Coco Sonne
Die Happy-End-Chroniken
2
Raphael und Rahel
Deutsche Erstveröffentlichung April 2016
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Coco Sonne
Herausgeber:
Coco Sonne
c/o
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König-Konrad-Str. 22
36039 Fulda
E-Mail: cocosonne@email.de
Umschlaggestaltung und Lektorat: ISA DESIGN, www.isadesign.net
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»Eulen, die am Tage heulten, bedeuteten schweres Unheil.«
(Catweazle)
Für mein Goldkind
Anmerkung der Autorin
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich freue mich, dass du den Weg zu meinem Buch gefunden hast, und ich hoffe, dass ich dein Herz mit meiner Geschichte erreiche. Ich wünsche mir, dass sie dir hilft, dich selbst besser zu verstehen, dir zu verzeihen und dich stark zu machen. Jedoch möchte ich an dieser Stelle auch betonen: Die hier vorgestellte Selbstheilungs- und Selbstbefreiungsmethode ersetzt weder den Arzt noch den Heilpraktiker und auch nicht den Psychotherapeuten.
Wer einen Jugendlichen kennt, dem dieses Buch helfen könnte, der möge ihm ein Geschenk machen, indem er ihm meinen Roman kauft. Möglicherweise kann Leben gerettet werden. Dieses Anliegen ist mir so wichtig, dass ich nach dem Schlusskapitel dieses E-Books noch mal darauf hinweise. Es handelt sich dabei also um keinen ungelöschten Wiederholungsfehler.
Inhaltsverzeichnis
Titelei
PROLOG
Der Anruf
Glück dem, der sich anfasst
Februarstimmung
Arbeiterkind
Kleider machen Freunde. Freunde machen Kleider
Der Besuch
Die Couch
Die Völlers
Hass
La musique
Heidenbäuchlein
Hilfe aus dem Jenseits
Zurückgeblieben
Tampons
Was ich nicht wissen konnte
Würste in der Nacht haben mich um den Schlaf gebracht
Molo
Karin
Die Goldenen Zwei
Tom, der erste Versuch
Der schöne Tod
Romantic Dream Girl
Alex
Intermezzo
Freunde
Muttermahl
Ein fremder Mann
Wanda Geyer
Mobbing
POLLI, DAS STRASSENKIND
Verzeihen
Shoah
Der auf dem Hai ritt
VERA
Alex’ Rache
Der schiefe Zahn
Verzeihen II
Mit der Musik am Ende
Verzeihen III
Ich habe die Wahl
Tot
Himmler
Der schwache Versuch
Alkohol
Abitur der Freiheit?
American Cookie
EPILOG
PROLOG
Umweltgifte
Engel
Der Besuch
Goldkind
Ein Platz an der Sonne
Der Tod und das kleine Mädchen
Lockruf einer Stadt
Die große Illusion
Rahels Entscheidung
Tod einer Mutter
Fesseln
Hölle
Ein fataler Fehler
Der Morgen
Das Angebot
Die Jahre ohne dich
Liebe
Versöhnung auf ganzer Linie
Angst und Vorurteil
EPILOG
Die Autorin
Das Buch in aller Kürze
Danksagung
Nachwort
Literaturverzeichnis
RAPHAEL
PROLOG
Ich krieg dich.
DER ANRUF
ICH MACHE MIR einen Sojamilchkaffee. Die Farben an den Wänden riechen frisch. Neben dem Tisch für die Aufgabe rauschen sie im Wind. Durch das geöffnete Fenster füllt Blumenduft den Raum. Es ist Frühling.
Das Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung mein Kind, nach siebzehn Jahren Trennung. Hände zittern. Der Teelöffel fällt mir auf den Teppich. Haare legen sich falsch um mein Gesicht.
»Warum?«, fragt mein Kind.
Ich schließe die Augen.
»Alles?«
»Ja, alles. Fang schon an.«
Ich schließe die Augen. Ich kehre zurück. Und erzähle ihr über Stunden mein Leben seit Anbeginn seiner irdischen Existenz. Mein Kind erfährt alles. Ich erzähle ohne Schminke.
Mutter, ein anderes Wort für Liebe. Meine hat kein Recht mehr, von mir so genannt zu werden. Fraudiemichgeborenhat ist vollkommen ausreichend. Mutterliebe ist tot, was sie angeht.
Aber nicht die andere.
»Bin wieder zurück, vom Klo!«, ruft mein Kind.
»Na, dann kann's ja weitergehen.«
»Mach mal!«
»Vielleicht wiederhole ich mich an ein oder anderer Stelle. Bin eben keine perfekte Erzählerin.«
»Unperfekt ist mir lieber. Los, mach weiter!«
***
GLÜCK DEM, DER SICH ANFASST
ES TUT WEH, schrecklich weh, jedes Mal«, sagt die Fraudiemichgeborenhat. »Jedes Mal, wenn er in mich hineinfährt.«
Sie gönnt mir meine Freiheit nicht.
»Wie Schmirgelpapier.«
»Aber wenn es Schmirgelpapier ist, dann kann er doch nicht hineinfahren.«
»AHHHCH!, du verstehst mich nicht.«
Unter dem Wachstischtuch, hübsch lang gezogen für mein Geheimnis, mache ich mir schöne Gefühle mit dem Fingern. Alles nicht wahr! Ich weiß, dass Sex Spaß macht. Das weiß ich von Moni&Gerd. Das Paar hat mich aufgeklärt, und ich weiß nun, dass Männer sich besonders männlich fühlen, wenn sie ihre Geliebte glücklich machen können. Oder anders ausgedrückt: wenn ihre Angebetete die Sterne sieht.
Deshalb trifft mich das, was die Fraudiemichgeborenhat über das angebliche Grauen des ehelichen Beischlafs von sich gibt, nicht die Bohne … und mache es mir auch weiterhin mit meinem Böhnchen ganz hübsch … grins.
Und dass Sex sogar mich heilt, das weiß ich auch.
Sie gönnt mir meine Freiheit nicht. Deshalb redet sie so mit mir. Schließlich hab ich mir ja vor ein paar Wochen mein Leben zurückgeholt. Nach vier Jahren Schändung unter dem Dach meiner Eltern. Sie fand das gut. Es war sogar ihr Wunsch gewesen.
Es ist viel schlimmer. Sie hasst meine Freiheit regelrecht und alles, was zu dieser Freiheit gehört. Sie hasst es, dass ich gebildete Frauen liebe. Sie hasst es, dass ich gepflegte Mütter liebe, die viel Freude in der Nacht haben. In deren Gesicht der Höhepunkt der letzten Stunden zu sehen ist.
Meine Freuden heilen mich. Sie geben mir zurück, was Onkel Dirty – sein richtiger Name wird nie wieder zählen – unfairerweise besessen hatte: Macht.
Mit jedem Orgasmus durch meine Hand hole ich mir seine geraubten Orgasmen an und in meinem Kinderkörper zurück. Ich rupple. Ich heile. Ich rupple, weil ich heile. Ich bin jetzt schon ganz schön ganz geworden.
Die Fraudiemichgeborenhat sieht, dass es mir gut geht. Während sie mich anstarrt, mit zusammengezogenen buschigen schwarzen Augenbrauen, die sich über der Nasenwurzel treffen, träume ich mich in meine magische Welt hinein. Hinfort, nur ganz, ganz weit weg von hier. Ich weiß, dass ich dabei lächle. Und ich weiß, dass ich damit mein Gegenüber ganz besonders treffe. Auch sie hat keine Macht mehr über mich.
Ich habe unsichtbare Freunde und eine verdammt geile Göttin. DIE GROSSE WEISE FRAU. Meine Freunde sind unsichtbar. Sie heißen Egos, weil sie mir helfen, mich in einer größtenteils feindlichen Erwachsenenwelt durchzusetzen. In mein Leben getreten sind sie vor dem Altar der Göttin in der Dorfkirche meines Kaffs namens Loch. Geweiht ist dieser Altar der Heiligen Mutter, aber meine Göttin ist besser als diese katholische Gestalt.
COLLEGE GIRL, die Intellektuelle. ARTEMIS, die Kriegsgöttin und Rächerin gequälter Kinder, mit deren Hilfe ich mich aus den Klauen meines Schänders befreit habe. Hab ihm die Erektion kaputt gemacht. So geschämt hat er sich darüber, dass er es hat bleiben lassen, für immer. SCHNEEWITTCHEN, das unschuldige Kind, das mich daran erinnert, dass ich trotz allem rein bin. Nicht ich bin die Hure, sondern Onkel Dirty. Diese ewige Schlampe, die Gott sei Dank mittlerweile in der Hölle schmort. PIPPI RINGEL, mit der ich lache. DAS T-SHIRT-MÄDCHEN MIT DEM PFERD, das ich mittlerweile immer öfter kurz PONYMÄDCHEN nenne, mit dem ich Mutter Natur besuche. Neben ihr rase ich auf meinem roten Kinderfahrrad durch das Fichtenwäldchen nahe meines Elternhauses. An der Quelle tief im Wald liege ich mit dem Rücken im Schlamm und beobachte, wie Sonnenstrahlen durch Baumwipfel brechen. Wieder bin ich ganz. Meine Freundin erzählt mir von einer liebenden Familie. In ihr lebt sie. Sie nährt die Hoffnung auf meine Seelenfamilie aus Fleisch und Blut. Eines Tages werde ich sie gefunden haben.
Und dann gibt es noch DAD SHAUN. Ein Ego ist er nicht. Er stärkt mir auf väterlich männliche Art den Rücken, seit mein Vater aus Fleisch und Blut sich geweigert hat, Dirty zur Anzeige zu bringen. Der zweite Alkoholiker im Haus, mein Bruder Heinzi, hat das zwar auch nicht getan, als er von Dirty erfahren hat, aber immerhin hat er ihm die Leviten gelesen und mich eine ganze Woche lang vor dem Monster beschützt – trotz seiner Abhängigkeit von seiner Mutter. Für sie hat er sich ganz aufgegeben. Ganz besonders seine Sexualität. Sämtliche Beziehungen hat sie ihm kaputt gemacht. Er steht ganz im Schatten der Frau ohne Orgasmus. Ihr besorgt er es, indem er, abgesehen von jener einwöchigen Ausnahme, gnadenlos zu ihr steht.
FEBRUARSTIMMUNG
DAD SHAUN SAGT, dass der Februar ein guter Monat sei, um sich zu befreien. Tatsächlich stirbt Onkel Dirty im Februar nach meiner Selbstbefreiung. Und alle im Familienklub sind mächtig traurig darüber – außer mir. Auch die Augen meines Bruders bleiben trocken.
DAD SHAUN sagt auch, dass der Februar der Monat der Freundschaft sei. Das hänge mit dem Sternzeichen Wassermann zusammen. Freiheit und Freundschaft, das seien die großen Themen dieses Zeichens.
Als Bruder Heinzi am Abend vorm Fernseher sitzt, sagt er: »Hab ich’s doch gewusst, die Sau ist nicht koscher.« Er spricht von einem »Arschloch«, der unseren Willy, also den Kanzler »weghaben« wolle. »Der Barzel ist und bleibt eine korrupte Ratte.«
So drastisch politisch anders denkend hab ich Heinzi noch nie reden hören. Hat er seiner Mutter zuliebe, die heimlich die rechte Klaue jedes Jahr am zwanzigsten April, Hitlers Geburtstag, hebt, nicht sogar mal CSU gewählt? Hier und heute an diesem besonderen Tag scheint auch er sich auf seine Weise zu befreien. »Sechzigtausend Mark, und das auch noch von einem Rüstungskonzern!«
Ich nicke zu Heinzis politischem Kommentar, weil ich weiß, dass auch COLLEGE GIRL ihm recht geben würde.
Wo ist sie eigentlich?
Ich ahne, wo. Immer ist sie mir einen Schritt voraus.
Etwas bedrückt mich, und es wird Zeit, dass ich dort hingehe, wo ich immer hingehe, wenn ich in der Welt der Erwachsenen keine Antworten kriege – oder wenn ich erst von der Welt der Erwachsenen Antworten kriege, nachdem ich an diesem Ort einen besonderen Hinweis bekommen habe.
»Du darfst dich nicht schämen!« Einmal mehr höre ich das Gebot DER GROSSEN WEISEN FRAU, nachdem ich die weißen Kleider und die schwarzen Lackschuhe DES WEISSEN MÄDCHENS übergestülpt habe, um sie sehen zu können. Imaginäre Kleider, diese hier und die meiner Egos, sie sind es, die magische Kräfte entfalten, mit denen ich mich zur Wehr setze und überlebe, lebe, seit Dirty weg ist.
Ohne die Kraft der Göttin und ihrer Mitspieler sähe ich tot aus wie ein Hundehaufen.
»Hör mal«, sagt die Göttin, »du weißt ganz genau, worum es hier geht.«
Karin. Die rote Karin. Sie war neu in unserer Klasse, sah wie COLLEGE GIRL aus. Rote Locken, karierte Hosen, schwarze Weste mit 'nem T-Shirt darunter, und sogar grüne Krokodillederimitat-Halbschuhe. Und sie las. Mit ihr konnte ich mich über Bücher und ihre Weisheiten darin austauschen. Ich hatte wirklich geglaubt, ein Stück Ego-Himmel auf Erden gefunden zu haben. Das machte mir Hoffnung. Vielleicht würde ich alle meine Egos eines Tages in Menschengestalt treffen.
Aber dann kam jener Tag.
Mein Zimmer hatte ich hübsch hergerichtet. Und dann musste Karin mal, und als sie auf dem Weg zu unserer neuen Toilette im Obergeschoss des Hauses war, da sah sie etwas, das da niemals hätte stehen sollen. Ihr gefüllter Nachttopf. Ich wusste sofort, dass das mit Absicht geschehen war.
Mich von den anderen zu isolieren ist nach wie vor ihre Absicht. So ganz ohne Rückhalt von Freunden kann sie mich hübsch weiter mit hässlichen Gutenachtgeschichten aus dem Schlafzimmer ihrer kalten Ehe unterhalten, ohne befürchten zu müssen, dass das jemand hören will. Sie will zu Ende bringen, was Dirty nicht geschafft hat. Töten und brechen. Brechen und töten. Die Freiheit aus der Kinderseele herausziehen.
Karin lief mit gellendem Schrei aus dem Haus. Und ich wusste, was in der nächsten Pause passieren würde.
»Ich schäme mich vor Karin«, sage ich zur GROSSEN WEISEN FRAU.
»Du bist traurig«, sagt die Göttin. »Das ist das wahre Gefühl hinter der Scham.« Wie immer trägt sie ein langärmeliges weißes Maxikleid aus Velours. Sie hat lockiges, langes rotes Haar, einen sehr hellen Teint und grüne Augen, eine schmale Nase und volle Lippen. Dass sie einen Mann hat, weiß ich auch schon, aber der ist hier noch nie aufgetaucht. Sie ist barfuß, Nägel oben wie unten sind in kräftigem Rot lackiert.
DIE GROSSE WEISE FRAU ist eine schöne und gepflegte Frau. Nur deshalb kann ich sie respektieren. Das hängt wohl mit dem Aussehen der Fraudiemichgeborenhat zusammen. Dschungelarme, Dschungelbeine, Damenbart, Fußpilz, Nagelpilz, eine unbehandelte Flechte am Nacken, die sie wegen des Juckreizes ständig aufkratzt. Mit den Fingern mischt sie den Teig für die Klöße, die es jeden Sonntag zum Schweinebraten gibt … Würg!
»Ich dachte«, sage ich in leierndem Ton, »jetzt hätte ich mal eine Freundin aus Fleisch und Blut, und wieder nichts.« Nicht dass ich für meine Egos und DAD SHAUN nicht dankbar wäre, aber ein Mensch ist doch noch etwas anderes.
»Aber war sie denn wirklich eine?«, lächelt sie mich an, ohne dass sie für das Sprechen den Mund bewegt. Heute inspiriert sie mich mit der Kraft ihrer Gedanken. »Eine wirklich echte Freundin?«
»Wie meinst du das?«
»Wenn du ehrlich bist …«
KLOPF, SCHARR, KRRRATZ! »Der Wunsch ist die Mutter der Projektion«, sagt COLLEGE GIRL, wie immer auf ihrem Lieblingssitzplatz, dem kupferfarbenen Weihwasserkessel linker Hand des Altars, sitzend, nachdem sie mächtig Lärm gemacht hat. Sie hat da so ein Ding mit Nicht-gesehen-werden-im-Angesicht-der-Göttin am Laufen. Kurz: Sie fühlt sich vernachlässigt, sobald ich mit der Obermackerin meiner Spirituellen spreche und sie im Raum ist.
Auch auf Frau Fuchs ist COLLEGE GIRL eifersüchtig, wenn ich mir von ihr Bücher erklären lasse, die »genauso gut ich dir erklären könnte«, wie sie meint, mir jedes Mal, wenn das der Fall ist, mitteilen zu müssen.
»Geh in der Erinnerung zurück«, sagt nun auch PONYMÄDCHEN, die Kinderbücher liebt. Sie ist so selten hier, dass ich sie reden lasse, ohne genervt zu sein.
»Ja, da war die Sache mit Hanni und Nanni. Ich liebte das Zirkusmädchen Carlotta. Karin fand Angelas arrogante und hochnäsige Art, wie sie mit Carlotta umsprang, in Ordnung. Und wie Angela mit der Elli umging, das fand Karin auch nicht so übel wie ich.«
»Da war aber noch mehr gewesen, erinnere dich.«
Um mich besser erinnern zu können, streicht mir PONYMÄDCHEN mit dem Zeigefinger über den Arm. Sie liebt die unschuldige Berührung. Sie sagt, das mache dem Gehirn ein schönes Gefühl. Es würde dann besser denken.
»Ich«, erinnere ich mich jetzt wieder, »hatte gesagt, für Angelas Liebe würde Elli Frösche essen.«
»Und dann hat Karin sich über deine Wortwahl lustig gemacht. Frösche essen«, ruft mir COLLEGE GIRL in Erinnerung. Ich war nämlich zufällig unsichtbarerweise anwesend. »Frösche essen, also weißt du, so redet doch kein Mensch, hat sie gesagt.«
»Ja, stimmt«, gebe ich kleinlaut von mir.
»Und dann«, die Rothaarige ist jetzt tüchtig in Fahrt, »fand Karin das gar nicht gut, dass Claudine sich dafür, dass ihre Tante, die Mamsell, von Angelas Mutter beleidigt worden war, an ihr gerächt hat, indem sie das schicke Kostüm der Arroganten nass gespritzt hat … Schwester«, sieht mir mein Ego ins Gesicht, »das ist keine Freundin. Das ist ein kaltherziger Snob, deine Karin. Und wir alle, die wir hier versammelt sind, können froh darüber sein, dass sie weg ist. So einen Snob brauchst du nicht.«
Gut, das war, für COLLEGE GIRL typisch, mal wieder eine lange Rede, aber wenn es um Literatur geht, ist sie einfach nicht zu stoppen, aber …
»Noch mehr?«, fragt die Göttin.
»Karins kalter Blick«, sage ich immer noch sehr, sehr leise, »als sie unser Haus und mein Zimmer betrat. Ihre Eltern haben wohl mehr Geld als wir.«
»Nein, das ist es nicht«, erwidert DIE GROSSE WEISE FRAU. »Sie hat es deshalb nicht geschätzt, wie du das Zimmer geschmückt hast, weil das zu ihrer Taktik gehört.«
»Du meinst, sie wollte mich zu einer Art Elli heranzüchten?«
»Das Niemals-gut-genug-Sein gehörte zu Karins Machtspiel.«
»Du hättest eine Bank ausrauben können, liebe Schwester«, sagt PONYMÄDCHEN und legt ihren Kopf an meinen, »um so viel Geld zu haben, um damit das ganze Haus neu zu möblieren. Karin hätte immer und immer wieder den Eiskönigin-Blick über diese Sachen gestreut. Mit ganz vielen Eispickeln darin.«
Ich bin still und denke mir die Szenen alle noch mal durch. Sie haben recht. Meine Freunde hier vor dem Altar und die Göttin selbst, sie haben recht. Lächelnd sehe ich auch diejenigen an, die bislang keinen Ton gesagt haben: ARTEMIS, DAD SHAUN, PIPPI RINGEL und SCHNEEWITTCHEN. Und anscheinend strengen sie sich alle nun gemeinsam an, mich von einer Last zu befreien. Wie eine riesige unsichtbare Hand greift etwas nach mir und zieht es mir von den Schultern.
Die Scham ist weg. Klar bin ich und gar nicht mehr traurig.
Aber da ist noch etwas. »Was ist mit meiner Wut über die Fraudiemichgeborenhat?«, frage ich die Göttin
»Nimm den Umweg.«
Zu Hause steht der Nachttopf immer noch an derselben Stelle. Mit herabhängenden Mundwinkeln hebe ich ihn hoch und leere ihn über ihrem Bett aus, genau dorthin, wo ihr Po am nächsten Abend liegen wird. Ich warte, bis sie hochkommt und den feuchten Fleck bemerkt. Sie holt weit aus, um mich zu schlagen.
»Du, du widerliche …« Es stinkt mächtig im Raum, denn auch ihre Zähne sind ungepflegt. Karies im Endstadium.
Ich rufe ARTEMIS herbei, lege mir den Blick meiner Kriegsgöttin wie schwarze Kontaktlinsen auf meine Augen und verwandle ihre dunkle Stimme in meine eigene. Dann reibe ich an ihrer Wildlederkleidung.
Die Magie ist entfaltet.
»Mach das noch ein Mal«, schreie ich in ihr schockiertes Gesicht, in dem ein offener Mund Fliegen fängt, »und ich bring dich um!«
So knapp formuliert hätte ich das nie hingekriegt. Ich schmunzle.
Die Fraudiemichgeborenhat bewegt sich keinen Millimeter. Wie ein Pfeil scheint sich ARTEMIS' Text nicht nur in ihre Gehörgänge gebohrt zu haben.
Nach der Schockstarre versucht sie es dennoch. Ich zweifle an ARTEMIS' und meiner Kraft. Nanu, das hat doch bisher immer geklappt.
Als sie mir tatsächlich eine am rechten Ohr verpasst, wehre ich mich mit der Kraft, die mir schon einmal half. Damals, als Papa im Krankenhaus war, an jenem Wochenende, als auch Tante Petzi zu Besuch kam. Ich schlage um mich mit allem, was ich habe. Beine, Arme, sogar mit Kopf wie ein Stier in der Arena.
Die Frau vor mir ist perplex und ab und zu höre ich ein »Au!« von ihr. Aber nach einer Weile scheint sie sich an den Schmerz gewöhnt zu haben, denn ich sehe ein Grinsen in ihrem Gesicht. Das ist gar nicht gut.
Ich blicke zur Seite. ARTEMIS zwinkert mir zu und zeigt mit gladius, dem Kurzschwert aus Rom, nach unten.
Eine Waffe der Frauen im Krieg gegen Männer.
Und jetzt kapiere ich auch, warum es beim ersten Mal mit der ARTEMIS-Abwehr nicht geklappt hat.
Mit einer einzigen Bewegung ziehe ich mir Hose und Unterhose vom Körper und schiebe meine Hüften nach vorne.
Und nicht nur das.
Vor ihren Augen berühre ich mich und stöhne lustvoll im kehligen Ton einer … (ja, genau!) auf.
Der Kampf mit dem weiblichen Geschlechtsteil. Die Macht des Anstößigen, sie würde auch bei sexuell verklemmten und frustrierten Frauen wirken, dem natürlichen Feind der freien Frau, wie mir COLLEGE GIRL mal im Zusammenhang mit der Hexenverfolgung gesagt hat.
Für den humorvollen Teil dieses Aktes hier hole ich mir ein Ego ins Boot, das von Herzen gerne lacht.
PIPPI RINGEL hebt das Röckchen. Und ich stöhne und reibe, bis ich Sterne sehe und für eine Weile befürchte, vor der Fraudiemichgeborenhat in die Knie zu gehen. ARTEMIS hält mich. Das ist meine Rettung.
Wieder halbwegs zu Atem gekommen, rufe ich: »Freiheit für alle Puschmieken!« Und eigentlich ist es ein Chor.
ARTEMIS, PIPPI RINGEL, PONYMÄDCHEN, COLLEGE GIRL, ja sogar SCHNEEWITTCHEN, die sich aus der Kirchenbank mal weggetraut hat, rufen: »Freiheit für alle Puschmieken!« Rufen sie – rufe ich.
Es wirkt.
Während eines versuchten »Coco, wie k…« verschlägt es der Fraudiemichgeborenhat die Sprache. Sie hat kapiert, dass ihre Ehesexgeschichten nicht die Bohne bei mir angekommen sind. Kurze Zeit später verlässt sie im Rückwärtsgang das Zimmer.
Ich zwinkere ARTEMIS und den anderen zu und sie zurück. Das Machtsignal der starken Frauen. »Danke.«
»Umweg Rache abgeschlossen«, sage ich zur Göttin, an den Altar zurückgekehrt, vor dessen Besuch ich in mein nur für mich sichtbares weißes Kleid mit weißen Strümpfen dazu und schwarzen Lackschuhen geschlüpft bin.
»Tu es für dich«, sagt die Göttin. »Tu es, damit du stark wirst. Friede in dir ist das Stärkste.«
Nach der Rache, um wichtige Gefühle loszuwerden, bin ich bereit. Ist Rache wirklich ein Umweg, damit man innerlich ruhig wird? Ich finde, sie ist ein ziemlich wichtiger Zwischenstopp, bevor man bereit ist, zu …
»Ich verzeihe meiner Mutter.« Ich sage das absichtlich ganz laut, damit es alle Anwesenden gut hören können und ich mir selbst klarmache, dass das wichtig ist, was jetzt geschieht. »Ich verzeihe meiner Mutter, denn ich kenne ihre Ängste … und Karin verzeihe ich auch.«
Sie nickt, weil ihr gefällt, was ich sage. Nein, weil sie mich liebt. »Glaubst du wirklich, dass Karin eine Freundin für dich war?«, sagt sie noch einmal.
Diesmal klingt es wie Trost.
Als ich wieder durch die Glastür der Bibliothek trete, fühle ich mich unter Frau Fuchs' mitfühlendem Blick wie ein gerupftes Huhn, das Meister Reinecke mit nur einer Feder am Leib entkommen ist. Ich kriege zwei Tassen Pfefferminztee.
Geahnt hat sie es. Sonst hätte sie Karin eine Tasse ebenfalls angeboten. Das war, als wir zusammen durch die Eingangstür gekommen sind. Frau Fuchs, die immer noch wie Anne Bancroft aussieht, hat komisch geguckt. Heute weiß ich, warum.
Alles auf Anfang, denke ich mir, das mit der wahren Freundin.
»Lies das«, sagt Frau Fuchs. »Es ist neu, gerade mit der Lieferung gekommen.«
Ich sehe das Wesen auf dem Buchdeckel. Hui, ulkig. »Was ist ein Urmel?«
»Was so’n Kikikram?« COLLEGE GIRL ist sauer. In puncto Kinderbücher fühlt sie sich regelmäßig unterfordert.
»Du könntest mir was zur Augsburger Puppenkiste erzählen.«
Sie schüttelt den Kopf. »Weißt du denn nicht, was gerade passiert?«
Ich sehe nur von Weitem auf den Hängebehälter für die Zeitungen und Magazine. Er befindet sich an der Wand, rechter Hand, wenn man in die Bibliothek reinkommt. »Nein.«
»Hüte dich davor, unpolitisch zu werden, nur weil du privaten Kram zu erledigen hast.« Vor meiner Nase erscheint ein erhobener Zeigefinger.
Ich fühle mich angepiekst. »Privater Kram? Es ging um meine Befreiung von dem grauen Sexgequatsche meiner … würg, äh, uff … Mutter.«
»Ja, ich weiß. Trotzdem … Bildung macht stark. Und Starkwerden ist Entspannung. Denk an dein glückliches Gehirn. Es leuchtet röter denn je, wenn du es ordentlich mit komplexem Wissen fütterst.«
»Okay, ich höre«, sage ich. Sie hat mich überzeugt. Wehmütig sehe ich auf mein Kinderbuch.
»Dann hör auf, in dem Urmel-Buch zu blättern, und lass uns an unseren Lieblingsplatz gehen.«
Ich klemme mir das Urmel-Buch unter den Arm, folge ihr mit gesenktem Blick und denke an Lucys Bruder Linus.
Sie sitzt rechts von mir auf der Tischplatte, lässt ihre karierten Hosenbeine vor- und zurückschaukeln und packt mit festem Griff ein paar ihrer drahtigen roten Locken, sodass sie für eine kurze Weile aneinanderkleben. Danach lässt sie sie los, und wupp, da! … sie stehen alle in Form von ihrem Kopf ab.
»Also«, beginnt COLLEGE GIRL, »es geht um unseren Willy. Der wird zurzeit nämlich fertiggemacht.«
»Sag bloß!«
»Ja, sag wirklich bloß. Dem hast du nämlich das zu verdanken, was demnächst passieren wird.«
»Nein, sag bloß … du weißt schon wieder sehr viel mehr als ich?«
Sie verschränkt nur wie Aladin auf seinem Teppich die Arme und presst die Lippen aufeinander. Ein breites Grinsen in ihrem Gesicht ist Antwort genug. »Ein Mann namens Herbert Wehner ist neidisch auf Willys Sexappeal. In Moskau macht dieser Wehner Stimmung gegen unseren Willy.«
»Sag bloß!«
»Dieses Sag bloß! geht mir allmählich auf die Nerven. Daraus könnte ein Zwang entstehen. Lass es bleiben.«
»Wenn du meinst.«
»Der Kanzler badet gern lau, soll dieser Wehner in Moskau über den Willy von sich gegeben haben.«
»Was soll das den bedeuten: lau baden?«
»Willy war von einer OP etwas müde gewesen. Er hat die Wahl zum Kanzler gewonnen, konnte dann aber wegen dieser OP nicht an der Regierungsbildung teilnehmen.«
»Aber hatte der keine Freunde, die ihn vertreten haben?«
»Ja, schon, Ehmke und Bahr hießen die. Aber die kamen nicht zum Zuge. Auf einen Zettel hatte Willy geschrieben, wen er als Minister haben wolle. Aber den ließ jemand unter den Tisch fallen.«
»Buchstäblich?«
»Nein, den Zettel haben die einfach ignoriert.«
»Aber wie können die das denn bei einem so beliebten Kanzler?«
»Ich sage nur: Neid. Bei Wehner war das auf alle Fälle der Fall. Bei Schmidt kam da noch etwas anderes mit ins Spiel. Dem gefiel es nicht, wie freundlich der Willy zu den Menschen hinter unserer Berliner Mauer war.«
»Zu den Menschen in der D…«
»Später«, unterbricht sie mich. Ich habe keine Schmusedecke. Versteh schon, sie will das jetzt zu Ende bringen mit dem Lau baden … » Die beiden, Schmidt und Wehner, haben ihr Ding dann ohne Willy durchgezogen. Und als der Willy aus dem Krankenhaus rauskam, war alles schon zu spät. Er wurde darüber sehr traurig, war niedergeschlagen, und weil er sowieso durch das jahrelange Regieren überfordert war, er war nämlich gar nicht so belastbar, und weil auch er mit einer harten, teilweise einsamen Kindheit zu tun gehabt hat – da hat er sich eben immer häufiger zurückgezogen. Willys melancholische Reserviertheit, die hat Wehner als Lau baden bezeichnet.«
Ich reibe an ihrem karierten Hosenbein, bis ich so viel Kraft spüre, um alles zu verstehen, was sie mir noch sagen will. Ich denke an mein Hirn. Bestimmt leuchtet es schon vor Glück.
»Als Willy das erste Mal mit großer Mehrheit gewählt worden ist, da ist das deshalb passiert, weil er als Kanzler der neuen Ideen betrachtet worden ist. Willy hasst den Krieg. Damit der nicht passiert, hat er gesagt, müssen die Menschen und Politiker Osteuropas von westdeutschen Politikern nicht mehr wie Feinde, sondern freundlich behandelt werden. Stichwort Wandel durch Annäherung.«
»Wieso Wandel?«
»Wenn du keine Feinde mehr hast, hast du dich verändert.«
»Willy respektiert die politischen Ideen und Ideale in Polen, der Sowjetunion und in der DDR. Er ist damit so ganz anders als seine konservativen Vorgänger. Die wollten nicht, dass die DDR als Staat anerkannt wird.«
Ah! Endlich! »Die Deutsche Demokratische Republik.«
»… nennt sich einen sozialistischen Staat.«
»Was?«
»Sozialismus.«
»Was?«
»Mehr Gleichheit auch zwischen Erwachsenen und Kindern, du erinnerst dich?«
Ja ich weiß: FÜNF FINGER SIND EINE FAUST, das etwas andere Kinderbuch aus einem Berliner Verlag, der Willy mag.
»Komm mal mit. Hast du Geld einstecken?«
Als wir die Bibliothek schnellen Schrittes und mit einem ungewohnt flüchtigen Gruß an Frau Fuchs verlassen, frage ich mich: Wenn Willy an seinen falschen Freunden scheitert, so wie ich an der roten Karin, was passiert dann?
Mein Magen drückt und mir wird schlecht. Aber da kommt er schon. Ich schlucke einfach etwas länger. Wird schon klappen.
ARBEITERKIND
NELSON MANDELA HAT gesagt, dass es fürchterlich wichtig ist, dass du dich vor dem, mit dem du sprichst, möglichst groß machst, also im übertragenen Sinn, aber auch im unübertragenen, also, dass du mit durchgedrücktem Rücken und geradem Blick dem anderem gegenüber auftrittst. Denn nur so erreichst du, dass auch der andere sich groß macht, also den Rücken durchdrückt, den geraden Blick aufsetzt und sich genauso groß und stark fühlt wie du. Wer sich gegenseitig stärkt, ist der beste Mensch für den anderen.
»Das kann dir keiner mehr nehmen«, sagt meine Freundin.
Zusammen mit COLLEGE GIRL bin ich mit dem Bus hierhergefahren und stehe in diesem Augenblick vor dem Gebäude, das – sie hat mir ein bisschen Zukunft verraten! – meine neue Schule sein wird.
Ich schmiege mich an ihr Hosenbein, nachdem wir beide uns auf einen mächtigen Klumpen Naturfels gesetzt haben, was COLLEGE GIRL »Landschaftsarchitektur« nennt.
»Bevor der Willy zum ersten Mal Kanzler wurde, sprachen alle von Bildungskatastrophe. Es gab wenige gute Lehrer. Diskutiert wurde, ob die Einteilung der Schulen in Hauptschule, Realschule und Gymnasium den Schülern nicht das Gefühl gibt, unterschiedlich wichtig zu sein. Dass eine Sekretärin für den Staat weniger wichtig ist als ein Arzt, und …«
»… ein Fernfahrer wie mein Vater und ein Malergeselle wie mein Bruder«, unterbreche ich sie, »weniger wichtig als ein Ingenieur und Pilot?«
»Genau.« Sie nickt und lächelt. »Die Regierung Willy Brandt hat darauf reagiert. Und was da vor dir steht«, sie zeigt auf diesen grauen Klotz von Betonschule vor uns, »ist das Ergebnis.«
Schön finde ich sie ja nicht. Hat so schwarz umrahmte Fenster. Schwarz und Grau, nicht gerade etwas für Kinder und junge Menschen, äh, Teenager, äh … wie nenne ich mich eigentlich? Ich sag mal zwischen Kind und total erwachsen.
»Ein Gymnasium für die Kinder vom Landkreis.«
»Hm.«
»Für Kinder der Landbevölkerung.«
»Für Arbeiterkinder wie mich, meinst du das?« Ich sehe sie an.
Sie nickt. »Jedem Kind, das gehört zur Idee der sozialen Reform von Willy, soll das Recht eingeräumt werden, eine höhere Schule zu besuchen … und vor allem einen Beruf zu ergreifen.«
»Ah, verstehe. Wenn sich ein Arbeiter nicht mehr minderwertig gegenüber einem Arzt fühlen soll, dann soll er auch nicht davor zurückschrecken, sein Kind für das Gymnasium anzumelden, das auch die Arzttochter besucht.«
»Es geht um Mut. Dein Vater soll dazu ermutigt werden.«
»Das macht er nie.«
Ohne meinen Einwand mit auch nur einem einzigen Wimperngezucke zu beachten, sagt sie: »Noch dazu als katholisches weibliches Arbeiterkind vom Land … hier auf dieser einzigartigen Schule … da kannst du mit Geschichte schreiben.«
Dass sie auch meine Geburt in Berlin geflissentlich ignoriert, ignoriere ich mal ebenso wie die Sache mit dem Einwand.
»Was? Ich verstehe nicht«, frage ich. »Wie soll ich denn hier Geschichte schreiben?«
Sie hebt die rechte Augenbraue und verschränkt wieder einmal wie Aladin die Arme vor dem Körper. Das flache Ende des Steines ist so groß, dass sie sogar ihre langen Beine in den Schneidersitz biegen kann.
»Lass es einfach auf dich zukommen, Schwester.«
Ich hatte ein besserwisserisches Grinsen erwartet.
»Nicht dein Vater wird es sein, der dich hier anmeldet.« Sie lächelt.
Wer sich groß macht, macht den anderen groß. Wer sich klein macht, macht den anderen klein. Nelson Mandela hat recht. Meine leibliche Stiefmutter, ihres Zeichens Selbsthasserin – sie hasst sich und alles, was freier ist als sie –, ist dagegen, als ich ihr sage, was Frau Wolke zu mir gesagt habe: Dass ich fürs Gymnasium bestens geeignet sei. »Sekretärin oder bestenfalls Dolmetscherin, Übersetzerin, in Englisch bist du ja nicht übel, so sehe ich dich.«
Sekretärin ist auch sie gewesen, vor der Heirat mit Vater. Englisch ist ihr Lieblingsfach gewesen.
Der Vorschlag, dass ich es zur Dolmetscherin bringen könnte, ist für sie ja schon so etwas, wie sich aus dem Fenster zu lehnen, für sie.
»Für Dolmetschen, da reicht Realschule. Und natürlich nur, bis du heiratest … du heiratest doch? … oder willst du kompliziert werden?«
Es reicht. Ich sehe COLLEGE GIRL an. COLLEGE GIRL sieht mich an. Beide schütteln wir den Kopf.
»Was schüttelst du denn jetzt so blöd den Kopf?«
Ööh!
Das Thema Coco, das Arbeiterkind, auf Willys Soziale-Gerechtigkeits-Gymnasium, das im wirklichen Leben den Namen eines berühmten Chemikers trägt, findet an diesem Ort kein Gehör.
Auf dem Weg träume ich von einer besseren Welt. COLLEGE GIRL läuft stumm – was völlig untypisch für sie ist – neben mir. Wenn Willy Brandts Reformgeist bedeutet, dass Arbeitern das Gefühl gegeben wird, dass sie für unser Land genauso wichtig sind wie ein Arzt, dann heißt das, dass sie glauben sollen und sich selbst darin vertrauen, dass ihre Entscheidungen genauso wichtig sind wie diejenigen eines Arztes. Ein Arbeiter-Vater will für sein Kind genauso das Beste wie der Arzt-Vater. Das soll der Arbeiter glauben … und irgendwann alle. Alle sollen ihn respektieren.
Alle sind sie schon da. Bevor ich in die Kleider DES WEISSEN MÄDCHENS MIT DEN SCHWARZEN LACKSCHUHEN steige, um meine Göttin sehen zu können, begrüße ich sie der Reihe nach. ARTEMIS, DAS T-SHIRT-MÄDCHEN MIT DEM PONY, namens Ilka, PIPPI RINGEL und DAD SHAUN, der mir zur Begrüßung eine starke Umarmung schenkt.
Ich begrüße die Bank und sehe SCHNEEWITTCHEN links von mir.
»Hallo, Coco«, sagt sie. Seit dem Tag meiner Selbstbefreiung kann sie wieder sprechen. Das ist so schön, dass ich jedes Mal, wenn ich sie höre, weinen muss.
»Haaallooo, mpfzzz ..., hhhaallo, Schwesterherz.«
Ich kann sie sehen.
»Wieder findest du in deinem Umkreis Menschen, die dich auf den Weg bringen«, sagt die rothaarige Schönheit auf meine Frage: »Wer soll das denn bloß sein, der die Fraudiemichgeborenhat dazu ermutigt, mich am Gymnasium anzumelden. Und wer wird es schaffen, dass sie daran glaubt … und sogar mein Vater es gutheißt …?«
Wer in Gottes Namen sollte das bloß sein? Ich bewege mich doch mehr oder weniger nur in einem sehr engen Kreis. Das Haus, in dem ich überlebe, Schule, Kirche, Egos, Bibliothekarin und Moni.
Moni ist meine Gemüsedealerin, die mich regelmäßig mit Salat und anderen frischen Dingen versorgt, nachdem ich herausgefunden habe, dass mich die Fraudiemichgeborenhat mit zuckerhaltiger und nährstoffarmer Kost kleinhalten will. Ein lahmes und depressives Würstchen von Kind macht keiner schwermütigen und verbitterten Mutter mehr Angst. Mit Monis Grünzeugs im Kopf kann ich mich gut konzentrieren. Meine Schulnoten sind tadellos.
Moni ist die Ehefrau von Gerd, meinem Cousin, der wiederum der Sohn von Tante Petzi, der Schwester meines Vaters, ist.
Gerd habe ich seit dem Aufklärungsunterricht nicht mehr gesehen.
Tante Klara, Gerds Mutter, ist der Grund, weshalb ich zu ihm auf Distanz gehe. Alle nennen Tante Klara Tante Petzi, auch die, die nicht mit ihr verwandt sind. Das liegt daran, dass Tante Petzi gerne tratscht, was aber nur ihre Art ist, mit den Menschen in Loch in Kontakt zu treten und ihnen ihre Liebe zu zeigen. Wegen ihrer Bipolaren Störung ist sie jetzt in der geschlossenen Psychiatrie. Und das nur auf Gerds ausdrücklichen Wunsch hin. Er schämt sich nämlich für seine Mutter. Und wenn Gerd sich schämt, nennen ihn seine Stammtischbrüder »Rotohrindianer«.
Gerd schämt sich, anders als ich, zu Unrecht für seine Mutter. War es doch ausgerechnet die angeblich so verrückte Tante Petzi, die als Einzige von meinen Verwandten Dirty anzeigen wollte.
Auch zu Moni bin ich innerlich auf Abstand gegangen. Ihr habe ich ansatzweise von Dirty erzählt, aber sie hat abgeblockt. Sie liebt, wen sie liebt, und da kann einer den dritten Weltkrieg einläuten – Moni würde ihn immer noch lieben. Auf ihre Weise ist sie da sehr aufrichtig. Bloß mir hat's nichts gebracht. Nur noch wegen des Gemüses und der Aufklärung gehe ich zu ihr.
Als Tante Petzi mit dramatisch lautem Geschrei bei der Polizei aufgekreuzt ist, um den damals noch lebendigen Dirty anzuzeigen, was mir sehr gefallen hätte, da haben die Beamten in Grün Tante Petzi als Verrückte abgestempelt und sie abgewiesen. Und nicht nur das. Genau ihr Rettungsversuch hat Gerd dazu bewogen, sie einweisen zu lassen.
Ich könnte kotzen.
Damit ist Dirty bis zum Ende seiner Tage für die Menschen hier am Ort und in der Welt – Dirty hat mit seinen Geigen auch Überseehandel betrieben – ein unbescholtener Bürger geblieben. Und sich im wahrsten Sinne aus dem Staub gemacht, bevor er für irgendetwas auch nur ansatzweise haften musste.
Nicht Tante Petzi ist krank, sondern die Menschen um sie herum, das System der Verdränger, geboren und im Geiste erfüllt von dem, was vor Willy Brandt gewesen ist. Letztere glauben nur das, was sie glauben wollen, und sehen nur, was sie sehen wollen, und lieben nur, was sie lieben wollen.
Bedingungslose Liebe kriege ich nur hier vor dem Altar.
»Los, geh schon! Es ist leichter, als du glaubst … und noch etwas.«
»Sag schon.«
»Deinen Vater machst du glaubend, dass es richtig ist, dich auf dem Gymnasium zu wissen, indem du gute Noten schreibst oder bis zum Abitur durchhältst. Wichtig ist für ihn, was am Ende dabei herauskommt. Er wird dich niemals kontrollieren. Dazu hat er gar nicht die Kraft. Aber er liebt dich. Eines Tages wirst du es verstehen.«
Ich bin etwas froh darüber.
»Ihr Kind ist angemeldet. Sie können sich hier einen Stapel Informationsmaterial abholen und im Raum nebenan finden Sie die Schulbücher für das neue Jahr.« Die Frau, die lächelt, ist nicht meine Mutter.
Ich stehe zwischen zwei Menschen, die ich nur als meine Retter oder – analog zum Märchen Schneewittchen, das mein Leben erzählt – Zwerge von jenseits der Berge bezeichnen kann.
Mit einem Stapel gut duftender, frisch gedruckter, Schulbücher auf dem Arm sehe ich den beiden in die Augen. »Danke.«
Auch sie lächelt – cool, sachlich, immer etwas reserviert. COLLEGE GIRL. Ohne sie hätte ich das niemals geschafft.
Und eine bleibt allein wie immer. Mit ihrer Traurigkeit.
Einfallslos kehrte ich nach dem letzten Altarbesuch in das Haus zurück, in dem ich überlebe. Ich öffnete die schwere Eingangstür aus braun gestrichenem Eichenholz mit der vierfach geteilten Glasplatte darin.
Seltene Stimmen aus der Küche. Ich lauschte an der Tür, weil das die authentischste Form der Informationsbeschaffung in diesem Hause ist.
»Also wirklich, Tante, das Kind ist so begabt. Es wäre eine Schande, sie nicht auf diese Schule zu schicken.« Das war doch der Ralf.
Ralf ist mein schönster Cousin und der älteste Sohn von Tante Veronika, die Coco Chanel nicht unähnlich sieht. Ralfs Aussehen erinnert mich an einen Musketier aus einem alten Film. Hakennase, nackenlanges schwarzes Haar mit leichter Welle, Vollbart. Seine schwarzen Augen leuchten mir für meinen Geschmack etwas zu fanatisch, immer dann, wenn ihm etwas gefällt. Das macht mir ein wenig Angst. Gut, dass ich hinter der Tür stehe, dachte ich.
»Sie ist für unseren Landkreis extra gebaut worden. Und kluge Mädchen wie Coco … Gerade Frauen müssen doch endlich mal gefördert werden.« Das ist Rolf gewesen. Er ist drei Jahre jünger als sein Bruder und studiert Architektur.
Auch Ralf studiert was, aber das ist voll ekelig. Ich will gar nicht dran denken. Passt gar nicht zu seinem tollen Aussehen.
»Willy Brandt«, sagte Ralf und strapazierte einmal mehr unseren müden armen Kanzler, der wie Vater ein wenig zu viel raucht, »hat es in seinem Regierungsauftrag so benannt«, was ich doch schon von COLLEGE GIRL wusste. »Die unteren Schichten will er fördern. Mit ihrem Jahrgang geht das Programm los.« Ups, Letzteres wusste ich gar nicht.
Ich bin der erste Jahrgang?
Ralf war, glaube ich, tüchtig in Fahrt, und ich stellte mir vor, wie er sich angetrockneten Speichel aus den Mundwinkeln wischte. Das macht er immer so in solchen Momenten. Voll ekelig wie sein Studium. Diese Geste mit dem Speichel macht ihn für mich jedes Mal auf der Stelle hässlich. Er liebt den Konflikt.
Ich platzte beinahe vor Neugierde, wollte unbedingt die Reaktion der Fraudiemichgeborenhat sehen.
Leise drückte ich den Türgriff und schob meine Winzigkeit durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Türrahmen.
Die Fraudiemichgeborenhat stand mit dem Rücken zu den beiden und bereitete auf dem Tisch zwischen Herd und Spüle die nächste Mahlzeit zu. Hektische Bewegungen verrieten mir, dass sie sich unwohl fühlte. Dass sie es nicht einmal schaffte, ihrem Gegenüber ein Gegenüber zu bieten, sondern nur ihr Hinterteil, machte mich ein Mal mehr wütend darüber, dass ich eine so schwache Mutter habe. Vermutlich war sie wieder in Gedanken im Wiener Kaffeehaus. In ihrer zweiten Welt. Dort, wo sie ihren galanten Handrückenküsser trifft. In ihrer Fantasiewelt, leider ohne Altar und Gottheit, trägt sie ein eierschalenfarbenes Etuikleid, weiße Handschuhe zu weißer Handtasche und Schuhen. Bedienstete zu Hause lassen ihr das Bad ein und unterstützen sie bei der morgendlichen Toilette. Sie spielt Klavier. Und in jenem Kaffeehaus trifft sie ihn, den galanten, schlanken Mann mit den feinen Manieren, der die behandschuhten Fingerspitzen küsst und ihr in wohltemperiertem Ton Komplimente macht. Ach ja! Ich vergaß: Er trägt Pomade im zurückgekämmten Haar.
Nur wenn ich sichtbar würde, dachte ich mir, hätte die zukünftige Gymnasiastin eine Chance.
Und sie. Damit meinte ich nicht die Fraudiemichgeborenhat.
Ich hustete ein bisschen.
Es klappte. Sobald mich alle drei sahen – zwei mit aufgerissenen Augen, eine Gestalt mit schmalen schwarzen –, setzten sich alle an einen Tisch. Nur ich sollte stehen. An meinen Hintern dachte keiner, bis ich merkte, dass das Absicht war.
»Um dich geht es gerade«, sagte Ralf und packte mich für meinen Geschmack ein wenig zu kräftig am Ärmel. Wieder funkelten seine Augen. Ich suchte mir einen Punkt im Raum. Eine kleine von der Herrin der hiesigen Kochkünste tot geplättete Fliege an der Wand gegenüber. Bloß weg von diesem Blick!
Nicht lange genug. »Sieh mich an«, sagte Ralf und packte mich noch fester. Ihm hatte ich gar nichts von Dirty erzählt. Aus genau diesem Grund. Fanatismus und Dirtys strenge Triebe – das gehörte irgendwie zu ein und derselben Soße. Ich mag Ruhe und Frieden. Ich mag meinen Altar und meine sanften Freunde. Na ja, ARTEMIS …
»Ja, mache ich ja schon«, sagte ich leicht verärgert.
Und dann erzählte Ralf das, was ich bereits seit den Minuten hinter der Tür gewusst hatte: Dass ich doch so gut in der Schule sei und wie geschaffen für das Gymnasium. Blablabla. Ohne den Fanatikergriff hätte ich seine Worte wirklich genossen.
Dass Ralf meine Aufsätze liebte und sie gerne las, das wusste ich. Und als mir das in diesem Moment einfiel, entspannte ich mich so sehr, dass ich anfing zu lächeln. Und dann kam Mandela hinzu.
»Ich bin klug und weise«, sagte ich mit dem Brustton der Überzeugung, dass Ralf auf der Stelle losließ und der Fraudiemichgeborenhat die Gesichtszüge endgültig entglitten.
»Siehst du, Tante, mehr braucht man doch gar nicht zu hören«, sagte Rolf. Seinen Vollbart konnte er mittlerweile als Naturschutzgebiet anmelden. Trotzdem liebte ich ihn in diesem Augenblick über alle Maßen – und er fasste mich nie zu grob an. Der Herr Architekt wollte am Ende seines Studiums schnorkelige Gebäude im süddeutschen Stil entwerfen. Das hat er mir mal gesagt. Er liebt das Traditionelle, vermischt mit Modernem.
»Also gut«, sagte sie. »Was bleibt mir anderes übrig? Ihr gebt ja doch keine Ruhe.«
Danke, Mutti!
In diesem großen Augenblick waren sie alle prompt zur Stelle. »Bravo!«, hörte ich den Chor meiner Egos.
Ich jedoch hatte vor allem Ohren für eine von ihnen. Auf der Stelle fing sie an, die aktuelle Situation zu analysieren. Auf diese Weise feierte sie mich. »Es geht ihr nur darum, den eigenen Kopf aus der Schlinge zu kriegen«, begann COLLEGE GIRL. »Wie unangenehm sich das für sie anfühlen muss. Jemand ist in ihre Stiefmutter-Schneewittchen-Burg unangemeldet, nehme ich mal an, eingeritten, und nun muss sie auch noch so tun, als ob sie dieses Miststück von Tochter liebte und das Beste für sie möchte.« Sie schüttelte den Kopf und rümpfte die Nase über das, was vor ihr auf dem Tisch stand: süßes Gebäck für die Gäste – die Gott sei Dank nichts davon berührt hatten. »Außerdem, das wissen wir doch bereits, hm, liebe Schwester«, fuhr sie fort, »ist sie dazu erzogen worden, einem Mann nicht zu widersprechen, selbst wenn er einer jüngeren Generation angehört. Ihre Meinung hält sie hübsch hinter dem Berg. Überzeugungsarbeit leistet sie nur gegenüber einem einzigen männlichen Wesen. Dein armer Bruder Heinzi …«
»… hat die Arschkarte!«, mischt sich PIPPI – frech – RINGEL ein.
Ralf hatte erreicht, was dem Fanatiker in ihm gefiel. Wie eine Rakete schoss er mit einem Zweiunddreißig-Zähne-Lächeln von seinem Stuhl hoch, das blitzschnell verschwandt, als er etwas auf dem Kopf der Frau vor ihm sah.
»Schuppenflechte«, raunte ARTEMIS, die ich mir an meine Seite gerufen hatte, damit auch ich aushielt, was ich sah.
Als er so vor mir stand, der gute und hilfsbereite Ralf, da war mir nämlich klar geworden, warum seine Tante sich ihm gegenüber einmal mehr unterlegen fühlen musste. Der Kerl reichte fast bis unter die Decke. Wäre es ein Ding der Möglichkeit gewesen, hätte Ralf die kleinen goldenen Sprenkel in ARTEMIS' grünen Augen gesehen. Zwei Kämpfer auf Augenhöhe.
»Der ist schnuckelig«, kam es aus tiefster Kämpferinnenkehle. Das erste Mal sah ich ARTEMIS mit einer neuen Art Grinsen. »Na, du kleine Gymnasiastin?«, sagte Ralf. »Du wirst das erste Mädchen in unserer Verwandtschaft sein, das den höheren Bildungsweg einschlägt!«
Kaum, dass er den Mund zugemacht hatte, flog ich auch schon durch die Luft. Ohne Absicht war ich der Star der Stunde geworden. Ich fühlte mich wie ein Preispokal, der zwischen Sieger und Sieger hin- und hergeworfen wurde. Jetzt lag ich in Rolfs Armen, ich rauschte über muskulöse Schultern, um einen Kopf und dann noch einen. Beide Männer wollten einfach nicht aufhören.
Ich genoss meinen Triumph und ihren in vollen Zügen.
»Wir sind alle vorbereitet«, beruhigte mich COLLEGE GIRL mit einem Seitwärtsblick zu ARTEMIS.
Ich genoss meine Flüge an, über und vorbei an diesen beiden Männerkörpern, die mir endlich mal nichts Böses, sondern genau das Gegenteil wollten. Denn ich wusste, was danach kommen würde.
Ich flog ein letztes Mal an einem ziemlich roten Kopf vorbei, bevor ich wieder auf dem Plastikfußboden unserer Küche landete.
»Achtung! Und jetzt lenk sie ab«, sagte ARTEMIS, die neben COLLEGE GIRL stand.
Am Altar sagte die Göttin nur: »Alles geschieht zu deinem Besten. Ich kenne kein Kind, das so stark ist wie du.« Trotzdem, die Angst vor dem Schmerz ist geblieben. Die Angst vor den bitteren Worten der Fraudiemichgeborenhat ist immer da. Die Altarbesuche schaffen Linderung und geben mir Trost. Aber die Angst, die ist stets präsent. Ich bin ein empfindliches Kind. »Hypersensibel«, nennt COLLEGE GIRL mich.
Alle hielten mich fest. Ilka stellte sich mit der Flanke vor mich, damit ich sie nicht sehen konnte, während sie ihre widerwärtigen Worte in den Äther schoss: »Ich lass dir keine Ruhe, Prinzesschen. Das verspreche ich dir«, sagte Stiefmutter, nachdem die beiden Zwerge die Burg wieder verlassen hatten und ich aus dem Wäldchen mit knurrendem Magen in das verhasste Domizil dieser Verbrecherin zurückgekehrt war.
In dieser Nacht begann ein regelmäßiger Traum. Ein Haifisch verfolgt mich, sobald ich im Meer schwimme. Und noch schlimmer: Während ich am Strand entlanggehe, wachsen ihm Beine, mit denen er mich schneller als ein Krokodil verfolgt. Bevor er mich verschlingt, wache ich auf.
KLEIDER MACHEN FREUNDE. FREUNDE MACHEN KLEIDER
DICH KENNE ICH noch gar nicht.« Auf der anderen Seite des Aquariums in der großen Aula meiner neuen Schule entdeckte ich die schönsten haselnussbraunen Augen, die ich bis dahin jemals gesehen hatte. Und das lag nicht nur an der Glasscheibe.
Zwischen uns schwamm der traurigste Zebrafisch, den ich jemals in meinem Leben sehen würde, da war ich mir ganz sicher. Er war einsam, wie ich es die vergangenen sechs Tage über hier an diesem Ort gewesen war.
Eng anliegende Levi’s- und Wrangler-Jeans mit Ledergürtel, T- und Sweatshirts, blaue und grüne Parkas mit Pelzbesatz an den Kapuzen, Turnschuhe, flache schwarze Lederschuhe oder massive Lederstiefel trafen auf braune Jerseyhosen mit Gummizug an der Taille, auf einen orange-braun quer gestreiften Wollpullover mit Rollkragen und auf braune, an den Spitzen abgestoßene, flache Treter. Das allein hatte schon genügt. Kühle Blicke, nach oben verzogene Mundwinkel, schmale, aufeinandergepresste Lippen, zusammengesteckte Köpfe, aus denen es kicherte und zischte.
In den Pausen war ich allein und blieb es die nächsten fünf Tage. Das einzige Arbeiterkind der Klasse.
Bis es mir zu bunt wurde. Ich griff in meine spirituelle Trickkiste. Wieder einmal musste ein Ego her. »Ich werde dich brauchen wie niemals zuvor, und so wie es aussieht, ganze neun Jahre lang.« Eigentlich war ich es leid gewesen. Ich wollte einen absoluten Neustart. Doch wie es aussah, sollte das nicht sein. Wieder war des Himmels Hilfe angesagt.
Wenigstens machte sie es mir leicht: »Ich will es nicht mehr ganz so so sein«, erwiderte sie mir vor dem Altar. Nur hier gelang mir die Kreation. Ich schloss die Augen, verband mich mit der Göttin rechts von mir, nahm, was selten vorkam, SCHNEEWITTCHENS rechte Hand in meine und versank ins Paradies, so wie ich die Meditation mittlerweile nannte. Absolute Harmonie.
»COLLEGE GIRL mit Punkten?«
»Ja!!!« Keine Locken mehr. Kein Federn. Und keine grünen, spitzen Schuhe.
Am nächsten Tag betrat ich als mein neues Ego den geheuchelten sozialen Reformanschub aus Beton. Noch grauer als sonst, denn an diesem Tag regnete es junge Hunde vom Himmel.
Schwarze Tangoschuhe, schwarze Feinstrumpfhosen unter einem blauen Neckholderhosenkleid in Mini mit weißen Polka-Dots, ein Relikt aus den Zwanzigerjahren, damals als Schwimmgarderobe genutzt … über dem eigenwilligen Kleid trug ich ein taillenkurzes schwarzes Jäckchen und: eine Perlenkette. Diese Kette war mein unsichtbarer erhobener Mittelfinger gegen die Arroganz der oberen Mittelklasse und ihrer vulgärer Repräsentanten an meiner Schule. Aber das war noch lange nicht alles. Zum EgoStyle meines Klassenkampfes mit elegaten Mitteln gehörte eine braune Pagenfrisur, dunkelrote Lippen, Kajalschwärze um die Augen und hell geschminkte Haut.
Ich bin stolz, sehr stolz, mein Kinn hängt ziemlich weit oben, meine Ohren habe ich mit unsichtbarem Wachs gegen das anhaltende Gekichere verschlossen. Nach außen hin sehe ich aus wie die Tage davor. Es macht mir nichts aus, nein, nein, es macht mir nichts aus. Es ist wie damals in der Grundschule, nur der Feind sieht anders aus. Das dumpfe Landei meiner Lochener Grund- und Hauptschule ist einer höhnischen Stadtgöre gewichen. Es riecht besser im Klassenraum und die meisten hier sind belesen wie ich. Sie sind belesen wie ich. Wie ich. Wie ich. Wie ich! Und weil das keine besser weiß als COLLEGE GIRL, bleiben Kopf und Kinn den ganzen lieben langen Schultag über ziemlich weit oben. Wir müssen uns nicht kleinmachen. Scham ist mierde. Ich bin anziehend, für mich, nicht für die Mehrheit im Pausenhof. Und weil ich das von mir vom zweiten Schultag an geglaubt hatte, passierte, was passierte.
»Hallo, ich bin Wanda«, sagen die gepflegten weißen Zähne aus einem großen Mund in einem dreieckigen Gesicht mit Stupsnase vor mir.
»Und ich Coco.«
Wandas Schneidezähne stehen leicht übereinander, was den Eindruck entstehen lässt, dass sie dir jedes gesprochene Wort zuwirft.
Dass wir uns am ersten Schultag nicht gesehen haben, ist deshalb so passiert, weil Wanda zu diesem Zeitpunkt noch in den USA gewesen ist, wo sie ihre Lieblingstante besucht hat. Die kleine Farm in der Nähe von Nashville ist Wandas Avalon. Allerdings liebt sie alles andere als keltische Sphärenklänge, die ich mit Avalon verbinde.
Wanda liebt – würg! – Johnny Cash und – würg! – den fürchterlichsten Hüftschwung aller Zeiten: Elvis Presley. Der verstorbene Musiker erinnert mich jedes Mal, wenn ich ein Poster von ihm sehe, sobald ich bei Frau Fuchs im Zeitschriftenhängebehälter eine Bravo herausgefischt habe, daran, weiterhin hübsch auf Zucker zu verzichten.
Ich weiß, dass da bald die Sache mit den Hormonen losgeht. Gerd&Moni haben mich über alles aufgeklärt.
»Hi, Wanda. Schön, dich kennenzulernen.« Das sagt man so doch so in ihrem Lieblingsland?
»Ich gehe in die Fünf A und du?«
»Ich auch.«
»Es würde mich freuen, da das heute mein erster Tag ist, wenn ich neben dir sitzen könnte.«
»Das wäre schön.«
Wanda sah mich von oben bis unten an. »Deine Kleidung passt nicht zu dir. Dafür gibt es sicherlich einen Grund ...«
»Ja, ich weiß, der Grund heißt ...«
»Mutter.«
»Woher weißt du das?«
Wanda Lichtgestalt hingegen trägt ein rosafarbenes Polo-T-Shirt, peinlich sauber gewaschene Jeans und braune Mokkasins. Ich habe sie in Verdacht, dass sie ihre Jeans bügelt. Ihre dünnen Haare sind blond. Ohne die frechen Spitzen würden sie leider köderblond-langweilig aussehen. Gerade, was die edlen Schuhe und diese hypersaubere Jeans angeht, müsste Wanda doch ebenso wie ich für die anderen eine Lachnummer abgeben – aber dem ist nicht so, da bin ich mir ganz sicher.
»Weiß ich eben«, antwortet sie mir in mein verblüfftes Gesicht hinein.
Big Ben, die Schulglocke, ertönt. Zum zweiten Mal betrete ich, diesmal mit Freundin an der Seite, den neuen Unterrichtsraum im zweiten Stock. Wieder befinde ich mich inmitten einer Klasse, die zu deutlich mehr als zwei Dritteln aus Kindern der mittleren und oberen Mittelschicht besteht. Ich bin das zweite von zwei Arbeiterkindern. Drei Adelige krönen die letzte, immer schon wichtigste Bankreihe der Klassen-Gesellschaft.
Wanda und ich sitzen in der zweiten Reihe. Ihr Haar schimmert vor der Fensterscheibe, an diesem für mich nicht nur äußerlich sonnigen Tag.
Auch Wanda gehört zur oberen Mittelschicht.
»Die Leute reden über mich, Mutter«, nenne ich sie beim Lügentitel. Sie verzieht das Gesicht zu einer höhnischen Fratze. Dass sie das mit der Ausgrenzung durch Kleidung so gewollt hat, weiß ich doch längst. Aber was sie nicht weiß, ist … »Seit gestern geht auch die Birgit in meine Klasse, und auch sie hat ihren Eltern gesagt, wie ich aussehe … und dass sich alle fragen, wie eine fürsorgliche Mutter ihre Tochter mit so einem Aufzug in eine so bedeutende Schule schicken kann.«
Das mit dem bedeutend gefällt mir nicht. Die ganze Welt hält sich doch bereits jetzt schon vor Lachen die Bäuche darüber, wer diese Klassenräume wirklich füllt. Aber das weiß die Fraudiemichgeborenhat ja nicht. Also belasse ich es bei meinem Text. Er wirkt. Nur das zählt.
Sie sieht mich länger an, als ich mir das wünsche, aber es ist nun mal notwendig, dass sich etwas ändert. »Das ist ja allerhand!«
Der nächste Schultag beginnt für COLLEGE GIRL wie immer, aber für mich mit Levi's-Jeans, die meinen Apfelpo hübsch betonen, einem dunkelblauen Sweatshirt mit der Aufschrift HARVARD UNIVERSITY und einer Jeansjacke, ebenfalls von Levi's. Flache schwarze Lederschuhe umschließen meine Füße. Monis Schminkset gehört jetzt mir und zu meinen Augen Kajal und Wimperntusche. Sogar etwas Grundierung liegt auf meiner Gesichtshaut. In den kommenden Wintermonaten werde ich in meinen neuen dunkelblauen Parka mit kunstpelzgesäumter Kapuze schlüpfen. Dazu gibt es bereits jetzt schon schwarze Lederstiefel mit dicker Sohle, die ich vorsichtshalber im Keller unter dem Vitrinenschrank, in dem ich mein Grünzeugs von Moni lagere, verstaut habe.
Außen bin ich jetzt wie die Mittelschichtsmeute. Innen sehe ich wie mein schlaues und stolzes Ego COLLEGE GIRL aus.
Wanda ist in Sport ziemlich gut, vor allem in Basketball wirft sie die meisten Körbe. Seit Dirty Geschichte ist, bin ich besser in Sport. Es heißt ja: In einem gesunden Körper ruht ein gesunder Geist. Das stimmt. Denn natürlich bin ich geistig viel gesünder, seit ich nicht mehr geschändet werde. Die Angst ist weg. Die Angst macht dumm. Die Angst macht lahm. Das weiß doch jeder.
Auch auf Wanda trifft der Spruch zu. Die Gruppe, in der Wanda während der Pause steht, kennt weder Klatsch noch Tratsch, und auch keinen Streit. Das bedeutet Schutz für mich. Wanda schützt mich.
Sie ist so glücklich, selbstbewusst und irgendwie heilig, dass jeder Konflikt binnen weniger Minuten nach ihrem Eintreffen endet. Sie sieht dir in die Augen und du hast nur noch gute Gedanken. Vor allem aber hast du keine Lust mehr auf Lügen. Wanda ist eine Lichtdusche.
Zwar sportlich, singt sie dennoch wie eine Eule. Aber wenn alle darüber lachen, lacht sie mit.
Das Lachen endet regelmäßig, wenn sich einer der Schüler mal wieder im Felsengarten den Knöchel bricht und mit Blaulicht den Mittelstandstempel gegen die Chirurgenpritsche eintauschen muss.
Der Felsengarten, ein gigantes Areal aus wie Klunkersteine aussehende Natursteinblöcken, markiert das südliche Ende des Schulgeländes. Die nördliche Grenze ist ein Wäldchen, meinem nicht unähnlich, in dem
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2016
ISBN: 978-3-7396-5845-2
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Für mein Goldkind.