar, der Lärm auf den Straßen macht einen entweder taub oder verrückt und bei dem Geruch von Abgasen und Benzin weigert sich eine empfindliche Nase irgendwelche Duftstoffe zu finden. Ohne weiterhin zu sehr abzuschweifen, Viktors Spur endet gerade jetzt, nur wenige Meter vor ihm spaziert ein hübsches, junges Mädchen mit den Händen in ihren Hosentaschen. Schon ziemlich seltsam, sie muss frieren, warum sonst wärmt sie ihre Hände in den Stoffhüllen und läuft dennoch in diesen aufreizenden, kurzen Klamotten herum? Gierig gafft der Wolf auf das saftige und nackte Rückenfleisch, das nicht durch den kurzen, bauchfreien Top und der kurzen Stoffweste versteckt wird und beobachtet die weibliche Gangart, die den Blick des Tieres auf den prallen Frauenarsch lockt, der sich dank einer enganliegenden Jeanshose sichtbar macht. Jetzt fällt dem Wolf ein, woher er den Duft kennt, denn er hat ihn bereits als Mensch wahrgenommen, doch nicht so stark, wie im Moment eben. Es ist Melanies Schwester, die exotische Schönheit, die ihn immer wieder mit bösen Blicken bestraft gehabt hat. Der Hunger in dem Werwolf nimmt ab, der wird gerade von einer größeren Gier übertroffen, die der Fleischeslust. Er sprintet los und wirft sich zielbewusst auf ihre Schultern, mithilfe seines Gewichts und der Beschleunigung gelingt es dem Werwolf auch, das Objekt seiner Begierde umzuwerfen. Lauthals kreischt sie und fuchtelt wild mit ihren Armen und Beinen herum, die Bestie reißt der jungen Frau mit ihren krallenbesetzten Hinterbeinen die Jeanshosen vom Leib. Einige Fetzen des Kleidungsstücks bleiben dem Monstrum an den spitzen Klauen hängen und es versucht diese abzukauen. Diese unüberlegte Nagelpflege lässt Melanies größere Schwester einen Fluchtversuch ausführen, doch sobald Vik seine Beute davoneilen sieht, hechtet er nach ihrem linke Bein und rammt seine Fänge tief in die Wade hinein. Ihre ohnehin schon ohrenbetäubenden Schreie steigern sich zu einem trommelfellplatzendem Jaulen, das Viktor fast schon Mitleid mit der Göre bekommt, doch Erinnerungen von ihrem grundlosem, respektlosem Verhalten ihm gegenüber in menschlicher Hülle verdrängen ungewöhnlich schnell seine kurze Erwägung von einer gnadenvollen Verschonung. Das Biest will sie heftigst Besteigen, es ist an der Zeit, seine Wunschvorstellungen zu erfüllen und das wird es auch tun, danach gönnt sich das Tier vielleicht noch ein köstliches Abendmahl. Sie krallt sich hilflos am Boden des Parkweges fest, während der Wolfsmensch sie stürmisch zu sich zerrt, doch außer paar gebrochenen Nägeln hat sie damit gar nichts erreicht. Verzweifelt schluchzt und flennt das arme Ding und der Wolf steckt zuvor noch eifrig seine Schnauze zwischen ihren entblößten Hinterbacken, denn so einen wohlriechenden Duft muss er einfach noch genauer genießen, bevor es zum Wesentlichen gelangt. Für die Verhältnisse des Ungetüms, beisst es noch sanft in ihr Sitzfleisch und leckt an ihrer Vagina herum. „Gütiger Gott im Himmel, was ist das?!“, ertönt es hinter Vik und vollkommen wutgeladen hebt er seinen wölfischen Kopf aufrecht, genervt davon, dass ihm dieser Wohlgenuss entgehen könnte, den er direkt unter seinen Klauen ergattert hat und blickt um sich. Ein gelber, animalischer Funke spiegelt sich in den grünen Augen wieder, der den Polizisten angsteinflössend dazu auffordert, zu verschwinden. Der Störenfried greift nach seinem Pistolenhalter und Viktor bekommt Angst vor dem Ungewissen, der Frage ob Kugeln für Werwölfe tödlich sind? Deshalb entfernt sich der Wolf vom Schauplatz und flüchtet vor den Schüssen, die ihm hätten bevorstehen können. Seine wölfischen Läufe sind den Beinen des Staatsdieners weithoch überlegen, darum ist er den Typen schnell losgeworden, doch wie lang kann es dauern, bis weitere Polizisten nach einem möglicherweise entlaufenden und garantiert gefährlichen Tier suchen? Und im Park ist Viktor nicht mehr sicher. Auf seinen guten Riecher verlassend, umgeht er die Gerüche, die von menschlicher Natur abstammen und sucht den Baum, der als Unterschlupf für seine Kleidung gedient hat. Dort angekommen, vergewissert sich der Tiermensch mit raschem Schnüffeln und Umherschauen, dass ja kein fremdes Auge ihn bei der Rückverwandlung erblickt und macht sich so schnell wie möglich daran, seine alte Gestalt wieder in Anspruch zu nehmen. Der Prozess gelingt genau so geschwind, wie bei der vorherigen Verwandlung vom Menschen zum Wolf. Die Glücksgefühle fallen diesmal aus, denn Viktor krallt sich gestresst seinen Turnbeutel aus dem hohlen Baum, muss diesen aufmachen und sich die Klamotten überziehen, denn nackt von einem Bullen erwischt zu werden ist ja bekanntlich strafbar und noch mehr Ärger möchte Vik vermeiden. Er versucht beim Verlassen des Parks möglichst unauffällig zu sein, weshalb er es joggend verlässt, denn wozu sonst hat er Joggingsachen an? Nur Mörder und Diebe laufen in der Nacht herum, das ist ein weiterer Grund zum Joggen. Viktor wünscht sich im Moment nichts sehnlicher, als seine Wolfsgeschwindigkeit einsetzen zu können, denn das ungeduldige Warten darauf wieder sicher zu sein, macht ihn richtig nervös und er will das Alles hier endlich hinter sich bringen. Zum Glück dauert das Ganze nicht so lange, wie es ihm vorkommt, denn er ist doch noch rechtzeitig aus dem Park entkommen und erst einige Straßen weiter vom Park entfernt, bemerkt er Sirenengeräusche und die dazugehörenden, blinkenden Lichter. Bald ist er endlich wieder daheim, und kann sich in sein gemütliches Bett hineinlegen.
Nachdem diese ereignisreiche Nacht endlich vorbei ist und Viktor zu seinem Leidwesen am eigenen Leibe erfahren hat, wie es sich als Gejagter abspielt, warten auch noch die hässlichen Fangarme der Schule auf ihn. Es ist schlimm genug, wenn ein Jäger von Schoßhunden weggescheucht wird, aber noch erniedrigender ist es für einen stolzen Räuber, wenn dieser von jenen zu einem Sammelplatz lebendiger Köder gehetzt wird, sofern er sich nicht freiwillig dorthin verirrt hat. Vik hasst den Gedanken an all den Hälsen in dem Klassenzimmer, in die er nicht hineinbeißen darf. Die gemeinsame Busfahrt mit seiner Freundin Melanie stimmt ihn auch nicht heiterer, denn sie spricht ein für Viktor heikles Thema an: „Hast du das gestern von dem Wolf gehört?“
„Wolf?“, Vik erschaudert beim Erwähnen dieser Tiergattung leicht, denn er fühlt sich dabei entlarvt. „Was ist? Hast du Angst vor dem großen, bösen Wolf?“, grinst sie ihn frech an.
„Ach Blödsinn! Ich bin nur überrascht...“
Melanies Miene verfinstert sich. Sie erzählt von den Schilderungen ihrer Schwester, welche mit ihrem verängstigten Klang in ihrer Stimme allen in der Familie eine Gänsehaut eingejagt hat. Ihre Mutter hat dabei fürchterlich geweint und ihr Vater ist erbost geworden, wegen dem Tierschutz, der es ihm verbietet, seinen Schützling zu rächen. Viktor kennt dank diesem Gespräch endlich den Namen, von Melanies Schwester: Andrea. Es mag nach einer unwichtigen Schlussfolgerung klingen, doch immerhin hat er ihr beinahe sein „erstes Mal“ verdankt, auch wenn sie bestimmt nicht freiwillig mit einem Wolf vögeln gewollt hätte, geschweige denn mit einem Außenseiter wie Vik. Er spielt den Erschütterten und Melanie scheint ihm die Rolle abzukaufen. „Wie geht es ihr jetzt?“, fragt Viktor möglichst besorgt klingend und versucht dabei dennoch nicht zu übertreiben. Er hasst sich selbst dabei abgrundtief, lügen zu müssen. „Sie liegt im Krankenhaus. Nur noch einige Spritzen gegen Tollwut und so ´nem Mist, dann ist sie wieder draußen. Dabei hasst sie Spritzen und nun retten diese ihr Leben, lustig nicht?“
„Tja, welch Ironie... wann wird sie entlassen?“
„Bestimmt schon nächste Woche!“
Vik versucht begeistert zu klingen: „ He, das ist doch Klasse!“
„Ja, obwohl ich sie gern für eine Weile losgeworden wäre.“, daraufhin lächeln beide.
Gemeinsame Feindschaften halten allem Anschein nach Freundschaften länger am Leben. Da bevorzugt Viktor doch seinen Hund als besten Kumpel, denn deren Kameradschaft ist aufrichtiger. Viktor füttert ihn und dafür ist Texas ihm dankbar und stetigst treu, doch Menschen sind da wesentlich komplizierter. Wenn er Melanie erzählen würde, dass in ihm eine Bestie schlummert, welche auch noch für die schweren Verletzungen ihrer Schwester verantwortlich ist, dann wäre ihre Sympathie für ihn gestorben... okay gut, das zu Recht! Aber selbst wenn er Andrea nicht angefallen gehabt hätte, wäre sie dem Werwolf abgeneigt. Texas dagegen hat sich an den Werwolf gewöhnt und behandelt Viktor seitdem auch nicht anders, als zuvor. „Ihre Wunden verheilen sich außergewöhnlich schnell, meinte der Arzt. Es grenzt vielleicht an einem Wunder, dass sie so schnell genest. Ich dachte schon, Wunder gebe es nur im Märchen.“, fügt sie noch hinzu und Viktor denkt sich schockiert: „Nein, das kann doch nicht...“
Er hat sie gebissen. Laut dem Werwolfmythos ist nun Andrea dazu verdammt, als Bestie die Stadt unsicher zu machen. „Dazu verdammt... Menschen wissen diese Gabe nicht zu schätzen, ansonsten würde sie es gesegnet nennen!“
Wenn Viktor sie damals vergewaltigt gehabt hätte, dann wäre sie ohnehin schon zum Werwolf geworden, so steht es in den Sagen, vergleichbar mit dem Aidsvirus, so eine Art Lykanthropenvirus. „Das ist doch alles Bauerngewäsch! Es ist unvorstellbar, dass in mir nur ein Virus festsitzt, der an meinen Gencode rumpfuscht und mich mit solchen Kräften ausstattet! Es sei denn, die Rune ist zu solch einer winzigen Größe geschrumpft und nun attackiert sie meine Zellen, doch selbst wenn, wieso sollte ein Biss oder Sex andere Menschen in Tiere verwandeln? Gut, das manche Menschen beim Ficken zu Tieren werden, hab ich ja schon einmal gehört, aber doch nicht wortwörtlich!“, grübelt er. Vik hat schon im Park zuvor vorgehabt, sie nach der Nötigung um die Ecke zu bringen, als Vorsichtsmaßnahme sozusagen, denn dass Magie existiert, das weiß er nun, doch die eigene Transformation hat er auch keinem Biss zu verdanken. „Vielleicht geistert die Töle von damals jetzt auch als Wolfsungeheuer herum.“, witzelt Vik vor sich hin und vergisst die Prüfung vor sich auf dem Lehrtisch, doch wen kümmert es? Ein Wolf mit einem Schulabschluss… wie praktisch.
„Hast du schon vom Münchner Werwolf gehört?“, fragt Matthias in der zweiten Pause Vik, der verblüfft auf diese Frage reagiert. „Nein?“, antwortet er.
„Aber von den Mordfällen hast du doch gehört?“
„Fehlanzeige!“
„Boaw! Schon mal von so etwas wie Nachrichten gehört? Läuft ab und zu in der Glotze und im Radio! Sei es drum, laut einem Zeugen wurden vier seiner Freunde von einem Monster umgebracht!“
„Verdammter Skinhead!“
„Wie?“
„Ach nichts...“
„Du hast doch die Nachrichten nicht gesehen? Also woher weißt du...?“
„Man, es gibt doch Zeitungen!“
„Und warum hast du dann nichts davon gewusst?“
„Na von einem blutrünstigem Werwolf stand da kein Sterbenswort!“
„Natürlich nicht, aber laut seiner Aussage und all den verstümmelten Opfern kommt man doch auf so etwas.“
„Nur wenn man komplett den Verstand verloren hat!“
„Ja, war ja klar, dass mir niemand glaubt, aber wenn ich ihn finde, bring ich euch allen seinen Kopf als Trophäe!“
„Wie willst du das anstellen?“
„Na mit meiner Pistole!“
„Nein, wie sein Kopf den Beweis liefern soll?“
„Das ist eine dumme Frage!“
„Ernsthaft, wenn du allen einen Wolfskopf zur Schau stellst, beweist das noch lange nicht, dass es mal menschlich war!“
„Ja, aber es muss doch irgendwie monströser aussehen, als ein gewöhnlicher Wolf? Da gibt es bestimmt Unterschiede zwischen den beiden!“
„Hast du gewusst, dass ein Werwolf nach seinem Tode wieder seine menschliche Gestalt annimmt?“ Also mit einem Menschenkopf als Trophäe würde ich nicht hausieren gehen!“
„Wirklich? Die verwandeln sich zurück?“
„Ja, laut Hollywood zumindest! Und wir wissen doch gar nicht, ob du Silberkugeln brauchst!“
„Nein das weiß ich nicht... seit wann kennst du dich plötzlich mit diesen Viechern aus?“
„Ich steh auf so einen Kram, das weißt du doch!“
„Ja, das mit Teufeln und Vampiren dacht ich mir schon...“
„Werwölfe sind auch Dämonen!“, erklärt Viktor seinem Freund. Er muss ihm die fixe Idee ausreden, auf Wolfsjagd zu gehen, ansonsten muss er ihn wirklich umbringen, denn vor Kopfschüssen fürchtet sich Vik. Womöglich die einzigste Furcht, die ihm als „Monster“ geblieben ist. „Hör mal, lass doch die Bullen das machen, du könntest dabei umkommen!“, versucht Viktor auf ihn einzureden, obwohl es letztendlich nichts weiter als eine indirekte, verschlüsselte Drohung ist. „Seit wann zeigst du denn Mitgefühl?“, spottet Matthias über Vik, doch dann wird er wieder ernst: „Ich muss das machen! Dann werden mich alle respektieren!“
„Scheiß auf den Respekt!“
„Das kann ich nicht! Du hast vielleicht kein Problem damit, wenn alle hinter deinem Rücken lachen, doch ich bin nicht wie du! Mir fehlt diese dicke Haut!“
„Matt, ich lach nicht hinter deinem Rücken...“
„Außerdem hat es Andrea angefallen! Es muss gestoppt werden!“
„Dir... liegt etwas an ihr?“, fragt Viktor ihn. Schweigend verlässt Matthias ihn und geht raus, in den Pausenhof. Die Flure gehören nun wieder Viktor, doch kann er das Alleinsein momentan nicht genießen. „Er begibt sich in Gefahr, nur wegen einer Fremden? Man muss er notgeil sein! Wenn ich ihn nicht zerfetze, dann werden die Bullen ihn mit ins Verhör nehmen, weil er keine Knarre besitzen darf. Dämliches Gesetz, es nimmt ihm den einzigen Schutz vor mir, als sei es seine Pflicht, wehrlos zu sein! Außerdem schaffen Gesetze es sowieso nicht, ihn daran zu hindern, auf mich zu schießen! Meine Zähne können das allerdings sehr wohl!“, vertieft sich Vik diese Überlegungen und geht wieder ins Klassenzimmer. „Dämlicher Unterricht, meinen Kopf wirst du niemals mit genug Langeweile und Passivität füllen können, auch wenn ihr uns Schüler gerne als leere Gefäße sehen wollt, die nur darauf warten mit eurem Scheiß gefüllt zu werden! Ich nutze einfach die bevorstehende Müdigkeit aus, um ein wenig auszuruhen.“
Im Gegensatz zu euch, brauch ich keine Ärzte, keine Medikamente, keinen Seelenklempner, keine Fahrzeuge, keinen künstlichen Duft und auch keine guten Noten zum Überleben.
Anstatt von der Bushaltestelle aus nach Hause zu gehen, begibt sich Viktor lieber zu Fred, dem Antiquitätenhändler. Irgendetwas muss er doch aus ihm rauskriegen können, das ihn einige Fragen über das Werwolfsleben oder vielleicht sogar über die Rune selbst nehmen kann. Wie bei jedem Besuch, klingelt die Türglocke und die steinernen Augen eines Wasserspeiers starren kalt und leblos in Viks Augen, als schätzt der Gargoyle abwertend die Kunden ab. „Na Viktor? Bekomm ich dich auch mal wieder zu Gesicht?“, begrüßt er den Jungen. „Sicher Fred, warum sollte ich nicht mehr vorbeischauen?“
„Keine Ahnung, also was möchtest du?“
„Kannst du mir etwas über die Rune sagen?“
„Die was?“
„Die Holzrune, die ich das letzte Mal von dir abgekauft hatte.“
Fred versucht sich daran zu erinnern. „Lass mich nachdenken... tut mir leid, da klingelt es nicht mehr bei mir. Stimmt damit etwas nicht?“
„Nein, sie ist bestens erhalten, keine Sorge.“, antwortet Viktor. Fred ist zwar zweiundsechzig Jahre alt, aber Viktor kann dennoch nicht sein Kurzzeitgedächtnis nachvollziehen. Vik glaubt nicht an die weitverbreitete Behauptung, vom Versagen des Geisteszustandes im hohen Alter. Für ihn ist das Alter nichts weiter, als eine Zahl. Er gibt lieber dem tagtäglichen Schuften des zivilisierten Homo Sapiens die Schuld, der ja dank langwährender Anstrengung und einer geballten Ladung Stress logischerweise seine ganzen körperlichen und „geistigen“ Leistungen ausschöpft. „Kennst du dich mit Werwölfen aus?“, fragt Viktor ihn, mit der Erwartung doch etwas Wissenswertes zu erfahren. „Mein Junge, wie kommst du auf Werwölfe?“, erkundigt der alte Mann sich bei Viktor. „Ach, zuviel Fernsehen...“
Fred streift sich paar Mal über seinen Ziegenbart und zupft verspielt an der Spitze herum, während er Viktor über diese Fabelwesen aufklärt: „Viel weiß ich nicht über diese Kreaturen, außer dass es Menschen sind, die sich in Wölfe verwandeln können, meistens Hexen oder Hexenmeister. Ach ja, gejagt, gefoltert und zu Tode verurteilt wurden sie damals von eifrigen Inquisitoren, fast so sehr, wie die Hexen selbst. Ist natürlich alles Humbug, der eine Menge Menschen auf den Gewissen gehabt hat, aber meine Großmutter hatte zu ihren Lebzeiten wirklich an sie geglaubt!“
„Danke Fred, doch das ist nichts neues für mich, außer das mit deiner Oma selbstverständlich.“, antwortet Vik enttäuscht, doch Fred fällt etwas Neues zu dem Gespräch ein: „Über Tiermenschen selbst kenn ich mich allerdings etwas mehr aus. Die ersten Menschen vergötterten sie einst sogar, also von Tieren rede ich. Sie dir zum Beispiel die Ägypter an, die hatten auch erst Schakale, Katzen, Falken und andere Tiere verehrt. Das ging solange, bis die Menschen Tiere als Nutztiere benutzten und einen Arbeiter vergöttert man natürlich nicht.“
Viktor zeigt ihm mit seiner Aussage: „Natürlich nicht!“, dass er ihm zuhört. „Gut, deswegen formten die Ägypter ihre Gottheiten zu Hybriden, oder besser gesagt zu Tiermenschen, denn so heben sie sich von gewöhnlichen Menschen ab.“
„Schön und gut“, sagt Vik: „doch Werwölfe sind keine Hybriden und vergöttert wurden sie auch nicht.“
„Hast du mir nicht zugehört? Früher wurden Tiere vergöttert!“, schnauzt Fred leicht beleidigt Vik an, wegen dessen mangelnder Fähigkeit zum Zuhören, trotzdem klingt er beherrscht. Viktor gibt sich aber nicht mit der Erzählung zufrieden: „Ja ja, ich hab ´s geschnallt! Doch was haben tierische Götter mit Werwölfen zu tun?“
„Also... ich weiß es nicht genau, aber da könnte doch eine Verbindung mit ihnen bestehen, meinst du nicht?“
„Vielleicht, danke für die geballte Ladung Wissen Fred.“, sagt Vik zu ihm und beide verabschieden sich anschließend. Bevor Viktor den Laden verlässt, ruft ihm Fred noch hinterher: „Keine Angst, der Wolf, der hier in der Gegend herumstreunt ist kein Werwolf!“
Strahlend hell leuchtet der Vollmond und Viktor streift durch die Stadt als Wolf umher. All seine Sinne machen sich bereit um nach Beutetieren Ausschau zu halten. Vik frisst einen halben Obdachlosen und genießt den Duft der Angst, den sein Opfer hinterlässt. Die andere Hälfte wird schon bald einige Schockmomente liefern und diese Furcht wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Bestimmt vermisst ihn kein Schwein, denn die Arbeiterklasse ist viel zu arrogant, um sich um einen Penner zu scheren. Wer nichts zum Fortbestand des Systems beiträgt, ist für das System nichts wert, doch seltsamerweise werden die armen Seelen doch in Obdachlosenheime und speziellen Kantinen versorgt. Hat der Staat soviel Mitgefühl für die Bettler oder sind diese Menschen so wichtig für ihn, dass sie erhalten werden müssen? Sind die Straßenbewohner vielleicht nichts weiter, als atmende Warnschilder für diejenigen, die nicht der Gemeinschaft dienen wollen und Ermahnungen an all diejenigen, die sich nicht mehr waschen und pflegen wollen? Oder ist es möglich, dass diese Menschen versorgt werden müssen, weil sie ansonsten gewalttätig werden könnten, was zur Bedrohung für all die Sicherheitsfanatiker führen würde? Da ist Viktor doch lieber das Monster, das alle verspeist, anstatt sie zu Werkzeugen zu degradieren. Zwar werden sie immer benutzt, doch Viks Opfer leiden nicht mehr im Tod, als die Überlebenden im Leben. Der wölfische Magen ist vollgestopft, die Rennerei langweilt mittlerweile das Tier und deswegen eilt es zurück zu dem Gebäude, indem sein Wohnsitz aufzufinden ist. Schnell läuft der Werwolf zu dem Kellerfenster, das er als Mensch einige Stunden zuvor offengelassen hat und zwängt sich hindurch. Es fällt zu dem Boden des Kellergeschosses. Um ihn herum stehen hauptsächlich Waschmaschinen herum, die ohne bare Münze nicht funktionieren, ähnlich wie bei Spielautomaten und in einer dieser Waschmaschinen befindet sich der Turnbeutel mit den Hausschlüsseln und den Anziehsachen, selbstverständlich nur, weil er sie dorthin zuvor gebunkert hat. Die Rückverwandlung erfolgt genau so reibungslos, wie eh und je. Viktor kann sich in alle Ruhe umziehen, denn dieses Versteck ist sogar noch besser, als das damalige im Park. Scheinbar haben Rückschläge auch ihre guten Seiten, ansonsten müsste er sich die ganze Zeit beobachtet fühlen. Erschöpft schließt er das Kellerfenster, schleicht die Treppen des Hauses hoch bis zu seiner Wohnung und stiehlt sich vorsichtig und lautlos in seine eigene Wohnung rein, wie ein Einbrecher. Außer seinem besten Freund bemerkt ihn auch kein Weiterer hier drinnen, ausgenommen von den Spinnen und Kriechtieren, die Viks empfindlich gewordene Nase aufspürt, doch er macht eine Ausnahme und lässt die winzige Kost am Leben. Menschenfleisch sättigt ihn sowieso am ehesten, all das andere Fleisch ist nicht annähernd so wohltuend, obwohl er ja noch nicht alle Geschmacksrichtungen kennt, doch in der Stadt findet sich nichts Besseres. „Vielleicht schmecken ja Werwölfe noch besser?“, fragt sich Viktor leicht neugierig, doch dann wäre er nicht besser als diese Spinne an der Wand dort, doch was ist so falsch am Dasein der Spinne? Das einzigst Schlimme an ihrer Existenz ist, dass dieses Tier niemals satt wird und daher ewig hungern wird, armes Viech! Vik stolpert in völliger Dunkelheit in dem Flur herum und schleicht sich so unauffällig wie möglich in sein Zimmer. In seinem Bett haust nun der Tiermensch und wälzt sich solang darin herum, bis er vollkommen entspannt. „Schlaf gut Texas!“, wünscht er noch seinem Hund flüsternd und ruht sich für den aufbrechenden Tag aus.
„Hey Matthias!“, begrüßt Vik seinen Kumpel.
„Hi Vik, alles klar bei dir?“
„Ja, bestens... hast du heute zufällig Melie gesehen?“
„Wen?“
„Melie, diese Braunhaarige mit den coolen, dunkelvioletten Kleidern.“
„Ach, deine kleine Gruftifreundin!“
„Ja, genau... also hast du sie gesehen?“
„Nein, sorry. Aber ihre Schwester ist heute auch nicht aufgekreuzt.“, Matt schweigt nach diesem Satz. Wahrscheinlich stört ihn ihre Abwesenheit, denn dadurch ist sein Tag nicht versüßt worden.
„Schon gut, müssen sich wohl Beide irgendwas eingefangen haben.“, mutmaßt Vik mit dem festen Entschluss, sie nach der Schule anzurufen. Möglicherweise fragt er auch für seinen liebeskranken Freund nach ihrer Schwester, natürlich möglichst dezent, er will ja nicht zu aufdringlich wirken. Das Krankenhaus müsste Andrea ja schon hinter sich gelassen haben, ist ja mittlerweile schon zwei und ein halb Wochen her, seitdem Viktor sie angefallen hat. Das erinnert ihn daran, dass er gestern Abend dem Werwolfjäger vor sich nicht begegnet ist. „Was hast du gestern Abend so getrieben?“, fragt Viktor ihn. „Nichts außer gebüffelt, der Mathetest rückt ja näher.“, antwortet er auf Viks Frage.
„Nur kein Stress Matt, Mathe packst du schon.“, tröstet Viktor ihn.
„Du hast leicht reden, du musst ja nur von mir abschreiben.“, gibt Matthias zurück und rollt mit den Augen.
„Ne, keine Sorge. Diesmal spick ich nicht ab!“
„Nicht? Du hast doch nicht etwa gelernt?“
„Nein, wo denkst du hin? Ich scheiß einfach drauf! In Zukunft will ich mit Papierkram nichts zu tun haben.“
„Mensch Viktor, schreib lieber ab, eines Tages wirst du anders über Zeugnisse denken und dann ist es zu spät, um zu Pauken.“
„Keine Sorge, ich hab alles im Griff.“
„Hast du etwa schon einen Job in der Tasche.“
„Ja, genau...“
„Okay und welchen?“
„Metzger!“
Es ist bald soweit, das Ende naht! Mein Existenzschmerz ist zuerst gestorben, mit ihm viele andere Wesen auch und zuletzt, zuletzt sterbt ihr Bastarde, ihr die mir meine Kindheit genommen habt! Habt ihr ernsthaft geglaubt, ich steck mein Leben lang einfach alles so weg, ohne mich an euch zu rächen? Ihr, die ihr mich gedemütigt und gereizt habt, bereitet euch vor, denn das Ende ist nah!
Kaum ist Viktor Zuhause angekommen, ruft er sofort bei Melanie zu Hause an. Nach einer Weile geht auch jemand ran. „Ja?“, fragt eine weibliche Stimme, zu jung klingend, um die Mutter von Melie zu sein und zu fremd, um Melanie selbst zu sein. „Ja hier ist Viktor, ist Melanie da?“, fragt er. Dann ist es absolut still. Das leise Rauschen des Telefons ist noch vernehmbar, doch niemand antwortet. „Nun? Was ist?“, fragt Viktor nochmals ungeduldig. „Tut mir leid...“, entschuldigt sich die junge Dame in der anderen Leitung. Vik ist sich ziemlich sicher, dass Andrea die Person ist, mit der er redet. „Einen Moment lang konnte ich nicht sprechen... die Trauer, sie ist so groß.“, antwortet Andrea. „Was ist los? Ist alles in Ordnung mit ihr?“, kreischt Viktor fast panisch, denn er hat ein mulmiges Gefühl bei dem Anruf hier bekommen. „Sie... ist tot.“, erklärt sie. Nun schweigt Viktor. Er kann es nicht wahrhaben, das Ganze klingt zu grotesk um glaubhaft zu sein. „Du verarscht mich nicht etwa, oder?“, erkundigt er sich vorsichtshalber bei Andrea. „Ich finde es gar nicht lustig, also hör auf mit dem Scheiß, klar?!“, sagt Viktor mit Tränen in den Augen. „Hör zu du Psycho! Ich scherze nicht! Dieser dreckige Wolf, der hier frei herumläuft hat sie zerfetzt! Wenn du mir nicht glaubst, dann komm nächste Woche zu ihrer Beerdigung!“, brüllt sie ihn hysterisch und schluchzend an. Vik muss sich sein Knurren verkneifen, dennoch fürchtet er, dass sie ihn gehört haben könnte. Er weiß nicht, ob die Bezeichnung „Psycho“ oder „dreckiger Wolf“ ihn beleidigt hat. Er will dieses Gequatsche so schnell wie nur möglich hinter sich bringen und verabschiedet sich mit einem: „Danke...“ Hastig legt er auf, als würde das Melanies Tod verhindern, wenn er schnell genug die Leitung unterbricht und somit nichts mehr von ihrem Ableben hören muss. Doch es bringt nichts, er weint los. So viele Tote sind ihm untergekommen, doch dieses Leben ist etwas Besonderes gewesen, nämlich eines, das er geschätzt gehabt hat, eben eine wahre Seltenheit. Jetzt ist es einfach weg. Sein Gesicht läuft rot an und mit dem rechten Handrücken muss er sich die Tränen von den Wangen wischen. „Das kann nicht sein. Ich hab doch nur diesen dummen Penner gekillt, Melanie ist mir nicht in die Quere gekommen und selbst wenn, ich hätte sie niemals verletzt!“, nach diesen Gedanken kommt Texas zu dem kauernden Jungen angetrabt und leckt ihm winselnd das Gesicht, da er um sein Herrchen besorgt ist. „Wenigstens bist du mir noch geblieben, doch das macht ihren Tod auch nicht erträglicher.“ Plötzlich vergisst Viktor seine Trauer und seine Befürchtung drängt sich zum Mittelpunkt seiner Beachtung hervor: „Andrea! Du dreckige Schlampe! Wie konntest du nur?!“
Die Beerdigung findet schon nach vier Tagen statt. Es ist ein hässlicher Tag, passend zu der Situation hier. Da es seit vorgestern zu schneien angefangen hat, liegt schon das weiße Zeug überall auf dem Boden herum und der Regen, der heute aufgetaucht ist, formt den Schnee zu gräulichem Matsch. Ein sehr seltsamer Zufall, wie oft schneit es schon im Oktober? Andererseits, wie oft hat der Dezember sich schon geweigert, es schneien zu lassen? Dennoch ist das Wetter merkwürdig launisch, vielleicht eine Warnung an all das menschliche Gesocks, dass ein Werwolf unter ihnen weilt? Die Einladung selbst hat er erst gestern bekommen, aber immerhin. Matt hat ziemlich dumm geglotzt, als Andrea auf Viktor zugekommen ist, doch noch verwunderter ist er nach Viks Begründung geworden. Verwundert und entsetzt, allerdings kann das nur ein kaltherziger Dreckssack ihm übel nehmen. Ein Dreckssack wie Viktor, der nichts für Fremde übrig hat, also vielleicht doch irgendwie nachvollziehbar? Die Eltern der Verstorbenen begrüßen Viktor mit einer Umarmung und bedanken sich bei ihm, für sein Kommen. Etwas Selbstverständlicheres kann es für Vik nicht geben, aber immerhin ist er hier willkommen, obwohl ihm die Schuld für ihren Tod geschoben wird, natürlich nicht direkt. Er kann die an Melie gerichteten Widmungen nicht mit anhören, so tief ist er im Sumpf der Trauer gesunken, doch er ist froh, dass er nicht mehr losheulen muss. Alleine zu weinen ist für Viktor in Ordnung, doch er will verdammt sein, den Anwesenden hier seinen schwächsten Moment zu offenbaren, er kennt ja die meisten Leute auf dem Friedhof gar nicht, auch wenn sie sich Angehörige nennen mögen, sie sind Melies und nicht seine Angehörigen. Nach wahrscheinlich einer Stunde, so genau funktioniert Viktors Zeitgefühl momentan nicht, erheben sich alle Anwesenden von ihren Plätzen, um ihr Bedauern kundzutun. Er erhebt sich ebenfalls und geht direkt auf Andrea zu. „Ich muss mit dir reden!“, erklärt er ihr. „Hat das nicht Zeit?“, fragt sie ihn mürrisch. Nicht so missmutig wie sonst, bestimmt wegen dem Ernst der Lage, in denen sich alle hier befinden oder weil Vik diesmal angemessen gekleidet ist. „Nein, je schnelle desto besser! So kannst du nicht weiter machen!“, sagt er. Ihrem Blick nach zu urteilen, versteht sie, weshalb Viktor mit ihr sprechen möchte und deswegen erzählt sie ihren Eltern, dass sie nach Hause gehen will und Vik sie begleiten wird. Ihr Vater ist der Einzigste, der kurzzeitig Misstrauen zu Erkennen gibt, doch nachdem er den Jungen schief angesehen hat und Vik beschämt auf das Erblicken reagiert hat, verliert das Familienoberhaupt jeglichen Zweifel und die zwei Mitschüler lassen den grässlichen Ort hinter sich. „Du warst es stimmt ´s?“, fragt Andrea wütend Viktor, als die Beiden sich weit genug von den Anderen entfernt haben. „Was war ich?“, fragt er irritiert zurück. „Stell dich nicht so blöd an! Du hast mich zu diesem Monster gemacht, gib es zu!“, schnaubt sie ihn zornig an, dennoch versucht sie im Flüsterton zu bleiben, denn man kann nie wissen, wer gerade zuhören könnte. Erst weiß Viktor nicht, was er sagen soll und blickt stattdessen schuldbewusst zu Boden, doch dann gibt er ihr Recht: „Ja, das stimmt...“ Ihre Augen funkeln kurzzeitig tierisch gelb und sie verpasst ihm irre schnell einen Schlag in seinen Magen. „Was hast du dir dabei gedacht?! Halt ich will es gar nicht wissen!“, brüllt sie ihn an. Er hält sich noch immer den Bauch fest und hustet leicht. „Verdammt! Geschieht mir ganz recht nehme ich an... normalerweise musste ich keiner Beute Rede und Antwort stellen...“, antwortet er mit zusammengepressten Zähnen.
„Beute? Beute!? Wegen dir hab ich meine kleine Schwester zerrissen, weißt du was das für ein Gefühl ist?“
„Wegen mir? Du hast dich doch nicht unter Kontrolle gehabt! Du hast sie auseinander genommen und dann gibst du mir die Schuld?“
Sie schweigt entsetzt. „Man kann die Bestie kontrollieren?“, fragt sie verwundert.
„Ja natürlich! Wie hast du dich ansonsten zurückverwandelt?“
„Ich... weiß es nicht mehr. Irgendwann bin ich einfach wieder ich selbst gewesen und fand meine blutgetränkte Schwester vor mir und meine Hände sind auch nicht gerade sauber gewesen.“
Viktor erschaudert bei dem Gedanken, seine ehemalige Freundin als zerrissenen Fleischhaufen vorzustellen. In der Beerdigung hat man nicht umsonst den Sargdeckel verschlossen gehalten und in seiner Phantasie ist es nicht weniger unerträglich, sie so sehen zu müssen. Er führt die Unterhaltung fort: „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob du dich kontrollieren kannst. Ich hab bis jetzt noch nie jemanden zum Werwolf gemacht, aber wenn es eine Möglichkeit gibt, dich in Zaum zu halten, dann musst du diese Gelegenheit nutzen! Wer weiß, was du noch anstellen wirst, vielleicht hast du es das nächste Mal auf deine Eltern abgesehen!“
„Du bist Schuld! Auch wenn du es nicht wahrhaben willst! Warum hast du mich nicht gleich getötet, als du die Chance hattest?“
„Der verdammte Bulle ist mir in die Quere gekommen!“, platzt es aus Viktor heraus. Eigentlich hat er das für sich behalten wollen, denn wer hört schon gern vom eigenen Tod?
Er versucht schnell weiterzureden, bevor er irgendwelche Beschwerden zu hören bekommt: „Hör mal, ich glaub ich weiß, was dein Problem ist. Wenn du das Tier in dir nicht akzeptierst und seine Taten nicht als selbstverständlich hinnimmst, dann wird es wohl sein Eigenleben behalten. Du musst auch vom Verstand her mehr zum Werwolf werden, nicht nur körperlich eine Verwandlung durchführen.“
„Du meinst, ich soll akzeptieren, dass ich morde und verstümmele?“
„Ja! Du bist ein Raubtier, fühl dich doch geehrt!“
„Was für ein Schwachsinn! Du bist total verrückt! Ich soll mich geehrt fühlen, nichts weiter als ein Tier zu sein?“
Diese Geringschätzung gegenüber der tierischen Bevölkerung lässt Vik rasend werden. Er fährt sie tobend an: „Typisch für euch Menschenpack! Ihr glaubt ernsthaft, besser als eure tierischen Verwandten zu sein! Selbstgerechte Heuchler seit ihr nur, nichts weiter, weißt du denn nicht, dass jeder Mensch mit dem Tod ins Geschäft kommt? Ihr kauft totes Fleisch und verzehrt es, ihr kauft tote Pelze und ihr kleidet euch damit, ja sogar gegenseitig vernichtet ihr euch! Wenn nicht durchs Morden, dann vernichtet ihr Euresgleichen eben mit Beleidigungen und Geringschätzung, ist das etwas besser?“
„Du bist krank! Krank, nichts weiter!“
„Vielleicht, doch immerhin hab ich mich unter Kontrolle.“
„Ich will nicht mehr mit dir reden, lass es gut sein.“, gibt sie ihm zu verstehen. Viktor kann nicht behaupten, dass er ihre Einstellung nicht nachvollziehen kann. Er hat sich gerade eben auch nicht hören können, denn das alles sind nur wertlose Worte gewesen. Wen kümmert es, wie man die Menschheit beschreibt, dadurch werden sie nicht mehr oder weniger wert zerrissen zu werden. Verdient es etwa der Hase, vom Wolf gefressen zu werden? Es sind wohl eher die angeborenen Fähigkeiten, die einem das Recht zum Leben geben, in dem Fall wie flink der Langohr laufen kann. Viktor selbst ist von seiner Gabe gefunden worden, anstatt mit dieser von Geburt aus ausgerüstet worden zu sein, doch das macht seine Macht nicht weniger wertvoll. Alles nur leere Worte und Beschreibungen, nichts weiter! Doch seine Lieblinge, die Tierwelt selbst zu beleidigen, hat ihn einfach erzürnt. Die Dummheit des Menschen, sich selbst zu verleugnen, ihre wahre Natur zu leugnen, das macht Viktor ungemein bösartig. „Tut mir leid für alles... ich werde jetzt gehen, bald ist alles vorbei, das verspreche ich! Viel Glück mit deiner neuen Gabe!“, verabschiedet sich Vik von ihr und eilt so schnell zu seinem Zuhause, wie ihn seine menschlichen Beine befördern können. „Alles nimmt ein Ende, das schwöre ich!“
Wisst ihr, was mit Hunden geschieht, die Blut geschmeckt haben? Sie werden eingeschläfert, weil sie eine potentielle Gefahr darstellen. Was für ein Schwachsinn! Jeder Mensch hier ist eine „potentielle Gefahr", nichts weiter, als eine tickende Zeitbombe. Sollen wir auf einmal leugnen, dass es Mörder, Waffen und Kriege gibt? Oder gestresste Büroangestellte, die Attentatplanungen zu ihren neusten Hobbies pflegen? Zensiert ruhig soviel wie ihr wollt, es sind nicht die Videospiele oder brutalen Filme, die jemanden zum Killer formen. Es sind Menschen, die Menschen zum Töten motivieren. Hass, Fanatismus, Eifersucht, ja sogar Leidenschaft bringen uns auf diesen Gedanken, nicht der Anblick eines geschlachteten Lebewesens. Sagt was ihr wollt, aber Tag für Tag töten wir alle ein kleines Lamm, indem wir zum Supermarkt gehen und den Markt für Fleischprodukte aufrechterhalten. Oder wenn wir
ein lästiges Ungeziefer loswerden wollen, dann töten wir wieder. Oder irr ich mich da etwa?
Die darauffolgenden Tage sind für Vik schier unerträglich, denn er hat sich mit seinem schlechten Gewissen Andrea gegenüber auseinander zu setzen, den schmerzvollen Verlust von Melie zu verdauen und das schlimmste von Alledem, er muss die Warterei bis zum nächsten Vollmond ertragen, denn dann ist endlich der Tag gekommen, den er solange herbeigesehnt hat und erst an diesem Tag, wird er endlich das bekommen, wonach es ihm solange verlangt hat. Doch bis dahin quälen ihn die zwei Dämonen namens Selbstzweifel und Ungeduld. „Vielleicht sollte ich wirklich das Zeitliche segnen... ich gehöre hier nicht her und ich werde es auch nie schaffen, ohne mich selbst zu hintergehen. Letztendlich sterbe ich doch sowieso, warum ein Leben lang auf den Tod warten, wenn er doch so plötzlich eintreffen könnte?“, beschäftigt ihn diese Gedanken und vertreiben die Zeit, die ihm im Weg steht. Zu seinem Gunsten treten bald darauf neue, nicht selbstzerstörendes Gedankengut auf: „Bald ist alles vorbei und dank der Rune werde ich nicht einmal sterben müssen, um von diesem Ort zu entfliehen. Endlich weiß ich, wohin ich gehöre und das fühlt sich diabolisch gut an! Stellt sich nur noch die Frage, ob ich noch sterben kann, oder ob ich zu den Unsterblichen zähle? Falls dem so ist, dann hat der gute, alte Fred recht gehabt, dann zählen wir Werwölfe wirklich zu den Göttern! Welch schmeichelnder Gedanke!“
Nur noch ein nicht enden wollender Tag, bis zu Viktors persönlicher Apokalypse, wie er gerne den heranrückenden Tag nennt. Er hat sich extra vor diesem Tag „frei genommen“, denn die Schule wird er in Zukunft nicht mehr benötigen. Nichts, außer seinen Kräften wird er in Zukunft brauchen, um zu überleben, ansonsten wird er unabhängig und frei sein, so wie er es schon immer gewünscht hat und niemals zuvor hat er ernsthaft an das Auftauchen seines Traumes geglaubt, doch nun ist es soweit! Abgesehen von diesen dummen Stunden, die seine Geduld auf die Probe stellen wollen, trennt ihn nichts mehr von diesem großen Ereignis! Dabei kann er auch jetzt sofort damit anfangen, denn selbst der Vollmond ist ihm nicht mehr Herr über seine tierische Macht, doch der Gedanke, es an der Mondphase zu Ende zu bringen, in der die wundervolle Veränderung sein Leben bereichert hat, ist für ihn eine genauso rührende, wie amüsante Vorstellung. Nebenbei bemerkt gehört der Vollmond nun mal zum Werwolf, wie das Wasser zu den Fischen. Die gar magische Anziehung vom Mond zum Wolf ist eine Sache des Instinktes und es liegt nicht in Viktors Möglichkeiten, den Grund für diese Faszination zu erklären. Für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit geworden, dem Mond zu Ehren ein tiefes Geheul zu widmen, bevor die Jagd beginnt oder nachdem jene vollendet ist. Sogar die urzeitlichen Menschen haben angeblich einst den Vollmond angeheult, fragt sich nur, warum sie damit aufgehört haben? Er vereinbart gerade telefonisch ein Treffen mit Matthias bei diesem Zuhause und macht sich anschließend auf den Weg zu ihm. Des Zeitvertreibes wegen, will Vik bei Matthias Heim eine Plauderei anfangen, dessen Fortschritte in dem Spielprojekt begutachten und eventuell mit ihm an der Konsole zu zweit spielen. Einen Großteil seines hiesigen Verweilens, verbringt er mit gutgemeinten Kritiken über Matts unvollständigem Programm. „Kannst du nicht dafür sorgen, dass die Knochen der Zombies zersplittern, wenn die Kugel sie durchbohrt, mein ich? Und ich finde das Gehirn in deren Schädeln nicht realistisch genug, es ist zu übertrieben rosa, es sollte mehr gräulich sein mit angefaultem, verschimmeltem Schleim umhüllt, das sehe bestimmt cool aus!“, erkundigt sich Viktor bei dem Programmierer. Matt sagt dazu: „Na hoffentlich zensiert mir niemand das Spiel wegen all deinen Einfällen. All die Arbeit wäre dann für Nichts und wieder nichts.“ „Wer sollte denn ein Spiel, freigestellt zum Gratisdownload, schneiden?“, fragt Vik auf eine eher rein rhetorische Weise, doch Matthias gibt ihm dennoch eine Antwort: „Ich hoffe doch, dass ich es vermarkten lassen kann. Gibt genug Amateurprogrammierer, deren Spieldemos aufgekauft worden sind.“
„Warum auch nicht? Vielleicht kommst du ja mit deinem Hobby endlich aus der demütigenden Mittelschicht raus, wäre doch geil, gell?“, ermutigt ihn Vik. Matt erfreut der Gedanke und meint dazu: „Du hast Recht! Nichts gegen die Mittelschicht, aber reich sein wäre doch besser.“
„Du hast vielleicht nichts gegen die Normalos und Spießer, aber ich bin eindeutig für Erfolg, also viel Glück in deinem kommenden Leben!“, wünscht ihm Viktor. Matthias sieht ihn schief an. „Klingt ja nach einem Abschied? Du willst doch nicht wieder versuchen, dich umzubringen?“, will er sorgenvoll sicherstellen, aber Viktor beruhigt ihn wieder: „ Mach dir keinen Kopf, mir geht ´s bestens, wirklich!“ „Gut...“, antwortet Matthias „wenn ich tatsächlich mal ans große Geld komme, eröffne ich eine eigene Firma und du hast dann eine Stelle bei mir sicher, also sorge dich nicht um die Zukunft!“ Viktor lächelt gerührt. Soviel Mitgefühl und Zuversicht wünscht er sich bei seinem Vater auch, dann wäre es daheim mit dem alten Sack nicht so unerträglich. „Die Zukunft macht mir keine Sorgen mehr, ich freue mich sogar auf sie!“
Lang dauert es nicht mehr, nur noch eine Nacht durchschlafen und das Gefängnis, besser bekannt als Zivilisation, gehört endgültig zu Viks Vergangenheit an. Er wird Matthias bestimmt vermissen, doch alleine wird er das Reich der Menschen nicht verlassen müssen. Viktor hat die Wohnung seines Kumpels bereits verlassen und seine eigene Behausung erreicht. Vik befürchtet, dass er vor lauter Vorfreude nicht einschlafen können wird, wenn er sich die gesamte Schlafenszeit über mit Erwartungen und Sehnsüchten rumplagen muss. Er zieht seinen Mantel aus und will sich mit diesem in seine Bude begeben, da hört er seinen Vater zu ihm rufen: „Viktor, komm mal kurz zu mir in die Küche!“ Brav folgt er der Aufforderung, doch zuvor wirft er seine ausgezogene Garderobe auf sein Bett. „Was ist los?“, fragt Viktor seinen sichtlich verärgerten Vater, als er das Küchenzimmer betritt. Jeffrey hockt auf seinen gewohnten Sitzplatz und gafft seinem Sohn aggressiv ins Gesicht, als wolle er Viktor zu einem Duell auffordern. „Dein Klassenlehrer hat heute bei uns angerufen. Er erzählte mir von den Prüfungen, die du unbeantwortet abgegeben hast.“, erzählt ihm Viks Vater verbittert. Aus Viktor kommt keine müde Silbe heraus, denn er weiß, dass er bei seinem Vater keinerlei Diskussionsmöglichkeiten finden kann. Jeff ist nie im Leben offen gegenüber den Ansichten seines Sohnes, Niemand ist es, zumindest ein Großteil der Weltbevölkerung nicht. Außerdem akzeptiert Jeff nicht einmal Viktors Videospiel- und Faulenzervorlieben, da wird er auch sonst nichts an Viks Gedankenwelt gutheißen. „Und damit nicht genug, du bist oft unentschuldigt von der Schule fern geblieben und hast keinerlei Interesse am Unterrichtsgeschehen gezeigt! Dazu kommt noch, dass du offenbar keinen Respekt gegenüber deinen Lehrern zeigst! Du hast Autoritäten zu gehorchen, wie willst du dich sonst in dieser Welt zurechtfinden? Ich weiß nicht, was dir so in den Kopf schwirrt... andere Kinder wären dankbar für eine ordentliche Schulausbildung!“, belastet Jeffrey seinen Sohn mit dem Gelaber von Verhaltensvorschriften. Jeder einzelne Buchstabe aus Jeffreys Mundwerk stachelt Viktors Zorn an, den Vik einfach nicht mehr verdrängen kann. Er ist zwar solch ähnlichen Standpauken schon von früheren Vorfällen gewohnt, aber da ist er ja auch noch zu hundert Prozent Mensch gewesen! Zu groß hat sich mittlerweile die Wut in ihm aufgestaut, nun muss er diese entladen, ihr Form und Leben verleihen, das Tier in ihm rauslassen! Gelb blitzen Viktors Augen auf, als wäre es gerade in ihm zu einer Explosion gekommen und dann gibt er ein monströses Knurren von sich. Sein Vater verliert vor lauter Schreck das Gleichgewicht und kippt mitsamt dem Stuhl um. Zitternd kriecht der Erschrockene, ohne dabei Viktor aus den Augen zu lassen, auf allen vieren rückwärts, bis er die Wand erreicht hat. Mit jedem Schritt von Vik, erreichen seine Klauen und seine Zähne eine gewaltige Länge, bis er die Verwandlung mental abbricht und zu dem Monster mutiert ist, dass er ihm Sinn gehabt hat. Mehr muss sich sein Körper nicht verändern, um dem jämmerlichen Menschen vor dem Biest das Lebenslicht auszupusten. „Was ist aus dir geworden?“, bringt Jeffrey diesen Satz irritiert, gehemmt und verängstigt hervor. Der Mutant wetzt alle seine fünf rechten Klauen an dem Küchentisch neben sich ab und antwortet: „Etwas Besseres!“ Kurz darauf greift Viktor nach Jeffreys Hals, würgt einhändig an diesen und hebt Jeff mühelos hoch in die Luft. Sein Vater versucht seine Luftzufuhr aufrecht zu erhalten, indem er sich an dem Arm des Monstrums festhält. Dabei wedelt er verzweifelt mit den Beinen. „Du wolltest doch, dass ich aus mir etwas mache, aber was genau ich aus mir machen soll, das hast du nie erwähnt.“, sagt Viktor zu seinem neusten Opfer. Jeffrey schwitzt vor lauter Furcht unnatürlich viel und röchelt zu Vik: „Was hab ich dir angetan?“ Viktor kann nicht glauben, was das Menschlein vor ihm wagt zu fragen: „Das fragst du noch? Du hast mich rumschikaniert und zur Sau gemacht! Und das Schlimmste ist, dass du immer nur zu der Allgemeinheit gehalten hast, anstatt dich um mich, deine Familie zu kümmern! Wie ich mich fühle ist dir doch scheißegal, wie gut ich in der Schule bin, wolltest du wissen, wie viel Geld ich in Zukunft mit ins Haus gebracht hätte, das wolltest du wissen, aber nie, wie es mir geht! Kein Wunder, dass meine Mom uns verlassen hat!“ Blind vor Wut haut er seinen Dad gegen die Wand. Jeff rutscht von ihr ab und lehnt seinen Oberkörper an dieser an. Jeffrey geht es gerade mehr als dreckig, dennoch will er eine Sache klarstellen: „Sie hat uns nicht wegen meiner gefühlskalten Art verlassen, die du mir zuschreibst. Sie hat einfach einen gefunden, der reicher und besser im Bett ist als ich! Bist du nun zufrieden, wolltest du das hören? Wie sollte ich dir so was schonend beibringen? Du warst eh schon seltsam genug, sollte ich dich da noch mehr belasten?" „Ob ich zufrieden bin? Erst wenn du vor meinen Füßen fällst und stirbst!“, sagt das Monster zu Jeff und formt seine Schnauze etwas länger, damit er seinem Dad das Gesicht vom Kopf runterbeißen kann. Jeffrey reißt seine Arme hoch in die Luft, als wollte er den Himmel verfluchen und verabschiedet sich von dieser Welt mit einem Todesschrei, der dank seiner darauffolgenden Verblutung verstummt. Die von ihm erhobenen Arme knallen gegen den Boden und kündigen somit das Ende von Jeffrey Ritters Leben an. Viktor selbst verwandelt sich zurück zu seiner menschlichen Gestalt und setzt sich neben dem Toten hin. Von nun an, ist Viktor ein Waisenkind, doch ab Morgen ist das Alles hier sowieso egal. Jetzt ist wieder so ein Zeitpunkt, indem Viktor die Stille genießen kann. Endlich kann er neben seinem Vater sitzen, ohne das dieser anfängt Müll zu labern. Nach eine Weile empfindet Viktor das Verlangen, mit den Überresten von Jeffrey zu reden: „Es ist schon tragisch, dass die einzigste Methode dich zu verändern im Tode lag, aber das haben wir beide wohl gemein. Ich werde auch erst im Tod mit meinem Handeln aufhören und das Töten hat mich erst verändert. Ich bin nicht mehr das Häufchen Elend, das in seinem Zimmer vor sich hin verrottet, so wie du immer gemeint hattest, ich bin nun ein wildes Tier, nein eine Gottheit bin ich, ein Teufel, ein Dämon, nenn mich wie du willst! Ihr Menschen habt euch ja solange vor uns Tieren gefürchtet, obwohl in uns allen diese Tiere schlummern. Einzig allein euer falscher Stolz und eure Ignoranz sind schuld daran, dass ihr euch nicht als Tiere bezeichnet. Klar, Affen ähnelt ihr am meisten, doch wurde der Mensch nicht mit einer ganzen Palette an Tiernamen verglichen? Hinterhältig, wie eine Schlange... schlau, wie ein Fuchs... stark, wie ein Bär... ja irgendwas in euch wusste die ganze Zeit über, was ihr wirklich seid.“ Viktor starrt die Umrisse des Runensymbols auf seiner Hand an und führt das merkwürdige Selbstgespräch fort: „Ich hab dank dieser Rune das bekommen, was ich die ganze Zeit gesucht hatte, das wilde und freie Leben eines Tieres. Hätte ich dich gemocht, dann hätte ich dich auch mit diesem Glück bereichern können, aber du wolltest nur Papiere, auf denen in bestimmten Zahlenfolgen Glück geschrieben steht.“ Er klammert mit seinen Händen seine Knie fest und presst diese gegen sein Kinn. Tiefe Trauer zeigen seine Augen und sein zum Boden gesenkter Kopf. Dann redet er weiter: „Hab ich dir schon einmal erzählt, dass alle mich so bescheuert angaffen? Bestimmt nicht, du hättest mich dank deiner spießigen Machoeinstellung als Schwächling beschimpft, nur weil mich das so bekümmert. Oder du hättest mir geraten, mein Erscheinungsbild zu verändern, ohne an meine Eitelkeit zu denken, wahrscheinlich wäre ich dann für dich zu „weibisch“. Wie soll ich dir also dieses Gefühl erklären, damit sogar du, mit deinen toten Empfindungen mich verstehen kannst? Also... deren Blicke wirken so, als wollen sie mich dazu auffordern, mich sofort umzuziehen. Seht, der Typ gehört nicht zu uns, das wollen sie mir sagen, halten sich aber doch zurück. Ich kann das nicht ab, die Gesellschaft spielt eine gekünstelte Wildnis. Anpassen oder sterben, zum Glück ist ja letzteres endlich abgeschafft worden. Doch reicht mir das nicht, ich sollte alles vernichten, was in der wahren Wildnis nicht reinpasst, so wie sie es mir und meinen tierischen Brüdern gleichtun wollen. Am liebsten würde ich diese Spießer ignorieren, doch ich fühle ihre Anwesenheit. Nichts kann mich besänftigen, bis ich diese Flachwichser losgeworden bin!“ Vom Zorn angetrieben rammt Viktor seine Faust, mit einem seitlichen Hieb, gegen die Wand ohne dabei aufzustehen oder wegzusehen. Er verschließt nur seine Augen und dicke Tränen kullern von seinen Wangen hinunter. „Es tat wirklich gut, mit dir zu reden, wirklich. Zum ersten Mal hast du mir zugehört, ohne mich zu unterbrechen. So wohl fühl ich mich ansonsten nur in der Einsamkeit.“, sagt Viktor zu dem Kadaver und hebt sich weg von seinem Sitzplatz. Vik dreht sich zu dem Leichnam um und schaut auf diesen herab, währenddessen spricht er wieder zu dem Toten: „Natürlich ist das kompletter Blödsinn! Ich bin doch schon wieder allein und deshalb fühl ich mich so wohl und anstatt innere Monologe zu führen, rede ich mit einem Toten! Du bist also nur ein Ersatz für mein Bedürfnis zur Zurückgezogenheit gewesen, also scher dich zum Teufel!“ Mit einem Tritt gegen die Schulter seines toten Vaters, verabschiedet sich Viktor von der Leiche und geht in sein Zimmer. Das Geräusch, das nach dem Fußtritt durch den Aufprall des Körpers gegen den Boden entstanden ist, wird Viktor wohl nie wieder vergessen können, denn es wird ihn ewig an diesen Vorfall hier erinnern. Texas erwartet Vik bereits im Flur und Viktor streichelt seinen beharrten Freund, bevor er schlafen geht. Morgen ist es endlich soweit...
Viele fragen sich, wieso jemand zum Mörder wird. Wodurch dieser Blutdurst entsteht? Die Frage ist an sich vollkommen falsch formuliert, denn richtig wäre es, wie entdecken wir sie wieder? Unsere weit entfernten Vorfahren tranken das Blut ihrer Feinde und das ohne vorher so was wie Fernsehen oder Videospiele gekannt zu haben! Aber es gibt dennoch eine Antwort, die euch zufrieden stellen wird: Seht euch an, wie Killerhunde großgezogen werden, genauso erzieht man menschliche Killer! Wir können verdammt viel von den Hunden und auch von anderen Tieren lernen, aber ob ihr es wollt liegt nur bei euch! Ihr könntet dabei so geisteskrank, wie ich werden...
Sieben Uhr morgens steht Viktor für seinen bevorstehenden Schultag auf. „Guten Morgen Texas!“, begrüßt er vergnügt seinen Schäferhund. Nach einigen Streicheleinheiten stopft Vik seinen Bauch mit Müsli voll und verliert dabei nicht den Blick von der Uhr, denn er muss um halb Acht den Bus erwischen. Dem Toten, der in der Küche rumliegt, schenkt er allerdings keinerlei Beachtung. Stattdessen zieht er sich um und verabschiedet sich von seinem Haustier, mit den Worten: „Heut Nachmittag hol ich dich ab und wir verschwinden von hier. Kannst ruhig in der Wohnung pissen, wenn du musst. Wir wilden Tiere sind ja nicht stubenrein!“ Nun gilt es den Schulbus zu erreichen und die Fahrt bis zur Schule durchzustehen, oder eher durchzusitzen.
Zum letzten Mal, wird Viktor so einem Haufen von hektischen und unwissenden Zweibeinern begegnen, wie die, die in der Aula herumlungern und ihm nur unnötig den Sauerstoff rauben. Es bereitet ihm Vergnügen, die Kurzlebigkeit seiner Beute zu bedenken, im Vergleich zu der Unsterblichkeit, die ihm von der Rune vermacht worden ist. Vik weiß nicht, ob dieser Teil der Werwolfüberlieferungen zutreffend ist, aber irgendwas in ihm ist davon fest überzeugt. Wenn nicht für immer, dann garantiert länger... doch wahrscheinlich redet er sich das alles bloß ein. Es könnte sich ja um Werwölfe allgemein drehen, dass der Mythos, oder das Tier im Manne nie aussterben wird, aber ehrlich gesagt traut Viktor gewöhnlichen Bauern nicht so eine tiefgründige Ader zu. Philosophen sind einfach klüger, als gewöhnliche Arbeiter, warum sonst haben die großen Denker nicht ebenfalls auf dem Feld geschuftet? Solche Gedanken brauchen eben ihre Zeit, bis sie sich entfalten können und nicht eine kleine Kaffeepause. Jedoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Meinung eines einzelnen Denkers von dem restlichen Volk einfach geklaut worden ist, sowie es ja heutzutage in Filmen und anderen geistigen Werken vorkommt. Wenn das tatsächlich so gewesen ist, sieht es düster für Viktors angeblich unsterblichen Körper aus... wie dem auch sei, zumindest heute will er garantiert nicht draufgehen, nicht jetzt, wo er die Karten in der Hand hält. Heute zeigt er ihnen, wer hier wahrhaftig über Autorität verfügt! Alle, auch Viktor, gehen zu ihren Klassenräumen, doch macht er vor seiner Klasse halt und lungert vor der entsprechenden Tür rum. „Alles zu seiner Zeit!“, denkt er sich und wartet. „In spätestens fünf Minuten muss der Herr Schuhmann hier aufkreuzen...“, überlegt er und wartet weiterhin. Bald lässt sich auch sein Deutschlehrer blicken und spricht Viktor auf seinen Aufenthalt an: „Solltest du nicht im Klassenzimmer sein?“ Der Junge lugt mit seinen Augen zu dem Lehrer, ohne dabei seinen Kopf umzudrehen und sagt: „Sollte ich, ja...“ „Machst hier einen auf obercool, was? Geh jetzt rein!“, fordert der Mann Vik auf. „Nach ihnen.“, antwortet Vik und dreht sich zur Tür, um auf das Hineinmarschieren vorbereitet zu sein. „Immer diese aufmüpfigen Teenies!“, grummelt der Deutschlehrer beleidigt und geht voraus, Viktor selbst folgt ihm anschließend und macht die Tür zu. „Seht die Schafe, wie sie erstaunt den Wolf in der Weide angaffen!“, denkt Viktor zu sich, als er kurzzeitig die Aufmerksamkeit der Mitschüler erhält. Ein zu spät kommender Schüler hat schon immer die Stimmung der Klasse angehoben, denn er handelt, wie sie gern alle handeln würden, wenn sie etwas Mumm in den Knochen besitzen würden. Viktor lehnt sich an die Tür und starrt selbstbewusst zu seinem Lehrer, welcher seine Papiere am Pult verteilt. „Viktor, setz dich gefälligst hin, oder erwartest du eine Extraeinladung?“, fährt die Lehrkraft ihn an, als er einen weiteren unerwünschten Aufenthaltsplatz von Viktor bemerkt. Viktor grinst ihn schelmisch an und antwortet: „Nein, das werde ich nicht!“ Das Gelächter der Klassenkameraden ist für Viktor nicht unerwartet eingetroffen, doch er selbst bleibt bei ernster Laune. Sein Plan dient nicht zur Belustigung und Spaß dabei wird nur er selbst haben. Erzürnt, jedoch wie ein Gockel stolzierend, bewegt sich Viktors Deutschlehrer auf ihn zu und droht ihm: „Junger Mann, kannst du dir überhaupt vorstellen, welche Schwierigkeiten du dir gerade eingebrockt hast?“ „Ich sehe deine sogenannten Schwierigkeiten, doch ich komme ungeschoren davon!“, kontert Vik mit milder Stimme, aber seine Augen bekommen erneut dieses gelbe Funkeln. „Erstens heißt es Ihre sogenannten Schwierigkeiten und zweitens wirst du sehr wohl die Konsequenzen dafür tragen müssen.“, klärt der Beamte Viktor auf und nun ist Viktor zum Lachen zumute, aber er versucht es auf ein leises Kichern zu reduzieren. „Elendiger Narr! Deine Umgangsformen interessieren mich einen Dreck! Und ich weiß sogar, dass meine Konsequenzen aus dieser Tat mit einem Bankett enden werden!“, sagt Viktor zu dem Lehrer, nachdem er sein kurzweiliges Lachen abgelegt hat. Verdutzt sieht die Lehrkraft Vik an und erschaudert auch leicht vor diesem komischen Knaben. „Lass mich durch die Tür gehen, dann werden wir sehen, ob dir das Lachen vergehen wird.“, droht der Lehrer ihm und greift an Viktor vorbei, um den Türknauf zu erhaschen, doch Viktor packt den Arm des Erwachsenen und ist kurz darauf nicht mehr sein ungehorsamer Schüler, sondern sein Verderbnis. In wenigen Sekunden verwandelt sich Viktor in den Hybriden, der den gefangenen und schreienden Lehrer den Arm auskugelt und danach diesen aus den Schultern reißt. Das alles nur mit der Kraft in seinem mutierten Arm. Für die anderen Schüler bleibt nichts anderes übrig, als ebenfalls das Kreischen anzufangen, einige von ihnen klettern auf den Tischen rauf, andere wiederum sind starr vor Entsetzen und manche versuchen sich aus den Fenstern zu stürzen, aber alle beobachten sie das Monster, dass sich immer mehr zum Wolf entwickelt und von dem schwarzen Mantel auf ihm verhüllt wird, als würde sein Kopf aus einer Tischdecke rausschauen. Während der Verwandlung schnaubt und knurrt der Werwolf fürchterlich und schnappt wild um sich. Mit seinen massiven Schultern, die so stark wie menschliche und wölfische Schulterblätter zusammen sind, stößt er Stühle und Tische von sich weg, die ihm in den Weg stehen. Auch seine Oberschenkel werfen Blockaden um, obwohl diese rohe Verwendungsart für diese Körperpartien normalerweise bei Wölfen nur zum Klarstellen von Rangordnung in Rudelpositionen üblich ist, jedoch erzielt es dennoch eine ähnliche Wirkung bei seiner Beute. Der Wolf glaubt sogar den Geruch von vollgepissten Hosen erkennen zu können und wenn das nicht ein Zeichen von Unterwerfung ist, dann weiß Viktor auch nicht mehr weiter. Vik rüttelt an den Tischen herum, auf denen paar Schüler Zuflucht gefunden haben, nur um diejenigen weiter zu erschrecken und sich auf runterfallender Beute zu stürzen. Danach setzt er zum Sprung an, um auf dem Rücken eines Opfers zu springen, das eine Fensterflucht ausprobiert, allerdings fährt dieser nach einem Genickbiss direkt ins Nirwana. Einem Anderen frisst Viktor, bei lebendigem Leibe, das Bein auf und lässt ihn anschließend links liegen, nachdem diese Beute das Gleichgewicht verloren hat. Alle Jugendlichen, in denen noch genug Lebenssaft fließt, schreien um Hilfe und betteln um ihre wertlosen Leben. Dieser Lärm macht das Tier nur rasender, das mittlerweile sowieso nicht mehr deren Geräusche verstehen kann und es greift in blinder Wut alles an, was ihm in die Quere kommt. Letztendlich verzehrt der Wolfsmensch nicht seine gesamte Beute, da er sich endgültig abreagiert hat. Es schweift noch ein letztes Mal seinen Blick um sich. Wenige haben überlebt... der ganze Aufruhr, der blutrote, flüssige Teppich auf dem Boden, die Pein, der Schmerz, das ist allein wegen ihm entstanden und dieses Wissen fühlt sich gut an. Nun ist ihm klar, dass Vik selbst anderen denselben Schmerz hinzufügen kann, wie die Gesellschaft ihm bereitet gehabt hat, doch ist er allein dazu imstande gewesen, demnach muss er seinem Feind, die große Ordnung, überlegen sein. Jetzt ist er zufrieden, jetzt fühlt er sich wirklich wie eine Gottheit, ein Gott der Verwüstung, des Chaos, der Anarchie, obwohl Anomie eigentlich eher zutreffend ist, doch das ist für ihn nur Haarspalterei. Sein letzter Blick gilt Matthias, der fassungslos auf seinem Platz hocken geblieben ist und den Wolf anstarrt. Viktor muss verschwinden! Dank seines Verwandlungstrainings nimmt er eine Mischlingskreaturengestalt an, um Hände zu haben, die Türen öffnen können, um sein wahres, menschliches Gesicht zu verschleiern und um schnell genug zu sein, damit er entkommen kann!
Hinterm Schulgelände nimmt das Biest wieder menschliche Konturen an. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die gesamte Stadt über den Wolfsangriff in Kenntnis gesetzt wird. Er muss nun auf menschlichem Fuß bis zu seiner Wohnung latschen, denn er will Texas fürs große Finale abholen. „Eigentlich wollte ich euch nur loswerden... aber das hat mir mehr Spaß gemacht. Ansonsten hätte ich gleich mit dem nächsten Schritt fortgefahren. Bald ist es endlich vorbei! Bald bin ich frei!“, denkt Vik voller Erleichterung zu sich, während er auf der kilometerweiten Strecke zu sich nach Hause entlang läuft. Viktor kann nur erahnen, wohin er gehen muss, denn so detailgenau hat er nie die Route des Schulbusses einstudiert, der ihn normalerweise hin- und zurückbefördert. Stunden vergehen, bis er seine Wohnung erreicht hat. Dort angekommen, steigt er all die Treppenstufen zu seiner Wohnung hinauf, öffnet die Haustür, wird wärmstens von seinem Hund empfangen und schaltet seinen Computer an. Mit voller Lautstärke hört er sich seine Lieblingslieder an. Es wird das letzte Mal sein, dass er solchen Klängen lauschen kann. Es soll das letzte Mal sein, indem er hier in der Bude verweilen kann, deshalb verbringt Viktor noch bis um fünf Uhr abends seine restliche Zeit, bis er sich gemeinsam mit Texas von diesem Leben verabschieden kann.
Mit seinem treuen, haarigen Gefährten an seiner Seite und einem spanischem Schiffsfahrerkompass, den er einst aus Freds Antiquitätenladen gekauft gehabt hat und vor kurzem aus seiner Schreibtischschublade rausgekramt hat, folgt Viktor der Kompassnadel gen Richtung Norden. Dorthin sind alle Wölfe vor den Europäern und deren beschissenen Wolfsjagd geflohen und Vik will es ihnen gleichtun. Bestimmt wimmelt es dort nur so von Wäldern und freilaufendem Wild! Sein Weg führt ihn auch durch den Park, der ihn daran erinnert, dass bald der Vollmond sich blicken lassen wird und dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf allen Vieren durch die Nacht zu streifen, was eine schnellere Ankunft bedeutet, wenn Texas mithalten kann, aber warum eigentlich nicht? Mit seinem Traum vor Augen, treibt es ihn voran und Texas muss Viktor wegen der Leine sowieso folgen. Doch einige Schritte weiter, begegnet er einen dicklichen Menschen, der sich Vik in den Weg stellt. Der Typ zuckt seinen Revolver raus und fordert Viktor auf, mit ihm mitzukommen. „Matthias, was soll der Scheiß?“
„Halts Maul und kommt mit!“, flüstert er gereizt, denn er wünscht sich keine Zeugen, die den Überfall bemerken könnten. Die Drei verlassen den Weg und befinden sich mitten im Dickicht. „Sag schon, was willst du von mir?“, fragt Viktor mürrisch. „Sei still! Glaubst du für mich fällt das hier so leicht? Du hast soviel Leid unter uns gebracht und wegen dir bin ich total verwirrt!“
„Wieso das denn? Du hast doch nach dem Werwolf gesucht, nun hast du mich gefunden!“
„Verdammt noch mal!“ Das ist kein Witz! Wie ist so was nur möglich?“, fragt Matt unter großer Furcht. Viktor zieht seinen Handschuh aus und zeigt ihm seine rechte Handfläche und sagt: „Darum!“ Matthias forscht intensiv und nur mit seiner Sehkraft die verzierte Hand ab. „Das macht dich zum Monster?“, will er von Vik wissen. Viktor nickt und korrigiert ihn: „...zum Tier. Das Monster in mir ist schon viel älter als der Wolf. Ich hab die Bestie schon einige Jahre lang gezüchtet und die Dummheit, die Arroganz der Maßen haben es gefüttert.“ „Du warst schon immer seltsam, doch nie hätte ich gedacht, dass du zum Mörder wirst.“, predigt Viktors Kumpel ihm vor. Vik versucht sich Rechtzufertigen: „Ich verstehe nicht, was du daran so schlimm findest. Es ist ja nicht so, als hätte ich keine Kontrolle über mich, ansonsten hätte ich dich auch im Klassenzimmer gefressen, oder?“ Matt reißt verängstigt seine Augen auf. „Wenn jetzt der Vollmond scheint, bin ich der Nächste, den du fressen wirst!“, kreischt er panisch. Vik versucht ihn zu beruhigen: „Nein, so ist es nicht! Klar bekomm ich Hunger, aber...“ Viktor beginnt vorsichtig auf ihn zuzugehen. „Geh weg von mir!“
„Matthias, bitte hör zu!“, fleht Viktor und torkelt wieder paar Schritte zurück, dabei versucht er seinen Freund weiter zu besänftigen. „Sei doch vernünftig! Überleg doch mal in Ruhe...“
„Was soll ich in Ruhe überlegen?“, schießt es aus Matthias raus. „Wie soll ich beim Gedanken an deinen kannibalischen Fressorgien ruhig bleiben?“
„Hör zu! Ich bin kein Kannibale! Das sind nur Menschen, ich bin ein Wolf!“
„Unsinn! Du bist ein Monster, nichts weiter!“
Viktor beginnt bösartig und triumphierend zu grinsen. Aus diesem Grinsen ertönt sehr bald ein Gelächter von blutrünstiger und wahnsinniger Natur. So sehr hat ihm dieses Wort geschmeichelt... Monster. Das klingt mächtiger und besser als Unnütz, Faulpelz, Sturkopf, Versager, Freak, Grufti, Parasit oder Mensch. Vor Angst seinen Colt klammernd, versetzt Matthias einen Fuß nach hinten und zielt auf Viktors Kopf. „Ich... ich mach dich kalt!“, stammelt Matt.
Nun blickt Viktor seinen gegenüber bedrohlich in die Augen. „Willst du mich wirklich umlegen? Mich, deinen besten Freund? Deinen einzigsten Kumpel? Ich bin keins deiner Zombies aus deinem saudummen Ballerspiel, verdammt noch mal!“, erklärt Viktor und wartet vergeblichst auf Matthias nächste Reaktion ab. Deswegen redet Viktor weiter auf ihn ein: „Gut, Freundschaften scheinen dir am Arsch vorbeizugehen, doch weißt du überhaupt, welche Gelegenheit dir dabei durch die Lappen gehen würde?“ Matthias sieht ihn misstrauisch an und fragt: „Gelegenheit? Das du mich auch noch frisst, meinst du?“
„Nein, ich rede selbstverständlich von einer erfreulichen Gelegenheit!“
„Was könnte so erfreulich sein, dass mich umstimmen kann und dich am Leben lassen wird?“
Die Bosheit in Viktor lässt seine Augen auf dämonische Weise gelblich strahlen, so wie in früheren Situationen.
„Ich kann dich ebenfalls zu einem Werwolf machen. Zu meinesgleichen!“
„Lieber richt ich die Knarre auf mich!“
„Aber, aber! Nicht so voreilig. Du weißt nicht, was du verpasst! Stell dir nur vor, du bist energiegeladener, als jeder Fußballstar, kannst dich an deinen Mitschülern rächen, die dich so gedemütigt haben, hättest keine Gewichtsprobleme mehr und könntest jede Frau knallen, die dir vor deinen Lenden kommt!“
„Du bist ein abartiges Monster!“
„Ach ja? Andrea etwa auch? Sie ist auch eine von uns, wusstest du das schon? Wenn du sie wirklich liebst, solltest du auch ein Werwolf werden, was will sie schon von so einem Fettsack, einem jämmerlichem Menschen, wie dir? Sie braucht einen wilden, tierischen Stecher, keinen Versager, also werde einer von uns! Los entscheide dich!“
„Niemals!“
„Du Vollidiot! Wieso hältst du zu deinen Peinigern? Stehst du darauf, niedergemacht zu werden oder was?“
„Wir erhalten Schutz dank unseren Mitmenschen vor Kreaturen wie dich, Viktor! Sie es ein, diese Welt gehört den Menschen!“
„Die Welt gehört den Wölfen, nicht den Schafen!“
„Du spinnst komplett Vik! Dir kann wohl keiner mehr helfen!“
„Halts Maul! Es ist soweit!“, brüllt Viktor bestialisch und reißt seinen Mund soweit auf, dass seine Reißzähne zur Geltung kommen. Er krümmt sich auf den Boden, schreit dabei wie ein Besessener und Texas bellt verzweifelt sein Herrchen an. Viktor wälzt sich auf der Erde herum und krallt sich mit seinen Klauen die abgefallenen Menschenhaare fest. Daraufhin wirft er diese in die Luft, wobei sich seine Klauen in Pfoten verwandeln und während dieser wilden Rumwälzerei öffnet Viktor sein wölfisches Maul, schaut unterwürfig zum Vollmond und heult, noch immer auf den Boden liegend, das strahlende Gestirn an. Matt erschreckt sich kurz, doch dann kriegt er sich wieder in den Griff und sagt zu Viktor: „Nette Showeinlage, doch nun bist du tot!“
Matthias legt die Waffe an und bevor er den Abzug betätigen kann, springt ein Wolf auf den Rücken von Matt, dadurch verfehlt dessen Schuss Viktor und trifft Texas Kopf. Man kann den Hund noch Winseln hören, bis dieses in wenigen Millisekunden verklingt und nur noch die typisch, nächtliche Stille in der Luft liegt. Viktor sieht zuerst zu seinem toten Liebling, dann zu dem anderen Werwolf, der das menschliche Schwein zu Boden drückt und Viks Blick erwidert. Diese Augen... Viktor erkennt diese blauen Augen. Sofort stürzt er sich auf Texas, beschnüffelt seinen Leichnam, winselt und schleckt ihn ab. Schubst sein Haustier mit seiner Schnauze, als wolle Viktor ihn aufwecken, doch sein treuer Gefährt ist und bleibt tot. Viktors menschliche Augen tränen und er jault wieder zum Vollmond, um sein klagendes Geheul freizusetzen. Dann packt den Werwolf die blanke Wut und er starrt der Werwölfin in die Augen, dreht kurz seinen Kopf zur Seite und schaut sie wieder an, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie beiseite treten soll. Sie geht zu dem toten Hund und beobachtet das bevorstehende Geschehen. Kaum glaubt Matthias, sich wieder aufrecht stellen zu können, stoßt Viktor mit seinen Vorderbeinen den Menschen wieder zu Boden. Wütend grunzt das Raubtier und schaufelt mit seinen Klauen ein tiefes Loch in den Rücken von Matthias, als wäre Viktor nichts weiter als ein Hund, der nach einem vergrabenen Knochen buddelt. Hautfetzen, Blut, Fleisch- und Organstücke schwirren an den Kopf des Wolfes vorbei, der noch immer voller Trauer weint, während er dennoch zornig knurrt und schnaubt. Solange schaufelt er Matts Oberkörper auf, die Schmerzensschreie dieses elendigen Feindes ignorierend, bis Vik mit seinen Krallen an der grasigen Erde des Stadtparks angekommen ist. Voll mit roter Flüssigkeit am Fell und an der Kleidung klebend, geht Viktor noch zu der Wölfin, die er dankbar anschaut, aber die Pein in seinen Augen ist nicht zu übersehen. In den Augen der Wölfin findet Viktor nur Hass und Mitleid, der für Vik selbst gilt und sie trabt nach diesem Drama von dannen. Der Wolfsmensch will sich nicht von Texas trennen, deshalb legt er sich noch neben seinen gefallenen Freund hin, leckt soviel von dem roten Schmutz von sich selbst weg, wie es ihm nur möglich ist und verlässt dann doch seinen Freund. Einsam und verlassen läuft ein Wolf durch die dunklen Straßen, in Richtung Norden zu seinesgleichen. Alles ist ihm genommen worden, das Leben selbst ist der größte Räuber gewesen, dem Vik jemals begegnet ist und dieser Räuber hat ihn gewaltig ausgenommen. Texas, Melanie, Matthias, Andrea, alle sind sie verschwunden. Das ist der Preis, den Viktor zahlen muss, um die Schule, das Gesetz und die Zivilisation loszuwerden. Tagelang streift Vik umher, tagsüber als schmutziger Teenager, des Nachts als Werwolf begleitet von seinen Erinnerungen, seinen Gedanken und seinem Traum. Um nicht zuviel Aufsehen zu erregen, ernährt er sich nur noch von Mäusen, Ratten, Hunden und Katzen, gelegentlich auch von irgendwelchem Gewürm und Ungeziefer, doch nur in wölfischer Gestalt. Als Mensch muss er hungern, denn betteln liegt ihm nicht. Seit diesem deprimierenden Abschied von Texas hat er auch nicht mehr geschlafen, doch so schlimm ist es auch nicht für ihn, denn dadurch kommt er schneller voran. Bald ist er vollkommen frei, doch ob er jemals glücklich sein wird, dessen ist er sich selbst schon nicht mehr sicher...
„Andrea... gut für dich, dass du endlich das Tier in dir akzeptierst. Ich verdiene deine Verachtung, ja... und deshalb schätze ich es umso mehr, dass du mein Leben gerettet hast. Ich weiß nicht einmal, ob mir Matts Kugeln überhaupt hätten schaden können, ob sie uns hätten verletzen können, doch herausfinden will ich es auch nicht, aber wenn ich es damals gewusst gehabt hätte, wäre mein Texas bestimmt noch am Leben, da bin ich mir vollkommen sicher! Matthias, du fettes Schwein! Ich werde dir niemals verzeihen! Dein Tod hat mich auch nicht beruhigt, ich wünschte, ich könnte dich beliebig oft wiederbeleben und genauso häufig vernichten! Aber dann könnte ich auch gleich meinen Hund wiederbeleben... Texas, warum du? Du hast nun wirklich niemandem wehgetan, im Gegenteil! Du, mein einzigst wahrer Freund bist fort, für immer. Es wird mir schwer fallen, deinen Verlust jemals zu verkraften, doch irgendwann hätte ich dich sowieso verloren, stimmt ´s nicht? Früher sah ich keinen Sinn darin, das Leben auszukosten, wenn ich doch sowieso irgendwann draufgehen würde und jetzt werd ich in aller Ewigkeit um dich trauern. Um dich und um Melanie auch. Langsam verlier ich meine sprachlichen Fähigkeiten, das wird mir Tag für Tag immer bewusster, je mehr ich grüble, desto mehr verschwinden die Worte in meinem Kopf. Die Kommunikation ist mehr was für Menschen, ein Wolf hat nicht soviel zu melden, wenn dann nur bei anderen Wölfen und selbst dann brauchen wir nicht soviel unnötiges Geplapper, wie die Zweibeiner. Unterhaltung finden wir in der Jagd, Ansehen finden wir im Kampf und die Paarung mit Wölfen interessiert mich nicht, dafür bin ich zurzeit noch zu menschlich. Vielleicht werde ich andere meiner Gattung begegnen, was dann kommt, dass kann ich mir nur ausmalen... auf jeden Fall werde ich sie über unser Blut ausfragen, das steht fest. Wie auch immer, endlich hab ich die Wahl. Entscheidungen werden nur noch von mir allein gefällt.“
In einer Welt, in der dich alle scheitern sehen wollen, in der heuchlerische Schleimerein zum guten Ton gehören, in so einer Welt, nein in jeder Welt, gibt es nur zwei Möglichkeiten zum Überleben... entweder du machst Beute oder du wirst zur Beute. Das hat wohl eure mit meiner Welt gemein... Ordnung und Chaos, nette Lügereien und die unverschämte Wahrheit, ja man kann tatsächlich alles aus zwei Perspektiven betrachten, nennt es gut oder böse, doch warum sollte ich das tun? Nennt mich ruhig engstirnig, Menschengesindel, doch immerhin kriech ich euch nicht in den Arsch! Ich bin frei! Könnt ihr es nicht sehen? Frei! FREI!!
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2017
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