Coco Sonne
Die Happy-End-Chroniken
3
Noah und Die Wunderbaren Drei
Deutsche Erstveröffentlichung August 2016
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Coco Sonne
Herausgeber:
Coco Sonne
c/o
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König-Konrad-Str. 22
36039 Fulda
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»Denn – lang oder kurz – es ist der Inhalt, der das Leben macht; und zwei Tage Fülle können länger sein als vierzig Jahre Leere.«
(Vicki Baum: Menschen im Hotel, Berlin 1929)
Allen Opfern des deutschen Nationalsozialismus auf der ganzen Welt!
Anmerkung der Autorin
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich freue mich, dass du den Weg zu meinem Buch gefunden hast, und ich hoffe, dass ich dein Herz mit meiner Geschichte erreiche. Ich wünsche mir, dass sie dir hilft, dich selbst besser zu verstehen, dir zu verzeihen und dich stark zu machen. Jedoch möchte ich an dieser Stelle auch betonen: Die hier vorgestellte Selbstheilungs- und Selbstbefreiungsmethode ersetzt weder den Arzt noch den Heilpraktiker und auch nicht den Psychotherapeuten.
Inhaltsverzeichnis
Titelei
1. Sylvester
2. DIE WUNDERBAREN DREI
3. Einladung zum Brunch
4. MONIQUE
5. Das Hobby
Freundschaft heißt zuhören
Die Wunderbaren Drei und die EgoKreation
Monique
Karen
Laura und unsere allererste EgoStyleParty
6. Angst
7. Alex II
8. Angst
9. Die Wunderbaren Drei und ihre Egos
10. Angst
11. Maske und Lektion
12. Krasse Träume
13. Laura
Reich sein
POLLI, DAS STRASSENKIND
Gregor
14. Wild. Frei. Glücklich.
15. Die falsche Kennedy
16. Die Ankündigung
17. Die Ahninnen
18. Karen
19. Die letzten Fesseln
20. Die Frau mit den Blumen, die viel zu früh gestorben ist
21. Noah
Telefongespräche
Du
Charlston
Der Ring
Der gute Rat alter Freunde
Ein einziger Witz
Das Band
Lauras Geschenk
Liebe
Überhaupt kein Verlust – ganz im Gegenteil!
Am Ende des Kampfes
Noahs Augen
22. Frau Fuchs
23. Die Aufgabe
24. Sterne
25. Der Anruf
Literaturangaben
Die Autorin
Das Buch in aller Kürze
Danksagung
Nachwort
1. Sylvester
ICH KENNE SIE seit Langem. Studieren Sie nicht bei Professor Plötz?« Das Sie in einer Stadt, in der fast jede jeden dutzte, gefiel mir. Passte zur vornehmen Klamotte, die ich trug.
Ich lächelte, und zwar bis zu den Augen. »Hab ich, hab ich. Ist vorbei. Das Diplom habe ich längst in der Tasche.«
Die Sylvestergala im Varieté Chamäleon in den Hackeschen Höfen – Dresscode: Golden Twenties – hatte noch nicht begonnen. Mit meinen neuen Ego mutig geworden, hatte ich entschieden, mich allein ins Amüsement zu stürzen. Der Auftakt eines neuen Jahres schien mir der optimale Zeitpunkt, die beste Gelegenheit dafür zu sein.
»Ich habe Sie gesucht«, sagte der junge Mann, dessen Namen ich immer noch nicht kannte. »Frau Monol, Herr Doktor Plötz’ Sekretärin, sagte mir nur Ihren Namen. Mit der Telefonnummer rückte sie jedoch nicht heraus.«
Natürlich habe er die Nummer im Telefonbuch sofort entdeckt. Aber mich zu kontaktieren sei ihm dann doch reichlich indiskret erschienen.
Der junge Mann in Knickerbockern, Herrenstrümpfen im Oxfordstil, weißem Baumwollhemd unter einem grauen Wollpullunder mit Hosenträgern darüber und einer grauen Baskenmütze auf dem Kopf küsste mir die Hand.
»Darf ich?«
Ich nickte und sah zu, wie er sich mit fließender Bewegung auf den Stuhl mir gegenüber setzte. Das tat ich nicht ohne ironische Hintergedanken. Wie oft hatte ich Eierköpfe mit guten Manieren, aber arthritischer Körpersprache erlebt.
Der hier war anders.
»Wie heißen Sie?«, fragte er mich.
»Alex, mein Name ist Alex Mohnblom.«
Alex! Donnerkeil, mir blieb auch nichts erspart. Alte Gefühle trafen wie Stalaktiten einen wunden Punkt in meiner Seele. Dieses Trauma in mir gab es noch. Giftiger Apfel in meiner Kehle.
Ein Glas ging zu Bruch. Es war meines.
»Hallo! Geht es Ihnen gut?«
Ich sah in ein Paar besorger runder blauer Augen. »Ja, geht schon wieder. War nur einen Moment abgelenkt.«
»Dann bin ich ja beruhigt.« Er lächelte.
Ich hatte es gesehen.
Bei der Kellnerin bestellte ich mir eine neue Flasche Pellegrino. Dann fragte er mich: »Darf ich Sie kennenlernen?«
DIE ZWANZIGERJAHREFRAU an und in mir, das ein schwarzes Charlstonkleid mit Fransensaum und der klassischen tiefen Taille zu einer schwarzen Perlenhaube, langen Handschuhen und den notorischen Mary Janes an den Füßen trug, wollte Erfahrungen sammeln und war ausgehungert von den zurückliegenden Jahren. Ohne Mann. Ohne Freude.
Die Musik konnte beginnen.
Als mich Alex erneut aufs Tanzparkett führte, konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich tanzte zu der Musik, die ich auf Schallplatte im Zimmer meiner verstorbenen Tante Petzi gehört hatte. Sie war ganz vernarrt in die Musik der Zwanzigerjahre, die sie an die Zeit ihrer großen Liebe erinnerte. Auch ihr Herz war gebrochen worden. Dann war es stehen geblieben. Für immer.
Ich sah an meinen EgoStyle hinab. Sofern ich diese von Gott gesegneten Kleider am Leib tröge, denn natürlich hatte ich auch diesen EgoStyle wie alle anderen vor ihm in der Meditation mit DER GROSSEN WEISEN FRAU geschaffen, könnte mir das nicht passieren.
Das Leben konnte kommen!
Alex und ich tanzten Charlston, genossen die Sylvester-Bühnenshow – eine Mischung aus Kabarett, Akrobatik-Performances und Einaktern – und spielten Roulette mit Reichsmark-Falschgeldscheinen.
»Darf ich dich meinen Freunden vorstellen?«, fragte mich Alex.
Ich war überrascht. Das Sie war nach dem fünften Tanz dem Du gewichen. Das ging ja noch. Aber nun auch noch Romantik mit Gruppendynamik zu verbinden – für mich, die gelinde gesagt immer noch an einer gewissen Sozialphobie litt, war das Olympia hoch zehn.
»Entschuldigst du mich einen Moment?«, sagte ich und verschwand auch schon im Toilettenraum, wo ich mit Zellstoff, Wasser und jeder Menge Flüssigseife die Spuren der Angst erfolgreich bekämpfte.
Ich war in diesem Raum nicht die Einzige.
Was würde das bloß für ein neues Jahr werden?
Als ich an meinen Tisch zurückkehrte, war nichts mehr so, wie ich es in Erinnerung hatte.
»Darf ich vorstellen …«
2. DIE WUNDERBAREN DREI
DIE FRAUEN SAHEN umwerfend aus. Karen, Partnerin von Tom, einem netten kleinen, leicht untersetzten Iren, der als Nachtportier in einem Hotel am Gendarmenmarkt arbeitete, trug ein kornblumenblaues Charlstonkleid zu rohweißen Strümpfen, dunkelblauen Mary Janes und drei weißen Perlenschnüren. Ihr Haar war ein echter Pagenkopf. Ich hatte meine Haarenden nach innen geföhnt und sie festgesteckt. Karen sah Bridget Jones’ Freundin in Schokolade zum Frühstück nicht nur ähnlich, sondern arbeitete wie diese im Film ebenfalls in einer Bank. Ihre Oberweite reichte locker an Renée Zellwegers in besagtem Film heran.
Karen war ein resoluter, pragmatischer Typ, ihre Fingernägel hatte sie kurz und gerade geschnitten. Ihre Strenge durchbrachen die lebhaften Gesten, die jeden ihrer Sätze begleitete. Karen redete mit den Händen und sie lachte laut und viel.
Die Frau in diesem Bunde, die mich zugegebenermaßen mehr interessierte als Alex, war Laura. Sie kam aus Boston und war wie meine Göttin eine irische Rose: helle Haut, grüne Augen, rote, naturgelockte Haare. Sie unterrichtete Schauspiel, Gesang und Tanz an einem Privatinternat nahe München. An den Wochenenden und Feiertagen flog sie nach Berlin zurück, wo sie sich die Wohnung mit jemandem teilte.
Laura war an diesem Abend in den Farben gekleidet, die sie immer tragen würde: Limettengrün, Aprikose und Flieder. Farben, die auf der Zunge zergingen, kaum, dass das Auge sie gekostet hatte.
Lauras Charlstonkleid in den Farben jener Frucht mit samtiger Haut schmückte ein limettengrüner Hüftsaum. Ihre fliederfarbenen Strümpfe mündeten in limettengrüne Mary Janes. Auch ihr Kopfschmuck trug die Farbe der Südseefrucht, die trockene Alkoholiker gerne gemixt mit Rohrzucker und Mineralwasser zu sich nahmen. Lauras limettengrünes Tuch war an der Seite geknotet und fiel über ihre rechte Schulter, die wie ihr Gesicht über und über von Sommersprossen bedeckt waren.
Patrick war nicht nur Lauras Wohnungsgenosse. Er war ein Mann, den man am besten kannte, wenn man der Vergangenheit seiner Familie die gebührende Aufmerksamkeit schenkte. Und er hatte einen Beruf, der zu ihm passte.
Monique aus Paris war mit einem rosafarbenen Flapper Dress mit schwarzem Hüftsaum bekleidet, das sie zu einer schwarzen nabellangen Perlenschnur, schwarzen Mary Janes trug und mit einer schwarzen Feder in ihrem blonden Bob kombinierte. Sie besaß einen eigenen Buchladen für französische Literatur in Charlottenburg und sie war Astrologin.
Ganz klar, dass ich ihr mein Sternzeichen verriet, das sie nach der Begrüßung sofort erfragt hatte.
Monique sprach mit hinreißendem Akzent fließend Deutsch. Sie zitierte für uns Voltaire und Marc Levy und übersetzte alles ins Deutsche.
Merci, mon amie.
Auch für Monique, ihres Zeichens Schütze, fand ich ein Pendant im Mediabiz: Kim Basinger.
Der Mann an ihrer Seite hieß Gregor und war ebenfalls mit den »europäischen Inselaffen«, wie meine ehemalige Nachbarin in Berlin die Freunde der stiff upper lip nannte, familiär verbandelt. Sohn einer deutschen Mutter und eines englischen Vaters, schrieb er als Journalist in den Sprachen seiner Eltern.
In Berlin arbeitete er regelmäßig in der Redaktion eines Finanzmagazins für den Aktienmarkt. Für London schrieb er Artikel für eine angesehene Tageszeitung.
Dass sein Hobby Wildwasserkanu war, hielt ich für geradezu winzig glaubwürdig. War das wahr? Sein Teint sah vollkommen blass aus. Er war zwar kräftig gebaut, aber von tief verwurzelter, in sich ruhender Männlichkeit war hier nichts zu spüren. Ich fühlte mich unbehaglich, als er mir seine feuchte Hand zum Gruß hinhielt.
Mein Gott, diese verdammte Höflichkeit!
Ich ließ es mit mir geschehen.
Feuchte Hände, die Haut im Gesicht wie Pergament zum Zerreißen gespannt. Und dann zitierte er auch noch aus Künstliche Paradiese von Charles Baudelaire.
Die drei Damen machten es mir leicht. Wie sehr sie mich in ihrer Runde bereits willkommen hießen, signalisierte die Anordnung der Stühle. Stillschweigend waren aus einem zwei Stuhlkreise geworden. Damen- und Herrenrunde.
Die Männer sprachen über Literatur, Sport und … weibliche Dessous. Wir Frauen tauschten verschwörerische Blicke aus. Was wir uns zu sagen hatten, gehörte nicht hierher. Wir hielten uns an Humor, Champagner und, für mich, Mineralwasser.
Anlässe zum Lachen gab es um uns herum zur Genüge.
Vor dem Nebentisch war gerade eine dicke Dame unfreiwillig auf den Hosenboden geflogen. Mit einer Kollektion Tafelsilber um den Hals war sie bei der Rückkehr von der Tanzfläche auf einer Apfeltasche, die vermutlich ihrem Gaumen entgangen war, ausgerutscht.
Das Toupé von Kellner Anton saß falsch herum auf dem Kopf und erinnerte an einen frischen erlegten Hamster.
Der Einzige, der in dieser Nacht nicht lachte, war Heinz, der Variété-Clown mit Festanstellung. Selbst die dicke Dame auf der Apfeltasche konnte über ihr Missgeschick herzhaft kichern.
Die kalten Buletten, die man sich am Ausschank als Mitternachtsimbiss käuflich erwerben konnte, schmeckten nach Himbeersirup und Waldmeister. Hatten sie mit Berliner Weiße Liebe gemacht?
Ball Paradox war vollendet, als zum Damentanz aufgerufen wurde. Nicht Damenwahl. Was hieß, dass nur Frauen das, stilgerecht mit Strumpfband geschmückte, Tanzbein schwangen.
Monique fasste mich an Hand und Hüfte und los ging’s. Ein kurzer Blick auf drei hochgezogene buschige Augenbrauenpaare, und ich musste lachen.
Zu Green Hill tanzten wir, bis eine von uns auf die herbe Art Kontakt mit Mutter Erde aufnahm, bis Karen mit dem Kopf beinahe in Manfreds – so hieß er – Kontrabass gelandet wäre, bis ich mich am Ausschnitt jener dicken Dame festhielt, um es Monique nicht gleichzutun.
Jäh! Ausgerechnet die Apfeltasche.
Selbst in diesem Megachaos, angefüllt mit jeder Menge ineinander verknoteter Tanzbeine, über das Parkett hüpfender Perlen und fliegender BHs, gelang es mir, einen klaren Gedanken zu fassen.
Was mir bei Den Wunderbaren Dreien, wie ich Karen, Monique und Laura im Stillen nannte, aufgefallen war, das war die Diskretion, mit der sie mir, was Alex betraf, begegneten. Für Frauen untereinander war das keineswegs üblich. Etwa so unüblich wie Lauren Bacall ohne Zigarette.
Keine von ihnen wollte wissen, was es mit Alex und mir auf sich hatte. Das war vor unserem Chaos-Tanz gewesen. Und nachdem ich mit Monique Arm in Arm die Tanzfläche verlassen hatte, schwiegen ihre Münder diesbezüglich immer noch.
Was mir ebenfalls nicht entging: dass die Frau neben mir sich anspannte, als sie etwas sah, das ihr nicht gefiel.
Mein Blick folgte ihrem. Was ich registrierte, verursachte auch mir ein ungutes Gefühl. Alex und Gregor steckten die Köpfe zusammen. Und es war ganz offensichtlich, dass niemand etwas von dem mitkriegen sollte, was beide besprachen.
Warum auch Monique nicht darüber redete, als wir uns für den nächsten Tag verabredeten, würde ich bald erfahren.
3. Einladung zum Brunch
ALSO BIS SPÄTER, bis später, Freundin. Bis später, neue Freundin«, riefen Die Wunderbaren Drei im Chor, nachdem mich Alex ins Taxi gesetzt hatte, nicht ohne sich ebenfalls mit mir zu verabreden.
Doch zunächst war Perspektive drei dran: Frauenfreundschaften.
Ich freute mich auf das, was sie Ritual nannten und sich im Rotationsverfahren jeden Sonntag in einer ihrer Wohnungen zutrug. Und außerdem war ich gespannt darauf, zu erfahren, was es mit dieser unüblichen Verschwiegenheit auf sich hatte.
In der ersten Nacht des neuen Jahres hatte ich einen Traum. Jene tiefe Stimme eines Wesens, das zu einer Gestalt gehörte, die im Dunkeln stand, warnte mich davor, fremden Menschen Dinge zu erzählen, die nur meine Familie etwas angingen.
Eine Sichel blitzte auf. Wäre das mein Schicksal, wenn ich dieses Verbot brechen würde?
Die Antwort lieferte prompt dieses dämonische Wesen selbst. Niemand muss im Traum eine Frage aussprechen.
Die Sichel kam geflogen und ich wachte auf.
Jahrelang hatte ich einen Maskenball mit einer Person veranstaltet. Es gab genügend Bereiche in mir, die mir in etwa so vertraut waren wie ein Felsmassiv auf dem Zwergplanet Pluto. Auf eindringliche Weise hatte mir DIE GROSSE WEISE FRAU – wer sonst kam für diesen Traum infrage? – gezeigt, dass der Sichelschütze um diese tiefe Kluft wusste. Wenn er auch nicht wusste, wie alle Teile dieses Reiches hinter dem Maskenball aussahen, so wusste er doch, dass ich es nicht wusste.
Daraus gewann er Macht. Daraus gewann jeder Macht, wenn er es darauf ankommen lassen wollte.
Es gab nur einen Weg.
Schlaftrunken im EgoStyle DES WEISSEN MÄDCHENS MIT DEN SCHWARZEN LACKSCHUHEN stand ich ihr gegenüber. Mittlerweile waren wir gleich groß.
Sie sprach: »Es ist übrigens eine unumstößliche Tatsache, dass Menschen dann am authentischsten sind, wenn sie von ihrem Gott sprechen und …«
»Hm?« Mehr ging beim besten Willen nicht, ich war hundemüde.
»Von der Liebe zu einem Menschen.«
Vier Stunden Schlafenszeit hatte ich noch vor mir. Gerädert wachte ich auf. Vorfreude und kalte Dusche wirkten Wunder.
Vertrau keinem, bevor du nicht seine Wohnung gesehen hast. Ich stand vor Moniques Tür.
4. MONIQUE
O GOTT! Die Französin öffnete mir im Stil von COLLEGE GIRL. Dass sie einen EgoStyle trug, machte mich umso mehr meiner eigenen jahrelangen Einsamkeit, so ganz ohne Kind und vor allem Freundinnen, bewusst. Wie sollte ich da noch finden, was ich noch nicht an mir kannte, bei all dem Schmerz?
Doch Monique sorgte durch Rätselhaftigkeit für einen raschen Stimmungswechsel. »Hast du gewusst, dass unsere Männer es gerade ebenfalls miteinander tun?«
Ich glaubte mich verhört zu haben.
»Was?«, fragte ich vorsichtig.
»Na, sich treffen. Jeden Sonntag, so wie wir, zur gleichen Zeit. Sie haben da so eine kleine, feine Tradition wie wir daraus gemacht.«
Erleichtert atmete ich aus. »Schön.«
Und gleichzeitig nicht schön. Bei diesem Treffen kamen Gregor und Alex zusammen. Ich sah in Moniques Gesicht, doch meine Sorge schien sie nicht erreicht zu haben.
»Komm«, sagte sie, »ich führe dich.«
Was ich hinter dem Eingang sah, war wahrhaftig umwerfend. Monique residierte in einer über einhundertfünfzig Quadratmeter großen Mansardenwohnung, die aus drei Räumen bestand: einem achtzig Quadratmeter großen Wohnzimmer, auf das ich gerade zuging; einer im Provence-Stil eingerichteten Küche, an der ich gerade vorbeilief; aus einem Schlafzimmer und, diesem angrenzend, einem Lagerraum, die beide vor mir lagen.
Der Duft frischer Croissants und heißer Milch erfüllte den Raum, in dem ich Platz nahm. Bevor ich die übrigen Gäste so begrüßte, wie sie es verdienten, sah ich mich um.
Eine ausladende Fensterfront war zur Hälfte bedeckt mit hauchdünnen, gerafften neongrünen Vorhängen von der Zartheit eines Schmetterlingsflügels. PVC mit Schachbrettmuster erstreckte sich über den gesamten Raum. Von der Decke baumelte ein schwarzer Lüster aus Plastik und Kristall. Neobarockleuchter an den Wänden, die wie paarweise angeordnete Kerzen aussahen, spendeten zusätzlich Licht. Sie waren aus geschwärztem Messing. Links und rechts stand eine deckenhohe Bücherwand.
Das Stilfreak-Element bildete ein munter vor sich hinblinkender Flipperautomat in einer Ecke dieses riesigen Raumes. Ihm gegenüber befand sich ein Glastisch mit schnörkeligen goldfarbenen Beinen. Auf ihm lag, aufgeschlagen und von einer Schreibtischlampe angestrahlt, ein altes Exemplar von Voltaires Candide ou l’optimisme.
Mir kam es so vor, als ob Monique gleich nach dem Aufstehen darin gelesen hätte. Vermutlich tat sie dies ständig, wenn sie allein war.
Meine Herausforderung war kein Buch.
Um einen riesigen kreisrunden Tisch aus Ebenholz herum mit einem neongrünen Wachstischtuch darauf saßen sie. Ihr Aussehen machte es mir leichter. Aus Augen mit leichten Spuren der Nacht darunter blickten sie zu mir hoch.
Ich kam eine halbe Stunde zu spät und niemand beschwerte sich.
Auch ihre Kleidung war unprätentiös. Karen steckte in Jeans, Blazer und Bluse, Lauras Körper bedeckten fließende Stoffe in ihren Lieblingsfarben Limette und Flieder, Moniques Strahlen im Gesicht ließ mich den Stil, den sie trug, vergessen.
Ich holte tief Luft.
Ihre Sensibilität gab mir den Rest. An diesem Ort musste ich ganz und gar nicht perfekt sein. Diese meiner Ängste war prompt passé.
Karen reagierte schnell und begann.
»Ich höre am liebsten Chopin und Liszt und liebe die Romane von Arto Paasilinna.«
»Und ich mag Sylvia Plath und Techno!«, rief Laura von ihrem Platz mir gegenüber.
Eingekeilt zwischen Karen linker Hand und Monique, blieb mir keine Möglichkeit zur Flucht. Dass sie es nicht bei der Nennung irgendwelcher Hobbys belassen würden, stand außer Frage.
Ich holte tief Luft und begann. Mein knurrender Magen war im Moment mal egal.
»Alles fing an mit einem Traum nach einem Verbrechen …«
Ich erzählte von Dirtys erster Vergewaltigung und wie DIE GROSSE WEISE FRAU in mein Leben trat und mich seitdem nicht mehr verlassen hatte. Ich erzählte davon, wie sie mich durch die Zeit im Höllenheim begleitet hatte. Von meiner Selbstbefreiung und Dirtys Ende. Ich erzählte von meinen Lehrern. Von denen, die mich liebten. Und denen, deren Exorzistin ihrer Schatten ich geworden war. Ich erzählte von Frau Silbermann und meinem Praktikum bei Simon Wiesenthal in Wien, von dem ich gelernt hatte, dass die Liebe die Erlösung aus Schmerz und der beste Schutz vor Verbitterung ist. Von meiner Einsamkeit in den Jahren ohne Gott in meinem Leben erzählte ich. Und zum Schluss erzählte ich von Rahel, der Adoption, wie wir uns wiedergefunden hatten, von meiner Wiedergeburt durch Nüchternheit und von meiner Rückkehr zu den täglichen Meditationen in Gegenwart meiner Göttin. Wie mich der Haifischtraum verlassen hate, kaum, dass ich der Göttin wieder Einlass in mein Leben gewährt hatte. Von den Egos erzählte ich nichts.
Mit starrem Blick auf das grüne Wachstuch vor mir hatte ich meine schlimmsten Jahre beschrieben.
Ich war weit davon entfernt, zu weinen. Denn überstanden hatte ich alles. Mit Würde, Stolz, gewonnener Stärke.
Als ich es wagte, den Blick zu heben, sah ich in sechs tränenerfüllte Augen. Alle drei saßen sie aufrecht, mucksmäuschenstill. Da war nur Schweigen. Gutes Schweigen. Leichtes Schweigen. Wie vor dem Altar. Wie auf meinem indigoblauen Kissen. Wie vor meiner Göttin.
Es war, wie sie gesagt hatte. Erzähle von deinem Gott, und …
Aber es fehlte etwas. Doch bevor ich loslegen konnte, begann Monique zu reden.
»Auch ich habe eine Tochter, und auch ich habe sie weggegeben«, ein Finger wischte eine Träne unter ihrem linken Auge weg. »Damals war ich sechzehn gewesen, zu jung für ein Kind.«
Täglich dachte sie an ihr Kind, weinte um eine verpasste Beziehung und schrieb an das Pariser Jugendamt mit der Bitte, ihre Briefe an das Kind weiterzuleiten. Bis zu diesem Sonntagmorgen hatte sie keine einzige Antwort erhalten.
»Den Schmerz konnte ich nur ertragen, indem ich das Land verließ, in dem meine Tochter vermutlich heute noch lebt. Dort zu leben, und doch getrennt von ihr, das brachte mich um.«
Du kennst dein Kind nicht, aber Schwangerschaft und Geburt allein genügen, um die Mutterschaft, auch in der Trennung, vom ersten Tag an zu leben. So wie Monique.
»Es gibt Frauen, die vergessen, haken ab, leben ein völlig neues Leben«, sie nahm meine Hand und drückte sie mit der Verzweiflung einer Trauernden, die nicht akzeptiert, »ich gehöre nicht zu ihnen. Je suis une maman.«
Hat sie mit diesem Schmerz in sich einen Mann gesucht, und diesen gefunden, fragte ich mich im Stillen. Zu früh, zu früh, so etwas konnte ich unmöglich laut aussprechen.
Monique selbst antwortete auf ihre Weise: »Aber sie ist immer meine große Liebe geblieben.« Dann sah sie mich aus verweinten Augen an. Ihre Mundwinkel begannen zu zucken. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, gefolgt von einem Zwinkern. »Vielleicht sollte ich mir auch eine Göttin suchen, was meinst du?«
»Unbedingt.« Ich lachte.
Beide bissen wir gleichzeitig in unsere Croissants. Laura und Karen tranken Café au Lait und wussten, dass wir beide noch eine Weile brauchten, bevor wir uns ihnen zuwenden würden.
»Na ja«, begann Monique erneut, »hatte bislang Angst, dass mit dem Beten der Schmerz nur noch größer würde.«
Leicht schüttelte ich den Kopf. Auf keinen Fall wollte ich durch eine starke Geste besserwisserisch rüberkommen.
»Sie hält alles aus«, sagte ich. »Geh mit deinem Gott in die Stille und lass die Trauer ruhig zu. Schreie, fluche vor Gott, reiß dir die Kleider vom Leib – der oder die hält das alles aus. Und was ich weiß, ist, dass der schlimmste Trauerschmerz nur wenige Sekunden anhält, dass ich nicht daran gestorben bin, wie du siehst, weil ich DIE GROSSE WEISE FRAU hatte. Mit ihr war die Einsamkeit vorbei. Ich fühlte mich keine Sekunde lang in meinem Schmerz alleingelassen oder verloren.«
In ihren weit aufgerissenen Augen las ich Angst. Sie wollte ihr Kind nicht loslassen.
Ich strich ihr über die Hand, die neben dem Teller mit den Croissantkrümeln darauf lag.
Monique hatte Angst vor dem Schmerz, ohne den die Trauer nicht auskommt.
»Das ist Wachstumsschmerz, Monique«, sagte ich, zögerte kurz, konnte aber nicht anders. »Was du nicht loslässt«, ich sprach leise, »bringt dich um.«
Sie hatten lange geschwiegen, aber damit war nun Schluss.
»Ein Magengeschwür hat sie schon!«, rief Karen.
»Sei still!«, zischte Laura.
»Sei still, sei still, sei still«, reagierte auch Monique gereizt.
Hier lag etwas unausgesprochen im Raum.
Was das eine war, wusste ich. Dahinter steckte aber noch etwas anderes.
Ein Blick in Moniques gebrochenen Blick sagte mir, dass es für das eine Thema zu früh war. Trotzdem wollte ich ihr helfen.
»Also das mit der Liebe war so …«, begann ich. »Auch er hieß Alex.« Ich erzählte, dass ich umso enttäuschter über die Sache mit diesem Jungen gewesen war, als ich doch mit Molo, Alex’ Irgendwie-aber-nicht-so-richtig-Vorgänger, und von Tom mal abgesehen, einen so guten Start in Sachen Das andere Geschlecht gehabt hatte: Jemand zeigte mir seine Zuneigung ganz offen, sagte mir, dass ich für einen Jungen liebenswert war, dass die Vergangenheit nicht durch mein Gesicht hindurchschimmerte wie eine Monsterfratze.
»Wenn ich mit Molo zusammen gewesen war, gelang es mir, meinen Bruder zu vergessen. Ich war keine unansehnliche Dicke mehr.«
Umso krasser dann der Absturz, als Alex es meinem Bruder nachmachte, mich vor seinen Freunden bloßstellte, unsere zarte Liebe verriet.
»Aber hat dich deine Göttin denn nicht davor gewarnt?«, fragte Monique, was mich gar nicht verwunderte, wo sie doch selbst gerade auf den Geschmack gekommen war.
Ich schüttelte den Kopf. »Genau an dieser Stelle passierte der Bruch. Aber es war mein Versagen.«
Ein paar Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Wieso?«, fragte die Französin.
»Ich missachtete ihren Hinweis.«
»Welchen?«, fragten Laura und Karen gleichzeitig. Hätte ich an ihrer Stelle auch getan. Denn genau diese Information bildete das entscheidende Moment meiner Fehlentscheidung.
Dennoch antwortete ich: »Darf ich das für mich behalten?«
»Nein!!!«, riefen alle drei.
Ich blieb eisenhart und wusste warum.
»Bitte!!!«
»Och menno!«, sagte Karen.
»Schade«, kam es von Laura.
»Alors, fahre fort«, sprach die Frau, für die die Geschichte zu erzählen ich überhaupt begonnen hatte.
»Ich machte einen Fehler, nachdem Alex nicht zu mir gestanden hatte. Statt zu akzeptieren und weiterhin meiner Göttin mein Leben anzuvertrauen, verfiel ich dem Zorn, dem Neid auf eine Freundin mit nettem Freund und der Selbstzerstörung.«
Moniques Hals ließ rote Flecken erkennen. Finger gruben sich ins eigene Fleisch. Mit belegter Stimme sagte sie: »Weiter!«
»Da war diese Sehnsucht nach körperlicher Nähe, nach den warmen starken Armen eines Mannes. Ich war ja auch von Molo nie richtig angefasst worden. Das war über mehrere Tage gegangen, das mit dem regelmäßigen Anfassen, den Küssen … Verstehst du? Nie ein liebes Wort, nie von einem aus der Familie die Frage Wie geht es dir?, und dann diese freiwillige körperliche Nähe von einem, zusammen mit zärtlichen Küssen und diesem mit dir verschmelzenden Blick. Das machte mich so schnell abhängig wie eine auf Crystal Meth. Warme Arme! Warme Arme! Warme Arme!!! Ich war zu einem Umarmungs-Sehnsuchts-Junkie geworden. Hinzu kamen romantische Träume von der Liebe, die du in jeder Bravo nachlesen kannst.«
»Wie kannst du so abfällig über diese Form der Liebe sprechen?«, beschwerte sich Monique. »Sie ist doch das Einzige, das zählt.«
Hier mochten Mentalitätsunterschiede eine Rolle spielen, aber bei Sucht hörte für mich der Spaß auf.
»Tut mir leid, das ging gar nicht«, entgegnete ich ihr. »Ich wäre beinahe Alkoholikerin geworden, weil ich mit dieser Sehnsucht nicht mehr anders umgehen wollte, als mich ins Vergessen zu stürzen. Umnebelt hielt ich den Schmerz, ohne die warmen Arme leben zu müssen, aus, weil ich einfach alle Gefühle tot machte. Nie wieder Schmerz!, das wurde meine Parole vor dem Trinken!«
Ich war jetzt wirklich aufgebracht. Dass ich die Neue in der Runde war, kümmerte mich gar nicht mehr. Eine versuchte die Wogen zu glätten.
»Was wäre die Rettung gewesen?«, flüsterte Laura.
»Was wohl?«, reagierte ich energisch. »Vertrauen, Alex verzeihen, Geduld und Zuversicht, dass mich ihr Hinweis schon den Richtigen kennenlernen ließe. Der Rückblick auf mein Leben, wie mich DIE GROSSE WEISE FRAU durch all die Kummerjahre gelenkt und begleitet hat, das hätte mir doch gereicht, um ihr treu bleiben zu können. Aber nein! Ich war gekränkt, wütend und handelte im Trotz. Damit begann der Abstieg in die Hölle.«
»Und nun kennst du einen weiteren Alex«, Lauras Blick kletterte von einem Augenpaar zum nächsten und blieb an meinem hängen.
Ich wartete auf die Frage, die nicht kam.
Willst du darüber reden?
Nein!, hätte meine Antwort gelautet.
Ich wusste, dass ich mit diesem Alex erneut auf die Probe gestellt wurde. Das Leben schenkt dir nichts. Hast du an einem Punkt deiner Vergangenheit gekniffen, kriegst du das Thema so lange serviert, bis du daran gewachsen bist.
Aber ehe ich michs versah, war Lauras Blick auf meinem Gesicht längst verschwunden.
»Danke«, sagte Karen und befreite mich aus einem Moment von Irritiertheit. Und sie war es auch, die zu erzählen begann.
»Meine Liebe trieb mich in die Flucht«, gab sie trocken von sich.
Wir lachten.
»Damals war ich siebzehn. Meine Eltern mochten es nicht, dass ich überhaupt einen Freund hatte. Ständig wurden wir kontrolliert, wenn wir uns trafen. Bis es uns eines Tages reichte.«
Beide packten die Koffer, hielten den Daumen der rechten Hand in die Luft und landeten in einer großen Stadt.
»Ich fasste in Berlin schnell Fuß. Aber als ich meinen Ausbildungsplatz bei meiner Bank fand, trank Ferdinand.«
Oha, Alkohol! Das war heikel. Zu oft hatte ich gehört, wie feindselig die Angehörigen von Alkoholikern reagieren konnten, wenn man zugab, selbst ein Problem mit dem Stoff gehabt zu haben. Man war schließlich so etwas wie ein wandelndes Souvenir. Aus Erinnerungen wurden Projektionen.
Nicht so bei Karen.
Seelenfamilie heißt, du kannst frei sagen, was du willst, und befreist damit den anderen.
Wie unbefangen Karen mir gegenüber war, bewies sie mir in diesem Augenblick.
»Auch ich bete, nicht so wie du, sondern ganz spießig, und so ganz ohne Meditationskissen unterm Popöchen«, sagte sie, wobei sie eine Grimasse schnitt, »zur Mutter Maria. Und sie hat mir gesagt, ich soll den doofen Kassenschalterjob sausen lassen. Mehr hat sie nicht gesagt, nur das.«
»Und was ist passiert?«, fragte ich.
»Ich habe mich für eine bankinterne Ausbildung zur Investmentberaterin beworben.«
»Und, hast du schon eine Antwort?«, wollte ich wissen.
»Ja!!!«
Alle drei sahen mich an. Immer noch saß ich auf Kohlen.
»Na«, sagte Karen, »dann wollen wir dich nicht länger auf die Folter spannen. Ich fühle, was in dir vorgeht.«
»Ich kann es nicht leugnen«, gab ich zu.
»Ich mache es kurz: Wir sprechen nicht über unsere aktuellen Liebesbeziehungen. Das ist unsere Regel.«
»Deshalb also keine Frage nach Alex.«
Laura nickte. Karen lächelte mit geschlossenem Mund. Moniques Blick suchte das Weite, dennoch blieb sie stumm.
Ein erstauntes »Wieso?« kam mir über die Lippen, und zwar schneller, als mir lieb war.
»Ja, also …«, sagte Laura, nun gar nicht mehr zurückhaltend, wie ich überrascht feststellte. »Wir haben aus früheren Freundschaften gelernt und festgestellt, dass sich unsere Beziehungen verfälschen, wenn wir mit einem Dritten darüber reden.«
»Außerdem«, übernahm Karen das Reden, »ist das ziemlich gefährlich. Denn es könnte ja irgendwie zu den Männern durchsickern. Ich meine, wir sind auch nur Menschen. Verquatscht sich eine von uns, hat eine andere den Salat, du verstehst?«
Aus versunkenen Gedanken an die Oberfläche zurückgekehrt, sagte Monique: »Ich hab mal einen Freund verloren, weil ich mit seiner Freundin beim Joggen über seine Lieblingskondommarke sprach. Das hat schon gereicht.«
»Den bist du aber gerne losgeworden, nicht wahr?«, fragte ich sie, mit dem linken Auge zwinkernd.
Sie lachte laut und nickte.
»Aber Spaß beiseite«, sagte ich. »Die Regel akzeptiere ich, macht Sinn die Begründung. Und es ist ja nicht so, dass mein Leben ohne Männer langweilig wäre.«
Weiß Gott hatte ich lange genug gebraucht, um mich ohne Mann vollständig zu fühlen. Meine Tochter, meine Arbeit, diese Frauen, Göttin und Egos… auch diesen Morgen hatte ich es nicht nur bei einem zärtlichen Streicheln meines Körpers belassen.
Ein Mann war Zugabe, aber nicht Erfüllung.
Laura ergriff das Wort. »Und nun zu dem, was ich so mache, wenn ich ohne Mann bin … Tanzen ist sexuelle Energie ohne Mann. Erotik für dich allein vor dem Spiegel.«
Ups, die kam ja gleich zur Sache. Ich hatte sie für das gehalten, was ihre Schale vorgab zu sein: etwas distinguiert, vornehm, upper class – weit gefehlt! Noch einmal kam mir in den Sinn, was ich bereits im Zusammenhang mit Rahels Adoptiveltern gelernt hatte: Don’t change a book by its cover.
»Und die«, fuhr Laura fort, »kann ich bei meinem Job mit den Kids gut gebrauchen. Erotische Energie in Kreativität umgesetzt, ergibt jede Menge Spaß beim Unterrichten.«
Das gefiel mir.
»Was fällt mir zu Gott und den Männern der Vergangenheit ein? Ich spüre die Kraft der Heiligen Mutter, wenn ich meine Pirouetten beherrsche. Wie ihr wisst, bin ich ja in Boston groß geworden, und dort betete ich immer in der Kirche Saint Cecilia zu ihr. Wenn ich mir vorstelle, wie mich ein unsichtbares Seil in der Geraden hält, dann spüre ich die göttliche Hand von der heiligen Mary, auf der ich mein ganzes Leben tanze.«
Wow! Schöner hätte es Else Lasker-Schülers Tino nicht sagen können.
»Meine erste Liebe«, fuhr Laura fort zu erzählen, „war ein Mädchen. Brigid aus der Klasse über mir. Noch heute schmecke ich Erdbeeren auf der Zunge, wenn ich an ihre Klitoris denke. Und mich selbst konnte keine so gut befriedigen wie sie. Oral ist jeder Mann im Vergleich zu ihr ein Trottel, bräuchte ein Zungen-GPS.«
»Aber wie bist du dann auf den Geschmack anderes Geschlecht gekommen?«, wollte ich wissen.
»Es ist einfach passiert«, antwortete sie mir. »Für die Liebe gibt es keine Regeln.«
Ein Verhör wollte ich vermeiden, weitere persönliche Fragen, direkt an Laura gerichtet, hätte sie womöglich als unhöflich empfunden. Trotzdem sah ich ihr intensiv in die Augen, in der Hoffnung, noch mehr über sie zu erfahren.
Ihr breiter fliederfarbener Lackgürtel hob und senkte sich kein bisschen, als sie die Namen aufzählte, die man kennen musste, wenn einem die angesagtesten Klubs der Stadt im Sinne schwebten.
Hier die Klubs …
Jemand klatschte in die Hände. Das konnte nur eine sein.
Personenwechsel = Themenwechsel.
»Wenn ich«, sagte Karen, »nicht mit Tom zusammenhänge und auch nicht arbeite, sammle ich Schmetterlinge.«
»Und du machst sie tot?«
»Ja.«
Ich schluckte schwer und zwang mich zu Toleranz. Das war alles andere als leicht, aber ich wollte fair sein.
Karen überlistete meine Vorbehalte, indem sie meine Neugierde anregte.
»Hast du gewusst«, sagte sie, »dass besonders große Ringe auf den Flügeln des Pfauenauges eine große Überlebenschance bedeuten?«
»Nein«, antwortete ich, erstaunt darüber, überhaupt ein Wort herauszubringen.
»Ja, wenn die Ringe besonders groß sind, dann heißt das, dass das Tier sehr wahrscheinlich besonders viele Entwicklungsstufen in der Evolution durchlaufen wird.«
»Ist das nicht toll?«, grunste sie in dunklem Alt und klopfte sich dabei mit beiden Händen auf die Jeans-Schenkel.
Diese pragmatische Geste nutzte Monique für einen überlebensnotwendigen Programmwechsel, denn mein Magen knurrte bereits, seit ich Moniques Wohnung betreten hatte. Nach dem Aufstehen hatte ich absichtlich nichts gegessen, um nichts von dem Brunchangebot der Gastgeberin auslassen zu müssen.
»Ja«, sagte Monique, während sie in die Hände klatschte. »Und bon, meine Leidenschaft kennst du ja schon: die Astrologie. Und nun lasst uns endlich essen.«
Ich atmete leise aus. Vor uns standen kalt gewordene Getränke und Croissants.
Nachdem wir alle drei den Brunch in seiner ursprünglichen Fassung wiederhergestellt hatten, ließen wir es uns tüchtig schmecken. Ich mied nach wie vor Milchprodukte und war froh, dass Monique Sojamilch im Hause hatte. Ich litt zwar nicht mehr an akuter bronchialer Hyperreagibilität wie in den schlimmsten Jahren meines Lebens, dennoch wollte ich es nicht darauf ankommen lassen. Schleimbildung im Bereich der Bronchien und im Rachenraum durch den Verzehr von Milchprodukten wollte ich auf alle Fälle vermeiden.
Ich hielt mich an Guacamole, Lachs und deutschem Kaviar, an Rührei aus Tofu, Tomatensalat und jede Menge Obst.
Mit vollem Magen konnte ich endlich wieder dankbar sein und reflektieren. Was war mit mir in den vergangenen langen Minuten des Erzählens geschehen?
Geschehen war der Beginn von etwas, das sich bei jeder zukünftigen sonntäglichen Begegnung fortsetzen würde.
Ich dachte an den Traum mit der Sichel und an die anschließende Meditation mit der Göttin in der vorangegangenen Nacht.
Ich würde den Teil von mir jenseits der Egos kennenlernen, den Teil, den ich nur im Angesicht eines Gegenübers erfahren konnte, und nicht nur im Angesicht irgendeines Gegenübers, sondern im Angesicht eines adäquaten Gegenübers. Die Wunderbaren Drei waren mir ebenbürtig. Wir begegneten uns auf Augenhöhe.
Nachdem ich meine Göttin, meine Liebe und mich Den Wunderbaren Dreien gezeigt hatte, spürte ich eine Identität, für die es keine Worte gab. Sie war stark im Moment des Miteinanders.
Ich wusste, wenn ich diesen Brunch verließe, würde ich etwas mitnehmen, das sich auf meine Beziehung zu meinen Egos auswirken würde. Wie, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Was ich jedoch wusste: Ich wollte den Frauen hier ein Geschenk machen.
5. Das Hobby
Freundschaft heißt zuhören
HAST DU EIN Hobby?«, fragte Karen. – Hobby, na ja Hobby war vielleicht nicht das richtige Wort, oder?
Trotzdem antwortete ich: »Ich habe Identitäten erfunden, die mich schützen und mir helfen, mich durchzusetzen. Deshalb nenne ich sie Egos. Ich brauche sie bei fiesen Menschen und widerlichen Widerwärtigkeiten.«
Den Blick hübsch auf den Tisch gerichtet lassen. Dann schaffst du das, Coco.
»Die Identität, die mir im entscheidenden Moment half, mich von meinem Schänder zu befreien, war ARTEMIS. Sie machte Jagd auf das pädophile Schwein. Am letzten Tag der Schändungen verließ ihn die Erektion, als ich mich ihm mit der Identität der ARTEMIS zeigte. Er war so gekränkt, dass er es hat sein lassen.«
Ich trank einen Schluck Kaffee.
»Andere Egos halfen mir in der Schule für gute Noten und gegen üble Lehrer, und dabei, mich auch mal schwach zu zeigen, wenn das Sichwehren zu anstrengend war.«
Diesmal nippte ich nur an meinem Getränk. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Ich merkte, wie sich vor Freude und Erleichterung meine Stimme überschlug: »Und eine habt ihr gleich bei unserem ersten Treffen kennengelernt … DIE ZWANZIGERJAHREFRAU, die Identität mit dem Charlstonkleid. Sie ist die erste aus meinem neuen Leben, aus der Zeit nach den miserablen Jahren.«
Ich zählte bis einundzwanzig. Ganz schön lange, wenn ihr mich fragt. Mein Herz musste mittlerweile gut sichtbar in meinem Gesicht pochen. Niemand außer der Bibliothekarin von damals hatte jemals etwas über meine Egos erfahren. Umso schwerer wog die Angst vor Zensur nach der Freude und der Erleichterung darüber, dass sie mich hatten reden lassen.
Wieder dachte ich an die Sichel, den Traum und die Meditation danach.
Als ich schließlich in die Damenrunde blickte, sah ich, wie jemand eine Serviette in die Hand nahm und sich etwas aus den Augen wischte.
»Das war das Ergreifendste«, sagte Monique, »was ich an diesem Tag aus deinem Mund gehört habe.«
Was – schon jetzt? Wieso können einem da die Tränen kommen, wenn man nur zwei, drei Sätze über meine Egos gehört hat? Wer kann denn fühlen, was ich gefühlt habe?
Dann stand eine Zweite auch noch auf, ging um den Tisch herum und legte mir von hinten die Arme um die Schultern.
»Danke«, flüsterte mir Laura ins Ohr. »Danke für dein Vertrauen. Was für ein mutiger kleiner Mensch.«
»Das hat sie damals auch gesagt«, krächzte ich. Ein Frosch war in meine Kehle gehüpft, wo er festsaß wie ein riesiger süddeutscher Knödel. »Meine Göttin.«
»Wie haben deine Egos funktioniert?«, fragte Karen.
»Indem ich mir vorgestellt habe, sie zu berühren.«
»Das geht?«, entfuhr es der erstaunten Monique.
»Ja klar, so ein menschlicher Geist ist ganz schön stark.«
»I’m impressed«, gab Laura von sich.
Sie alle waren beeindruckt, nicht nur Laura. Deshalb also keine Zensur, deshalb dieses andächtige Schweigen und Zuhören.
»Diese imaginären Kleider …« Karen war eine Spur zu laut für die Stimmung, in der ich mich befand. Noch immer umfasste Laura meine Schultern, hinzu kam ihre Wange an meiner rechten. Für mich war das eine Art Nähe-Tsunami, doch ich wollte es ohne sie schaffen, ohne die Egos, selbst wenn sie in diesem Moment die Stars der Runde waren. Nein, ich würde COLLEGE GIRL nicht um Rat fragen, was in dieser Situation am besten zu tun sei.
»EgoStyle«, krächzte ich Karen über den Tisch zu.
»Was?«
»EgoStyle«, wiederholte ich. »So heißt das Outfit jedes einzelnen Egos. Sobald es sie in der Realität gibt, sie hängen alle zu Hause bei mir an einer rollbaren Kleiderstange, heißen alle EgoStyles und zusammengenommen EgoStyleBoutique.«
Nach einem bittenden Blick zu Laura, die daraufhin ihre Umarmung löste, griff ich zu meiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Kalt geworden wirkte der Kaffee der inneren Hitze meines Aufgeregtseins entgegen, weil ich gerade das zentrale Geheimnis meiner Selbstheilung und Energetisierung preisgegeben hatte.
Ihr Mitgefühl verwandelte sich in meinen Mut, den ich benötigte, um weiterzuerzählen.
»Indem ich damals als Kind, als es die EgoStyleBoutique noch nicht gab, einfach weil ich kein Geld hatte, beispielsweise ARTEMIS’ grünen Wildlederrock, den sie einer grünen Wildlederweste trug, berührte, imaginär berührte, entfaltete das Ego seinen Zauber, und ich wurde stark wie sie. Oder sie trat in meiner Vorstellung neben mich und verpasste dem Schänder so einiges.«
»Mensch, das ist genial!« Mit Karens Selbstbeherrschung war es endgültig vorbei. Sie schoss von ihrem Stuhl hoch, rannte um den Tisch herum und stürzte sich auf mich, besser gesagt, auf Laura, die zu ihrer Umarmung zurückgekehrt war.
Das Bild der Bremer Stadtmusikanten tauchte kurz vor meinem geistigen Auge auf, bevor mir in den Sinn kam, dass sich Karens Begeisterung noch um einiges steigern ließe.
»Zu ARTEMIS’ EgoStyle gehörten auch ihre Waffen: gladius, das römische Kurzschwert, Speer, Pfeil und Bogen. Auch sie aktivierte ich durch Imagination.«
»Verdammt!«, sagte Karen. »Das ist verdammt gut.«
Das zu hören brachte meinen Halsfrosch zum Hüpfen. Aber es bedurfte noch einer Aktion.
»Bon«, sagte Monique.
Nur ein Bon? Dabei hatte ich gerade an sie gedacht, als ich von den Wundern, die meine Egos bewirkten, erzählte. Nicht ohne Absicht hatte ich die offene Wunde ihres Lebens berührt.
Der EgoStyle, die imaginären Kleider meiner Egos, war vor Gott, am
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2016
ISBN: 978-3-7396-6855-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen Opfern des Nationalsozialismus auf der ganzen Welt!