»Was für eine kuriose Gestalt sich doch traut meine Drachenhöhle zu betreten.
Ein verhärmtes Mädchen von sechs Sommern und mit nichts weiter bewaffnet als einem Wanderstab und einem Papagei im bunten Federkleid auf ihrer Schulter. Was für ein Kind schreitet durch ein Grab gieriger Räuber deren blanke Knochen nun unermessliche Reichtümer zieren?
Der Anblick dieser funkelnden Schätze die ich mein Eigen nenne blendete noch jede von Raffgier zerfressene Seele, doch deine zerschundenen Finger ließen meinen Hort unangetastet, drum will ich dir kein Haar krümmen solange du deine Hände bei dir behältst. Wir Drachen wollen den Menschen nichts Böses. Wir morden diejenigen die sich an unseren angehäuften Kostbarkeiten vergreifen und lassen Euresgleichen ansonsten gewähren. Die menschliche Habsucht ist der Natur des Drachen zu ähnlich, sodass wir diese Eigenheit zutiefst verabscheuen.
Und auch du Kind siehst aus wie ein gewöhnlicher Strauchdieb, deshalb umschlinge ich dich mit meinem mächtigen Leib und lasse dich keinen Moment aus meinen wachsamen Augen. Noch traue ich dir nicht zur Gänze und lasse mich nicht von deiner harmlosen Erscheinung narren. Der Hexenhut welcher dein Haupt ziert ist mehrfach geflickt, ebenso wie deine ausgefranste Kleidung, wobei die Löcher deiner viel zu großen Stiefel schon viele Meilen gesehen haben müssen. Dein Leben auf der Straße hat deine Kleidung in das staubige Braun der Erde gehüllt und lässt dich wie eine Bettlerin anmuten. Doch deine Kopfbedeckung und dein Stab erzählen mir etwas gänzlich anderes. Deine magische Begabung kannst du nicht vor mir verbergen, Kind, denn zu viele Zauberer und Helden suchten diesen glitzernden Hort bereits heim als dass du mich durch deine schäbigen Lumpen irreleiten könntest.
Lass mich mit meiner Schwanzspitze den Hut etwas aus deinem Gesicht nehmen. Ich will wissen was dein Antlitz mir zu sagen weiß.
Wie eigenartig. Je mehr ich dich mustere, Kind, desto seltsamer wirkst du. Obwohl eine Binde deine Augen die ganze Zeit über abschirmt, so hörte ich doch deine Schritte. Starke Schritte voller Entschlossen wie ein Drachentöter dessen Herz vor Leidenschaft in Flammen steht. Kein Zögern und kein Tasten waren vonnöten um dich zu mir zu geleiten. Somit benötigst du keinen Stab wie andere Blinde und dein Tritt ist sicher wie bei einem Sehenden. Also, wie stellst du dieses Wunder an oder ist es gar ein Trick um die Dummen selbst zu blenden?
Nein, ist es nicht. Ein zweiter Blick verriet deinen stillen Begleiter, dessen farbenprächtiges Federkleid deiner unscheinbaren Kleidung zum Kontrast gereicht. Er ist jedoch mehr als sein Schein preisgibt. Er ist eine Verkörperung reinster Magie. Seine Augen sehen für die deinen. Warte, noch! Da ist noch mehr...
Wie vergnüglich eine Reisende das täglich wiederkehrende Einerlei doch zu gestalten vermag.
Deine Augen sind zwar blind für unsere Welt, aber weit davon entfernt tot zu sein. Ja, ich hörte davon. Nicht mehr als leises Wispern, aber doch drangen die Gerüchte zu mir vor, an diesem stillen, fast vergessenen Orte. Diese, deine Augäpfel vermögen unsere Wirklichkeit nicht zu erblicken. Sie sehen die Gespinste welche unseren Seelen entspringen. Eine grausame Gabe drückte dir das Schicksal bei deiner Geburt in die Hand, wohl wahr. Du siehst eine chaotische Welt von der du nie ein Teil sein wirst. Entweder erblickst du eine unendliche Schönheit die niemals dein eigen sein kann oder aber Alpträume die dich in tiefste Verzweiflung zu stürzen vermögen. So oder so bist du trotz deines zarten Alters dazu verdammt blind zu sein oder dem allesverzehrenden Wahnsinn anheim zu fallen. Jedoch scheinst du damit zurande zukommen.
Aber genug davon. Was ist dein Begehr, Mädchen?
Schweig still! Ich will deine Stimme nicht hören die wie das Fiepen einer mutigen Maus an meinen Nerven zerrt und dich um mein Wohlwollen beraubt. Die Stimmen von euch Menschen sind für uns ein jämmerliches Flehen und Winseln, während unsere stolzen Laute Berge zu bersten vermögen. Drum lass mich in dein Herz blicken und die Antwort auf diese Frage ergründen.
Ah ja, im Gegensatz zu deiner interessanten Gestalt ist deine Motivation doch recht gewöhnlicher Natur. Du weißt nicht woher du stammst und bist in Sklaverei geboren. Nun frei von deinen körperlichen sowie geistigen Fesseln strebst du die Antwort nach deiner Herkunft an, um die Frage zu beantworten die Zeit deines Lebens an deinem Verstande nagt. Deswegen schreitest du mit wilder Entschlossenheit in dein vermeidliches Grab ohne Bedauern oder Klagen in der Hoffnung dass der Schatz meiner Weisheit deine Unwissenheit zu tilgen vermag. Und ich kann dich beruhigen, so ungern ich mich von meinen Kostbarkeiten trenne so leidenschaftlich teile ich mein Wissen. Doch leider muss ich dich enttäuschen. Ich bin nicht alt noch weise genug für deine schwierige Aufgabe die du dir selbst auferlegt hast.
Jedoch wisse dies, kleines Mädchen: Einst drohte der Mond zur Erde zu stürzen und alles Leben auszulöschen. Doch ein Weiser schickte sich an einen Turm zu erbauen der den Mond stützen und somit daran hindern sollte uns alle zu zerquetschen. Dieses mechanische Wunderwerk eines Genies gilt es zu erklimmen, denn sein Erbauer haust heute im Mond und beobachtet uns in der nächtlichen Schwärze. Trotz seiner Brillanz ist er jedoch krank im Geiste. Seine größte Schöpfung birgt unzählige Bedrohungen, denn nur jemand der seiner würdig ist verdient es auch den Glanz seiner Anwesenheit zu genießen.
Und nun geh, du seltsames Kind. Such den Turm der ungezählten Gefahren im Westen auf, bezwinge ihn und erkenne dein wahres Selbst.
Ich lasse dich nun unversehrt von dannen ziehen, denn der Schatz den du suchst wirst du hier nicht finden können. Lebe wohl, ich werde jedoch stets ein interessiertes Auge auf dich haben, kleines Mädchen.«
The End
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2015
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