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Prolog

Ich bin nicht traurig. Ich bin gereizt. Gereizt und ja, auch ein wenig nervös. Ich sitze im Wartezimmer, schon seit fast zwei Stunden. Ich habe die Uhr beobachtet. Keine, die an der Wand hängt, nein. Den Luxus gönnen sie einem hier nicht. Ich habe mein Handy gezückt. Immer und immer wieder.

Das Sekretariat ist besetzt. Ständig. Eintritt nur für eine Person gestattet – sind ja schließlich alles streng vertrauliche Daten. Aber ich warte, versuche, geduldig zu bleiben. Was sollen denn die Leute sonst von mir denken? Dass ich nur ein weiterer dieser ungeduldigen Patienten bin? Nein, ich warte, bis man mich abholt, so, wie es mir versprochen wurde.

 

Zum vierten Mal schon kommt Frau Sommer aus ihrem Büro. Frau Sommer ist hier, neben Frau Schreiber, eigentlich für mich zuständig. Aber nicht heute.

Ich mag Frau Sommer. Ihr Name passt so gut zu ihr. Sie hat immer ein strahlendes, ansteckendes Lächeln im Gesicht. Sie ist zwar noch nicht so alt, dennoch bilden sich bei jedem Grinsen kleine Fältchen um ihre braunen Augen und ihren schmalen Mund. Sie ist sehr groß, ihr Gewicht schön gleichmäßig verteilt. Ihre Haare hängen ihr in Korkenlocken bis zur Hüfte, weshalb man sie nur mit hohem Pferdeschwanz antrifft, damit sie sich nicht ständig auf ihre Haare setzt. Eine halbrunde, rote Brille mit dünner Umrandung schmückt ihr zierliches Gesicht.

Als Frau Sommer nun sieht wie ich ihr zum vierten Mal freundlich lächelnd zunickte, scheint sie beinahe die Fassung zu verlieren. „Frau Gruber, Sie sitzen ja immer noch hier!“ Ich hasse es, wenn mich so eine liebenswürdige Person bei meinem Nachnamen nennt. Ich hasse das allgemein – diese falsche Förmlichkeit. „Ja, man hat mich noch nicht geholt.“, sage ich, trotz meiner gereizten Stimmung, freundlich mit einem Blick zur Tür. Frau Sommer stöhnt empört und stapft, ohne zu klopfen, in das Sekretariat. Ziemlich ungewöhnliches Verhalten von ihr.

Nach wenigen Minuten kommt sie wieder mit ihrem Sommer-Lächeln, wie ich es nenne, heraus und versichert mir, die zuständige Person würde gleich kommen.

 

Zum Glück unterbricht die junge Frau, wenige Jahre älter als ich, blond, viele Male und auch einige Pickel im Gesicht (die Mühe um Make-Up hat sie sich nicht gemacht), den Vortrag von Frau Sommer an mich, warum ich nicht ins Sekretariat gehe und dass ich mich doch zu melden habe, und nimmt mich mit in ihr Büro.

 

Und dann beginnt der Test, der mein Leben für immer verändert.

Kapitel 1

 

„Hey, Pickelfresse!“ Es war Sven Kern. Der Sven Kern, der mit mir in die fünfte Klasse ging und mich gerade einmal seit drei Wochen kannte. Genau dieser Sven Kern sprach diese schrecklichen Worte zu mir. Und jetzt kam er auf mich zu. Langsam, bedrohlich. Trotz seines jungen Alters, er war eineinhalb Jahre jünger als ich, war er sehr groß. Dennoch war in seinem Gesicht noch deutlich seine Jugend zu erkennen. Es war spitz, nicht ausgewachsen, und hatte nicht mal im Geringsten das Anzeichen einer baldigen Pubertät – so, wie er sich aufführte, hätte mich das nicht gewundert. Sein Unterkiefer erinnerte mich irgendwie an die Form eines umgedrehten Geodreiecks. Und sein Kopf war ein Rechteck. Also ein Rechteck auf einem Geodreieck, das mit der Spitze nach unten zeigte. Ich hasste Mathe, aber als diese beiden Formen vor meinem inneren Auge auf sein Gesicht gelegt wurden und noch dazu perfekt passten, musste ich in mich hinein schmunzeln.

„Pickelfresse, warte doch!“ Da war es dann wohl vorbei mit meiner Freude. Ich wusste, dass ich viele Pickel hatte, wusste, dass ich – wie nannte es meine Mutter immer? – ein Frühentwickler war. Aber das wollte ich nicht sein. Denn ich war die Einzige in meiner Klasse, die bereits Pickel im Gesicht und eine wachsende Brust hatte. Die anderen Mädchen hatten das nicht. Keine von ihnen.

Jetzt kam er wieder näher, und mir stiegen die Tränen in die Augen. Was würde er mir wohl antun? Mit seinem schmutzigen Grinsen durchleuchtete er mich von oben bis unten, allein mit seinem Blick. Ich fühlte mich unwohl, doch wusste ich, ich konnte nicht fliehen. „Na, Pickelfresse, gehst du jetzt nach Hause zu deiner Mami?“ Er lachte. Es war fast das Lachen eines erwachsenen Mannes, obwohl er noch nicht im Stimmbruch war. Vielleicht kam es mir auch nur so vor. „Hör auf damit“, schrie ich vor Wut, ich konnte meine Tränen nun nicht mehr halten, „sonst geh‘ ich zu Frau Kohler und sag‘ ihr alles!“

Frau Kohler war gleichzeitig unsere Schulsozialpädagogin und die Vorsitzende der Streitschlichter. Ich kannte sie nicht, wusste nicht einmal, wie sie aussah oder wo ihr Büro war. Ich dachte nur, ich könnte ihn damit abschrecken. Wie dumm ich war.

„Ha! Dann geh‘ doch zu ihr, und weine dort weiter!“

 

Als er aus der Tür ging, rempelte er mich so kräftig an, dass ich gegen den Türstock schleuderte und mir den Kopf stieß.

 

 

„Melly?“ Meine Mutter hat mir eine Frage gestellt. Eine ganz simple. Doch diese hat gereicht, um jene schmerzhafte Erinnerung in mir hervor zu rufen. Es hat nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, aber meine Mutter kennt mich, sie merkt sofort, wenn mit mir etwas nicht stimmt. „Möchtest du dir sicher kein Make-Up auftragen? Für die Passfotos? Du wirst diese Bilder eine Weile behalten, willst du wirklich, dass man noch Jahre danach deine… deine Pickel sieht?“ Sie wiederholt ihre Frage, und es ist absolut unnötig. Ich habe sie schon beim ersten Mal verstanden. „Ja klar, für die Passfotos…“, murmele ich und greife zu dem Döschen, das sie mir reicht.

Ich betrachte mich im Spiegel. Es ist kein sehr gutes Make-Up, nur ein sehr, sehr loses Puder und ich muss die halbe Dose auftragen, damit es etwas bewirkt. Außerdem hat es nicht meinen Hautton – es ist bestimmt 2 Nuancen zu hell. Aber was ich sehe, löst etwas in mir aus. Im Zusammenspiel mit der Erinnerung aus der fünften Klasse. „Und?“, fragt sie mich unsicher, sieht mich aus ihren großen blauen Augen, die von ihren Schlupflidern, ein wenig Kajal und haufenweise Wimperntusche zur Hälfte bedeckt sind (sie hat sich extra hübsch gemacht, denn sie schminkt sich nie – für Passfotos! Pah!), neugierig an. „Ist okay.“ Ich lasse mir nichts anmerken. Zeige ihr nicht, dass es mir gefällt. Ich darf nicht nachgeben. Sonst bin ich schwach. Sonst verliere ich. Trotzdem klatscht sie begeistert in die Hände, hüpft sogar ein wenig auf und ab. „Hol‘ deinen Bruder, wir müssen los!“

 

Ich beschließe, mir ein eigenes, ein richtiges Make-Up zu kaufen. Natürlich schminken sich alle in meiner Klasse schon. Ich weigere mich einfach, mit vierzehn Jahren schon mit eineinhalb Eimern Farbe im Gesicht herum zu laufen.

Beim Kauf bitte ich natürlich meine Mutter um Rat, denn vor meinen wenigen Freunden die ich habe ist es mir peinlich, zu fragen, worauf ich achten muss, wie man Dieses und Jenes aufträgt und so weiter.

Meine Mutter zeigt mir also, wie ich herausfinde, welchen Farbton ich brauche, wie ich es auftragen muss (die ersten paar Tage muss sie mir noch helfen, aber bald schaffe ich das ganz alleine) und was es alles Besonderes zu beachten gilt. Himmel, und das ist ja erst der Anfang!

Stolz spaziere ich am nächsten Tag in die Schule, mit einem (so zumindest der Schein) pickelfreien Gesicht. Aber ich bleibe unbemerkt. Wie immer. Keinem fällt die Veränderung auf. Ich setze mich stumm an meinen Platz, bleibe im Unterricht, in den Pausen und in auf dem Schulweg ebenso lautlos, erledige zu Hause, ganz still und leise, meine Hausaufgaben, koche meinem Bruder und mir eine Tütensuppe, weil meine Mutter erst am Abend von der Arbeit kommt, und setze mich, stumm wie ein Grab, vor den Fernseher.

Kapitel 2

Ein Jahr später. Ich war fünfzehn.

Eigentlich hatte ich schöne Haare. Sie waren lang, reichten mir bis über die Knie. Ich war stolz darauf, dass sie so lang waren, und dennoch nicht kaputt. Nicht das geringste Anzeichen von Spliss. Meine Haare waren strohblond, und mit meinen dunkelbraunen Augen sah ich aus wie ein kleiner Engel – nur die Locken fehlten. Aber Locken wollte ich ohnehin nie haben.

 

Trotzdem sagten meine Klassenkameraden etwas Anderes. „Schneid‘ sie ab!“, „Los, tu‘ es endlich, kurze Haare sind total im Trend!“ Und ich zog es durch. Weil die anderen mir das sagten. Ich log meiner Mutter vor, ich wolle einmal etwas Neues ausprobieren, und trotz der Sicherheit in meiner Stimme gab sie mir noch zwei Wochen Bedenkzeit. Aber ich zog es durch.

Meine Haare waren immer mein Markenzeichen. Das kleine, süße Mädchen mit den langen, blonden Haaren. Und jetzt kamen sie ab. Bis zur Schulter ließ ich sie mir abschneiden. Und dann auch noch gestuft. Ich traute meinen Augen nicht, als ich meine Mutter auf dem Stuhl neben mir sitzen sah und Tränen in ihren Augen entdecke. Schmerz in ihrem Gesicht. Sie liebte meine Haare. Mehr als jeder andere. Und ich schnitt sie nun einfach ab. Oh, welches Leid ich ihr zufügte! Und das nur, weil ich auf meine Klassenkameraden hörte? Warum war ich eigentlich so egoistisch? Warum zum Teufel hörte ich lieber auf meine Klassenkameraden, als auf meine Mutter? In diesem Moment tat es mir so unendlich leid. Aber ich konnte es nicht rückgängig machen. Jetzt war es zu spät. Sie waren ab. Für immer. Oder zumindest für eine sehr, sehr lange Zeit.

 

Ich betrete das Schulgebäude. Ich bin aufgeregt. Sehr. Angespannt. Ich zittere sogar ein wenig. Wie mein neuer Look wohl ankommen wird? Wie viele Komplimente werde ich wohl bekommen? Ich zähle im Kopf schon einmal die Leute auf von denen vielleicht eine klitzekleine positive Bemerkung kommen könnte. Ich komme auf drei. Und grinse voller Vorfreude. Drei Komplimente werde ich heute erhalten.

Da ich es kaum erwarten kann, beschleunige ich meinen Gang, bis ich fast zum Klassenzimmer renne. Vor der Tür verharre ich einen Moment. An der Glastür unseres Flures spiegelt sich mein Gesicht. Ich zupfe meine kurzen Haare zurecht, so, wie es mir die Friseurin gezeigt hat, und betrete das Klassenzimmer. 

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Tag der Veröffentlichung: 08.02.2016

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