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Grenzenlos

 

© Sitala Helki, Berlin 2014

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Jeder Verstoß gegen mein Urheberrecht (§106/§108a UrhG) wird von mir zur Anzeige gebracht.

 

Private Kopien für dein Eigengebrauch (Reader, etc.) sind davon selbstverständlich ausgenommen.

 

Falls euch, liebe Leser, diese Geschichte irgendwo unter anderem Namen begegnet, würde ich mich über einen kurzen Hinweis freuen.

 

 

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Grenzenlos

»Herrje, André! Was genau ist eigentlich dein Problem?«

»Wie bitte?! Das fragst du jetzt nicht ernsthaft, oder?« Mein Freund sieht mich fassungslos von unten her an.

»Doch, eigentlich tue ich das! Wir sind seit beinahe einem Jahr nicht mehr weg gewesen. Du igelst dich nur noch ein, lässt keinen mehr an dich heran, hast sämtliche unserer Hobbys abgesägt.« Lange angestaute Wut und Frustration kriechen meinen Rücken herauf.

André lacht kurz trocken auf, bevor er mit scharfem Ton erwidert: »Hm, lass mich mal überlegen, woran das liegen könnte. Vielleicht daran, dass dein eifersüchtiger Ex mich über den Haufen gefahren hat und ich jetzt auf ewig in diesem Ding sitze?«, schlägt er an die Räder seines Rollstuhls.

Das Seufzen und Augenverdrehen, welche ich mir die letzten Monate bei derlei Bemerkungen immer verkniffen habe, unterdrücke ich dieses Mal nicht.

»Du weißt, dass Felix das nicht vorsätzlich getan hat. Er hat die Kontrolle über den Wagen verloren.«

Ich hasse es, wenn er mich in diese Rolle drängt, in der ich mich verpflichtet sehe, meinen Exfreund zu verteidigen.

»Oh, ja! Er ist solch ein Engel«, erwidert er süßlich.

»Lass das!«, zische ich, »Er kann nichts für seinen Nachnamen.«

»Stimmt! Ansonsten hätte er einen Passenderen gewählt. Teufel fiele mir da spontan ein.«

Ich atme tief durch. Angiften bringt schließlich nichts.

»André, bitte«, versuche ich es im versöhnlicheren Ton. »Im Grunde weißt du, dass es ihm unendlich leidtut.« Ich hocke mich neben ihn und versuche es mit einem Lächeln.

»Und wenn schon.« Andrés Blick wechselt von wütend zu traurig, bevor er an mir vorbeistarrt. »Ändert doch auch nichts daran, dass ich nie wieder laufen werde - geschweige denn, tanzen.«

Ich löse seine verkrampfte Hand von seinem Bein, das einmal so muskulös gewesen ist. Ich weiß, dass er sich dafür schämt und ich schaffe es nicht, ihn davon zu überzeugen, dass er für mich immer noch genauso sexy ist, wie damals.

Ich hauche einen Kuss auf seinen Handrücken und warte, bis er mich ansieht.

»Deshalb ja auch der Vorschlag mit dem Rollstuhltanzen. Fabienne meinte, wir könnten es uns erst einmal ansehen.«

André schnaubt und entreißt mir seine Hand. »Das ist doch nicht das Gleiche!«

»Das habe ich auch nicht behauptet. Lass es uns doch einfach mal ansehen.«

 

Ich kann André ja verstehen. Ich weiß nicht, wie ich drauf wäre, hätte ich einen derart heftigen Unfall gehabt. Es ging damals alles so schnell.

Felix und ich waren ein Paar gewesen - sowohl privat als auch sportlich. Wir waren eines der wenigen wirklich erfolgreichen schwulen Tanzpaare Deutschlands. So gut, dass wir auch an ›normalen‹ Turnieren teilnahmen - und häufig gewannen. Felix war regelrecht vom Ehrgeiz zerfressen, erst recht, als wir kurz vor der deutschen Meisterschaft standen. Streit wurde unser täglicher Begleiter, dennoch harmonierten wir auf der Fläche, wie kein anderes Paar.

Als Felix sich während der Arbeit den Fuß verstauchte, kam André als Ersatz. Weder Felix noch ich waren sonderlich begeistert von der Idee. Doch Fabienne, unser Trainer, überzeugte uns von der Notwendigkeit, dass wenigstens ich das Training fortführte.

 

Mit André war es ein ganz anderes Tanzen. Nicht weniger professionell, dafür aber entspannter, weniger verbissen.

Den Rest kann man sich vermutlich bereits denken: André und ich verliebten uns ineinander.

Die Trennung von Felix lief nicht wirklich schön ab und ich kann nicht behaupten, stolz darauf zu sein. Dennoch hatten wir uns arrangiert.

Nachdem Felix wieder fit war, nahmen wir auch unser gemeinsames Training wieder auf. Doch sein Rückstand, gepaart mit Eifersucht, bewirkte, dass wir nicht wieder zu der alten Einheit wurden.

Aus dem erfolgreichen Traumpaar ›Simon und Felix‹ wurde das nicht ganz so erfolgreiche, dafür aber deutlich zufriedenere Paar ›Simon und André‹ - bis zu dem Anruf der Polizei eines Abends: André war von einem Autofahrer erfasst worden. Alkohol, überhöhte Geschwindigkeit und laubnasse Straße - üble Kombination.

 

André überlebte, wie durch ein Wunder und erholte sich erstaunlich schnell, zumindest körperlich; von der Querschnittslähmung abgesehen.

Ich erinnere mich, wie ich voller Tatendrang eine Wohnung für uns suchte und alles behindertengerecht umbauen ließ. Hatten wir bis zu seinem Unfall noch nicht einmal darüber gesprochen, zusammenzuziehen, stand es für mich nun außer Frage.

Kaum entlassen, fiel André in eine Art Lethargie. Reha- und sonstige Termine nahm er nur wahr, wenn ich ihn hinfuhr. Sein Arzt war regelrecht begeistert von seiner Genesung. André war zwar die Fähigkeit, zu laufen genommen, aber er ist teilweise durchaus noch in der Lage, Druck zu empfinden. Auch sexuell ist er nicht eingeschränkt, wenn man seinem Arzt glauben möchte, denn seit dem Unfall wird dieses Thema bei uns totgeschwiegen.

Aber wer bin ich, ihn zu drängen?

 

Es muss etwa ein halbes Jahr her sein. Da fing er endlich an, wieder offener, fröhlicher zu werden. Ich buchte voller Überschwang ein Wochenende in einem Wellness-Hotel, in der Hoffnung, ein Tapetenwechsel gäbe ihm noch einen weiteren Schub und wir würden uns vielleicht wieder einmal annähern.

Was soll ich sagen? Das Ganze ging natürlich nach hinten los: André warf mir vor, nur mit dem Schwanz zu denken und nie auf seine Belange Rücksicht zu nehmen. Immer wieder warf er mir Dinge an den Kopf, von denen wir beide wissen, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen. Bis heute habe ich alles geschluckt, um es ihm nicht noch schwerer zu machen.

 

Aber ganz ehrlich? So langsam habe ich die Schnauze voll!

Ja, er musste sich erst einmal neu einleben, aber ich doch auch! Denkt er denn, mir macht das gar nichts aus? Zu sehen, wie er sich jeden Tag abmüht und ich ihm nicht helfen kann? Nicht helfen soll?

Der Mann, den ich liebe, lässt niemanden mehr an sich heran. Nicht einmal mich - am allerwenigsten mich.

Gut, was den Alltag angeht, sind wir inzwischen ein eingespieltes Team geworden. Nur unsere Beziehung ist irgendwo auf der Strecke geblieben. Manchmal habe ich das Gefühl, sie hat den Unfall damals nicht überlebt.

 

»Bitte, André«, flehe ich, »nur einmal wenigstens.«

Nur selten bekomme ich ihn noch dazu, die Wohnung zu verlassen - von Ausgehen ganz zu schweigen. Als ich Fabienne gestern beim Einkaufen traf und er mir vom neuen Förderprojekt des Vereins erzählte - Rollstuhltanz mit je einem Rollstuhlfahrer und einem ›Läufer‹ - kam es mir wie ein Wink des Schicksals vor. Die Hoffnung, André könnte endlich wieder Begeisterung für etwas entwickeln, was uns beiden einmal so viel Spaß gemacht hat, war einfach stärker, als jegliche Zweifel.

Wie konnte ich nur so naiv sein?

 

Mit verkniffenen Lippen starrt André mich an. »Okay«, presst er plötzlich hervor.

Ich blinzle einige Male und die Bedeutung dieses einen Wortes sickert nur langsam in mein Bewusstsein: Er hat zugestimmt!

Ich reiße ihn an mich und kann mich nur schwer beherrschen, ihn mit meinem Überschwang nicht zu überrollen.

 

~*~

 

Fabienne hat in der Hinsicht weniger Skrupel. Aufgeregt stürmt er auf uns zu und ich befürchte kurz, er zerquetscht André.

»Wow! Super! Toll!« Er braucht einige Minuten, um den Rest seines Wortschatzes wiederzufinden. »Ich glaub's ja nicht! Ich ... wow!«

Außer uns ist noch ein weiteres Paar da, welches definitiv weniger Tanzerfahrung hat. Aber ich sollte nicht so arrogant tun, schließlich bin ich ebenfalls völlig aus der Übung und es ist tatsächlich etwas komplett anderes, auf diese Weise zu tanzen. Wie habe ich das vermisst!

»Aufrecht, Leute! Immer aufrecht halten! Spürt die Musik. Ja, super! André? Du machst das toll!«

Ich fürchte, ich werde später einige Mühe haben, mein Dauergrinsen aus meinem Gesicht wieder zu entfernen. Andrés Mimik kann ich dagegen leider gar nicht einschätzen. Er sieht angestrengt aus.

 

Als die Stunde vorbei ist, bin ich vollkommen erledigt. André verabschiedet sich in Richtung ›Keramikabteilung‹ und ich fühle mich so gut, wie schon lange nicht mehr.

»Und?«, fragt Fabienne erwartungsvoll. Dabei sieht er mir sicher an, wie ich dazu stehe.

»Es war toll, aber ich bin mir nicht sicher, was André dazu sagt«, versuche ich seine Freude zu dämpfen.

»Ach, den bekommen wir schon überzeugt«, zwinkert er mir zu und strahlt plötzlich, als er an mir vorbei sieht.

»Mein Engel!«

Augenblicklich verspanne ich mich. Ich brauche mich nicht umdrehen, um zu sehen, wer hereingekommen ist. Es gibt nur eine Person, die Fabienne so nennt und er ist auch der Einzige, der Felix' Nachnamen so verwenden darf, ohne Blessuren, welcher Art auch immer, dafür zu ernten.

»Ich glaube, heute ist mein Glückstag! Gleich zwei meiner ehemaligen Profis!« Mit angehaltenem Atem starre ich auf die beiden Männer. Seit einem Jahr habe ich Felix nicht mehr gesehen. Er sieht gut aus; ein bisschen dünn vielleicht.

»Hey«, kommt es zögerlich von ihm.

»Hey«, erwidere ich ebenso vorsichtig.

»Entschuldigt mich.« Fabienne verschwindet hinter der Musikanlage.

»Wie ...« Felix räuspert sich und schiebt die Hände in die Hosentaschen. »Wie geht es dir?«

Ich schlucke. »Geht so.«

»Hm«, nickt er, »und ...?«

»André?«, ergänze ich, als er nicht weiterspricht. Er nickt.

»Den Umständen entsprechend, wie man so schön sagt.« Ich schaue mich um. Von André fehlt noch jede Spur.

Felix zieht die Schultern hoch, als versuche er, die Angriffsfläche zu verringern.

»Es tut mir so leid«, flüstert er. In seinen Augen schwimmen Tränen.

»Das weiß ich«, antworte ich ebenso leise. Mehr Lautstärke lässt der Kloß in meinem Hals momentan auch nicht zu.

»Wenn ich es ungeschehen machen könnte ...«

»Ich weiß, Felix. Ebenso, wie ich weiß, dass es keine Absicht war. Ich kenne dich.« Noch immer.

Spielerisch boxe ich ihm gegen seine Schulter. »Wir können es nicht ändern.« Ich seufze. »Wir können nur versuchen, das Beste daraus zu machen.«

Felix nickt. »Sieht er das genau so?«

Ich verziehe mein Gesicht. Scheint ihm zu reichen, denn er seufzt: »Ich verstehe.«

Unbeholfen sehen wir zwanghaft an uns vorbei. Wir sagen nichts. Was auch? Es ist alles gesagt.

Plötzlich beginnt, Musik zu spielen. Tango. Unser Lieblingstanz. Fabienne ist so durchschaubar, wie berechnend. Mein vernichtender Blick amüsiert ihn offenbar zusätzlich.

»Na, los! Nur einmal! Der alten Zeiten Willen! Macht euren ehemaligen Trainer glücklich.«

Fragend sehen Felix und ich uns an, bis er mit den Schultern zuckt. »Deine Entscheidung.«

Ich drehe mich um. André ist immer noch nicht zurück. Ich kenne ihn. Das wird noch einen Moment dauern.

Aufrecht stelle ich mich hin, halte Felix meine Hand entgegen.

 

Wow! Wer hätte das gedacht? Wir harmonieren immer noch so perfekt und das nach all der Zeit. Wir bedürfen keiner Worte. Es fühlt sich an, wie Schweben.

Das Lied ist viel zu schnell zu Ende und in Felix' Gesicht sehe ich das Bedauern, das ich empfinde, als wir die Haltung lösen.

Fabiennes ausgelassenes Klatschen holt mich in die Realität zurück. »Toll! Einfach toll! Ihr beiden tanzt immer noch, wie der Teufel! Ihr seid nur ein wenig aus der Übung.«

Abwehrend hebe ich die Hände. »Fabienne, nein! Steiger dich erst gar nicht rein! Entweder komme ich mit André wieder oder gar nicht.«

»Jungs!« Fabienne sieht uns bedauernd an. »Das kann nicht euer Ernst sein.«

 

Das Gerumpel vor der Tür lässt mich zusammenzucken. André!

Ich eile zur Tür, doch er ist schneller. Auch damit, die Situation zu erfassen.

»Was macht der hier?«, zischt er.

»Ich ... er ...« Ich finde keine passenden Worte.

»Ich bin nur hier, um Fabienne zu besuchen«, erklärt Felix und nickt mir zu.

André starrt Felix regelrecht nieder. Der öffnet mehrmals den Mund, sagt aber nichts weiter.

»Also, Jungs?«, unterbricht Fabienne die angespannte Stimmung. »Nächste Woche um die gleiche Zeit?«

Fragend sehe ich André an. Wir wissen beide, dass das nicht meine Entscheidung ist. Er sieht einige Male zwischen mir und Fabienne hin und her, zuckt schließlich mit den Schultern. Dann strafft er sich plötzlich und klingt beinahe trotzig, als er mit Blick auf Felix erwidert: »Ich überleg's mir.«

Wer hätte gedacht, dass drei einfache Worte - vor allem diese Worte - mich einmal so glücklich machen können? Das ist so viel mehr, als ich erwartet habe!

André ächzt, als ich ihn fest an mich drücke und ihm einen kurzen Kuss auf die Wange drücke. »Danke!«

 

~*~

 

Eine Woche später holt mich André in die Realität zurück: Ich habe mich zu früh gefreut. Gerade als ich los will, verkündet er: »Ich kann das nicht, Simon.«

Für einen winzig kleinen Moment habe ich die unrealistische Hoffnung, er macht nur einen Scherz. Doch sein Blick ist Ernst.

Ich sinke auf den Küchenstuhl zurück. »Aber ... hat es dir denn gar keinen Spaß gemacht?« Woher kommt dieser plötzliche Rückzieher?

»Schon, aber es erinnert mich einfach zu sehr an früher, verstehst du?« Seine Augen glänzen traurig. Erfolglos versuche ich, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken.

»Es tut mir leid«, flüstere ich mit erstickter Stimme, als ich ihn an mich ziehe. Erst hinterher fällt mir auf, dass es die erste Umarmung seit einer Ewigkeit ist, die er nicht abblockt.

»Sagst du Fabienne Bescheid?«, fragt er leise.

Ich nicke. »Okay.«

 

Wie erwartet, ist Fabienne nicht sonderlich begeistert. Ich bin extra hingefahren. Zum einen ist sein Handy tagsüber eh zumeist ausgeschaltet, zum anderen habe ich diese bedrückende Stimmung zu Hause nicht ausgehalten.

Das zweite Paar, das letzte Woche noch da war, ist ebenfalls nicht erschienen.

»Ihr macht mich fertig. Aber ich kann André verstehen«, seufzt Fabienne.

»Ich auch«, krächze ich.

Fabienne umarmt mich kurz. »Okay. Meld dich mal, ja? Wir müssen uns auf jeden Fall mal wieder treffen und … oh, hallo?«

Hastig drehe ich mich um. Hat er es sich anders überlegt?

Hat er nicht. Dafür grüßt mich Felix. »Hey, Simon.«

Wird das jetzt zur Gewohnheit, oder was?

Ich nicke ihm nur zu, wollte ja eh gerade gehen.

»Fabienne, ich wollte nur fragen, ob du schon einen Tanzpartner für mich finden konntest.«

Wieder dieser fragende Blick. Er gibt wohl nie auf, was?

»Ich fürchte nein«, seufzt Fabienne.

»Okay, schade.« Felix sieht sich suchend um. »Und du? Tanzt du jetzt wieder mit André?«

Ich presse die Lippen aufeinander und schüttle den Kopf. »Nein. Er ... kann nicht.«

Felix nickt langsam. »Verstehe. Schade!«

Wieder ertönt Musik. Ach, Fabienne! Lass es doch einfach!

Als wir beide uns nicht rühren, ergreift Fabienne das Wort: »Also, da meine Rollstuhlpaare allesamt abgesagt haben, habe ich jetzt eine Stunde frei. Wir wär's? Eine Gratisstunde?«

In mir zieht es. Wenn ich zusage, verrate ich André, andererseits: wenn ich darüber nachdenke, wie toll es sich letzte Woche angefühlt hat ...

Ich seufze und bevor ich weiter darüber nachdenke, befinde ich mich in Tanzhaltung und werde gekonnt durch den Raum geführt.

»Ich hab doch nicht einmal Tanzschuhe dabei«, protestiere ich schwach, als das Lied vorbei ist. Im nächsten Moment hält mir Fabienne welche entgegen und grinst.

»Sonst noch Einwände?«

»Aber ... André?«, starte ich einen letzten Versuch, den ich mir nicht einmal selbst glaube.

»Meine Güte! Ihr sollt doch bloß tanzen und keine Nummer auf der Fläche schieben. Na, los!«

 

 

Scheiße! Das war eine ganz beschissene Idee! Ich habe mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt.

»Jungs!«, kommt Fabienne nach der Stunde mit flehendem Blick auf uns zu. »Bitte sagt mir, dass das jetzt nicht einmalig war. Das könnt ihr mir nicht antun. Ihr seid immer noch so gut!«

»Fabienne ...«, gebe ich gequält von mir.

»Simon, meinst du ernsthaft, André hätte etwas dagegen, wenn du wieder mit dem Tanzen anfängst?«

Ich atme tief durch und gestikuliere nichtssagend in der Luft herum. »Keine Ahnung. Aber selbst wenn, ich kann doch nicht mit ... Felix tanzen. Das kommt einem Verrat gleich. Für André ist Felix der Teufel in Person.«

Versuche ich hier gerade Fabienne oder mich zu überzeugen? Vermutlich beides.

 

»Er muss es doch nicht erfahren«, findet Fabienne leichthin.

»Bist du verrückt? Ich kann ihn doch nicht anlügen!«

»Verlangt doch auch keiner. Aber mal ehrlich: Ich kenne euch beide. Ihr saht eben so glücklich aus. Das könnt ihr nicht leugnen.«

Nein, kann ich nicht, dennoch ...

»Wann sollten wir denn trainieren? André würde doch misstrauisch werden.« Mist, ich schaufle gerade mein eigenes Grab.

»Hattest du nicht letztens erzählt, du gehst regelmäßig ins Fitnessstudio?«, zwinkert er mir zu.

»Schon, aber ...« Ich kaue auf meiner Unterlippe herum. Diese fixe Idee macht mich völlig kirre.

»Na, dann trainierst du anstatt an irgendwelchen Geräten eben hier.«

Äh ...? Fragend sehe ich Felix an. Schließlich geht es hier nicht nur um mich.

»Deine Entscheidung«, lächelt er. Er kennt mich zu gut. Er weiß, dass ich mich längst entschieden habe. So ein Grab kann ganz schön verlockend sein.

 

 

Mit festem Entschluss, André alles zu gestehen, fahre ich nach Hause. Wenn ich ihm erzähle, wie es sich angefühlt hat, versteht er mich sicher. Es war einfach befreiend, für die kurze Zeit alle Sorgen auszuschließen. Leider lauern sie bereits direkt hinter unserer Wohnungstür erneut auf mich.

»Wo warst du so lange?«, empfängt mich André skeptisch und mir wird schlagartig klar, dass ich es ihm nicht sagen kann. Es würde ihn nur verletzen.

»Bei ... Fabienne.«

»Ah, okay. Und? Wie hat er es aufgenommen?«

Ich schlucke. »Naja, begeistert war er nicht, aber er versteht dich.« Ich streichle über seine Wange und mein Herz hüpft, als er die Augen schließt und sich gegen meine Hand schmiegt.

»André«, flüstere ich ergriffen.

»Ich danke dir«, erwidert er ebenso leise.

Scheiße! Was bin ich für ein schlechter Freund?!

 

~*~

 

Seit beinahe zwei Monaten trainieren wir drei Mal pro Woche. Vier Mal wollte ich alles wieder beenden. Unnötig zu erwähnen, dass ich es nicht getan habe.

Mein schlechtes Gewissen wächst in dem Ausmaß, in dem ich mich auf der anderen Seite auf jede Trainingsstunde freue. Mir war vorher gar nicht bewusst, wie sehr mir diese Art der Bewegung gefehlt hat. Fabienne ist der Meinung, dass ich für das Tanzen geboren wurde und es nicht verleugnen darf. Ich sehe das nicht ganz so romantisch, aber es kommt auf das Gleiche raus.

 

»Ihr seid wunderbar!«, lobt uns Fabienne einmal mehr überschwänglich. »Als wärt ihr nie getrennt gewesen.«

Lachend schlingt Felix einen Arm um mich. »Wir sind eben unschlagbar. Oder was meinst du?«, grinst er mich an. Ich kenne diesen Blick. Oh, nein! Er glaubt doch wohl nicht, dass wir wieder ...?

»Vergiss es!«, fauche ich und schiebe ihn unsanft von mir, doch Felix lacht nur.

»Ach, Simon! Nimm doch nicht immer alles so bierernst! Ich bin lediglich in sportlicher Hinsicht an dir interessiert.«

Na, ich will's hoffen!

 

 

Ich liebe André. Wirklich. Ich will ganz bestimmt keinen anderen - erst recht nicht Felix. Ich habe Routinen entwickelt. Der kurze Handjob unter der Dusche morgens gehört zu meinem Tagesablauf. André mag es nicht, wenn ich mir einen runterhole, wenn er dabei ist. Ich schätze, er fühlt sich dann unzulänglich oder etwas in der Art. Ich habe gelernt, damit zu leben. Mag sich für den einen oder anderen nicht sonderlich erfüllend anhören und in sexueller Hinsicht ist es das auch ganz sicher nicht, aber solange ich mir unserer Liebe sicher sein kann, nehme ich seine abweisende Art in Kauf.

Aber dann gibt es wieder Situationen, wie gestern Abend: André hat sich wortlos neben mich auf die Couch gesetzt. Meistens bleibt er einfach in seinem Rollstuhl sitzen, damit er hinterher nicht wieder zurück muss. Doch irgendetwas war anders. Er saß neben mir und als er sich dann auch noch an mich kuschelte, bekam ich schwitzige Hände und Herzrasen, wie ein Fünfzehnjähriger beim ersten Date im Kino. Obwohl die heutzutage vermutlich skrupelloser sind und sich nicht zwei Stunden lang fragen, ob sie den Arm um den anderen legen dürfen oder vielleicht sogar dessen Hand halten.

Ganz langsam lasse ich die leise Hoffnung zu, dass wir die schlimmste Zeit doch allmählich hinter uns lassen.

 

Heute ist Donnerstag-Abend. Trainingstag. Ich schnappe mir gerade meine Sporttasche, als André lächelnd auf mich zukommt.

»Sag mal, machst du eigentlich irgendwelche neuen Übungen?« Es klingt ... bewundernd.

»Äh, wie ...?«, erwidere ich geistreich.

»Na, ich habe das Gefühl, deine Haltung hat sich wieder gebessert«, findet er. »Du stehst aufrechter.«

Ich schlucke. Ja, natürlich. Denn beim Tanzen braucht man nun einmal eine aufrechte Grundhaltung.

Ich zucke unbestimmt mit den Schultern.

»Gefällt mir«, zwinkert André mir zu. Mein Herz beginnt zu rasen. Seit über einem Jahr hat er mich nicht mehr auf diese Weise angesehen. Mein Körper reagiert sofort. Es ist wie ein pawlowscher Reflex.

Und André hat dies ebenfalls nicht vergessen, wie sein Grinsen bestätigt.

Er rollt an mich heran, lässt seine Hände unter mein T-Shirt wandern und sieht mich von unten her verführerisch an.

Alles in mir kribbelt. Meine Atmung überschlägt sich. Er will ernsthaft ...? Jetzt?

Shit!

»Ich muss zum Sport«, krächze ich.

»Jetzt?«, fragt er ungläubig.

Ich nicke. Ja, denn am Samstag wollen Felix und ich an einem Turnier teilnehmen. Oder sagen wir: Fabienne hat uns angemeldet. Es ist nur etwas Kleines, Regionales, aber wir sollen der Tanzwelt zeigen, dass wir zurück sind.

 

»Lass es ausfallen«, raunt André. Wir hatten selten ein beschisseneres Timing.

»Ich ...« Ich lecke mir über die Lippen. »Ich kann nicht.« Fabienne macht mir die Hölle heiß, wenn ich die Generalprobe sausen lasse!

Ich beuge mich zu André herunter und ziehe seine Hände unter meinem Shirt hervor. »Entschuldige«, flüstere ich und gebe ihm einen kurzen Kuss.

»Schon gut. Ich verstehe.«

»André, glaub bitte nicht, es ist wegen ...« Ich schaue kurz auf den Rollstuhl und dann wieder in seine Augen. »Es ... geht nur jetzt nicht.«

»Ich verstehe«, wiederholt er, bevor er sich umdreht. Verdammter Mist!

 

 

Okay, im Grunde hätte ich mir das Training auch sparen können, denn ich bin dermaßen unkonzentriert, dass es vollkommen sinnlos ist.

Fabienne tadelt mich mehrfach, bevor er besorgt nachfragt, was los sei. Ich kann es ihm nicht sagen, doch Felix durchschaut mich. »Du hättest absagen sollen, Simon. André geht vor.«

Ich zucke zusammen, doch Felix lächelt nur. »Hey! Ich bin nicht blöd«, erklärt er. »Außerdem kenne ich dich.« Ja, und es fühlt sich so erschreckend vertraut an.

Ich seufze, schließe die Augen und atme einmal tief durch. »Ich muss es ihm sagen. Gerade jetzt, wo ... Ich verletze ihn - so oder so. Dann lieber ehrlich.«

Ich zittere und schlinge automatisch die Arme um mich. »Das ist doch alles Scheiße! Ich hätte gar nicht erst wieder anfangen sollen.«

Felix legt beruhigend eine Hand auf meine Schulter und Fabienne sieht mich entsetzt an. »Du willst doch nicht ernsthaft ...? Warte wenigstens noch den Samstag ab, bitte!«

Ergeben nicke ich. Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.

 

André ist, gelinde gesagt, stocksauer, als ich nach Hause komme und beinahe über seine gepackte Reisetasche im Flur stolpere.

»Hey! Was ...?« Oh, nein! Er hat etwas gemerkt. Ganz sicher hat er das. Ich war nie gut in Heimlichkeiten.

»Ich fahre für ein paar Tage zu meiner Schwester«, erklärt er nüchtern. »Ich muss mir über einige Dinge klar werden.«

Ein Schlag von Jackie Chan in die Magengrube hätte nicht effektiver sein können. Ich halte mir sogar meinen Bauch, als ich aufgrund seiner Worte einen Schritt zurücktaumle.

»Oh ... okay«, krächze ich. »Soll ich dich fahren?«

»Nicht nötig.«

 

~*~

 

Diese Wohnung ist beschissen still, so alleine. Die ganze Situation hat nur einen Vorteil: Ich muss ihn nicht anlügen.

Außer einer kurzen SMS, dass er heil bei seiner Schwester angekommen ist, höre ich nichts weiter von ihm.

Ich schlafe bescheiden. Mir fehlt sein regelmäßiger Atem, die Wärme seines Körpers, die schmatzenden Geräusche, die er manchmal im Schlaf von sich gibt.

Trotzdem bin ich hellwach und hoch konzentriert, als der Wettkampf am Samstag beginnt. Adrenalin sei Dank!

Es wird der Letzte sein - das ist uns allen klar, als Felix und ich die Tanzfläche betreten. Ein Abschied; ganz bewusst.

 

Die anderen Paare sind nicht schlecht, aber wir sind besser. Findet die Jury ebenfalls.

Die Endrunde ist hart. Ich sehe unseren Sieg schon schwinden, doch dann macht die Konkurrenz einen Fehler. Wir haben es geschafft!

Als das Ergebnis verkündet wird, umarme ich Felix stürmisch.

»Hey, sachte!«, schiebt er mich lachend von sich. »Mein Freund kann ganz schön eifersüchtig sein.«

Er hat einen Freund?!

 

»Simon und Felix! Welcome back, kann ich nur sagen! Wenn das Mal kein eindrucksvolles Comeback war! Man könnte meinen, ihr hättet nie eine Pause eingelegt. Gratulation! Wollt ihr noch etwas sagen?«, kommentiert einer der Juroren das Ergebnis.

Ich will schon nach dem Mikrofon greifen, doch Felix kommt mir zuvor. »Lass mich zuerst«, bittet er.

 

»Vielen Dank!«, beginnt Felix. »Ja, ich möchte gerne etwas sagen. Ich möchte mich bedanken. Zu allererst natürlich bei diesem wunderbaren Publikum.« Applaus brandet auf. »Bei der Jury«, nickt er in die Richtung, »bei meinem wundervollen Tanzpartner«, lächelt er mir zu, »und natürlich bei unserem Trainer, der immer wieder starke Nerven beweist bei uns zwei Temperamentsbolzen.« Leises Gelächter ist zu hören.

»Aber es gibt eine Person, der ich nicht genug danken kann. Wäre diese Person nicht gewesen, hätte mich nicht bekniet, angeschrien, an meinen Verstand und meine Leidenschaft zu tanzen appelliert, würden wir jetzt nicht hier stehen.«

Ich fühle mich schlecht, so richtig. Felix hat einen Partner, der voll hinter ihm steht, den er liebt. Das hört man aus jedem Wort heraus und ich belüge und betrüge meinen. So leid es mir tut, aber ich werde diese Sache beenden. Dieses Mal wird mich Fabienne nicht wieder einlullen.

»Magst du herkommen, damit jeder sehen kann, wer das hier«, deutet Felix zwischen sich und mir hin und her, »verbrochen hat?«

Na, da bin ich ja gespannt, wer der Neue ... Ich habe vergessen, wie man atmet, fürchte ich.

Grinsend fährt André an mir vorbei auf Felix zu, nimmt ihm das Mikrofon ab.

»Danke, Felix! Aber das ist zu viel der Ehre. Ich habe nur wieder zusammengeführt, was zusammengehört - zumindest tänzerisch«, zwinkert er ihm zu.

Ich habe das Gefühl, neben mir zu stehen. Zum Glück sehe ich mich dabei nicht selbst, denn ich fürchte, ich sehe reichlich dämlich aus, wie ich meinen Freund mit offenem Mund anstarre.

»Simon, ich habe euch beide gesehen damals, als wir bei Fabienne waren. Du sahst so glücklich aus, wie schon lange nicht mehr. So ... grenzenlos. Und ich muss Fabienne recht geben: Ihr tanzt immer noch wie der Teufel!« Wie durch Watte nehme ich die zustimmenden Rufe wahr.

»Simon, du hast in den letzten Monaten so viel für mich getan. Jeder andere hätte bei meinen Launen vermutlich schon lange das Weite gesucht. Das hier ist meine Art, dir zu sagen, wie unendlich dankbar ich dir bin. Zugegeben, der Gedanke, dass du mit ... ihm tanzt, bereitet mir nicht immer Freude, aber zu sehen, wie du strahlst nach jedem Training und noch viel mehr heute hier, gibt mir so viel Energie. Bitte, gib das nicht auf! Im Gegenteil: Tanzt weiter! Für mich, aber vor allem: für dich.«

Ich schlucke und bin kurz davor, mich zu kneifen. Felix schubst mich an und lächelt mir zu.

»Simon? Vielleicht noch ein paar Worte von dir?«, wendet sich einer der Juroren an mich.

Wie bitte?! Ich soll etwas sagen? Jetzt?

Hektisch schaue ich zwischen Felix, Fabienne und André hin und her. Alle grinsen sie mich an.

 

»Ich ...«, beginne ich. Oh, je! Meine Stimme klingt so quietschig. Ich atme tief durch.

André strahlt mich an. Da ist er wieder: Der Mann, in den ich mich verliebt habe! Wie lange ist es her, dass ich ihn so glücklich gesehen habe?

»Ich liebe dich«, ist das Einzige, das ich über die Lippen bekomme, bevor meine Stimme ganz versagt.

Unter tosendem Applaus küssen wir uns.

»Ich war so aufgeregt«, gesteht mir André flüsternd. »Ich hatte Angst, mich zu verraten. Deswegen bin zu meiner Schwester gefahren.«

Noch ein kurzer Kuss folgt, bevor er mir zuraunt: »Und jetzt lass uns hier verschwinden und da weitermachen, wo wir Donnerstag aufhören mussten.«

 

 

 

 

Barrierefrei

 Hier geht es zur Fortsetzung:

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Impressum

Texte: Sitala Helki
Bildmaterialien: © SSilver - fotolia.com; OpenClips - pixabay.com; Covergestaltung: Sitala Helki
Tag der Veröffentlichung: 13.09.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Kurzgeschichte widme ich dieses Mal ganz besonders meinem Freund, der dieses Mal näher als sonst, den Schaffungsprozess miterleben musste. Ich danke dir für deine Geduld.

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