Cover

Auf Umwegen

»Jetzt lächle doch mal!« Kristin sieht mich auffordernd an.

»Ich will das nicht. Wie oft soll ich dir das noch sagen?« Demonstrativ drehe ich mich um. Gleich darauf höre ich das Klicken der Handy-Kamera.

»Dann nehme ich eben ein Bild von deinem Hintern«, erwidert sie lachend. Okay, einatmen, ausatmen, beruhigen, in mich gehen, umdrehen, lächeln und dann … meine kleine Schwester lynchen. Ja, sehr guter Plan.

Grinsend drehe ich mich um. Nur leider habe ich ihre Hinterhältigkeit nicht mit einberechnet, denn genau in diesem Moment schießt sie das nächste Foto von mir.

»Oh, das ist gut geworden. Guck mal.« Auffordernd hält sie mir mein eigenes Handy entgegen – natürlich in ausreichendem Abstand. Schließlich kennt sie ihren großen Bruder lang genug. Ich brumme nur, wenn ich im Stillen auch zugeben muss, dass das Bild tatsächlich gut geworden ist.

»So, jetzt müssen wir nur noch die Fragen beantworten.« Kristin setzt sich auf mein Sofa und tippt auf dem Bildschirm herum.

»Zum letzten Mal: Ich werde mich nicht bei so einer blöden Dating-App anmelden. Gib mir endlich mein Handy zurück.« Auffordernd strecke ich meine Hand aus.

Ungerührt tippt sie weiter und erwidert ohne aufzusehen: »Musst du auch nicht. Mach ich ja für dich.«

»Kristin, ich bin sechsunddreißig Jahre alt. Ich kann mir selbst einen Partner suchen - im realen Leben.«

Nun schaut sie doch hoch. »Aha? Und warum tust du es nicht? Seit der Sache mit Axel unternimmst du nicht einmal annähernd den Versuch.«

»Und ich lebe seitdem deutlich entspannter, weil da kein Arsch mehr ist, der einen von vorne bis hinten belügt und dazu noch ausnimmt wie eine Weihnachtsgans.« Kristin legt mein Handy zur Seite und lächelt mich mitfühlend an.

»Ich weiß. Und das war mehr als scheiße, aber mal ehrlich: Das ist über fünf Jahre her. Vermisst du es denn nicht, mal wieder mit jemand anderem Zeit zu verbringen als deiner kleinen Schwester?«

»Ich habe Freunde und Arbeitskollegen«, erwidere ich trotzig.

»Aber mit denen vögelst du nicht.« Ich schnappe nach Luft, doch Kristin lacht nur. »He, Ich sag nur, wie es ist. Du bist doch noch nicht scheintot. Und du kannst mir nicht erzählen, dass dein Schwanz in den letzten Jahren einen anderen Partner als deine eigene Hand gesehen hat.«

Sprachlos schüttle ich den Kopf. Wo zur Hölle ist das kleine Mädchen geblieben, das sich singend in seinem neuen Blümchenkleid um die eigene Achse gedreht hat? Seit wann redet sie mit mir auf diese Weise? »Ich werde nicht mit dir über mein Sexualleben reden«, erwidere ich harsch. »Und jetzt hör mit dem Quatsch auf.« Mit dem Kopf deute ich zu meinem Handy. »Bei solchen Apps melden sich doch eh nur notgeile Typen an. Da findet man doch keinen Partner.«

»Hast du Denise vergessen?« Ich verdrehe demonstrativ die Augen. Tatsächlich hat Kristins beste Freundin über genau diese App ihren Traummann kennengelernt. Vor einem halben Jahr haben sie geheiratet und das erste Kind ist ebenfalls bereits unterwegs.

»Ausnahmen bestätigen die Regel«, erkläre ich genervt. »Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sich da irgendein Schwuler in meinem Alter anmeldet, es sei denn, er ist potthässlich oder eine sonst wie gescheiterte Person.«

»Probieren geht über studieren«, trällert sie und macht ungerührt weiter. »Hobbys?«

»Kleine Schwestern erwürgen.«

Kristin grinst. »Was turnt dich an einem Partner ab?«

Ich seufze. Sie zieht das echt durch. Gut, ich gebe zu, ein klein wenig neugierig bin ich tatsächlich auch. Doch ich habe einfach Angst, dass mich dort jemand erkennt. Andererseits: Niemand, den ich kenne, würde sich bei solch einer App umgucken. »Untreue, Verlogenheit«, zähle ich auf.

»Und äußerlich?«

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Mundgeruch? Das fänd ich ziemlich abturnend. Oder allgemein ungepflegtes Auftreten.«

Kristin nickt und tippt weiter herum. »Okay, ›Suchen Sie etwas Langfristiges?‹. Ja, auf jeden Fall«, beantwortet sie die Frage selbst. Fünf Minuten später ist sie fertig. »Hier, guck. Ich war auch ganz lieb.«

Ich nehme ihr das Handy ab und schaue, was sie verbrochen hat. Okay, die Angaben stimmen und es liest sich eigentlich ganz gut. »Und jetzt?«

»Jetzt warten wir darauf, dass sich die Kerle bei dir melden.« Sie grinst mich an. »Oder wir schauen selbst mal, was der Markt so hergibt.« Bevor ich reagieren kann, hat sie erneut mein Handy an sich genommen und tippt auf dem Display herum. »Hier, guck. Das sind alles Schwule im Alter zwischen dreißig und fünfundvierzig, die ebenfalls auf der Suche nach einem festen Partner sind«, erklärt sie. Das sind ganz schön viele, du meine Güte. Ich scrolle durch die Bilder, doch bei den meisten kommt bei mir nicht der Wunsch auf, sie näher kennenzulernen.

»Boah, das sind ja alles irgendwelche Muttersöhnchen. Guck mal, der trägt offenbar den selbstgestrickten Pullover seiner Oma.« Ich zeige Kristin das Bild, was sie augenblicklich lachen lässt. »Und diese Frisur …« Ich schüttle den Kopf.

»Okay, ich gebe zu, man muss schon ein wenig aussortieren. Aber guck mal, der sieht doch ganz niedlich aus.« Sie tippt auf ein Profilbild. Tatsächlich, der könnte mir gefallen. Ich lese mir sein Profil durch und gleich darauf schließe ich es wieder.

»Äh, nein …«

»Wieso denn nicht?«

»Der steht auf Fisting-Orgien und Chemsex.«

Kristin sieht mich fragend an. »Chem-was?«

»Sex unter Drogeneinfluss«, erkläre ich und jetzt ist sie es, die nach Luft schnappt. Ein wenig naiv ist sie mit ihren dreiundzwanzig Jahren dann ja doch noch.

»Und das schreibt er so da rein?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ist doch gut, so fällt das Aussortieren leichter.« Plötzlich vibriert mein Handy und in der linken oberen Ecke des Bildschirms erscheint ein rotes Herz mit einer 1 darin. »Äh ….«

»Oh, da hat dir jemand geschrieben«, erklärt Kristin aufgeregt.

»Na, hoffentlich nicht der von eben.« Ich tippe auf das Herz und eine Nachricht öffnet sich.

›Hallo Marc! Ich habe eben dein Profil entdeckt. Du gefällst mir. Ich würde dich gerne kennenlernen und stundenlang verwöhnen.‹

»Hui«, kommt es von Kristin. »Der geht ja ran.«

Ich schaue mir das Profil an, doch dort ist nicht viel zu entdecken. Das Bild ist unscharf, sodass man ihn kaum erkennen kann. Vermutlich Absicht. Erneut vibriert mein Handy. Der Typ schickt mir gleich eine weitere Nachricht.

›Um dir die Entscheidung zu erleichtern …‹

Und dann folgt ein Bild von einem erigierten Schwanz. Kristin bricht in lautes Lachen aus.

»Und Tschüss«, kommentiere ich und lösche die Nachricht. »Hab ich’s doch geahnt. Das ist doch auch nichts anderes als diese ganzen anderen Portale.«

»He, jetzt warte doch erst mal ab«, empfiehlt Kristin.

»Worauf? Auf einen Typen mit größerem Schwanz, oder wie?«

»Boah, nein. Es gibt bestimmt auch vernünftige Kerle da.«

»Ja, ganz bestimmt.«

»Mann, sei doch nicht immer so sarkastisch. Probier’s doch wenigstens aus.«

Meine kleine Schwester weiß, wie sie mich ansehen muss. Diesen ich-koche-meinen-Bruder-schon-weich-Blick hat sie perfektioniert. Ich seufze. »Okay. Eine Woche.« Augenblicklich strahlt sie mich an. »Aber das heißt nicht, dass ich die Idee an sich gutheiße, verstanden?«

Sie nickt eifrig. »Ich will doch nur, dass du endlich wieder glücklich bist.«

Ich lege einen Arm um sie und gebe ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Danke. Das ist lieb. Nur glaube ich nicht …«

»Jetzt red es nicht gleich wieder schlecht. Denk an Denise.«

 

~*~

 

»He, nicht träumen. Die Arbeit macht sich nicht von allein!«, fährt mich mein Schichtleiter an. Ertappt zucke ich zusammen. »Du solltest früher ins Bett gehen. Deine Augenringe ziehen sich bis zu den Füßen. Das kommt bei den Schnuckis bestimmt nicht gut an.« Zustimmendes Gelächter folgt. Ich beiße die Zähne zusammen. Hendrik ist nicht wirklich homophob, eher kann man ihn als ungehobelten Trampel bezeichnen. Er haut gern seine Sprüche raus - gegen jeden, dafür steht er aber auch zur Stelle, sollte man ernsthaft angegriffen werden.

»Ach, vermutlich ist das auch nicht so tragisch«, macht er weiter. »Schließlich sehen die ihn hauptsächlich von hinten.« Wieder lachen die anderen.

Als der Typ neben mir anfängt, Fickbewegungen anzudeuten, platzt mir der Kragen. »Kann ja nicht jeder zwei Mal geschieden sein, weil er dabei erwischt wird, sich seinen Sex bei ’ner Professionellen holen zu müssen«, kontere ich und starre Hendrik an. Dem entgleisen kurz die Gesichtszüge. Mein Herz setzt aus. Shit, ich hoffe, ich habe jetzt nicht meinen Job aufs Spiel gesetzt. Zwar stehen die Bewerber nicht Schlange, um als Textilreiniger in einer Großwäscherei zu arbeiten, aber wenn Hendrik dem Chef klarmacht, dass ich mich unkollegial verhalte, kann ich einpacken. Auch die anderen Kollegen halten die Luft an. Außer dem Surren und Hämmern der Maschinen ist kein Geräusch zu hören. Bis zu dem Moment, als Hendrik mich von der Seite anschubst. Unwillkürlich ducke ich mich. Schwer schlägt seine flache Hand auf meinen Rücken, was mir ein Keuchen sowie einen überraschten Laut entlockt. Er lacht befreit. »Junge, du hast echt Eier in der Hose. Gefällt mir.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Okay, genug Ablenkung. Wir müssen fertig werden.« Sofort sind alle wieder konzentriert bei der Arbeit.

In der Mittagspause sitze ich ein wenig abseits. Ich versuche, Energie zu tanken, damit ich die nächsten Stunden überstehe und mein Soll schaffe. Denn Hendrik hat nicht unrecht. Ich habe tatsächlich kaum geschlafen in der letzten Nacht. Seit drei Tagen ist mein Profil auf dieser Dating-App online. Nach den ersten Idioten hat sich gestern jemand gemeldet, der nicht nur gut aussieht, sondern auch sonst einen vernünftigen Eindruck macht. Sönke heißt er und ist Anfang dreißig. Über seine linke Schläfe zieht sich eine auffällige Narbe. Dennoch ist er attraktiver als viele andere Männer. Seine Augen leuchten regelrecht. Die Narbe ist von einem Einsatz zurückgeblieben, denn Sönke ist Feuerwehrmann.

Gestern Abend - oder besser gesagt die halbe Nacht - haben wir gechattet. Er ist lustig und ebenso vorsichtig wie ich. Auch Sönke wurde praktisch genötigt, sich bei dieser App anzumelden, weil sein bester Kumpel ihn dazu überredet hat.

›Hey Marc! Ich hoffe, du bist heute fitter als ich. Aber ich möchte mich nicht beschweren. Mir hat es viel Spaß gemacht.‹

Grinsend lese ich die Nachricht und tippe umgehend eine Antwort ein.

›Ja, mir auch. Na ja, fit würde ich es nicht nennen, aber ich werde es überleben. Durfte mir nur schon blöde Sprüche von Kollegen anhören.‹

Schnell esse ich den Rest meines Brötchens und gerade, als ich aufstehen will, erhalte ich die nächste Nachricht.

›Willkommen im Club!‹

Ich stecke mein Handy ein und mache mich auf den Weg aus der Kantine.

»He, Marc! Warte mal!« Hendrik läuft hinter mir her. »Entschuldige«, erklärt er leise, als er bei mir ankommt. »War nicht so gemeint vorhin. Es ist nur auffällig, weil du sonst der Schnellste und Konzentrierteste von uns bist.«

»Schon okay«, erwidere ich.

»Gut. Das heißt, dass du dich nicht beim Chef über mich beschwerst?«, fragt er vorsichtig.

Fragend runzle ich die Stirn. »Ich? Nein. Wenn, dann hätten wir wohl beide Grund dazu, oder nicht?« Hendrik nickt. »Siehst du. Solange du einstecken kannst, wenn du austeilst, ist alles in Butter.«

»Klasse!« Wieder schlägt er mir auf den Rücken. Ich mache einen halben Schritt vorwärts. »Na, dann auf zum zweiten Teil der Schicht.«

Seufzend nicke ich.

 

~*~

 

Gähnend schließe ich meine Wohnungstür auf. Jetzt eine heiße Dusche und dann erst mal ein paar Stunden Schlaf. Doch bevor ich dazu komme, klingelt mein Handy. Kristin.

»Hi, großer Bruder. Na, alles klar?« Ich höre ihre Neugierde aus jeder einzelnen Silbe.

»Hm, müde«, erwidere ich. Mal sehen, wie lange sie es aushält, bis sie fragt.

»Okay …«, kommt es lang gezogen von ihr und ich muss mir heftig auf die Unterlippe beißen. »Und wie war die Arbeit so?«

»Wie immer. Dreckige Wäsche, die sortiert werden muss«, erkläre ich. Natürlich interessiert es sie überhaupt nicht.

»Ah, ja. Und was hast du noch so vor?« Ich kann mich nicht mehr beherrschen und lache los. »He, was ist denn so lustig?«

»Du«, bringe ich gerade so hervor.

»Ich? Wieso das denn?« Der pikierte Tonfall trägt nicht sonderlich zu meiner Beherrschung bei.

Ich atme mehrfach tief durch. »Kristin, wenn du etwas wissen willst, dann frag doch einfach«, erkläre ich nachsichtig.

»Manno, so offensichtlich?«

»Ja.«

»Na, gut. Also: Hat sich noch jemand gemeldet?«

»Du meinst abgesehen von den Typen, die alle meinten, mir ungefragt Bilder ihrer Genitalien schicken zu müsse?«

»Noch mehr?«, fragt sie erschrocken.

Ich seufze. »Ja, leider. Obwohl ich von dem einen echt gerne gewusst hätte, wie schmerzhaft es war, sich den Schwanz und die Eier tätowieren zu lassen.«

»Ernsthaft?«

»Oh ja. Aber um deine Frage zu beantworten: Gestern schrieb mich jemand an, der einigermaßen normal zu sein scheint.« Ein aufgeregtes Quietschen ist durch die Leitung zu hören. »He, ganz ruhig. Das muss ja noch nichts heißen, aber er macht einen netten Eindruck und auf dem Foto sieht er auch ganz schnuckelig aus.«

»Uiuiui«, kommt es von Kristin. »Wo wohnt er?«

»Laut Profil in Freiburg im Breisgau.«

»Shit, das ist ja richtig weit weg.«

Ich zucke mit den Schultern. »Vielleicht auch besser so. Nicht, dass ich mich nachher noch in etwas hineinsteigere und dann stellt es sich wieder als Flop heraus.«

»Mann, Marc! Jetzt sei doch nicht immer so pessimistisch.«

»Realistisch, meine Liebe, realistisch.«

Kristin schnaubt. »Okay, und nun?«

»Nichts. Wir schreiben uns ab und zu. Das macht Spaß. Aber ich mache mir keine allzu großen Hoffnungen.«

»Hm, okay. Und sonst niemand?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Ist vielleicht auch besser so.« Ich gähne und Kristin lacht.

»Okay, okay. Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Schlaf gut, Brüderchen.«

Ich lege auf und sehe gleich darauf, dass ich eine neue Nachricht von Sönke bekommen habe.

›Hey, ich hoffe, ich nerve nicht. Eigentlich wollte ich mich gerade hinlegen und den Schlaf von letzter Nacht nachholen, aber ich kann nicht einschlafen und du bist schuld …‹

Mein Herz hüpft. Ist ja süß.

›Ähm, sorry? ;-) Aber ich fürchte, mir wird es gleich nicht anders gehen.‹

Gebannt starre ich auf den Bildschirm. Ich sehe, dass er schreibt, doch es folgt keine Antwort. Mist, hätte ich etwas anderes schreiben sollen? Oder will er mir nur sagen, dass er keinen Kontakt mehr möchte? Als er nach weiteren zehn Minuten noch immer nicht zurückschreibt, beschließe ich, endlich unter die Dusche zu gehen. Nur geht das Grübeln natürlich weiter. Habe ich etwas Falsches geschrieben? Oder etwas nicht geschrieben?

Wieder aus dem Badezimmer getreten, sehe ich das erlösende Blinken meines Handys.

›Okay. Ich habe jetzt wirklich lange überlegt, wie ich es schreiben soll‹, steht dort, ›aber irgendwie wollen mir die passenden Worte nicht einfallen. Ich habe auch Angst, dich zu verschrecken, denn eigentlich bin ich nicht so forsch. Aber ich glaube, ich mag dich ganz gerne.‹

Ich grinse. Der ist ernsthaft niedlich.

›Ja, ich mag dich auch. Und ich verstehe, dass du vorsichtig bist. Geht mir ja nicht anders. Vielleicht sollten wir uns noch ein wenig besser kennenlernen.‹

Schnell schlüpfe ich in meinen Jogginganzug und werfe mich auf mein Bett. So viel also dazu, früh schlafen zu gehen.

 

Wieder schreiben wir die halbe Nacht. Er erzählt mir von seinem Kater »Tiger«, von dem er mir auch ein Bild geschickt hat, von seiner Mutter, die ihn manchmal zu sehr einengt, von seinen Freunden und seiner Arbeit. Auch ich gebe viel von mir preis. Neben meiner Schwester ist mein Job ein Thema, die Familie und wir erzählen einander, wie unser Coming out ablief. Während es bei mir recht unspektakulär war, weil es zumindest meine Mutter schon immer geahnt hatte und nur mein Vater daran zu knabbern hatte, wissen es in Sönkes Umfeld nur sein bester Freund und seine Tante. Vor allem seine Mutter sei wohl sehr negativ gegenüber Schwulen eingestellt, vor allem, weil sie von ihrem Sohn erwartet, die Familienlinie aufrechtzuerhalten. Da er noch bei seinen Eltern wohnt, fällt es ihm wohl schwer, im realen Leben Kontakte zu knüpfen. Trotzdem hat er wohl - soweit ich das seinen Andeutungen entnehmen kann - schon einige sexuelle Erfahrungen, allerdings bisher eher in anonymer Form. Etwas, das so gar nichts für mich wäre.

›Eigentlich bin ich da auch weniger der Typ für, aber was soll ich machen? Wahrscheinlich sollte ich einfach von hier wegziehen und mir jemanden suchen, um mit ihm glücklich zu sein.‹

Grinsend tippe ich und sende meine Antwort ab, bevor ich darüber nachdenke.

›Berlin ist eine schöne Stadt …‹

Minutenlang passiert nichts. Mist, ich bin über mein Ziel hinausgeschossen. Doch dann blinkt das bekannte Herz auf.

›Aber nur, solange du da bist.‹

Wow! Puh, was soll ich denn darauf jetzt schreiben? Das ist ja irgendwie süß, aber mir fast schon zu vertraut. Ich hasse meine Unsicherheit.

›Aha. Danke.‹

Im nächsten Moment klatsche ich mir die Hand vor die Stirn.

 

~*~

 

»Danke?«, fragt Kristin ungläubig. »Das ist alles, was du darauf geantwortet hast?«

»Ja, verdammt! Ich war so perplex, dass mir nichts anderes einfiel«, gebe ich zerknirscht zu.

»Und seitdem?«

»Nichts«, nuschle ich. »Ich hatte die Stimmung versaut. Ich hab zwar noch versucht, es zu retten, aber vermutlich habe ich es nur schlimmer gemacht. Zumindest hat er sich ganz schnell verabschiedet und sich seitdem nicht mehr gemeldet.«

Sie legt einen Arm um meine Schultern und zieht mich zu sich heran. »Wann war das? Vorgestern?« Ich nicke. »Okay. Dann lass uns überlegen, wie man das jetzt wieder geradebiegen kann.«

Ich brumme. »Er hat kein Interesse mehr. Das ist doch wohl offensichtlich.« Doch Kristin tippt schon munter drauflos. Kurz darauf hält sie mir mein Handy entgegen.

›He, Sönke. Entschuldige, dass ich so komisch reagiert habe. Ich war nur überrascht. Ich hoffe, meine Unsicherheit hat jetzt nicht alles kaputt gemacht.‹

Ich schüttle den Kopf, doch dann sehe ich, dass sie die Nachricht bereits abgeschickt hat. Stöhnend schließe ich die Augen und lege den Kopf in den Nacken. »Das ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten.«

Das Handy vibriert. Kristin ist schneller und liest seine Antwort. Ihr Grinsen verheißt hoffentlich etwas Gutes. »Oh, wie süß!«

Ich nehme ihr mein Handy ab und lese selbst.

›Hallo Marc! Vielen Dank für deine Nachricht. Ich dachte schon, ich hätte dich verschreckt. Denn eigentlich bin ich nicht so direkt. Die letzten zwei Nächte waren schlaflos, aber der unangenehmen Art. Ich hoffe, künftig werde ich die Tage wieder aus positiven Gründen übermüdet beginnen.‹

Ein schmachtendes »Ooohhh!« von meiner Schwester lässt mich zusammenzucken.

»Was denn?«, frage ich genervt.

»Du siehst richtig glücklich aus«, findet sie. »Steht dir gut.«

»Steiger dich da bloß nicht rein.«

Sie lacht. »Redest du mit mir oder dir?«

Da sie nicht unrecht hat, strecke ich ihr die Zunge raus. Sie zwinkert mir zu. Ratlos starre ich das Display an.

»Soll ich dir helfen?« Ich schüttle den Kopf. Schließlich werde ich es doch wohl noch selbst schaffen, mit einem zugegeben netten Typen zu chatten.

»Ihr solltet den nächsten Schritt gehen«, findet meine Schwester.

»Was meinst du? Sollen wir uns zum Vö… also ähm …?«

Wieder lacht sie. »Das wäre dann vielleicht tatsächlich vorschnell. Wie wäre es mal mit telefonieren? Und einem unverbindlichen Treffen? Offensichtlich besteht ja von beiden Seiten Interesse.« Ich schlucke, schaue ein paarmal zwischen meiner Schwester und meinem Handy hin und her. »Oder irre ich mich?«

»Na ja …«, versuche ich auszuweichen.

»Na, komm. Du würdest ihn schon gerne richtig kennenlernen, oder?«

Mit aufeinandergepressten Lippen nicke ich. »Irgendwie schon, ja.«

»Dann schreib ihm das doch.«

»Bist du verrückt? Was macht das denn für einen Eindruck?«

»Marc, das ist eine Dating-App, kein Bibelkreis. Wer sich dort anmeldet, tut das, um jemanden näher kennenzulernen. Das ist doch ganz normal«, belehrt sie mich in hörbar genervtem Tonfall.

»Aber ich kann doch nicht einfach …«

Im nächsten Moment schnappt sich Kristin mein Handy. Ich sollte wirklich lernen, in ihrer Gegenwart aufmerksamer zu sein. »He, untersteh dich.« Doch natürlich lässt sie sich nicht beeindrucken und gleich darauf ertönt auch schon das Geräusch einer eingehenden Nachricht.

Doch dieses Mal bin ich schneller. Zuerst lese ich, was Kristin geschrieben hat.

›Du hast mir die letzten zwei Tage richtig gefehlt. Ich würde dich gerne persönlich kennenlernen.‹

Dieses kleine Biest! Okay, aber bei seiner Antwort kann ich nicht mehr böse sein.

›Mir geht es nicht anders. Schade nur, dass wir so weit auseinanderwohnen.‹

»Scheiße«, flüstere ich und starre meine Schwester ungläubig an. Sie liest Sönkes Antwort und grinst.

»Na, was hab ich gesagt?«

»Ja, aber ihm ist die Entfernung zu weit.« Kristin sieht mich an und ich erkenne, dass sie einen Plan ausheckt. »Was?«, frage ich argwöhnisch.

»Einen Moment. Ich muss mal eben etwas recherchieren.«

Sie schnappt sich meinen Laptop und beginnt darauf herumzutippen.

»Hm, okay. Das könnte gehen.« Sie tippt noch weiter und schließlich dreht sie den Laptop so, dass ich den Bildschirm ebenfalls sehen kann. »Guck mal, wenn man mit dem Auto fahren würde …«

»Ich habe aber kein Auto«, werfe ich ein.

Meine Schwester wirft mir einen strengen Blick zu. »Ich sagte, wenn man mit dem Auto fahren würde, wären es gut siebeneinhalb Stunden Fahrt. Das ist echt viel, zumal da weder der Berliner Stadtverkehr noch Staus eingerechnet sind. Mit dem Zug sind es immer noch sechseinhalb Stunden in eine Richtung. Auch etwas viel für einen, wenn man vielleicht nach fünf Minuten merkt, dass man sich doch nicht leiden kann. Also gibt es nur eine Lösung.«

»Kein Treffen«, erwidere ich.

»Boah, nein. Ihr trefft euch in der Mitte. Also so ungefähr. Ich hab eben mal geguckt. Fulda wäre gut. Da seid ihr beide etwas über drei Stunden unterwegs. Natürlich immer noch lang, aber besser als fast sieben.«

»Aber Fulda? Was sollen wir denn da? Ich kenn da gar nichts.«

»Und? Ihr sollt ja auch euch kennenlernen. Geht euch die Stadt ansehen oder so.«

Ungläubig schüttle ich den Kopf. »Aha. Und abends fahren wir wieder nach Hause? Ist doch ziemlich bekloppt.«

»Meine Güte. Ihr könnt doch auch einfach ein Hotelzimmer in der Nähe nehmen.« Sie hebt die Hand, bevor ich meinen Einwand aussprechen kann. »Oder auch zwei. Guck mal, hier ist ein günstiges ganz in der Nähe vom Bahnhof.«

Mein Herz rast aufgeregt. Ich war nie der Typ für solche Aktionen, aber es klingt irgendwie aufregend. »Meinst du, Sönke würde da mitmachen? Das ist doch ziemlich verrückt.«

»Frag ihn«, erwidert sie schulterzuckend und gleich darauf hat sie wieder einmal mein Handy in der Hand. Ich sollte mir eine neue Bildschirmsperre überlegen.

 

~*~

 

›Ich freu mich schon so.‹

Mit zittrigen Fingern drücke ich auf »Senden«. Vor zehn Minuten bin ich in den ICE nach Fulda eingestiegen. Auch Sönke ist bereits unterwegs. Ich werde etwa eine viertel Stunde vor ihm ankommen. Kristin konnte sich ihr wissendes Grinsen nicht verkneifen, denn natürlich musste ich ihr recht geben. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich in etwa drei Stunden diesem tollen Mann gegenüberstehen werde, kann ich es verkraften.

Ich kann noch gar nicht glauben, dass es erst gut zwei Wochen her ist, dass wir uns kennengelernt haben. Früher habe ich jeden nur milde belächelt, der behauptet hat, sich in jemanden aus dem Internet verliebt zu haben, erst recht, wenn es sich dabei um oberflächliche Dating-Seiten handelte. Aber ich muss zugeben, dass man sich vielleicht doch nicht immer von technischen Neuerungen abschrecken lassen sollte. Auch wenn nicht die große Liebe aus uns wird, so etwas wie eine Freundschaft hat sich auf jeden Fall mittlerweile entwickelt.

Außerdem hat er eine total tolle Stimme. Vor drei Tagen haben wir zum ersten Mal telefoniert. So nervös war ich das letzte Mal vor meinem ersten Vorstellungsgespräch. Doch nachdem wir merkten, dass es uns beiden ähnlich geht, verflog die Angst, etwas Dämliches zu sagen. Die Gespräche waren zwar immer kurz, weil er aufpassen musste, dass ihn seine Mutter nicht erwischt, aber verliefen doch schon recht heiß. Jetzt will ich auch endlich den Mann zu dieser Stimme kennenlernen.

 

Die gesamte Fahrzeit kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Die Frau neben mir mustert mich immer wieder argwöhnisch, weil ich ständig auf mein Handy starre und unruhig hin- und herrutsche.

Eine Stunde vor Fulda antwortet Sönke endlich:

›Bis gleich.‹

Okay, nicht sonderlich emotional, aber ich weiß ja auch nicht, ob er ungestört schreiben kann oder ihm jemand dabei zusieht.

Beim Halt in Kassel ist es noch eine halbe Stunde bis Fulda. Ich bin versucht, bereits jetzt aufzuspringen und mich an die Tür zu stellen, als ginge es dadurch schneller. Krampfhaft reiße ich mich zusammen, doch zehn Minuten vor Ankunft ist auch meine restliche Beherrschung aufgebraucht.

Die Frau neben mir schüttelt missbilligend den Kopf und schnalzt tadelnd mit der Zunge. Doch schließlich lässt sie mich durch, da sie wohl einsieht, dadurch endlich ihre Ruhe zu bekommen. Hektisch wickle ich mir den Schal um den Hals und ziehe meine dicke Winterjacke an. In der zweiten Novemberhälfte ist es draußen mittlerweile mehr als unangenehm kalt. Ich hole meine Tasche aus dem Ablagefach und wünsche meiner Sitznachbarin noch eine schöne Weiterfahrt, was sie kurz lächeln lässt.

Von einem Bein auf das andere hibbelnd stehe ich an der Tür und stelle mir im Geiste vor, wie wir in den Bahnhof einfahren. Immer wieder habe ich das Gefühl, in der Ferne bereits das Gebäude zu sehen. Doch es dauert ewig. Als endlich die Ansage für Fulda erfolgt, beginne ich zu schwitzen. Mein Mund trocknet aus und mein Herz kann sich nicht entscheiden, ob es rasen oder den Dienst quittieren soll.

Noch während wir einrollen, drücke ich hektisch auf den Knopf für die Türöffnung. Mir ist bewusst, dass dies rein gar nichts bringt, dennoch brauche ich das Gefühl, den Vorgang beschleunigen zu können.

Endlich, die Tür öffnet sich und ich hechte die drei Stufen hinunter. Hastig schaue ich mich um. Ich bin auf Gleis 4, Sönke wird auf Gleis 7 ankommen. Nach kurzer Orientierung erkenne ich, dass ich nur einen Bahnsteig weiter muss. Merkwürdige Anordnung, aber mir soll es egal sein.

Als müsste ich einen Anschluss erreichen, hetze ich die Stufen herunter und gleich darauf wieder hoch. Die Anzeige verrät mir, dass es noch 12 Minuten bis zu seiner Ankunft sind. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir gar kein Erkennungsmerkmal ausgemacht haben. Nun, ich sehe meinem Profilbild sehr ähnlich und bei ihm gehe ich auch einfach davon aus. Dennoch suche ich mir einen strategisch hoffentlich sinnvollen Platz.

›Huhu! Ich stehe im Bereich D in der Nähe vom Mülleimer ;-)‹, schreibe ich ihm, damit es gleich schneller geht.

Wieder scheint sich die Zeit als mein stetig wachsender Feind zu entwickeln. Beinahe glaube ich, die große Bahnhofsuhr laufe rückwärts. Der Typ, der offensichtlich auf der Suche nach Pfandflaschen ist, beäugt mich misstrauisch, während er den Mülleimer inspiziert. Ich lächle ihm zu, was ihn schnell das Weite suchen lässt.

 

Endlich wird Sönkes Zug angekündigt und ich kann ihn schon in der Ferne erkennen. Langsam fährt er ein. Zu langsam für meinen Geschmack. Aufgeregt schaue ich in jedes einzelne Gesicht, das in der Nähe aussteigt oder in Sichtweite herumläuft. Doch von Sönke keine Spur. Aber noch immer befinden sich Menschen auf dem Bahnsteig. Vielleicht war er auch nur am anderen Ende oder er will mich überraschen. Grinsend drehe ich mich um. Bestimmt schleicht er sich gerade an mich heran.

Fünf Minuten später muss ich einsehen, dass hier niemand herumschleicht - von dem Pfandsammler mal abgesehen. Mit einem Mal wird mir die eisige Kälte auf diesem zugigen Bahnhof nur zu bewusst. Offenbar hat er meine Nachricht entweder nicht gelesen oder wir haben uns dennoch verpasst.

Ich hole mein Handy hervor und schaue nach. Doch, er hat die Nachricht gelesen. Merkwürdig.

›He, bist du an mir vorbeigelaufen? Wo bist du denn jetzt?‹

Gebannt starre ich auf mein Handy. Es dauert nicht mal eine Minute, da sehe ich, dass er meine Nachricht liest. Okay, dann wird er mir ja gleich schreiben, wo er ist. Kurz wird mein Bildschirm schwarz, als die Displaysperre greift. Fluchend entsperre ich es und schaue ungläubig auf einen grauen Bildschirm. Was ist das denn?

›Dieses Profil ist nicht (mehr) verfügbar‹, prangt mir entgegen.

»Wie bitte?«

Mein Herz rast erneut, dieses Mal aber nicht auf gute Weise. Mir wird kotzübel und gleichzeitig bildet sich ein riesiger Kloß in meinem Hals. Das kann nicht wahr sein. Bestimmt nur eine Fehlfunktion. Ich beende die App und starte sie neu, doch Sönkes Profil ist nicht mehr da. Unsere Nachrichten kann ich zwar aufrufen, doch das andere Profil wird lediglich als gelöschter User angezeigt.

Ich glaub das nicht. Das ist bestimmt ein Versehen, ein technischer Fehler oder er hat sich blöd angestellt. Gut, dass ich noch seine Handynummer habe. Schnell suche ich sie heraus und drücke gleich darauf den grünen Hörer. Ich beginne zu zittern, schaue mich immer wieder um. Ist das ein perfider Scherz von ihm?

Doch es passiert nichts. Es klingelt, aber niemand geht ran. Nicht einmal die Mailbox. Dann versuche ich es eben über eine Kurznachricht. Doch beim Aufrufen der App stelle ich sofort fest, dass kein Profilbild von ihm mehr erscheint. Erst letztens erklärte mir Kristin, dass man weder Bild noch Status sehen kann, wenn man blockiert wurde und dass Nachrichten nicht mehr ankommen. Soll das heißen, er hat mich blockiert? Aber weswegen? Hat er mich gesehen und für so schrecklich befunden, dass er lieber jeglichen Kontakt abbricht? Aber erst gestern meinte er doch noch, dass er nicht viel auf Äußerlichkeiten gibt, zumal er selbst nicht dem Schönheitsideal entspricht.

Nein, das alles muss einfach ein Missverständnis sein. Vielleicht hat er auch nur den Zug verpasst und kommt mit dem nächsten?

 

~*~

 

Sönke sitzt nicht im nächsten Zug. Auch nicht im übernächsten, ebenso wenig in dem danach und … ja, man kann es sich wohl denken.

Vollkommen durchgefroren stelle ich mich unter die Hoteldusche. Erst jetzt realisiere ich, was das bedeutet: Ich wurde verarscht, aber so richtig. Wahrscheinlich fand er es lustig, jemandem Gefühle vorzugaukeln. Wie kann man nur so perfide sein? Mit der flachen Hand schlage ich gegen die Fliesen der Duschkabine. Das viel zu leise Klatschen macht mich nur noch aggressiver. Wie kann gerade ich so leichtgläubig gewesen sein? Ich, der von allen immer nur »der Skeptiker« genannt wird. Vermutlich war die Hoffnung, doch endlich auf jemanden zu treffen, der es ebenso ehrlich meint, zu groß.

Ich lasse den Kopf hängen, wortwörtlich. Das Wasser prasselt auf meinen Nacken. Ich will mir nicht vorstellen, wie Sönke jetzt lachend bei sich zu Hause sitzt, vielleicht noch mit Freunden zusammen, und sich über die leichtgläubige Schwuchtel lustig macht. Aber meine Energie, mich gegen diese imaginären Bilder zu wehren, verringert sich mit jeder Minute.

Ich bin kurz davor, an der Wand entlang nach unten zu rutschen und mich zusammenzukauern. Doch stattdessen atme ich tief durch. Nein, dieser Idiot wird mich nicht fertigmachen. Ich werde mich jetzt anziehen und schauen, wann der nächste Zug zurück nach Berlin fährt.

Vorhin wollte ich an der Rezeption nachfragen, ob Sönke sein Zimmer eventuell storniert hat, doch in dem Moment fiel mir ein, dass ich nicht einmal seinen Nachnamen kenne. War ich wirklich so naiv? Im Grunde kann ich vermutlich sogar froh sein, dass er einfach nur nicht aufgetaucht ist. Schließlich hätte er auch ein homophober Arsch sein können, der … nein, ich will darüber nicht weiter nachdenken.

Schnell trockne ich mich ab und schnappe mir mein Handy. In etwa einer halben Stunde fährt ein Zug nach Berlin. Den werde ich nehmen.

Die Dame an der Rezeption sieht mich skeptisch an, als ich wieder auschecken will.

»Stimmt etwas mit dem Zimmer nicht?«, fragt sie vorsichtig.

»Doch, alles in Ordnung. Ich … habe nur einen Anruf bekommen. Ein familiärer Notfall«, bringe ich die Notlüge hervor. »Leider. Ich bezahle Ihnen aber beide Übernachtungen.«

Sie sieht mich mitleidig an und mir tut es beinahe leid. Dann tippt sie im Computer herum. »Hm, nein, es reicht, wenn Sie den heutigen Tag bezahlen.«

Ich schlucke. Mist, ich hasse so etwas. »Okay. Danke«, bringe ich krächzend hervor. »Ich hab auch außer der Dusche eigentlich nichts benutzt.« Natürlich weiß ich, dass das keinen Unterschied macht, aber ich habe das Bedürfnis, denen nicht noch zusätzlich Arbeit machen zu müssen. Reicht ja, dass ich ein leichtgläubiger Idiot bin.

Die Bezahlung ist schnell erledigt und kurz darauf befinde ich mich wieder auf dem Heimweg.

 

Um etwa halb elf abends schließe ich die Tür zu meiner Wohnung auf, die mir mit einem Mal seltsam klein vorkommt. Es fühlt sich falsch an, jetzt hier zu sein. Noch bevor ich meine Jacke ausziehe, beschließe ich, den Abend nicht Trübsal blasend auf der Couch zu verbringen. Stattdessen stelle ich lediglich meine Tasche ab und mache mich auf den Weg in die Kneipe an der Ecke. Vielleicht auch nicht viel besser, aber immerhin kann ich mir einreden, unter Leuten zu sein.

Beim Öffnen der Tür kommt mir die unvergleichliche Mischung aus Rauch, Wärme, Alkoholdunst und dem Geruch von verschwitzten Kerlen entgegen; und zwar von solchen, die schon ein paar Tage länger ihren Körper vor reinigendem Wasser geschützt haben. Egal, ein oder zwei Bier lang werd ich das schon aushalten.

Der Raum ist voll und der Geräuschpegel dementsprechend hoch. Lediglich ein Hocker an der Bar ist frei, den ich sogleich besetze. Der Barkeeper sieht mich fragend an.

»Ein Bier, bitte.« Verwundert zieht er eine Augenbraue hoch und grinst. Was hat der denn? Kopfschüttelnd sehe ich ihm hinterher, als mich jemand von der Seite anspricht. »Diese Höflichkeit ist er offenbar nicht gewohnt.«

»Hendrik?«, frage ich dümmlich.

»Hey.« Er grinst mich schief an und deutet zu dem Hocker neben mir, der gerade frei wird. »Darf ich?«

Ich zucke mit den Schultern. »Klar.«

»Scheiß Tag?«, fragt er.

Der Barkeeper stellt mir das frisch gezapfte Bier vor die Nase. »Wohl bekomm’s.«

»Danke.«

Hendrik lacht leise.

»Ja«, antworte ich verspätet und trinke das halbe Bier auf einmal.

»Hm, also sind Männer wirklich Schweine, was?«, fragt er. Sein Grinsen erreicht seine Augen nicht.

»Vermutlich nicht anders als Frauen.«

Hendrik seufzt. »Wem sagst du das?« Er hebt sein Glas in einer prostenden Geste, leert es und bedeutet dem Barkeeper, dass er ein neues bestellt. »Ich wollte mich noch mal wegen neulich entschuldigen.«

»Hm?«, mache ich.

»Der Spruch von mir war nicht in Ordnung.«

Ich winke ab. »Passt schon. Mein Konter war schließlich auch unter der Gürtellinie.«

Hendrik nickt. »Bist anständig.«

Ja, vermutlich zu anständig.

 

Zwei weitere Bier finden den Weg in mein Inneres. Hendrik und ich sitzen schweigend nebeneinander. Schließlich lege ich das Geld für mein Bier auf den Tresen und klopfe Hendrik auf die Schulter. »Ich werd dann mal. Wir sehen uns Montag.«

Er nickt. »Ja, ich sollte auch langsam mal los. Der Herr kann sonst reichlich missgelaunt werden.«

»Der Herr?«, rutscht es mir überrascht heraus.

Hendrik sieht mich an und lacht laut los. »Ja, mein Kater. Keine Angst, auch wenn ich von Frauen vorerst die Schnauze voll hab, werd ich nicht die Lager wechseln. Dein Arsch ist also vor mir sicher.«

»Blödmann«, murmle ich und verabschiede mich mit einem Nicken.

 

~*~

 

»Wie, der ist nicht aufgetaucht?« Meine Schwester sieht mich an, als hätte ich ihr soeben erzählt, dass nebenan der Weihnachtsmann eingezogen ist. »Aber ihr hattet doch so viel geschrieben und telefoniert und …«

»Und ganz offenbar hat er mich nur verarscht.«

»Das kann ich gar nicht glauben. Ich meine, was hat er denn davon?«

»Was weiß ich?« Ich zucke mit den Schultern. »Ich hab mich ganz klar blenden lassen. Man liest doch ständig, dass es Leute gibt, die einen abzocken wollen, oder es sind irgendwelche Lebensversager.«

Kristin sieht mich mit aufgerissenen Augen an.

»Was?«, frage ich.

»Mir fällt grad ein, dass Denise auch meinte, dass es da ziemlich viele schwarze Schafe gibt.« Na, das fällt ihr ja früh ein. »Welche, die nur eine Affäre suchen, so schmierige, alte Säcke. Oder Jugendliche, die sich einen Spaß draus machen, andere zu verarschen oder es sind welche, die nur geil sind auf kostenlosen Telefonsex.«

Ich spüre, wie ich rot anlaufe.

Kristin klappt den Mund auf. »Ihr hattet Telefonsex?«, fragt sie ungläubig.

»Nein«, erwidere ich hastig. »Also nicht richtig. Aber es ging schon ans Eingemachte«, gestehe ich leise und setze mich neben Kristin aufs Sofa. »Shit.«

»Scheiße«, flüstert sie und zieht mich fest in eine Umarmung.

»He, lass mich leben.« Doch sie verringert die Umklammerung nicht.

»Und du hast keine Chance, mit ihm Kontakt aufzunehmen? Vielleicht war es ja doch nur ein Missverständnis oder ihm ist was zugestoßen oder so.«

»Klar, und deswegen löscht er sein Profil und blockiert meine Nummer.« Ich befreie mich aus der Umklammerung und schüttle den Kopf. »Nein, ich werde es wohl akzeptieren müssen, dass ich auf einen Blender hereingefallen bin.«

Kristin seufzt. »Aber warum hast du denn nicht Bescheid gesagt? Also schon gestern?«

»Weil ich erst mal für mich sein wollte. Ich musste das verarbeiten.«

»Okay, aber du nutzt das jetzt nicht als Ausrede, um dich vor Samstag zu drücken!«, entgegnet sie im Befehlston. »Mama und Papa wären tödlich beleidigt, wenn du nicht dabei bist. Von Oma ganz zu schweigen.«

Seufzend nicke ich. »Natürlich.« Unser alljährlicher Gang zum Weihnachtsmarkt; eine liebgewonnene Tradition. Wir schlendern über den Platz, schauen die einzelnen Buden an und stehen in der Eiseskälte herum, um überteuerten Glühwein zu trinken. Grinsend sehe ich meine Schwester an. »Das Zeug wird auch immer süßer und an Alkohol wird auch jedes Jahr mehr gespart«, imitiere ich unsere Großmutter, was Kristin lachen lässt.

»Damals, zu D-Mark-Zeiten, hat man für zwei Mark einen viel besseren Glühwein bekommen und die Tasse dazu«, fährt meine Schwester fort. Wir wechseln noch weitere Zitate, bis wir vor Lachen nicht mehr reden können. Kristin wischt sich Tränen aus dem Gesicht und lächelt mich an. »Schön, dass du noch lachen kannst.«

»Bleibt mir ja nichts anderes übrig.« Sie mustert mich argwöhnisch. Sie kennt mich zu gut und weiß, dass ich meine verletzten Gefühle überspiele. Dennoch will ich mich einfach nicht mehr herunterziehen lassen. Dann hätte Sönke gewonnen und das gestehe ich ihm nicht zu.

 

~*~

 

»Also, ich weiß ja nicht …« Oma sieht sich prüfend um. »Die sehen mir alle nach nichts aus. Lasst uns mal da hinten schauen. Da ist auch noch ein Glühweinstand.«

Kristin hakt sich vergnügt bei Oma unter, während wir anderen hinterhertrotten. »Wenn ihr der Stand auch nicht zusagt, werde ich …«, beginnt mein Vater, doch meine Mutter tätschelt ihm den Arm.

»Jetzt beruhig dich doch. Eigentlich ist es doch ganz nett, dass die Familie mal wieder zusammen ist.« Mein Vater brummt und ich verkneife mir ein Grinsen.

Wir kommen an besagtem Stand an. Eine Frau mittleren Alters verteilt fröhlich lächelnd die gefüllten Tassen. Neben ihr steht ein Mann mit dem Rücken zu uns, der eine Nikolausmütze trägt. Aber keine normale rot-weiße Mütze, sondern in Regenbogenfarben gehalten. Meine Oma ist sofort Feuer und Flamme. Seit meinem Outing damals will sie mich ständig unterstützen und mir zur Seite stehen. Jedem, der es hören will oder nicht, erzählt sie, wie stolz sie auf ihren schwulen Enkel ist. Sie hat Topflappen mit Regenbogenmuster gehäkelt und auch sonst sieht ihre Wohnung aus wie ein Geschäft für CSD-Artikel.

»Marc?«, ruft sie mich, sobald sie die Mütze entdeckt hat. »Warum holst du uns nicht ein paar Glühwein?«

Ich verdrehe die Augen und jetzt sehe ich meinen Vater grinsen. »Wie soll ich denn fünf Tassen auf einmal tragen?«, versuche ich mich rauszureden.

»Ich helfe dir.« Meine hinterhältige Schwester zerrt bereits an meinem Arm.

»Na, los. Wir halten hier vorne den Tisch frei.« Mein Vater deutet auf den Stehtisch in seiner direkten Nähe. Ich strecke ihm die Zunge raus, was ihn nur noch breiter grinsen lässt.

Wir müssen ein wenig warten, bis wir endlich die Bestellung abgeben können. Der Typ mit der Regenbogenmütze bewegt sich gezielt und schnell hin und her. Von hinten sieht der recht ansehnlich aus, zumindest soweit man das aus diesem Blickwinkel beurteilen kann.

»Hui …«, kommt es von meiner Schwester und im nächsten Moment schubst sie mich von der Seite an.

»Na, ihr zwei Hübschen?«, spricht uns die Verkäuferin an. »Was möchtet ihr?«

»Fünf Glühwein, bitte. Mit Schuss«, bestellt Kristin. Als die Frau sich umdreht und die Bestellung an den Kerl weitergibt, flüstert mir Kristin zu: »Und die Nummer von dem sexy Gehilfen.«

Dafür erntet sie von mir einen sanften Klaps auf den Hinterkopf. Die Dame kassiert ab und erklärt uns: »Der Glühwein kommt sofort.«

Gleich darauf dreht der Typ sich um und lächelt uns an. Kristin keucht und ich reiße die Augen auf. »Das ist jetzt nicht wahr«, bringe ich gerade so hervor. »Das …« Kopfschüttelnd trete ich zwei Schritte zurück und renne dadurch in eine andere Gruppe hinein.

»He, pass doch auf!«

»Hast wohl schon zu viel getrunken, was?«

Noch immer starre ich Sönke an, während ich rückwärts laufe. Sein Lächeln ist erstarrt. Er ist es. Diese Narbe ist unverkennbar. Außerdem habe ich sein Bild so oft angestarrt, dass ich ihn immer wieder erkennen würde. Kristin schaut hektisch zwischen uns hin und her. »He, Marc! Warte!«

In dem Moment wird mir bewusst, was hier gerade passiert. Ich drehe mich um und renne los. Weg hier. Doch ich komme nicht weit, denn als ich um die Ecke laufe, rutsche ich auf dem gefrorenen Boden aus und lege mich lang.

»Ah, verdammt!«

Benommen stemme ich mich hoch, knie mich hin und wische mir über den feuchten Mund. Ich blute. Na, ganz toll. Gleich darauf ist mein Vater neben mir. Ebenso wie meine Schwester und … Sönke.

»Verpiss dich!«, spucke ich ihm regelrecht entgegen.

»Ich bin Sanitäter«, kommt es trocken von ihm und schon packt er mein Kinn und dreht meinen Kopf hin und her.

»Ich dachte, du bist Feuerwehrmann«, bringe ich hervor.

»Wie kommst du denn darauf?« Fragend sieht er mich an und in natura sind seine Augen noch viel schöner als auf dem Bild. Aber klar, warum sollte er bei seinem Beruf nicht auch gelogen haben?

»Ist dir schwindelig?«, fragt er, ohne auf eine Antwort zu warten. »Oder übel?«

»Wenn, dann nur, weil ich dich sehen muss.«

Abrupt lässt er mich los. »Hast du was gegen Schwule?«, fragt er lauernd.

»Im Gegenteil«, erwidere ich.

Sönke verschränkt die Arme. »Aha. Dann bist du also einfach nur ein eingebildeter oberflächlicher Arsch, ja?«

Bevor ich antworten kann, steht plötzlich Oma neben Sönke. »Junger Mann. Wie reden Sie denn bitte schön mit meinem Enkel? Ich kann Ihnen versichern, Marc ist niemand, der nach Äußerlichkeiten urteilt.«

»Weshalb ist er dann so vor mir weggerannt?«

Oma lächelt mit einem Mal schelmisch und ich verdrehe die Augen. Bitte nicht.

»Vielleicht war er von Ihrem strahlenden Lächeln geblendet.«

Sönke lächelt nun ebenfalls und dreht sich dann wieder zu mir. »Du scheinst dir beim Sturz auf die Lippe gebissen zu haben«, erklärt er sachlich. »Und deine Wange schwillt an. Das solltest du schnell kühlen. Komm mit zum Wagen, ich geb dir ein Kühlpad.«

Ich schüttle heftig den Kopf, was zum einen ein unangenehmes Dröhnen verursacht und zum anderen von allen Anwesenden vollkommen ignoriert wird. Mein Vater und Sönke helfen mir hoch und lassen mir keine Wahl.

 

Hinter dem Glühweinstand werde ich auf einen Klappstuhl gedrückt. Kristin steht neben mir, während der Rest der Familie mehr oder weniger unauffällig an einem Tisch in einiger Entfernung wartet.

»Bin gleich wieder da.« Mein Versuch aufzustehen, wird sofort von meiner Schwester unterbunden.

»Das ist doch die Gelegenheit«, findet sie. War ja klar. »Frag ihn, warum er den Kontakt abgebrochen hat.«

»Das ist mir scheißegal«, zische ich.

»Mann, jetzt sei doch nicht so verbohrt.« Sie schaut kurz zu Sönke, der gerade ein Handtuch um ein Kühlpad wickelt. »Er ist doch echt süß.«

»Und er ist ein Arschloch.«

Kaum ist Sönke zurück, geht Kristin zu den anderen. Verräterin. Mein Versuch, sie mit Blicken zu töten, amüsiert sie, ihrem Grinsen nach zu urteilen.

Sönke hockt sich vor mich und lächelt. »Vorsicht.« Er tupft mit einem Tuch meine Lippe ab und ich zucke zusammen. »Okay, hat schon aufgehört zu bluten«, erklärt er und hebt das eingewickelte Kühlpad hoch. »Wird jetzt kalt«, warnt er und gleich darauf drückt er behutsam das Pad gegen mein Gesicht.

»Was soll der Scheiß?«, frage ich gereizt.

»Was meinst du? Ich helfe dir, das ist alles. Auch wenn du mich aus unerfindlichen Gründen nicht zu mögen scheinst.«

»Aus unerfindlichen Gründen?« Meine Stimme ist viel zu hoch und viel zu laut. Meine Oma sieht tadelnd zu mir.

»Was zur Hölle hab ich dir getan?«

»Was du mir … Das fragst du jetzt nicht ernsthaft?«

»Äh … doch?«

Ich entreiße ihm das Kühlpad. Gleich darauf springe ich auf. Etwas, das meinem Kopf alles andere als guttut, aber ich ignoriere den Schmerz. »Du hast mich verarscht! Du hast mit mir geflirtet und mir einen Scheiß vorgelogen, damit ich mich in dich verliebe und dann … hat es Spaß gemacht, mich da bei Eiseskälte in Fulda rumstehen zu lassen? Ich hatte ernsthaft Angst, dass dir etwas passiert ist!« Unkontrolliert fuchtle ich in der Luft herum.

»Fulda? Wovon redest du? Ich war noch nie in Fulda.«

»Ne, natürlich nicht. Weil du mich nur angelogen hast.«

»Ich verstehe nicht …«

»Du verstehst nicht? Du verstehst nicht? Ich sag dir jetzt mal was, Sönke. Wenn du gerne Spielchen mit anderen treibst, sind das echte Menschen mit Gefühlen, die hinter so einem Profil stecken. Ich …«

»Moment. Wie hast du mich gerade genannt?«, unterbricht er mich.

Seine Frage bringt mich aus dem Konzept. »Wie schon? Sönke.«

»Ich heiße Arne«, stellt er richtig. »Ich kenne keinen Sönke. Kann es sein, dass du mich verwechselst?«

Ich schüttle den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Moment.« Ich drücke ihm das Kühlpad entgegen und angle mein Handy aus der Tasche. Bisher hatte ich es noch nicht übers Herz gebracht, seine Bilder zu löschen. Nur gut, dann kann ich sie ihm jetzt ja zeigen.

»Hier. Das bist doch du, oder?« Ich halte ihm sein ehemaliges Profilbild entgegen.

Sönke … oder Arne reißt die Augen auf. »Wo hast du das her?«

»Na, von deinem Profil aus der App.«

»Welche App?« Okay, ich bin zwar in Rage und immer noch sauer auf ihn, aber diese Verwirrung kann niemand spielen. Hoffe ich.

»Diese scheiß Dating-App.« In dem Moment, in dem ich es ausspreche, komme ich mir mit einem Mal total blöd vor. Sönke/Arne zieht fragend die Augenbrauen zusammen. »Das ist so eine App, auf der man Partner finden kann«, erkläre ich leise. »Meine Schwester hat mich praktisch gezwungen, mich da …« Ich stoppe. »Das tut doch nichts zur Sache. Außerdem hast du doch mich verarscht.«

»Wie war noch mal dein Name?« Er lächelt.

Wieso fragt er das? Und wieso lächelt er mich so an. »Marc«, hauche ich mehr, als es laut auszusprechen.

»Okay, Marc. Ich habe bis eben nicht gewusst, dass es diese App gibt. Ich war und bin dort nicht angemeldet. Das musst du mir glauben.« Ich schnaube. »Ja, ich verstehe dich«, erklärt er. »Hast du noch mehr Bilder von mir?«

»Eins noch.« Zögernd wische ich im Ordner weiter, bis das Bild von ihm mit seinem Kater kommt. »Da, mit ›Tiger‹.«

Er sieht es sich an und lächelt. »Das ist Trixie, die Katze von meiner Tante.«

»Ich dachte, das ist dein Kater.«

Er schüttelt den Kopf. »Bist du auf Facebook?«, fragt er mit einem Mal. Will er jetzt hier Freundschaften schließen?

»Nein.« Ich schüttle den Kopf. Bisher hab ich mich davon ferngehalten und nach dem, was ich immer von Kristin dazu höre, war das wohl eine sehr kluge Entscheidung.

»Okay. Einen Moment.« Er holt sein eigenes Handy hervor und tippt darauf herum, bevor er mir den Bildschirm zeigt. Sein Profilbild.

»Ha!«, entkommt es mir.

»Das ist mein Profilbild auf Facebook«, erklärt er. »Eigentlich habe ich alles so eingestellt, dass außer meinen Freunden niemand etwas von meinem Profil sehen kann. Nur das Bild kann man eben nicht schützen. Das muss irgendwer geklaut haben.«

Okay, klingt grundsätzlich logisch und nachdem, was Kristin mir von den Erfahrungen ihrer Freundin erzählte, ist das gar nicht mal so unvorstellbar, aber ob ich ihm wirklich glauben kann? »Und das mit der Katze?«

Arne tippt wieder herum und seufzt schließlich. »Da hab ich es tatsächlich vergessen. Guck.« Ja, gut. Ich muss zugegeben, dort steht ›öffentlich‹ neben diesem Foto, was bei den anderen nicht der Fall ist. Mit brummt der Kopf und das sicher nicht nur wegen meines eleganten Sturzes von eben.

Arne lächelt mich wieder an und legt erneut das Kühlpad an meine Wange. »Was hältst du von folgendem Vorschlag? Du lässt das alles erst mal sacken, versuchst zu akzeptieren, dass ich nicht der Typ bin, den du da kennengelernt hast, und …«

»Arne?« Die Frau von dem Glühweinstand schaut aus dem Eingang. »Ich störe euch ja nur ungern, aber so langsam könnte ich deine Hilfe wieder gebrauchen.«

»Eine Minute, Mama.« Sie lächelt und nickt.

»Gibst du mir mal dein Handy?«, fragt er mich.

»Wozu?«

»Damit ich dir meine Nummer geben kann.« Er zwinkert mir zu und ich bin so perplex, dass ich es ihm kommentarlos entgegenhalte. Er tippt und gibt es mir gleich darauf zurück. »Ruf mich an, sobald dir danach ist. Oder komm vorbei. Bis auf montags und donnerstags bin ich jeden Abend hier.« Er deutet zum Wagen. »Allerdings haben wir dann wenig Ruhe.«

Außer ihn anzustarren bin ich gerade zu nichts fähig. Selbst als er sich vorbeugt und mir einen Kuss auf die nicht lädierte Wange haucht. »War schön, dich kennenzulernen, Marc.«

Er dreht sich um und erst jetzt realisiere ich, was in den letzten Minuten geschehen ist. Hastig schaue ich auf mein Handy. Tatsächlich. Da stehen sein Name und seine Nummer. Im ersten Moment erwarte ich, dass es dieselbe wie die von Sönke ist. Natürlich ist sie es nicht. Ohne darüber nachzudenken, drücke ich auf den Anruf-Button. Arne zuckt zusammen, holt sein Handy hervor und sieht es stirnrunzelnd an.

»Jetzt hast du auch meine Nummer«, rufe ich ihm zu. Arne dreht sich noch einmal um und lächelt. Mein Herz hüpft und ich weiß, dass ich mich aller Bedenken zum Trotz in dieses Abenteuer stürzen werde. Mein Verstand mahnt zwar lautstark zur Vorsicht, doch mein wild klopfendes Herz übertönt jeden Zweifel. Ich fürchte, meine Familie wird künftig mit einem dümmlich grinsenden Marc leben müssen.

 

 

 

 

ENDE

Impressum

Texte: Sitala Helki
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Sitala Helki
Lektorat: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Marie Chaos
Satz: Sitala Helki
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2017

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /