Alles hat seine Geschichte – seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft. Hat dann aber nicht auch alles seine eigene Perspektive – seine eigene Seele? Viele meinen nicht, aber woher wollen sie das dann wissen?
Ein kleiner Junge namens Geschichtenleser kannte die Wahrheit. Alles hatte seine eigene Geschichte und somit seine eigene Seele. Woher er das wusste? Er war der Geschichtenleser. Der Junge hatte sich selbst diesen Namen gegeben und trug ihn voller Stolz. Mit seinen Händen konnte er die Geschichte jeden beliebigen Objekts und jeder Person lesen wie ein offenes Buch. Ihm entging Nichts dabei. Weder Geheimnisse noch die innersten Gefühle, über die sich die meisten selbst nicht im Klaren waren. So lernte er schnell, dass alles miteinander verbunden war. Ein gewaltiges Netz aus Aktion und Reaktion, dass kein normaler Mensch auch nur erahnen konnte, lag für ihn klar ersichtlich ausgebreitet. Geschichtenleser wusste nicht, wieso er das konnte und es war ihm auch egal.
Von klein auf lebte er auf der Straße. Wie es dazu kam, wusste niemand. Irgendwann ließ er sich auf einem Schrottplatz nieder. Der kleine Junge lebte gerne mit all dem Gerümpel zusammen, so hatte er immer genug zu lesen. Für ihn gab es nichts Schöneres als all die Geschichten um ihn herum zu entdecken. Für die Kinder in dem Dorf, in dem sich sein Zuhause befand, war er einfach nur seltsam und so mieden sie ihn. Geschichtenleser war das egal. Er verstand sie ebenso wenig wie sie ihm. Freunde hatte er aber genug.
Da war zum einen die dreieinhalb meterlange, lila Schlange Trisha. Geschichtenleser erkannte früh, dass sie etwas Besonderes war. Als er in ihr las, erfuhr er, dass sie in Wirklichkeit ein verfluchtes Mädchen war. Doch der Fluch verhinderte, dass sie sich ihrer menschlichen Natur bewusst war und so glaubte Trisha, dass sie „nur“ eine Schlange sei. Der Fluch war sogar so mächtig, dass Geschichtenleser nichts über seinen Ursprung oder die Hintergründe des Fluches herausbekommen konnte – geschweige denn Trisha ʼs wahren Namen. Das spornte Geschichtenlesers Fantasie dazu an die wildesten Abenteuer über sie zu erfinden, wie weit es der Wahrheit entsprach wusste er nicht. Trisha war jedenfalls glücklich, so wie sie war und wer weiß, vielleicht war es auch besser so. Geschichtenleser kümmerte sich gut um sie und nahm sie überallhin mit.
Neben Trisha gab es noch eine Puppe namens Ren. Auch sie war etwas Besonderes. Bei ihr war das Lesen noch schwieriger als bei Trisha. Es gab keinen Anhaltspunkt woher sie kam oder wem sie gehört hatte. Aber Geschichtenleser sah schnell ihren guten Kern. Auch wenn ihr blaues Kleid mit den Rüschen schmutzig und zerrissen war, ihr ein Knopfauge fehlte und die Füllung an einigen Stellen zutage trat, so war sie für Geschichtenleser die schönste Puppe der Welt.
Der kleine Junge war glücklich, doch eines fehlte ihm. Durch seine Hände sah er zwar all die Geschichten und Abenteuer, sogar fremde Welten die sich die meisten nicht vorstellen konnten und die den meisten Menschen verborgen blieben, aber nie hatte er sich an all dem beteiligen können. Immer war er nur der Beobachter des Ganzen. Er wollte aktiv dabei sein und es nicht nur lesen. Sein Herz wünschte sich nichts sehnsuchtsvoller als einmal ein eigenes Abenteuer zu bestreiten.
Eines Abends saß Geschichtenleser unter einem alten Baum und beobachtete die Sterne. Es war sein Lieblingsbaum. Er hatte die Gründung des Dorfes als kleiner Spross miterlebt und wusste viele Geschichten zu erzählen. Aber vor allem war die kleine Erhöhung ein guter Ort zum Sternegucken.
Mit einer zum Himmel ausgestreckten Hand las der Junge, was es auf anderen Welten zu entdecken gab. Dabei schloss er die Augen um sich besser Konzentrieren zu können. Seine Hand fuhr über die leblosen Planeten wo einzig und allein die Umgebung sich änderte, vorbei an jenen Welten deren Zivilisationen sich gegenseitig ausgelöscht hatten. Seine Hand verharrte plötzlich. Da war etwas!
Eine Welt der Farben und Musik. Er hatte gar nicht gewusst, das Grün so klingen konnte. Er spürte den ständigen Wandel der Welt. Wie die einzelnen Farben sich ausbreiteten, um dann wieder von den anderen zurückgedrängt zu werden. Dabei änderte sich jedes Mal der einzelne Klang. So etwas hatte Geschichtenleser vorher noch nie gesehen und das brachte ihn zum Lächeln.
Er fuhr weiter mit der Hand das Firmament entlang und sog die Geschichten des Universums in sich auf.
Plötzlich hielt Geschichtenleser inne, als er etwas Merkwürdiges spürte. Er riss die Augen auf, da seine Hände nicht ausreichten um das Geschehene zu erfassen. Ein Sternenregen ergoss sich auf die Erde. Trisha neigte den Kopf nach oben, während sich Ren auf den Rücken fallen ließ, um es besser beobachten zu können. Geschichtenerzähler versuchte immer noch zu begreifen was dort geschah. Er sah Sterne fernab der Berge niederfahren und dort explodieren. Urplötzlich krachte ein weiterer Himmelskörper mit großem Getöse neben ihm ein und explodierte in einem regenbogenfarbigen Funkenregen. Erschreckt hielt der Junge die Arme abwehrend vors Gesicht gekreuzt. Er schaute wieder auf. Der Stern war weg, während seine Brüder und Schwestern immer noch aus dem Himmel fielen. Die Menschen glaubten, jeder Stern sei ein Planet, doch das stimmte nicht. Manche waren einfach nur funkelnde Sterne die am dunklen Himmelszelt klebten.
Auf einmal sah Geschichtenleser einen Stern direkt auf sich zu fliegen. Panisch kroch der Junge zurück und drückte sich gegen die kühle Baumrinde. Der Stern wurde langsamer und kam wenige Zentimeter über dem Boden zum Stehen. Es sah aus wie ein kleines, blauleuchtendes Strichmännchen. Es besaß zwar Arme und Beine, jedoch keine Hände oder Füße. Sein Kopf glich einem brennenden Streichholz. Es hatte eine ovale Form und statt Haare waren da blaue Flammen. Regenbogenfarbige Funken gingen von ihnen aus, wie bei einer Wunderkerze. Langsam schwebte es auf Geschichtenleser zu. Ein gewöhnliches Kind wäre vermutlich vor Angst weggerannt, doch dieser Junge wusste, dass nichts von Natur aus böse war.
So las er die Geschichte des Sterns. Es war eigentlich nicht sonderlich aufregend. Nachts funkeln, tagsüber schlafen. Schließlich kam er zu der Stelle, an der die Sterne aus dem Himmel vertrieben wurden. Die Panik und Angst des Sternes machten es schwierig den Grund klar herauszulesen. Was Geschichtenleser dafür aber herausfand war, was der Stern beabsichtigte. Er wollte sich selbst und seine Freunde zurück in den Himmel bringen. Er war nämlich kein gewöhnlicher Stern, sondern gehörte zu den sieben Wundersternen, die große Macht besaßen. Sollte diese Macht allerdings in die falschen Hände geraten, würde dies für Chaos und Zerstörung sorgen. Aber der Wunderstern konnte nicht lange auf der Welt wandeln ohne zu verlöschen, weshalb er Geschichtenleser als Gefäß benötigte. Sollte der Junge einwilligen und dem Stern bei der Suche nach seinen Geschwistern helfen, um dann alle gefallenen Himmelskörper wieder zurück an ihren Platz zu befördern, würde er dem Kind einen Wunsch erfüllen.
Geschichtenleser lächelte und nickte. Er sagte dem Stern, dass er einverstanden sei, aber auf dem Wunsch verzichtete, da es nichts gab, was er begehrte. Sein größter Traum war schon bereits in Erfüllung gegangen. Der Stern verstand, hielt sein Angebot aber für die Zukunft aufrecht.
Darauf verwandelte sich der Stern vor des Kindes Augen in eine leuchtende Kugel und fuhr in sein Herz, um dort zu verbleiben. Es fühlte sich seltsam an, einem Stern in der Brust zu haben. Geschichtenleser spürte seine Hitze, sein Leuchten und sein Licht in sich pulsieren.
Mit dem breitesten Grinsen das man sich vorstellen kann, nahm er Trisha und Ren mit, um seine Sachen zu packen. Ohne seine Freunde und etwas Proviant würde er bestimmt nicht losziehen.
Obwohl sich Geschichtenlesers Traum bereits erfüllt hatte, so stand er doch noch ganz am Anfang seines Abenteuers.
Fortsetzung folgt …?
Texte: EINsamer wANDERER
Bildmaterialien: Sabi
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2014
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