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Koch-affin

 

© Sitala Helki, Berlin 2015

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Jeder Verstoß gegen mein Urheberrecht (§106/§108a UrhG) wird von mir zur Anzeige gebracht.

 

Private Kopien für dein Eigengebrauch (Reader, etc.) sind davon selbstverständlich ausgenommen.

 

Falls euch, liebe Leser, diese Geschichte irgendwo ggf. auch unter anderem Namen begegnet, würde ich mich über einen kurzen Hinweis freuen.

 

 

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen (ausgenommen Personen des öffentlichen Lebens) sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Koch-affin

Sabrina wird mich killen. Ganz sicher. Dieser Umstand hindert mich dennoch nicht daran, weiterzumachen.

Seit acht Wochen stehe ich jeden Samstagabend in meiner Küche und koche. Okay, ich versuche es, denn Kochen war noch nie mein Ding. Ich bin ja schon froh, wenn mir die Fertigpizza im Ofen nicht anbrennt.

Aber seit ich über diesen Kochblog gestolpert bin, gebe ich mein Bestes, diesen Umstand zu ändern. Nicht, weil ich plötzlich diese Leidenschaft für mich entdeckt habe. Nein, weil der Typ, der da vorkocht, einfach nur heiß ist.

Sandro. Allein sein Name verursacht ein angenehmes Kribbeln in meinem Unterleib. Er sieht auch aus wie ein Sandro: pechschwarze Haare, dunkler Teint und dieses Lächeln - zum Niederknien. In meiner Vorstellung gilt es einzig mir, wenn er schief in die Kamera grinst und sich dabei dieses anbetungswürdige Grübchen bildet.

Jeden Samstag um achtzehn Uhr stellt er ein neues Video auf seinem Blog ein. Bereits am Freitag kann man die benötigten Zutaten nachlesen. Diese stehen jetzt unsortiert auf meiner Arbeitsplatte. Angespannt warte ich darauf, dass sich die Seite aktualisiert und das Video startet. Endlich. Sein Gesicht erscheint und mein Herz hüpft aufgeregt, als ich seine tiefe, männliche Stimme höre. Wenn ich mir einen runterhole, stelle ich mir gerne einen stöhnenden Sandro vor, der mir versaute Sachen ins Ohr flüstert.

Nicht einmal fünf Minuten sind vergangen, doch ich habe bereits Mühe, seinen Anweisungen zu folgen. Ständig muss ich das Video anhalten. Unter meinen Schuhen knirschen Eierschalen und Teile der Paprika haben sich ebenfalls schon dazugesellt.

Warum ich diesen Quatsch mitmache, obwohl ich lediglich den Typen sehen will? Gute Frage. Wir Teilnehmer schicken ihm hinterher Fotos der Ergebnisse, welche er im nächsten Video kommentiert. Und da das, was ich fabriziere, dermaßen weit vom Original entfernt ist, bekomme ich jedes Mal Beachtung. Aufgeregt warte ich jede Woche auf seinen Kommentar, der zwar für gewöhnlich bissig und sarkastisch ausfällt, aber gleichzeitig so liebenswürdig, dass ich ihm unmöglich böse sein kann.

»Conny«, beginnt er heute, »bisher bin ich davon ausgegangen, dass jeder kochen kann, zumindest im Ansatz, aber allmählich befürchte ich, bei dir zu versagen. Zu deiner eigenen Gesundheit und die derer, die deine Machwerke essen müssen: Lass es bleiben. Es tut mir im Herzen weh, so etwas anzusehen.«

›Conny‹ ist mein Spitzname, mit dem ich mich angemeldet habe. Eigentlich heiße ich Constantin.

Augenblicklich grinse ich wie bekloppt. So viele Sätze hintereinander hat er mir noch nie gewidmet. Gut, es war nicht positiv, aber er hat gelächelt und mir zugezwinkert.

Habe ich bisher jeden, der meinte, sich über das Internet zu verlieben, nur milde belächelt, muss ich mir inzwischen eingestehen, dass sich eine gewisse Verliebtheit bei mir eingeschlichen hat.

Dabei weiß ich gar nicht, ob er überhaupt an Kerlen interessiert ist. Er lässt nie etwas in der Art verlauten. Gut, warum auch? Schließlich geht es ums Kochen.

Heute haben ›wir‹ eine Quiche zubereitet, von der ich wiederum mutig ein Foto per E-Mail an Sandro schicke. Von außen sieht sie erstaunlich gut aus, doch das Innenleben ...

 

Wie immer bin ich froh, die Küchentür zu schließen, um das Elend nicht sehen zu müssen.

Glücklicherweise kommt morgen Sabrina - meine Putzfrau. Jeden Sonntagnachmittag bringt sie zwei Stunden lang meine Junggesellenbude auf Vordermann. Als Studentin kann sie das Geld gut gebrauchen, auch wenn sie letzte Woche etwas von ›Erschwerniszulage‹ gemurmelt hat.

 

»Das ist nicht dein Ernst!«, keift sie am nächsten Tag erwartungsgemäß. Sabrina zeigt in meine Küche und sieht mich an, als warte sie darauf, dass ich freudig »April! April!« rufe.

»’Tschuldige!«, nuschle ich. »Ich ... ähm ... leg’ ’nen Zehner drauf«, biete ich an. Sabrina legt den Kopf schief.

»Zwanzig?« Wenn sie jetzt unverrichteter Dinge wieder geht, weiß ich nicht, was ich tun soll. Im Aufräumen bin ich noch schlechter als im Kochen.

»Okay.« Schulterzuckend dreht sie sich um und beginnt mit der Chaosbeseitigung. Erleichtert atme ich aus.

 

»Warum tust du das eigentlich?«, fragt sie, als sie sich verabschiedet. »Ich meine, das sieht doch ein Blinder, dass du das nie lernst. Wen willst du beeindrucken?«

Ich schnappe nach Luft. »Ich ... ähm ... niemanden.«

»Ne, ist klar. Deswegen wirst du auch so rot. Eine heiße Arbeitskollegin?«, rät sie.

Grinsend schüttle ich den Kopf. »Wohl kaum.«

Sie mustert mich einen Moment lang. »Ah!«

Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um.

»Was ›ah‹?«

»Na, du bist schwul«, erwidert sie lapidar.

»Äh ... ja?« Das ist nichts, was ich verheimliche, aber auch nichts, das ich in Neonbuchstaben vor mir herumtrage.

»Das erklärt einiges.«

»Und zwar?«

»Zum Beispiel, dass du mehr Kosmetika besitzt als ich. Und glaube mir, das will was heißen. Mein kleiner Bruder zieht mich damit ständig auf.«

Nach kurzem Blick auf ihre Uhr stockt sie und angelt nach ihrer Jacke. »Mist. Ich bin zu spät.«

Sofort übermannt mich das schlechte Gewissen - war heute doch deutlich mehr zu tun als üblich.

»Oh, entschuldige. Bekommst du Probleme, weil du länger gearbeitet hast?«

»Ach was«, winkt sie ab. »Mein Bruder kann ruhig mal ein paar Minuten warten. Schließlich bekommt er dafür seinen kostenlosen Kutschierdienst.«

Kurz bevor sie die Haustür zuzieht, wirft sie mir noch ein »Bis nächste Woche!« zu und verschwindet im Eiltempo.

 

Ich setze mich an meinen Computer und rufe meine E-Mails ab. Ein bestimmter Absender lässt mein Herz augenblicklich schneller schlagen: Sandro.

Zittrig öffne ich die Antwort auf mein Bild:

Hallo Conny! Wie ich sehen muss, hast du nicht auf meine Empfehlung gehört. Ich weiß nicht, ob das ein gutes Zeichen ist, weil du an dich und deine versteckten Fähigkeiten glaubst oder ob es ein Hinweis auf deine begrenzte mentale Leistungsfähigkeit ist. Ich hoffe auf Ersteres. Zumal dein Essen zumindest äußerlich durchaus ansprechend war. Wie hat es denn geschmeckt? Lieben Gruß, Sandro‹

 

Er hat mir geschrieben und nicht eine Woche gewartet, um in seinem Video zu antworten! Hat das etwas zu bedeuten? Nein, vermutlich errege ich einfach nur zu viel Aufmerksamkeit mit meinem Nichtkönnen.

Dennoch schicke ihm eine Antwort, nachdem ich den Text gefühlte hundert Mal umformuliert habe.

 

Lieber Sandro!

Ich danke dir für deine schnelle Antwort. Ich finde deinen Blog toll und denke ebenfalls, inzwischen besser geworden zu sein. Was in Anbetracht der Tatsache, dass ich vorher ›unterirdisch‹ schlecht war, sicher nicht schwer ist.

Zu deiner Frage: Ich will ehrlich sein, ich habe mich bisher noch nicht getraut, etwas von dem zu essen, das ich fabriziert habe. Warum ich immer noch mitmache? Auf eine merkwürdige Art macht es Spaß. Außerdem schaue ich dir gerne zu. Ich mag deine Stimme.

Lieben Gruß, Conny‹

 

Bevor ich mir überlege, ob ich den letzten Satz nicht besser wieder lösche, klicke ich auf ›senden‹. Minütlich aktualisiere ich meine E-Mails, doch auf eine Antwort warte ich vergebens.

Mein Unterbewusstsein findet die Vorstellung von Sandro leider nach wie vor erstklassig. Vor allem nachts oder in Momenten, in denen die Filterfunktion meines Verstandes nicht allzu ausgeprägt ist - sprich beim Wichsen - werde ich mit Bildern eines leicht- bis gar nicht bekleideten Sandros, der sich stöhnend unter mir rekelt, gefoltert.

Blöd, dass ich mich am folgenden Samstag bewusst zusätzlich foltere, indem ich besagten Blog aufrufe und auf sein Video warte.

Das Szenario einer vollkommen verdreckten Küche und einer genervten Sabrina wiederholt sich. Ein wenig drängt sich mir der Verdacht auf, dass sie ihren Unmut spielt, um mehr Geld herauszuschinden.

 

»Sag mal, wie kann ein Kerl eigentlich eine dermaßen schöne, gepflegte Terrasse mit einem Meer von Blumen haben und dabei so unfähig in der Küche sein?«, fragt sie, als sie gerade Spinatreste von meiner Deckenlampe kratzt. Wie ist der denn dahin gekommen?

»Ich bin Gärtner«, erwidere ich schulterzuckend.

»Wirklich? Toll! Ich hab’s nicht so mit Blumen. Also, ich sehe sie gerne an, aber überleben tun sie bei mir nicht.« Seufzend wirft sie den Putzlappen in den Eimer.

»Warum tust du dir das mit dem Kochen eigentlich an?« Ihr Ton verrät, dass sie im Grunde genommen fragen möchte, warum ich ihr das antue.

»Weiß nicht. Ich finde, in meinem Alter sollte man das allmählich lernen. Schließlich bin ich Ende zwanzig und die Hoffnung, dass ich irgendwann den Traumpartner finde, der dazu ein hervorragender Koch ist, habe ich schon lange aufgegeben.«

Unwillkürlich schweifen meine Gedanken zu Sandro ab. Der wäre der perfekte Kandidat: sexy und kochaffin. Nur hat er sich seit letzter Woche nicht mehr gemeldet und auf mein gestriges Foto ebenfalls nicht. Nicht einmal im Video hat er mich erwähnt.

»Nur die Kombination oder die Sache mit dem Traumpartner an sich?«

»Hm? Ach so. Beides, schätze ich.«

Meine bisherigen Beziehungen waren im Nachhinein betrachtet ziemliche Reinfälle gewesen: notorische Fremdgeher, Lügner, Typen, die es nur mal mit ’nem Kerl ausprobieren wollten; die ganze Palette.

»Bin eben nicht der Typ für offene Beziehungen. Den meisten wird es nach einiger Zeit langweilig mit mir. Zu beständig, zu wenig Abwechslung. Egal. Ich will dir jetzt auch nichts vorheulen. Entschuldige.« Mit einem resignierten Laut zucke ich mit den Schultern.

»Ach, ist schon okay«, winkt sie ab, dreht sich um und steigt vom Tritt. Leider schneller als geplant, denn im nächsten Moment schreit sie laut auf und flucht unflätig, als sie abrutscht und auf den Boden fällt. Schimpfend umklammert sie ihren rechten Knöchel.

»Verdammte Scheiße!«

»Ach du meine Güte! Alles in Ordnung?« Sabrina verzieht ihr Gesicht. »Dumme Frage, entschuldige. Komm, ich helf’ dir zum Sofa.«

Ohne auf ihre Proteste zu hören, hebe ich sie hoch und trage sie ins Wohnzimmer. »Brauchst du etwas?«, frage ich, kaum dass ich sie abgelegt habe.

»Hast du etwas zum Kühlen?«

»Warte. Ich schau’ nach.« Schnell renne ich in die Küche und komme mit einem Beutel tiefgefrorener Pommes zurück. »Geht das?«

Schmunzelnd streckt sie ihre Hand aus. »Besser als gar nichts.« Sie stöhnt auf, kaum dass sie den Beutel auf ihren Knöchel drückt.

»Es tut mir leid.« Neben ihr stehend, starre ich auf ihren Fuß, streiche mir mehrfach durch mein Haar. »Ich habe dich abgelenkt und ...«

»Nein, war meine Schuld. Ich hab’ nicht aufgepasst.« Zischend schließt sie die Augen, als sie ihren Fuß minimal bewegt.

»Soll ich dich nicht besser ins Krankenhaus fahren? Nicht, dass irgendetwas gebrochen ist?«

»Ne, passt schon. Passiert mir häufiger. Vor ein paar Jahren hab’ ich mir mal das Außenband überdehnt, seitdem knicke ich öfter mal um. Tut zwar höllisch weh, aber vergeht auch schnell wieder, wenn ich den Fuß für ein paar Stunden hochlegen kann.«

»Okay.« Meine Stimme klingt ungewohnt kratzig. Noch immer fühle ich mich schuldig. »Kann ich dir irgendetwas bringen? Wasser? Schmerztabletten?«

»Ein Wasser gerne.«

 

Ich frage mich, warum ich mich bisher kaum mit ihr unterhalten habe. Sabrina ist witzig und einfühlsam und gibt mir das Gefühl, ihr alles anvertrauen zu können. So weiß sie jetzt beinahe jedes Detail meiner letzten Beziehung. Axel war ein Traum von einem Mann, zumindest optisch. Sein Charakter war eher das totale Gegenteil. Nur habe ich das viel zu spät erkannt. Zu Hause spielte er mir den liebenden Mann vor, nur um bei sich auf der Arbeit reihenweise alles flachzulegen, was sich nicht mit Händen und Füßen wehrte. Das ist drei Jahre her. Seitdem habe ich es nicht mehr geschafft, einem potenziellen Partner genug Vertrauen entgegenzubringen.

Lächelnd legt Sabrina eine Hand auf meinen Unterarm. »Ich bin mir sicher, dass auch du den Richtigen findest. Du bist so ein toller Typ.«

Mit einem schiefen Lächeln sehe ich sie an. »Sag mir Bescheid, wenn du jemanden triffst, der genauso viel Wert auf Treue legt und zusätzlich noch kochen kann.«

Ein wissend aussehendes Grinsen schleicht sich auf ihr Gesicht, als sie kurz auf ihre Uhr sieht. »Shit!« Blitzschnell setzt sie sich auf und zuckt, als ihr Fuß den Boden berührt.

»Was machst du denn?«

»Ich ... muss meinen kleinen Bruder vom Sport abholen. Au!«

Energisch drücke ich sie zurück aufs Sofa. »Du bleibst schön hier liegen. Kannst du nicht eure Eltern bitten, ihn abzuholen?«

Sabrina lacht. »Na, dann steht er aber noch bis morgen vor der Trainingshalle.«

»Wie jetzt? Kümmern die sich nicht um deinen Bruder?«

»Das würden sie sicher, wenn sie nicht am anderen Ende von Deutschland leben würden.«

Auf meinen verständnislosen Blick lacht sie erneut. »Mein Bruder ist gerade mal drei Minuten jünger als ich. Wir sind Zwillinge.«

»Oh, ach so. Hat er denn kein eigenes Auto?«

»Nein, er kann nicht fahren.«

Ungewöhnlich, dass Leute in unserem Alter keinen Führerschein besitzen.

»Ähm, okay. Dann mach’ ich das«, beschließe ich.

»Nein, das ist nicht nötig, ich ...«

»Oh, doch! Schließlich liegst du meinetwegen hier. Also: Wo muss ich hin?«

Prüfend sieht sie mich an. »Er trainiert in der Immanuel-Halle. Kennst du die?«

»Ja.« Ich nicke und stehe auf.

»Lass. Das ist keine gute Idee. Ich ruf’ ihn an. Wir finden eine Lösung. Notfalls muss er mit dem Taxi fahren.« Sie angelt ihr Handy vom Wohnzimmertisch.

»Das ist doch Quatsch! Ich mache das.« Ihr Blick sieht noch immer alles andere als erfreut aus. »Warte. Was ist das Problem?«

»Ähm, na ja, er hat ... Tourette.«

Ich starre sie an und warte auf weitere Erläuterungen, doch die kommen nicht. »Äh ...«

Seufzend streicht sich Sabrina über ihr Gesicht. »Das Tourette-Syndrom ist eine neurologische Störung. Die Betroffenen haben sogenannte ›Tics‹, die sowohl motorischer als auch vokaler Natur sein können und ...«

»Ich weiß, was das ist«, unterbreche ich ihren belehrenden Vortrag. Schließlich hat doch jeder schon davon gehört. Nur getroffen habe ich bisher niemanden. Merkwürdige Vorstellung, dass da einer herumzappelt oder obszöne Wörter herumschreit.

»Kein Problem«, presse ich hervor.

»Sicher?«

Nein, aber ich will auch nicht wie ein vorurteilsbehaftetes Arschloch erscheinen. Also nicke ich. »Passt schon.«

Sichtlich erleichtert lächelt sie mich an. »Super! Du bist ein Schatz! Du kannst ihn gar nicht verfehlen. So viele warten da meist nicht.« Sie hält ihr Handy hoch und ich höre das typische Geräusch, das entsteht, wenn ein Foto gemacht wird.

»Was ...?«

»Ich schicke ihm ein Bild von dir, damit er dich erkennt. Von ihm habe ich leider keins.«

 

Als ich in die Straße zur Sporthalle einbiege, fällt mir ein, dass ich sinnigerweise nach seinem Namen hätte fragen sollen. Doch bereits von Weitem sehe ich eine vom Alter her passende Person herumstehen. Ich parke und steige aus. Als ich näherkomme, bin ich für einen Moment versucht, wortlos umzudrehen.

»Sandro?«, frage ich ungläubig. Das ist jetzt nicht wahr! Sandro ist Sabrinas Bruder? Der sieht in echt noch viel heißer aus als in seinen Videos! Mein Herz hüpft unregelmäßig.

Schüchtern lächelnd kommt er auf mich zu und zwinkert mich mehrfach an. Er schnalzt einige Male mit der Zunge, bevor er mir seine Hand entgegenstreckt. »Hallo. Constantin?«, fragt er leise und räuspert sich.

»Mhm.« Ich fürchte, mein unbefangenes Lächeln misslingt. »Wollen wir?« Ohne seine Antwort abzuwarten, drehe ich mich um und gehe zurück zu meinem Auto. Sandros Sporttasche verstauen wir im Kofferraum. Als er hinten einsteigen will, schüttle ich den Kopf. Da ich selten mehr als eine Person mitnehme, dient die Rückbank eher als Ablagefläche: CDs, Gartengeräte, eine Getränkekiste, Schuhe und einiges Undefinierbares, sodass man dort nicht sitzen kann.

Sandro schluckt und scheint abzuwägen, ob er überhaupt mitfahren will. Doch der Mangel an weiteren Optionen überzeugt ihn offenbar.

Bevor ich den Motor starte, wage ich noch einen Seitenblick auf diesen Traum von Mann. Die Lippen presst er fest aufeinander, was ein angespanntes Bild seiner Kiefermuskeln ergibt, und starrt aus dem Seitenfenster.

»Ähm, wo muss ich dich eigentlich hinbringen?«

Er atmet einige Male durch, bevor er antwortet: »Zu meiner Schwester.«

»Okay, aber ich dachte, ich bringe dich einfach gleich nach Hause.«

»Wir wohnen zusammen«, erwidert er knapp. Na, gesprächig ist er ja nicht gerade. Dabei wirkt er in seinen Videos immer so gelöst und macht auch gerne Scherze.

Während der Fahrt schweigen wir oder sagen wir: Wir unterhalten uns nicht. Sandro räuspert sich dauernd und schnippt ständig gegen seinen Oberschenkel. Dann erstarrt er regelrecht, ballt seine Hand zu einer Faust, bis es von vorne losgeht.

»Sag mal, ist das so ein Tic?«, frage ich schließlich, als wir an einer Ampel stehen. Im Grunde ist es offensichtlich, aber ich halte diese Stille nicht aus. Außerdem sitzt hier Sandro neben mir. Mein Sandro. Diese Chance kann ich mir nicht entgehen lassen.

Sein Kopf schnellt herum. »Was?!«

»Na ja, Sabrina hat mir erzählt, dass ...«

Sandro stöhnt und verdreht die Augen. »Ja«, antwortet er knapp.

»Hm, ich dachte, Tourette-Betroffene rufen immer irgendwelche obszönen Wörter.«

Sein abfälliges Schnauben und Augenverdrehen lassen mich beschämt den Kopf einziehen. Ich komme mir so dämlich vor.

»Du meinst solche Sachen, wie ›ficken‹, ›Schwanzlutscher‹ oder ›Arschloch‹?« Er sieht mich prüfend an.

»Äh, ja.«

»Gibt es, aber ich tue das nicht.«

Mehr scheint er dazu nicht sagen zu wollen.

 

Interessant, wie sich der reale Sandro vom virtuellen unterscheidet. Hätte ich nicht erwartet: einerseits fröhlich und andererseits kalt und abweisend.

»Kommst du?«, frage ich, nachdem ich meinen Wagen geparkt habe.

»Ich wohne hier nicht.«

»Aber ich und Sabrina liegt noch auf meiner Couch.« Wieder presst er die Lippen aufeinander und nickt schließlich.

Kaum habe ich die Tür aufgeschlossen, bereue ich, ihm nicht angeboten zu haben, im Auto zu warten. Meine Wohnung ist der reinste Saustall. Weit ist Sabrina heute letztendlich nicht gekommen.

Gut, nützt ja nichts. Sandro schnalzt mehrfach, als er eintritt.

»Sabrina ist im Wohnzimmer. Sie ...«

Er bleibt wie angewurzelt in meiner Küchentür stehen. Schlagartig werde ich knallrot. Was denkt er denn jetzt von mir?

»Äh ... einfach nicht hinsehen, bitte.« Ich ziehe an seinem Arm, was ihn augenblicklich zusammenzucken lässt.

»Du ...« Mit fassungslosem Blick sieht er mich an und deutet in meine Küche.

»Ja, ich weiß.« Ich seufze. »Darin sieht es katastrophal aus.«

Wieder presst er die Lippen aufeinander. Das gefällt mir nicht. Das gibt ihm so einen angespannten, harten Zug. Wenn er so entspannt lächelt wie in seinen Videos und dem Zuschauer zuzwinkert, da sieht er zum Niederknien aus. Jetzt möchte ich ihm lieber die Anspannung aus dem Gesicht küssen und ihn alles vergessen lassen. Nur fürchte ich, dass er daran kein allzu großes Interesse hegt.

Seine linke Schulter zuckt mehrmals hintereinander hoch. »Wo ist sie?«

Ich deute zum Wohnzimmer.

 

»Hallo Bruderherz! Hat Conny dich gut hergefahren?« Sie klingt so aufgesetzt freundlich, als führe sie etwas im Schilde.

»Lass uns fahren«, zischt Sandro und räuspert sich.

»Oh, ich fürchte, daraus wird nichts. Mein Fuß ist noch nicht wieder gut.«

»Sabrina«, gibt er im mahnenden Tonfall von sich.

»Ich fahre euch. Ich mach’ das gerne. Wirklich«, beteuere ich. Sabrina legt den Kopf schief.

»Siehst du? Conny ist ein ganz Lieber. Gut, kochen kann er nicht, aber sieh dir seine Dachterrasse an. Ein Traum.«

Sein Blick huscht in besagte Richtung.

»Schön, oder? Und er ist auch schwul.«

Durch Sandro geht ein Ruck. »Lass den Scheiß!«, zischt er und presst gleich darauf wieder die Lippen zusammen, bevor er sich umdreht.

Was heißt denn ›auch schwul‹?

»Na, gut. Fahren wir.« Grinsend erhebt sich Sabrina und humpelt, von mir gestützt, zum Auto.

 

Am folgenden Sonntag ist sie wieder fit. Sandros Video am Vorabend habe ich mir zwar angesehen, aber auf das Mitkochen verzichtet. Anfangs unabsichtlich und letztlich bewusst habe ich nach Anzeichen seiner Krankheit gesucht. Ob das ständige Räuspern dazugehört? Ansonsten habe ich nicht viel Ungewöhnliches entdecken können. Meine Recherchen im Internet diesbezüglich waren alles andere als zielführend. Anscheinend ist diese Krankheit sehr vielseitig und das Symptom der Koprolalie, also das Ausstoßen obszöner Wörter, betrifft wohl tatsächlich nur etwa ein Fünftel der Erkrankten.

 

»Oh, so sauber heute?«, kommentiert Sabrina den Zustand meiner Küche.

»Hm, hab’s wieder aufgegeben.«

»Schade.«

»Wieso? Brauchst du noch effektives Rattengift?«, spotte ich.

»Nein, aber ich dachte nicht, dass du so schnell aufgibst.« Sie zwinkert mir zu und macht sich an die Arbeit.

Das sollte ich auch tun. Mein Chef hat mich dazu verdonnert, eine Website zu erstellen oder alternativ jemanden zu finden, der das für uns tut. Mein Argument, wir seien eine traditionelle Gärtnerei und bedürfen daher solch neumodischen Kram nicht, hat er mit einem Lachen abgetan. »Conny, wir müssen mit der Zeit gehen. Eine Umbenennung kann auch nicht schaden. Statt einer ›Gärtnerei‹ sind wir dann ›Bewuchsdesigner‹.«

Ich bin mir nicht sicher, ob er diesen Vorschlag ernst meinte. Die Sache mit der Internetseite aber auf jeden Fall und weil ich der Jüngste in der Firma bin, bin ich jetzt dafür verantwortlich. Dabei kann ich gerade mal meinen Computer starten und E-Mails schreiben.

Mit dem Laptop auf dem Schoß klicke ich mich durch diverse Seiten. Schließlich brauchen wir jemanden, der individuell ist und nicht zu teuer. Offenbar eine unmögliche Kombination.

Dass Sabrina die ganze Zeit um mich herumwuselt, macht es nicht leichter.

»Oh, was guckst du denn da?«, fragt sie, über meine Schulter schauend.

»Neugierig bist du wohl gar nicht?«

»Doch.« Sie grinst. »Willst du eine Internetseite erstellen? ›Schlecht kochen für Anfänger‹

Mit einem empörten Laut werfe ich ein Kissen nach ihr, dem sie lachend ausweicht. Ich seufze.

»Nein, mein Chef möchte eine und ich soll mich darum kümmern, aber ich weiß überhaupt nicht, wer dafür geeignet ist.«

»Warte mal.« Ohne meine Reaktion abzuwarten, beugt sie sich über die Lehne und tippt etwas in meinen Laptop ein. Eine Seite erscheint. »Nimm den. Der ist gut.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das ist mein Bruder.« Grinsend setzt sie sich neben mich.

»Wie jetzt?«

»Sandro ist selbstständiger Webdesigner.«

»Aber ich kann doch nicht einfach deinen Bruder ...« Mehrmals sehe ich zwischen ihr und dem Bildschirm hin und her.

»Und warum nicht? Er ist gut. Schau dir die Referenzen an. Oder meinst du, nur weil er krank ist, kann er das nicht?« Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen.

»Äh, ne. Doch. Ich ... geht das denn überhaupt, wenn er so ... zuckt?«

»Für seine Arbeit am Computer hat er eine spezielle Tastatur und einen Rollball anstelle einer Maus. Er weiß, was er tut.«

»Aber das ist doch merkwürdig, oder nicht? Er ist dein Bruder. Außerdem, wenn ich an das letzte Wochenende denke ...«

»Hör mal, ich weiß, dass er gerne kühl und unfreundlich rüberkommt. Das ist ein Schutzmechanismus. Eigentlich ist er ganz anders.«

»Mhm.« Das weiß ich schließlich. »Sag mal, hat er ständig mit seinen Tics zu tun?«

»Mehr oder weniger. Wenn er sich konzentriert oder Sport treibt, ist es häufig besser. Du magst ihn, oder?«

»Ähm ...« Prompt schießt das Blut in mein Gesicht.

»Find’ ich gut, aber ich sag’ dir was: Du musst den ersten Schritt machen und vermutlich auch ein paar mehr. Sandro ist sehr zurückhaltend. Seine Krankheit hat ihn vorsichtig werden lassen. Außer zum Sport geht er kaum raus.«

»Warum?«

»Weil ihn die ständigen Blicke verletzen. Viele denken, er sei zurückgeblieben und behandeln ihn wie ein Kleinkind. Glaub mir, das ist nicht schön. Weder für ihn noch für mich. Es tut weh, so etwas zu sehen.«

Ich nicke. »Kommt das oft vor?«

»Öfter als man meinen sollte. Wahrscheinlich würde ich mich auch verkriechen, wenn immer meine Begleitperson angesprochen würde, was ich denn wolle, weil die davon ausgehen, dass er sich nicht artikulieren kann.«

»Gibt es denn keine Therapie?«

»Nicht wirklich. Es gibt Medikamente, die die Tics abschwächen, aber die haben heftige Nebenwirkungen. Haben wir alles schon durch. Jetzt lebt er ohne. Am liebsten ist er zu Hause, weil er da sein kann, wie er ist und seine Tics nicht unterdrücken muss.«

»Geht das denn?« Ich dachte immer, die kommen so plötzlich, dass sich die Betroffenen nicht wehren können.

»Eine Zeit lang, ja. Er hat gelernt, sie zu kanalisieren. Er presst dann immer die Lippen aufeinander und konzentriert sich, aber sobald er seine Ruhe hat, brechen sie hervor. Es ist also mehr ein Verschieben als ein richtiges Unterdrücken und klappt nicht immer.«

»Okay. Hört sich anstrengend an.«

»Ist es auch. Vor allem für ihn.« Sie zwinkert mir zu. »Er mag dich.«

Ich stutze. »Davon habe ich nicht viel mitbekommen. Außerdem haben wir uns kaum unterhalten.«

»Nicht letzten Sonntag. Das stimmt, aber er freut sich jede Woche über deine E-Mails.«

Ich schnappe nach Luft. »Wie bitte?!«

»Na, die Bilder vom Essen, die du ihm schickst.«

Mein Herz rast augenblicklich.

»Woher ...?«

Schulterzuckend faltet sie ihren Putzlappen zusammen.

»Er zeigt mir die Bilder immer und ich habe deine Küche erkannt.«

Peinlich berührt schließe ich die Augen.

»Soll das heißen, er weiß, dass ich ...?«

»Jetzt schon.« Lachend schubst sie mich mit der Schulter an.

»Dann hast du das letzte Woche inszeniert? Wolltest du uns verkuppeln?«

»Nein. Okay, ursprünglich hatte ich einen anderen Plan. Der Unfall war echt. Leider.« Seufzend erhebt sie sich wieder. »Die ganze letzte Woche war er ständig geistig abwesend und hat debil vor sich hingegrinst. Auch wenn er es nicht zugeben will: Er hat sich in dich verguckt.«

In meinem Magen kribbelt es schlagartig.

»Sicher?«

»Ganz sicher. Zumal er gestern enttäuscht war, dass es kein Foto gab. «

»Ich ... na ja ... habe mir das Video angeguckt, um ihn zu sehen, aber nach letzter Woche fand ich es merkwürdig, ihm zu schreiben.«

»Wie gesagt: Er ist sehr zurückhaltend und braucht jemanden, der normal mit ihm umgeht, der ihn fordert und niemanden, der ihm alles durchgehen lässt, nur weil er ›krank‹ ist.« Beim Wort ›krank‹ malt sie imaginäre Gänsefüßchen in die Luft. »Er ist ein Mensch wie jeder andere auch, der vor allem kein Mitleid braucht oder will.«

Ich überlege einen Moment. Dann stelle ich meinen Laptop auf den Tisch.

»Ist er heute wieder beim Sport?«

»Ja.« Sabrina nickt. »Gute Idee!«

 

 

Sabrina ist noch in meiner Wohnung zu gange, als ich mich auf den Weg mache. Ein wenig zu früh, parke ich mein Auto auf dem Parkplatz. Meine Handinnenflächen schwitzen und ich trommle auf meinem Lenkrad herum. War das eine schlaue Idee? Gut, Sabrina befand sie für gut, aber das muss nicht heißen, dass ihr Bruder das genauso sieht.

Vielleicht rufe ich doch besser Sabrina an und sage ihr, dass sie ihren Bruder selbst abholen soll, denn ich bezweifle, dass er gerne vor vollendete Tatsachen gestellt wird. Ich angle nach meinem Handy, das auf der Ablage liegt. Auf dem harten Plastik rutscht es herunter in den Fußraum. Na toll! Ich beuge mich nach unten, kralle mich ans Lenkrad und betätige dabei aus Versehen die Hupe. Mit dem Handy in der Hand schnelle ich nach oben und stoße mir den Kopf.

»Au! Verflucht!« Mit einer Hand reibe ich die malträtierte Stelle.

Das Klopfen gegen die Seitenscheibe lässt mich zusammenzucken und das Handy erneut gen Boden fallen. »Was soll der ...?« Die restlichen Worte bleiben mir im Hals stecken. Schnell fahre ich das Seitenfenster herunter. »Hey, Sandro! Ich ... ähm ...«

Mit zusammengezogenen Augenbrauen und aufeinandergepressten Lippen sieht er mich an. »Was machst du hier?«

»Äh, dich abholen?«

»Wo ist Sabrina?« Seine Stimme ist kalt und emotionslos.

»Die ... putzt noch.«

»War das ihre Idee?«

»Ähm, ne. Meine.« Und mittlerweile bin ich mir sicher, dass sie blöd war.

Er starrt mich einige Momente an, schnippt mehrfach gegen seinen Oberschenkel und räuspert sich. Vermutlich kennt Sabrina ihren Bruder doch nicht so gut, wie sie meint.

»Okay.« Wie selbstverständlich öffnet er meinen Kofferraum, verstaut seine Tasche und nimmt auf dem Beifahrersitz Platz.

»Entschuldige«, gebe ich leise von mir. »Ich hätte dich nicht so überfallen dürfen. Ich dachte nur, ich ... ich wollte dich gerne wiedersehen.«

»Warum?« Wieder ein Räuspern.

»Ich ... du gefällst mir.«

Hörbar zieht er die Luft ein. »Ähm, okay.«

Ich hätte mir vorher ein Gesprächsthema überlegen sollen, denn jetzt ist mein Gehirn nahezu leer gefegt. Auf seine Tics ansprechen möchte ich ihn nicht. Das kommt mir falsch vor. Ab und zu schnalzt er. Bevorzugt, wenn es komplett ruhig ist, und erschreckt mich damit. Einmal zucke ich so zusammen, dass ich unvermittelt auf die Bremse trete. Schlagartig laufe ich knallrot an. »’Tschuldige.«

Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass er ebenfalls rot geworden ist und zudem versucht, im Sitz zu verschwinden. Sein Schnippen wird häufiger, ebenso sein Räuspern. Starr blickt er aus dem Seitenfenster. Okay, das hier war eine total beschissene Idee!

Er fühlt sich unwohl und ich habe Angst, irgendetwas zu tun oder zu sagen.

Aber wenn ich nichts sage, platze ich gleich.

»Schönes Wetter heute, nicht wahr?«

Wo kam das denn her? Leider muss ich gerade fahren, sonst würde ich meinen Kopf gegen das Lenkrad knallen.

Sandro knurrt. »Lass es. Fahr mich einfach nach Hause.«

Ich setze den Blinker und fahre an den Rand. Verwirrt sieht mich Sandro an. »Wir sind hier falsch.« Wieder die aufeinandergepressten Lippen.

»Nein, ich ... Sandro, ich mag dich. Ich möchte dich gerne näher kennenlernen, aber du machst es mir nicht leicht. Und dir auch nicht.«

Er zuckt mit den Schultern. War das jetzt bewusst oder ein Tic?

Während er mich stur ansieht, schnippt seine Hand im Akkord. Automatisch lege ich meine darauf.

Sandro zuckt. »Nicht ...«

»Okay. Entschuldige. Es ist nur so: Du faszinierst mich.«

Er gibt ein verächtliches Schnauben von sich. »Klar. Bin ja schließlich wie ein exotisches Tier. Spannend für eine Zeit lang, bis man meiner überdrüssig wird und sich lieber einen ›normalen‹ Partner sucht.« Räuspern, Schnalzen und letztendlich aufeinandergepresste Lippen.

Was hat er schon alles mitmachen müssen? Skeptisch beobachtet er, wie ich meine Hand hebe, um sie an seine Wange zu legen. Die leichte Berührung lässt ihn zittern. Behutsam streichle ich mit dem Daumen seinen Mund.

»Tu das nicht«, flüstere ich. Sandros Blick wirkt ängstlich. »Ich finde, du siehst schön aus, wenn du lächelst. So, wie in deinen Videos.«

Seine Augen weiten sich.

»Du weißt doch, wer ich bin, oder?«

Sandro nickt stumm.

»Dieses verschmitzte Grinsen, wenn du die Dinge erklärst, hat es mir von Anfang an angetan.«

»Conny ...«, gibt er gequält von sich, schnalzt und verspannt sofort wieder seinen Kiefer.

»Was glaubst du denn, warum ich Woche für Woche mitmache? Bestimmt nicht, weil ich der neue Paul Bocuse werden will.«

Er lacht. Zwar nur ganz kurz, aber immerhin.

»Ich hätte mir deine Videos natürlich auch so ansehen können, aber ich mochte deine Antworten auf meine E-Mails. Geistreich und lustig, ohne unter die Gürtellinie zu gehen. Außerdem habe ich mich immer gefreut, wenn du mich im Video erwähnt hast.«

Behutsam streichle ich seine Wange. Seine Gesichtszüge entspannen sich etwas.

»Ich ...« Er räuspert sich. »Ich dachte immer, du wärst eine Frau.«

»Was?« Lachend lasse ich von ihm ab. »Wie kommst du denn da drauf?«

Sandro sieht meiner Hand hinterher. »Na ja, ›Conny‹ ist jetzt nicht der typische Männername.«

Erneut hebe ich meine Hand und schiebe sie in seinen Nacken, während ich mein Gesicht langsam seinem nähere. »Und? Enttäuscht?«, frage ich leise. Sandro schüttelt den Kopf und sieht hastig zwischen meinen Augen und meinem Mund hin und her. »Im Gegenteil«, flüstert er.

Ich beuge mich weiter vor. In mir kribbelt es. Gleich werde ich diesen heißen Typen küssen! Ich spüre beinahe seine Lippen, da schnalzt er laut und seine Schulter zuckt mehrfach. Seinen Versuch, sich mir zu entziehen, unterbinde ich, indem ich ihn fester halte. Beschämt senkt er den Blick. »Es geht nicht. Bitte. Lass es uns vergessen.«

»Vorschlag abgelehnt. Ich bin für einen Neustart.«

Mit aufgerissenen Augen sieht er mich an. »Aber ...«

Ich unterbreche ihn, indem ich ihn mit einem Kuss überrumple. Kurz versteift er sich, bevor er darauf eingeht und sich so weit wie möglich gegen mich lehnt. Eine seiner Hände krallt sich in mein T-Shirt, während die andere meinen Oberschenkel streichelt. Das fühlt sich so gut an. Mein gesamter Körper steht unter Hochspannung. Es kribbelt überall. Ich will in ihn hineinkriechen. Den Anfang macht meine Zunge, die Sandro bereitwillig empfängt. Die erste Berührung sendet Stromstöße in meinen Unterleib. Stöhnend ziehe ich ihn näher heran. Seine Hand streichelt mich unablässig und kommt meinem zu vollem Leben erwachten Schwanz stetig näher.

Keuchend löst sich Sandro. Sein Blick spiegelt Überraschung wider. »Wow!«

Treffende Beschreibung. Grinsend löse ich mich von ihm und setze mich wieder richtig hin.

»Conny, das ...« Er schluckt, zuckt und räuspert sich, bevor er abermals seinen Kompensationsmechanismus startet.

»Nicht ...«, bitte ich leise und beuge mich erneut zu einem Kuss zu ihm rüber.

»Aber dann kann ich es nicht unterdrücken«, erklärt er mit gequälter Stimme.

»Und?«

»Aber ...«

»Nichts ›aber‹. Bei mir brauchst du das nicht. Erzähl mir lieber, welche Tics du noch so hast.«

Ich starte den Motor und setze den Blinker. Hoffentlich baue ich keinen Unfall, so aufgewühlt, wie ich momentan bin.

»Du musst nicht nett sein. Meinetwegen können wir auch so vögeln.« Die Reifen quietschen, als ich unvermittelt auf die Bremse trete.

»Wie bitte?!«

Sandro atmet hektisch durch den Mund. »Na, darum geht es doch, oder? Einmal den Bekloppten ficken.« Zucken, Schnalzen, Schnippen.

Ich schalte den Motor aus. Dass wir auf diese Weise die Straße blockieren, auch wenn es nur eine Nebenstraße ist, interessiert mich gerade nicht.

»Du spinnst doch!« Ich schnalle uns ab, steige aus und renne um mein Auto herum, zerre den verdutzten Sandro von seinem Sitz und presse meinen Mund hart auf seinen. Als ich das nächste Mal meine Augen öffne, bemerke ich die Träne, die seine Wange herabläuft.

»Entschuldige«, murmle ich und gehe ein kleines Stück zurück. »Aber um eins klar zu stellen: Ich bin an dir interessiert, nicht an deiner beschissenen Krankheit. Es gibt dich nur im Doppelpack? Okay, dann werde ich lernen, damit zu leben. Jetzt, wo ich dich endlich in natura vor mir habe, werde ich dich sicher nicht so schnell wieder gehen lassen.«

Er schluckt mehrfach und räuspert sich.

»Aber es ist nicht einfach mit mir.«

Lächelnd trete ich erneut an ihn heran und küsse ihn diesmal sanft. »Für die schönsten Dinge im Leben lohnt es sich zu kämpfen.«

 

~*~*~

 

»Jungs, das Essen war fantastisch!« Sabrina reibt sich übertrieben den Bauch.

»Du weißt, wem du das zu verdanken hast«, erwidere ich grinsend.

»Ach, was, Schatz! Du bist schon viel besser geworden.« Sandro zwinkert mir zu. Seit drei Monaten sind wir inzwischen zusammen und vor zwei Wochen endlich zusammengezogen. Ich habe gelernt, meine Unordnung in Grenzen zu halten, denn für Sandro ist Ordnung sehr wichtig. Er sagt, er braucht es, um das Chaos in seinem Kopf ertragen zu können.

Anfangs hatte ich Angst, wenn ich ihn beim Kochen mit den Messern hantieren sah, aber es ist tatsächlich so, dass er dabei meist vollkommen entspannt ist und die Tics sich kaum zeigen. Mittlerweile habe ich mich so an seine Tics gewöhnt, dass ich sie gar nicht mehr beachte. Ähnlich wie Menschen, die im Sitzen mit ihren Beinen wippen. Das nimmt man mit der Zeit auch kaum noch wahr. Das wiederum hat zur Folge, dass ich manchmal über die Reaktionen anderer Leute, beispielsweise im Supermarkt, überrascht bin.

Sabrinas wöchentliche Besuche sind inzwischen freundschaftlicher Natur, denn putzen tut sie hier nicht mehr.

 

Während sie von ihrem Studium erzählt, wandert Sandros Hand wie selbstverständlich meinen Oberschenkel entlang. So wie damals im Auto. Mittlerweile weiß ich, dass das ebenfalls ein Tic ist: Anfassen und Streicheln anderer Personen in aufdringlicher, gesellschaftlich unüblicher Form. In seinem Fall streichelt seine Hand vermehrt meinen Oberschenkel entlang, vom Knie nach oben. Ja, er macht es nicht absichtlich, dennoch ist der Effekt recht deutlich. Erst recht, als seine Hand meinen Schritt erreicht und er mich ungeniert weiter reizt. Der kräftige Biss auf meine Zunge zur Ablenkung bleibt leider ohne Wirkung. Mein leichtes Anschubsen registriert Sandro nicht. Mein Herz rast, in meinem Unterleib kribbelt es verdächtig. Ich muss aus dieser Situation raus, bevor es richtig peinlich wird!

Ich rücke meinen Stuhl ab. »Ähm, ich räume mal ab.« Sandro wird schlagartig knallrot. Sabrina schaut ein wenig verwirrt und reckt sich. »Warte. Ich helfe dir.«

»Nicht nötig«, wehre ich ab, um in die Küche zu eilen. Ich stütze mich an der Arbeitsplatte ab und atme tief durch. Einen Moment lang herrscht Stille, dann höre ich Sabrina lachen. Kurz darauf kommt sie in die Küche. »Ähm, ich verschwinde dann mal. Bis nächste Woche.« Ich nicke ihr über die Schulter zu.

 

Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, steht Sandro hinter mir und schlingt seine Arme um mich. »Entschuldige«, nuschelt er gegen meinen Nacken.

»Alles in Ordnung«, versichere ich ihm und dränge mich gegen seinen Oberkörper. Ich mag diese Momente, in denen wir einfach nur beieinanderstehen und uns wortlos verstehen.

»Hm«, macht Sandro und dirigiert mich zur Seite.

»Was?« Vor dem Küchentisch bleiben wir stehen.

»Ist dir noch nie aufgefallen, dass dieser Tisch die perfekte Höhe hat?«

Stirnrunzelnd drehe ich meinen Kopf zur Seite. »Die richtige Höhe wofür?«

Sandros Hände wandern herab und nesteln am Knopf meiner Jeans. Er schnalzt einige Male, bevor er mir zuraunt: »Dreh dich um, dann zeige ich es dir.«

 

 

Impressum

Texte: Sitala Helki
Bildmaterialien: Sponchia, Nemo, OpenClips - pixabay.com; Covergestaltung: Sitala Helki
Lektorat: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Jungbrunnen
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2015

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