Als der Nebel über der Stadt sich legte, begannen rote Funken in ihren Augen zu tanzen. Die dunklen Gestalten hatten sich um einen Kreis aus Kerzen versammelt. Schweigend standen sie beisammen, bis die Flammen begannen, wild aufzuflackern und sich mit dem wehenden Wind zu beugen und zu drehen. Eine der vermummeten Gestalten hob ihren Kopf und blickte in Richtung Vollmond. »Es ist so weit.« Das helle Stimmchen der Person verriet ihr Geschlecht. Schwarze Strählen lagen in Fransen über den Schultern des Mädchens und glänzten wie Seide im grellen Mondlicht. Eine weitere Gestalt, einen ganzen Meter größer als das düstere Mädchen, nickte zustimmend und hob ihre Hand. Unter der schwarzen Mütze erkannte man das von Bartstoppeln bedeckte Kinn eines älteren Mannes, der sich eine der Kerzen griff und sie sich vor die Brust hielt. Die Anderen taten es ihm gleich. Dort, wo zuvor die Kerzen gestanden hatten, waren jetzt weiße Kreise erkennbar. Kreise, in denen jemand merkwürdige, geschwungene Zeichen und Worte in einer Sprache, die fremd schien, geschrieben hatte. Der große Mann sprach ein paar leise Worte, ehe die Kerzen plötzlich erloschen und grauer, beißender Rauch in die Höhe stieg. Das Mädchen wandte sich an einen weiteren Mann neben ihr, der ebenfalls nickte und sich dann an den Mann mit dem Bart wandte. Auf dessen Mund erschien ein leichtes Lächeln. Ein Lächeln, das etwas verbarg. Ein merkwürdiges Lächeln. »Sie haben sich bereits auf den Weg gemacht«, verriet der bärtige Mann. Die vermummten Gestalten nickten der Reihe nach. Dann drehten sie sich um, und ohne ein Wort zu sagen, stürmte jeder einzelne von ihnen in die Dunkelheit hinaus.
Das Hecheln des Monsters war meilenweit zu hören. Ein ungutes Gefühl stieg in Shireen auf, als sie den gigantischen Schwanz des Biests schon aus der Ferne erkannte. Klar, sie hatte schon oft solche Dinger beseitigt. Aber gleich so ein Großes … und das mitten in er Innenstadt! Glücklicherweise hatte das Monster einen weniger beliebten Ort gewählt – eine Art Garagenhof, der auch schon mal bessere Tage gesehen hatte. Ratten huschten durch enge Gassen zwischen den Gebäuden und ließen ihre Hinterlassenschaften auf dem ganzen Hof liegen. Dazu kamen umgefallene Mülltonnen und Autoteile, verteilt über das gesamte Gebiet. Shireen rümpfte ihre Nase. Das Biest hatte seine schuppigen Köpfe in einer der Mülltonnen vergraben und gab grunzende Geräusche von sich. Mit zitternden Händen zog Shireen ihre Waffe hervor: eine metallene Armbrust, die im Sonnenlicht funkelte. Sie bestand wie gewöhnliche Armbrüste aus einem Pfeil und der Säule, auf der keltische Zeichen und geschwungene Bilder eingraviert waren. Zugegeben nicht die modernste Waffe, aber damit hatte Shireen schon immer Vorlieb genommen. Mit wild schlagendem Herzen fokussierte sie den Hintern des Giganten. Chimären waren schwer zu fangen. Sie waren riesig, besaßen unglaublich viele Glieder und trieften förmlich vor giftigem Schleim. Und sie stanken. Bestialisch. Shireen hatte sich schon immer gewünscht, ein so großes Monster zu erlegen. Für gewöhnlich träumten siebzehnjährige Mädchen von ganz anderen Sachen, - aber Shireen war nicht so. Kein Wunder, mit einem Kopfgeldjäger und einer Archäologin als Eltern konnte sie auch nicht normal sein. Und dann war da noch diese unglaubliche Faszination, die die Fabelwesen bei Shireen auslösten, und die Kampflust, die sie überkam, immer wenn sie das Brüllen eines Drachen hörte oder die blutgierigen Augen eines Vampirs erblickte. Auch das Preisgeld war meist gar nicht so übel – womit sonst würde sie ihr College finanzieren können? Als Shireen bemerkte, wie sehr sie mal wieder in ihre Gedanken abgedriftet war, stellte sie sich gerade auf und hob ihr Kinn, bemühte sich, das Monster zu fokussieren. Doch ehe sie das tun konnte, erkannte sie, dass die Chimäre ihre Anwesenheit bereits gewittert hatte. Ruckartig schlüpfte ihr schlammfarbener, dreckiger Kopf aus der Mülltonne und blickte sich um. Die Augen, zu Schlitzen geformt, suchten die Umgebung nach potentieller Beute ab. Das Biest, das wie eine Mischung aus Echse, Löwe und Ziege aussah, bewegte sich in Richtung Straße. Shireen hielt ihren Atem an, sprang zur Seite, um sich für einen Augenblick hinter einem verlassenen Haus zu verstecken. Sie brauchte Zeit. Zeit, um sich zu sammeln und auszurechnen, in welchem Winkel sie schießen musste, um das Biest so zu erwischen, dass es mit einem Mal klappte. Das tat sie immer, bevor sie schoss. Sie konnte nicht leichtfertig handeln. Konnte sich nicht einfach auf die Monster stürzen, so wie es ihr Vater bevorzugte. Nein, sie hatte immer einen Plan gehabt. Doch der Druck überwog. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust und sie spürte, wie die Panik ihr die Luft zuschnürte. Und dann erschienen die Bilder vor ihrem inneren Auge. Die Chimäre. Am Boden. Ihr Vater, der sich stolz über sie beugte und seine Beute präsentierte. »Alles klar«, flüsterte sie sich zu und setzte ein Lächeln auf, bevor sie einen Schritt nach rechts machte, und sich der Bestie stellte. Sie stand ihr gegenüber. Die Chimäre verharrte an derselben Stelle. Chimären waren nicht besonders intelligent. Wenn es etwas gab, für das existierten, dann war das lediglich ihr Wille zu Töten. Und Shireen hatte ein unglaublich großes Verlangen, es ihnen auszutreiben. Sie griff sich den Bogen, zog ihn zurück, und wenige Sekunden später schoss er direkt in Richtung Chimäre. Mit einem dumpfen Knall landete der in Gift getränkte Pfeil auch schon in der Brust des Ungeheuers. Die Chimäre brüllte auf. Mist, dachte Shireen. Ein Fehltreffer. Die Chimäre hob ihre riesigen Pfoten und stampfte damit direkt vor Shireens Füßen auf. Nur einen Zentimeter hatte es gefehlt, um sie umzuhauen. Doch sie war schnell genug gewesen, um aus dem Weg zu springen. Unsanft landete sie auf dem Steinboden. Sie packte sich an die Seite und schnappte sich ihre Armbrust, bevor die Chimäre erneut zu wüten began. Sie schwang ihren monströsen Kopf in Richtung Shireen und öffnete ihr stinkendes Maul. Gift tropfte von ihren messerscharfen Zähnen auf den Betonboden und erzeugte beim Aufkommen merkwürdigen, ätzenden Dampf. Schnell betrachtete Shireen ihre Hände. Ihre Fingerknöchel waren aufgeschlagen und wund, jede Bewegung schmerzte. Doch das hielt Shireen nicht weiterhin auf. Sie hatte es schon mit größeren Verletzungen zutun gehabt. Nach einmal tief ein- und ausatmen zückte sie einen weiteren, metallenen Bogen und zielte diesmal auf den Rücken des Ungeheuers. Die Chimäre schien sie bereits aus den Augen verloren zu haben, mit geöffnetem Maul keuchte sie und versuchte, mittels Geruchssinn ihren Feind ausfindig zu machen. Als Shireen losrann und einen Bogen um die Chimäre machte, spitzte sie ihre Ohren und spürte ihre Anwesenheit. Sie fuhr mit ihren drei Köpfen herum und schnappte nach Shireen. Shireen jedoch sprang ihr aufs Maul, griff sich an ihrem stoppeligen, harten Fell fest und hielt den Pfeil fest in der Hand. Die Chimäre schlug den Kopf nach hinten. Aufkeuchend landete Shireen auf dem Rücken des Monsters, das seinen Kopf suchend umherbewegte. Nur mit Mühe schaffte Shireen es, sich an dem lebendigen Wirrwarr aus Schuppen und Fell festzuhalten. Während sie mit der einen Hand immer noch den Pfeil hielt, kämpfte sie sich mit der anderen Hand zum stacheligen Schwanz des Biests vor. Ein Mal war sie fast abgerutscht, trotzdem war es ihr gelungen, sich zu halten. Und dann war der Zeitpunkt gekommen. Sie hob den rechten Arm, richtete den Pfeil auf den Rücken der Chimäre. Diese schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, und blieb einen kurzen Augenblick still stehen. »Also, Schätzchen. Jetzt ist aber auch mal Schluss«, grinste Shireen und hämmerte den Pfeil mit unglaublicher Kraft in den Rücken des Monsters. Noch bevor die Chimäre anfangen konnte, wieder rumzuschreien, klappte sie zusammen. Ihre Augen klebten starr an Shireen, die sich mit Schwung von ihr hievte. Das Hämmern ihres Herzes verstummte, ihr Atem verlangsamte sich. Sie hatte es geschafft. Zufrieden blickte sie sich um. Keiner schien etwas von ihrem kleinen Kämpfchen mitbekommen zu haben. Bei dieser ausgestorbenen Gegend – Kein Wunder. Sie grub ihr Handy aus ihrer Tasche und schaute auf ihr Display. Das Ganze Theater hatter gerade mal 15 Minuten gedauert. Für einen Kampf mit einer wildgewordenen Chimäre, nicht schlecht. Das Nachrichtensymbol begann zu blinken und Shireen hoffte inständig, dass es sich dabei nicht um ihre Mutter handelte. Ihre Mutter, eine weltweit anerkannte Archäologin und Doktorin, war stets besorgt um ihre Tochter. »Wenn du nicht irgendwann damit aufhörst, dich mit Monstern rumzuschlagen, bekomme ich noch einen Anfall«, meinte sie immer. Diese Hysterie ließ sich auch in ihrer Nachricht wiedererkennen.
Wir müssen reden. Jetzt! Es geht um die Schule!
Sie seufzte. Bevor sie das Handy wieder wegsteckte, verschickte sie noch schnell eine SMS an ihren Auftraggeber, Jack Hutch. Sie kannte Jack seit sie ein kleines Mädchen war. Er war damals wie ein zweiter Vater für sie gewesen – während sich ihr Vater um die Ordnung auf der Welt kümmerte, saß er mit ihr auf dem Wohnzimmerboden und steckte Puzzelteilchen zusammen. Obwohl er selbst einmal Kopfgeldjäger gewesen war, war er nach einem kleinen Unfall zur Ruhe gekommen und hatte Shireen zu seinem Lehrling ernannt. Jetzt erteilte er ihr Aufträge, informierte sie über Unstimmigkeiten und half ihr, besser mit ihren Waffen zurechtzukommen. Außerdem war er ein guter Nachhilfelehrer, und das konnte Shireen nur zu gut gebrauchen. Denn was an ihrem kleinen Teilzeitjob am meisten litt, waren definitv ihre Schulnoten. Sie warf noch einmal einen Blick zurück auf ihre Beute, fotografierte sie schnell ab und wartete darauf, dass sie erlosch. Monster, in deren Blutbahnen das Gift des Pfeiles floss, lösten sich in dieser Welt auf und werden dann, in der nächsten Welt wiedergeboren. In einer Welt, in der Monster und andere, unglaubliche Dinge existierten. Jack meinte schon oft dort gewesen zu sein. Es wäre die Pflicht jedes Kopfgeldjägers, der zweiten Welt einen Besuch abzustatten. Doch Shireen schien dafür zu jung zu sein. »Wenn du bereit dazu bist, nehme ich dich mal mit«, sagte Jack immer wieder. Sie seufzte und beobachtete, wie sich Schuppe für Schuppe von dem großen Körper der Chimäre löste, in Richtung Himmel glitt und sich dann in Funken auflöste. Letztendlich blieben von ihr nur ein paar Härchen übrig. Shireen drehte sich um und lief in Richtung Schule. Sie hatte einiges zu erklären.
»Miss Sullivan, wie erklären sie sich, dass sie allein dieser Woche schon fünf Mal zu spät gekommen sind?« Die grelle, krächzende Stimme ihrer Lehrerin ließ sie zusammenzucken. Nach dem Unterricht hatte sie sie zu sich gerufen, um mit ihr über ihre Abschlussnoten zu diskutieren. »Ich bin … beschäftigt«, meinte Shireen nervös und hob die Schultern an. »So beschäftigt können sie gar nicht sein! Ich habe bereits mit ihrer Mutter geredet. Im Moment sieht es nicht so aus, als würden sie diese Stufe packen. Das heißt, wie werden vielleicht noch mehrere Jahre auf ihren Abschluss hinarbeiten müssen. Und wenn sie sich diesmal keine Mühe geben, dann-«
»Moment, ich … ich bleibe sitzen?« Die Verzweiflung in Shireens Stimme verwunderte selbst sie. Sie hatte sich noch nie wirklich für die Schule interessiert. Aber die Enttäuschung, die in den Augen ihrer Mutter liegen würde, wäre unerträglich. Allein der Gedanke daran, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe sie lediglich darauf hingewiesen, dass sie sich, falls sie es schaffen wollen, unglaublich viel Mühe geben müssen. Und deswegen …«
Die kleine, pummelige Lehrerin wühlte in den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch und zog einen kleinen Zettel hervor. Auf dem Zettel war ein Foto abgebildet. Das Foto eines Jungen. Etwas an ihm war ungewöhnlich. Seine Augen wirkten starr und sein Gesicht so hell und glatt, fast puppenartig. Dazu die Haare, hellblond, das sogar ins Weiß überlief. »Sein Name ist Dominic Haven. Er stammt aus schwierigen Verhältnissen und wird ab morgen ein Schüler dieser Schule sein. Ich möchte, dass du dich so gut wie möglich um ihn kümmerst. Er hatte es nicht leicht« sagte Mrs. Danford und drückte ihr den Zettel in der Hand. Der Name, das Alter, die Adresse. Auf dem Zettel standen wesentliche Informationen zu seiner Person. Dominic Haven … aus irgendeinem Grund kam ihr der Name bekannt vor. Shireen war sich jedoch nicht sicher, wo sie ihn schon mal gehört haben könnte. Doch der Gedanke daran, Tag für Tag von einem ihr unbekannten Typen verfolgt zu werden und für ihn das Kindermädchen zu spielen, gefiel ihr überhaupt nicht. Sie schüttelte den Kopf. »Das kann doch nicht ihr ernst sein! Selbst wenn ich auf ihn aufpassen würde, das würde doch auch nicht meine Noten verbessern!«
»Ihre sozialen Noten schon. Und wie sie wissen, sind die uns sehr wichtig, Miss Sullivan«
Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Shireen seufzte und steckte sich den Zettel in die Hosentasche. »Für ein paar Tage«, stellte sie mit hartem Unterton fest und drehte sich um. Ohne nach vorne zu schauen verließ sie den Raum, und lief sie in einen großen Typen hinein. Er blickte sie verwundert an und trat einen Schritt zurück. Er sah älter aus als die meisten Schüler. Sein hellbraunes Haar war kurz, seine Gesichtszüge streng und markant. Seine Augen leuchteten im Sonnenlicht, das durch die großen Fenster fiel, blau auf. Ohne sich zu entschuldigen stapfte Shireen weiter und spürte den Blick des Typen nach Minuten noch auf ihrem Rücken kleben. Sie wusste nicht wieso sie das dachte, aber der Typ trug einen Geruch, der ihr gar nicht gefiel … Er roch nach Monstern, so wie sie.
Nach der Schule schaute Shireen wie üblich bei Jack vorbei. Ihm gehörte ein Haus am Rande der Stadt, ziemlich abgelegen von den Restlichen. Es sah nicht unbedingt besonders schön aus, aber solche Dinge hatten Jack noch nie wirklich gehört. Im Keller hatte er sich eine ganze Werkstatt errichtet – Computer hingen an den Wänden, Regale standen voll mit Werkzeugen und Waffen, die er in seiner Blütezeit als Kopfgeldjäger selbst erbaut hatte. Als er bemerkte, wie Shireen zur Tür hineinkam, drehte er sich in seinem Computerstuhl um und grinste sie stolz an. »Eine ausgewachsene Chimäre!« Er klang beeindruckt. Ein Lächeln erschien nun auch auf Shireens Lippen und sie ließ sich auf einem kleinen, grünen Sessel fallen. Neben Jack bastelte ein Junge in ihrem Alter, mit fransigem, dunkelbraunen Haar an ihrer Armbrust herum. Kyle war Jacks Nachbar und hatte vor ein paar Jahren von seiner geheimen Leidenschaft Wind bekommen. Er hatte sofort eingewilligt, alles geheim zu halten und ihn zu unterstützen. Für sein Alter sah der Technikfreak ungewöhnlich jung und zerbrechlich aus. Shireen hatte sich auf Anhieb mit Kyle angefreundet, und momentan waren sie schon so weit, sich gegenseitig »bester Freund« und »beste Freundin« zu nennen. Nach einer Weile blinzelte auch Kyle sie lächelnd an und hob ihre Armbrust in die Luft. »Ich habe ein paar klitzekleine Änderungen vorgenommen. Der Pfeil ist jetzt strammer gespannt und das hier« er deutete auf ein kleines, schwarzes Rohr am Gerüst, »ist zum Visieren. Damit funktioniert das bestimmt besser.« Sie nickte. »Danke, Kyle« Kyle nickte ebenfalls und machte sich wieder daran, an ihrer Waffe herumzubasteln. Inzwischen war Jack aufgestanden. Er war fast 2 Meter groß und trug einen Dreitagebart. Er sah nicht übel aus, trotzdem schien es mit den Frauen nicht besonders gut zu laufen. Vor Monaten hatte er mal eine Freundin, aber als sie seinen kleinen Hobbykeller entdeckte, war es so schnell wieder vorbei, wie es angefangen hatte. Jack schien sich nicht dran zu stören, also war alles okay, so wie es war. Shireens Handy vibrierte. Noch eine Nachricht von Mom. Super. Sie stöhnte und legte ihr Handy beiseite. »Deine Mutter?«, riet Jack. Sie nickte.
»Sie meint, du wärst ein schlechter Einfluss«, meinte sie.
»Sie hat mich noch nie wirklich gemocht«, merkte er an und nippte an seiner Disney-Kaffeetasse. Sie nickte und ließ sich weiter in ihren Sessel sinken. »Und dazu muss ich noch auf so'nen Typen aufpassen, der Problem hat und auf unsere Schule kommt« Sie knüllte den Zettel, der seit Stunden in ihrer Hosentasche gesteckt hatte, zusammen und warf ihn in Richtung Jack. Dieser fing ihn sofort und faltete ihn auseinander. Beim Anblick des Fotos stockte er. Er warf Shireen einen verwunderten Blick zu. »Bist du dir sicher, dass das der Typ ist?« Er hob den Zettel wieder hoch, damit sie ihn sehen konnte. Sie nickte. »Ja. Was ist mit ihm?«
»Ich kenne ihn«, meinte Jack, »Ich hab ihn damals, als ich noch Kopfgeldjäger war, gefangen. Er ist Halbvampir.«
»Ich muss auf ein Monster aufpassen?« Shireen sprang auf. Nervös blickte sie sich um. Ein Monster? Auf ihrer Schule? Moment mal. Wie hatte er es so weit geschafft? Und wieso hatte Mrs. Danford gemeint, er würde aus »problematischen Verhältnissen« stammen? Shireen war Kopfgeldjägerin. Sie fing Monster. Sie eliminierte sie. Sie spielte doch nicht den Babysitter für eins!
»Irgendwie schon, aber …« Er zuckte die Schultern. »Er ist mehr Mensch als Monster. Als ich ihn gefangen habe, wusste ich gar nicht, dass er die Lizenz hat, hier zu bleiben«, erzählte Jack. »Er schien ein ganz normaler Junge zu sein«
»Seit wann kriegen Monster die Lizenz, bei uns auf der Welt zu leben?« fragte Shireen geschockt und starrte Jack mit offenem Mund an.
»Seit Halbmonster existieren. Halbmonster können nicht in der zweiten Welt leben. Sie besitzen genau wie wir eine Intelligenz, im Gegensatz zu gewöhnlichen Monstern. Außerdem sind sie fast immer mehr Mensch als Monster, also sollte man sich um sie keinerlei Sorgen machen.«
Keinerlei Sorgen? Was, wenn sie anfingen würden zu wüten? Genau wie die Chimäre, die sie heute Morgen aufgehalten hatte. Shireen war egal, wie viel Prozent Mensch in diesem Dominic steckte. Das bisschen Prozent Monster, dass in seinen Genen verankert war, brachte sie zur Weißglut. Nun beobachtete auch Kyle sie besorgt. »Wenn du willst, kann ich dich ablösen« Nun erschien ein neues Bild vor ihrem inneren Auge; Dominic, der puppenhafte Junge, der sich über Kyle beugte und ihm jedes bisschen Blut aus seinem Körper saugte, das sich dort drin befand. Sie erschauderte. »Auf keinen Fall!« platzte es aus ihr heraus. »Du bist auch nur ein Mensch«
Kyle verzog das Gesicht und schaute weg. Plötzlich fing Jack an zu lachen und stand auf. Beruhigend legte er seine große Hand auf ihre Schulter. »Keine Sorge, Shireen. Ich bin immer da. Ich kenne Dominic, er wird dir schon nichts antun. Er hat mir sogar geholfen«
Geholfen? Ein Monster, einem Kopfgeldjäger?
»Wobei könnte er dir schon geholfen haben?«, fauchte Shireen ungläubig und verschränkte ihre Arme ineinander.
»Er hat mir dabei geholfen, seinen Vater zu töten«
Ein ungutes Gefühl stieg in Shireen auf. Ihr wurde übel. Sie spürte, dass es an der Zeit war, das Thema zu wechseln. Jetzt war es schon abgesprochen. Sie würde auf ihn aufpassen müssen. Und wenn er wirklich so harmlos war, wie Jack meinte, dann würde sie vielleicht damit umgehen können. Jack seufzte und wandte sich den Unterlagen zu, die auf seinem Computertisch verteilt waren. Er griff sich einen Kugelschreiber. »Ich habe schon bescheid gegeben, dass du die Chimäre erledigt hast. Du bekommst deine Belohnung am Montag«, teilte er ihr mit und kritzelte etwas auf ein leeres Blatt Papier. Shireen nickte. »Also … Bist du bereit für deinen nächsten Auftrag?«, wollte er wissen und schaute sie fragend an. »Natürlich«, bestätigte Shireen und kam ein paar Schritte näher, um sehen zu können, was er schrieb. »Einer meiner Bekannten meinte, eine Harpyie gesehen zu haben. Ich schicke dir die Adresse und alle anderen Einzelheiten, damit du dich auf die Suche machen kannst. Harpyien sind für dich keine große Sache« Harpyien waren Mischwesen aus Vögeln und Menschen, hatten allerdings so gut wie nichts Menschliches an sich. Sie waren Monster ohne Intelligenz, die allein für Beute umherschritten. Jack hatte Recht. Das war wirklich keine große Sache für sie. »Ich glaube, du solltest trotzdem vorher ein kleines Gespräch mit deiner Mutter führen« Jack deutete auf Shireens Handy, das vibrierend auf dem grünen Sessel lag. Shireen nickte und setzte ein gequältes Lächeln auf.
Als Shireen zuhause ankam, war das Licht im Esszimmer angeschaltet. Bevor sie den Raum betrat, atmete sie einmal tief durch und stellte ihre Sachen auf der Treppe ab. Dann kratzte sie all ihren Mut und ihre Überzeugung zusammen und betrat das Esszimmer. Ihre Mutter saß über ein Buch gebeugt am Esstisch. Sie trug ihre rote Lesebrille und regte sich nicht, obwohl Shireen sich sicher war, dass sie sie bemerkt hatte. »Hi Mom«, sagte sie. Ihre Mutter rückte ihre Brille zurecht und blickte vom Buch auf. Shireen versuchte ihre deutlich sichtbare Enttäuschung mit einem kleinen, gut gemeinten Lächeln zu mindern. Doch das brachte alles nichts. Ihre Mutter schob das Buch zur Seite und legte streng ihre Arme übereinander. »Weißt du, wie viel Uhr es ist?«, wollte sie von ihr wissen. »Eigentlich nicht«, gab Shireen zu und warf einen Blick auf ihr Handydisplay. Zwölf Uhr. Die Zeit war wie verflogen. Sogar sie selbst war geschockt darüber, wie sehr sich ihr Zeitgefühl verschlechtert hatte. »Schatz, ich habe dich lieb, aber jeden Abend sitze ich hier und mache mir Sorgen darüber, ob es dir gut geht. Das musste ich schon bei deinem Vater tun«, meinte sie vorwurfsvoll. Bei dem Wort »Vater« zuckte Shireen zusammen. Bitte nicht dieses Thema, sagte sie zu sich selbst und blickte schuldbewusst zu Boden. »Sag mir bitte, dass das ein Ende hat. Mrs. Danford hat mir dir darüber geredet, oder?« Ihre Stimme hörte sich schon fast bettelnd an. »Ich mache mir doch nur Sorgen um deine Zukunft«, warf sie noch schnell hinterher. »Mom, mir geht es gut. Ich lerne jetzt jeden Abend extra viel, und dann war's das«, versuchte sie ihre Mutter zu beschwichtigen und setzte sich an das andere Ende des Tisches. Der Blick ihrer Mutter fiel auf ihre verwundeten Hände. Shireen versteckte sie schnell unter ihren Ärmel, aber sie war sich sicher, dass ihre Mutter sie bereits gesehen hatte. Sie hatte ja Recht. »Ich werde mit Jack darüber reden. Ich habe dich schon für's Amity angemeldet«, sagte sie streng. Fassungslos starrte Shireen ihre Mutter an. Amity. Das supersaubere Internat, von dem alle Snobs träumten. Das Internat, das jeden zweiten Tag einen Drogentest durchführte und erwartete, dass alle Schüler sich den Lehrern und Angestellten fügten. In diesem Moment wurde ihr speiübel. »Du kannst mich nicht nach Amity schicken«, sagte sie schnell »Ich passe da nicht rein, Mom!«, meinte sie und stand auf. Sie schlug mit den Handflächen auf den Tisch, sodass ihre Mutter erschrocken zusammenzuckte. Der Blick ihrer Mutter sank, so, als würde es ihr leidtun, aber Shireen konnte sich nicht vorstellen, warum sie sich deswegen schlecht fühlen sollte. Sie wollte ihr Leben kontrollieren. Nein, das konnte sie doch nicht! »Ich war dort, als ich so alt war wie du«, erzählte sie. »Du hast da auch nicht reingepasst, Mom!«
Shireen merkte gar nicht, wie sich ihre von Entsetzen gepackte Stimme in wütendes Gebrüll verwandelte und ihrer Mutter Tränen in die Augen jagte. Sie war selbst erschrocken darüber, wie bestialisch sie selbst sein konnte. »Es ist bereits abgemacht. Ich habe auch mit deinem Vater darüber geredet, und er-«
»Dad hat da nicht zugestimmt!«, schrie Shireen, »Das glaube ich dir nicht!« Ihr Dad war schon immer anders gewesen. Er hatte selbst immer gewollt, dass Shireen in seine Fußstapfen tritt und selbst Kopfgeldjägerin wird. Ihr Vater hatte sie in allem unterstützt. Ihr Vater war wie Jack.
Doch seit er aufgebrochen war, um einen längeren, komplexen Auftrag zu bearbeiten, war er nicht mehr derselbe. Shireens Mutter nickte. »Doch. Er und ich haben zusammen beschlossen, dass die Zeit gekommen ist. Du sollst ein normales, sicheres Leben leben. Das hat selbst dein Vater gesagt« Jetzt stand ihre Mutter auf, ging mit großen Schritten zu einem Regal, das an der Wand hing und zog einen länglichen Umschlag aus einer der Schubladen. Sie drehte sich zu Shireen und hielt ihr den Umschlag hin. »Den hat er dir geschrieben« Ungläubig starrte Shireen auf das weiße Papier. »Er meinte doch, er würde mir nicht schreiben können, und-«
»Er hat es aber getan. Ich nehme an, es gab Dinge, die er klarzustellen hatte«, meinte ihre Mutter und zuckte die Schultern. Shireen nahm den Umschlag an und faltete ihn auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Brief lesen wollte. Wenn es so dringend war, dann konnte es wahrscheinlich nichts Gutes sein. Sie warf noch einen fragenden Blick ihrer Mutter zu, die sie besorgt anblickte. Dann zog sie den Brief aus dem Umschlag und faltete ihn auseinander. »Liebe Shireen« Schon die ersten Worte brachten Shireens Magen zum Toben. Sie fühlte sich mies. Ein merkwürdiges Gefühl stieg in ihr auf. Sie vermisste ihren Vater, sogar sehr. Aber etwas stimmte mit dem Brief nicht. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber er fühle sich … falsch an. Jetzt erst beschloss sie, ihn zu lesen.
Liebe Shireen,
ich vermisse dich. Ich vermisse dich und deine Mutter so sehr. Du glaubst gar nicht, wie oft ich an euch denke. Du warst schon immer ein starkes Mädchen. Die Mission, auf der ich bin, ist gefährlich. Ich weiß nicht, wie lange ich hier noch bleiben werde. Ich hoffe, ich werde so schnell wie möglich heimkehren können, obwohl ich glaube, dass das eher unwahrscheinlich ist …
Ich möchte, dass du auf deine Mutter aufpasst. Sag Jack, dass es mir gut geht. Hör auf deine Mutter, Shireen. Sie weiß, was gut für dich ist. Ich werde dir ab heute nicht mehr schreiben können, also denke an meine Worte.
Ich hab dich lieb, dein Dad.
Tränen bildeten sich in ihren Augen. Ihre Mutter drehte sich von ihr weg und ging wieder auf den Tisch zu. Als ob nichts gewesen wäre, setzte sie sich an denselben Platz wie zuvor und tat, was sie auch dann getan hatte. Shireen blieb noch einen Augenblick stehen. Kleine Fleckchen bildeten sich auf dem Briefpapier. Die Tränen liefen ihr wie ein Wasserfall über die Wangen und verwuschen die Tinte. Sie knüllte das Papier zusammen und warf es auf den Boden. Dann verließ sie den Raum. Ihre Mutter schaute ihr nicht hinterher.
Der nächste Tag begann für Shireen mit unerträglichen Kopfschmerzen. Beim Frühstück verloren sie und ihre Mutter kaum ein Wort. Nur zum Abschied warf sie ihr ein paar Worte hinterher. Auf dem Schulweg versuchte Shireen, so vielen Schülern wie möglich aus dem Weg zu gehen. Sie hatte sich selbst den Ruf der Schulschwänzerin gemacht, und wollte nicht auch noch die verurteilenden Blicke ihrer Mitschüler auf sich ziehen. Shireen schob sich eine dunkelbraune Haarsträhne hinter's Ohr und zückte ihr Handy. Zwei Nachrichten. Eine von Jack. Die Adresse und weitere Hintergrundinformationen zur Harpyie. Darum würde Shireen sich heute auch noch kümmern müssen. Sie seufzte. Das konnte sie nicht gebrauchen, nicht nachdem, was gestern vorgefallen war. Sie versuchte den Gedanken daran für's Erste zu unterdrücken und klickte zur nächsten Nachricht weiter. Kyle. Er fragte, ob es Shireen gut ginge und wie das Gespräch mit ihrer Mutter gegangen war. Bei seiner Besorgnis wurde Shireen ganz warm um's Herz, und ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. Kyle konnte sie immer aufmuntern, wenn es ihr mal mies ging. Aber dafür waren beste Freunde schließlich da. Sie antwortete schnell, bevor sie ihr Handy wegsteckte und durch das Schultor passierte. Die Blicke der Schüler waren, wie erwartet, unterträglich. Shireen versuchte, das Getuschel und die stierenden Blicke auszublenden und steckte sich ihre Kopfhörer in die Ohren. Die erste Schulstunde ging problemlos um. Sie beobachtete den Regen aus dem Fenster und wurde weiterhin nicht von dem Lehrer oder sonst wem beachtet. Beim Checken der Anwesenheitsliste war Mr. Peters ganz schön überrascht gewesen, ihr Gesicht in der Menge zu sehen, aber das war's auch schon.
Dann rückte die Mittagspause an. Shireen, die sich zuvor an einem der vielen Süßigkeitenautomaten einen Snack gegönnt hatte, saß auf einer der Treppen im Obergeschoss und versuchte krampfhaft, sich vor jeder Art von sozialen Interaktion fernzuhalten. Ihr Blick huschte über ihr Handydisplay. Keine Nachrichten von Jack oder Kyle. Sie dachte über den Brief ihres Vaters nach. Er klang besorgt. Besorgt um sie und ihre Mutter. Besorgt um seine Zukunft. Er meinte, es wäre gefährlich dort. War er in der zweiten Welt? Was, wenn er es nicht schaffen würde, zurückzukommen? In Shireen erwachte das Bedürfnis, ihrem Vater hinterherzurennen. Sie wollte bei ihm sein. Sie wollte nicht nach Amity. Ein Rascheln riss sie aus ihrem Träumen. Erschrocken fuhr sie herum. Da stand er, ein paar Meter von ihr entfernt, und stierte sie mit glänzenden Augen an. Dominic. Sie hatte den Gedanken an ihren zukünftigen Sprössling schon so verdrängt, dass sie ihm zuerst gar nicht erkannt hatte. Aber dann kam alles zurück, wie in einem Flashback: Die puppenhaften Gesichtszüge, die weißblonden Fransenhaare, diese seelenlosen, blauen Augen. Minuten vergingen, und er sagte nichts. Shireen fühlte sich unbehaglich und richtete sich auf. Beim Vorbeigehen griff er sich ihr Handgelenk und zog sie vorsichtig zurück. »Bist du Shireen Sullivan?« wollte er wissen. Seine Stimme klang ungewöhnlich tief im Kontrast zu seinem Aussehen. Nicht nur das, er war dazu auch noch unglaublich groß. Shireen reichte gerade mal zu seinen Schultern heran. Nervös schob sie sich ein paar braune Haarsträhnen hinter ihr Ohr und nickte. »Ja, bin ich«
»Ich heiße Dominic Haven. Mrs. Danford meinte, du würdest …«
»Dich herumführen. Ja, klar. Ich zeige dir alles«
Sie wagte es kaum, ihm in die Augen zu schauen. Sein Blick jedoch klebte an ihr, fast bedrohlich. In ihrem Gedächtnis rief sie die Vampire auf, die sie bisher gesehen hatte. Abscheuliche Wesen mit rot glühenden Augen und spitzen Klauen, riesigen, rasiermesserscharfen Zähnen und strubbeligen Haaren. Er wirkte nicht so. Er erinnerte sie an … ein verwirrtes Kind. Vorsichtig lockerte er seinen Griff und fuhr sich mit der Hand durch sein helles Haar. Sein Blick war immer noch auf sie gerichtet, diesmal schien er eher fürsorglich als bedrohlich. »Hast du Angst?«, fragte er sie. Sie blickte ihn verwundert an. »Nein«, meinte sie stur und ging weiter. Doch, dachte sie, sie hatte Angst. Für einen klitzekleinen Moment hatte sie wirklich Angst. Aus welcher Sichtweise man es auch betrachtete, letztendlich war Dominic ein Vampir. Sein Aussehen konnte sie nicht täuschen. Die ganze Mittagspause verbrachte sie damit, den stillen Dominic durch den ersten Stock zu führen. Die Naturwissenschaftsräume, die Büros, das Lehrerzimmer, der Ruheraum. Immer wieder beäugten sie die Anderen. Doch Shireen hatte eher das Gefühl, dass Dominic es war, der deren Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Blicke waren nicht verwundert oder verachtend. Sie schienen fasziniert von ihm zu sein. Und Shireen konnte ihnen das kaum verübeln. Egal wie sie es drehte und wendete; Dominic Haven war faszinierend. Und sie hasste es, das zugeben zu müssen.
Nach einer kleinen Rundführung blieb Shireen im Obergeschoss stehen und drehte sich zu ihrem Begleiter um. Dominic starrte sie mit geweiteten Augen an und sagte nichts. »Das war's«, sagte sie und hob ihre Hand, um ihm schnell zum Abschied zu winken, ehe sie durch die Tür verschwand um wieder am Unterricht teilzunehmen. Selbst Unterricht war ihr lieber als das ewige Schweigen und der bohrende Blick, den sie selbst in ihrem Rücken spüren konnte. Nach drei Schritten hob Dominic dann seine Stimme. »Ich hab es gesehen«, meinte er laut. Sie drehte ihren Kopf zu ihm um und schaute ihn fragend an. »Was gesehen?«, fragte sie und hob eine Augenbraue.
»Wie du die Chimäre getötet hast«, sagte er. Ein Schauer überkam sie. Wie konnte er das mitbekommen haben? Sie war sich absolut sicher, dass sie alleine war. Und wieso hatte er ihr nicht geholfen, als sie am Boden lag? Eine Mischung aus Wut und Unbehagen drehte ihren Magen um und wirbelte unendlich viele Fragen in ihrem Kopf auf. »Ich weiß nicht wovon du redest«, stritt sie kalt ab und wollte sich gerade wieder umdrehen, als er laut darauf beharrte: »Ich bin mir sicher, dass du es warst. Diese Armbrust. Die aus Silber«, er stoppte kurz. »Was ist mit der?«, fragte sie leise, und versuchte ihm deutlich zu machen, dass auch er ruhiger werden sollte.
»Damit habe ich damals meinen Vater getötet«
Jetzt erinnerte sie sich wieder an das, was Jack ihr über Dominic erzählt hatte. Er hatte eigenhändig seinen eigenen Vater, einen Vampir, umgebracht. Shireen wusste nie, dass jemand schon vor ihr ihre Armbrust benutzt hatte. Jahre lang ist sie in dem Glauben, Jack hätte sie allein für sie angefertigt, umhergelaufen. Das machte sie unglaublich wütend, und sie wollte sich kaum ausmachen, wer sie sonst noch in der Hand gehabt hatte.
»Okay. Dann war ich das. Aber es ist ja nicht so, dass es dich etwas angeht, also-«
Er unterbrach sie schnell »Doch. Ich möchte so sein wie du. Ich möchte auch ein Kopfgeldjäger sein«, erzählte er. Sein Tonfall klang schon fast flehend, und er trat näher zu ihr. Verzweiflung lag in seinen blauen Augen. »Bitte, ich möchte mit dir zusammenarbeiten«, bat er. Sie trat zurück. »Wieso sollte ich das tun?« Sie verstand nicht, warum ausgerechnet ein Halbvampir ihr dabei helfen wollte, seine eigene Rasse auszulöschen. »Das ist eine lange Geschichte. Aber ich bitte dich. Ich habe Waffen, ich weiß gar nichts. Ich brauche dich« Sie betrachtete ihn verachtend und verschränkte die Arme ineinander. »Ich kann dir auch mit deinem Vater helfen!«, bot er dann an. Shireens Augen funkelten auf. »Was weißt du über meinen Vater?« Jetzt war sie diejenige, die näher trat und mehr wissen wollte. »Ich weiß wo er ist. Meine Mutter ist bei ihm«, meinte er. »Deine Mutter? Wieso sollte sie bei ihm sein?«
»Sie ist Kopfgeldjägerin, und wurde eingeteilt, mit ihm zusammenzuarbeiten. Weil sie meine Mutter ist, weiß ich immer genau, wo sie ist und was sie fühlt. Das können Vampire«, sagte er. Shireen erinnerte sich daran, wie er anfangs spürte, dass sie ängstlich war. Er lügte nicht. »Ich kann dir helfen, zu deinem Vater Kontakt aufzunehmen. Dazu musst du mir helfen, ein Kopfgeldjäger zu werden« Ihr Vater war in Gefahr. Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleiben werde, hatte ihr Vater in seinem Brief geschrieben. Zweifellos, es stimmte etwas nicht. Und Shireen wollte unbedingt wissen, was da los war, und wo er sich befand. Die Idee, immer wissen zu können, wo ihr Dad gerade ist und wie er sich fühlt, war mehr als verlockend. »Wo ist er?«, fragte sie. Dominic schloss seine Augen. Einen Moment später, antwortete er ihr: »Er ist nicht in dieser Welt« Die zweite Welt, dachte Shireen. Damals hatte Jack ihr oft Bilder von der zweiten Welt gezeigt, und ihr Geschichten vorgelesen. Ein unendliches, großes Chaos, Monster, die sich gegenseitig die Köpfe einschlugen und Vampire, die versuchten, in die erste Welt, die eigentliche Welt, vorzudringen. Es war die Verdammnis, wie in einem Horrorfilm. Falls es wirklich so war, wie Jack es ihr berichtet hatte, dann könnte etwas dran sein, dass ihr Vater sich in Gefahr befand. Ohne noch eine weitere Sekunde überlegen zu müssen, richtete sie ihren Blick auf Dominic und sagte geradeaus: »Okay. Aber wehe, du ziehst mich mit dir runter, wenn du dir beim Monsterjagen in die Hosen machst« Auf Dominics Lippen erschien ein dickes, zufriedenes Lächeln.
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2013
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