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Hosentaschengedanken

„So steht sie heute noch da“, sagt meine Mutter und deutet auf ein Foto.

„Stimmt“, lacht meine Tochter und sieht mich verschmitzt an.


Die beiden blättern im Familienalbum. Von einer Schwarz-weiß-Aufnahme blickt ihnen eine 1 ½ jährige entgegen, die Hände locker in den Jeanstaschen versenkt und mit einem Blick, als würde ihr die Welt gehören.


Ich lächle. Die beiden haben recht. Ich fühl mich immer noch in Jeans am wohlsten und oft genug sucht meine Hand danach, was  in den Taschen ist. Bonbons fanden sich darin, als ich noch Kind war, Murmeln, Muscheln, Steine. Nie ging ich ohne ein Stück Kordel aus dem Haus. Mein erstes Taschenmesser, selbst gekauft. Ein Groschen für den Eismann, später zwei. Zickzackgummi, mehrfach gleich, für Gummitwist und für den Flitzebogen, sofern ein Stock dafür zu finden war. Kreide, um die Hüpfekästchen aufzumalen. Wäscheleine, ein Zelt daraus zu bauen oder als Zügel für das Fahrrad, das dadurch zum Pferd mutierte.


Und heute? Heute finde ich dort einen Stein, rundgeschliffen, schön gezeichnet, ein Schmeichler in der Hand. Ein wahrer Schatz, der Ruhe schenkt - und die Erinnerung an Kindertage.

Führ mich

„Führ mich!“, sagst du, legst deine Hand in meine, schließt deine Augen und vertraust dich mir blind an.

Und ich führe dich, auf dem Weg, auch daneben, um Kur­ven und über Hindernisse. Meine Augen werden deine Au­gen, die dir den Weg zeigen. Meine Hand wird deine Stütze. Doch deine Ohren werden meine Ohren, denn du teilst mir nun mit, was du gerade hörst: „Da singt ein Vogel.“ „Ich glaub’, da kommt ein Bus.“ „Der Wind rauscht aber heute laut.“

Ein jeder, der uns sieht, mag denken, dass ich es bin, die hier das Sagen hat. Doch weit gefehlt. Ich sehe nur für dich auf diesem Weg, bedenke deine Schritte. Und du hörst für uns beide. Und so bist du es, die den Weg bestimmt.

Wir tauschen. Ich überlasse Dir die Führung. Schwierig, die Augen geschlossen zu halten und nicht ganz heimlich doch zu schauen, ob du mich richtig leitest. Schwierig, zu ver­trauen, dir, die voller Schabernack steckt. Doch dieses Spiel spielst du gewissenhaft. Weißt um die Verantwortung. Hältst mich sicher auf dem Weg.

Das sind die wirklich intensiven Spaziergänge. Wenn wir abwechselnd „blind“ sind, in der Hand des anderen, und wir uns voll vertrauen.

Und sonst? Wer führt sonst wen? Ich denk’ manchmal, ich führ’ dich durch dein Leben. Sag’ dir meine Sicht der Dinge. Doch die Wahrheit ist, dass du es bist, die führt. Durch ferne Galaxien. Durch alle Länder dieser Welt. Zu unbekannten Phänomenen. Zu Würmern, Käfern, Mikrokosmos. Durch die Weltphilosophie. Mit deinen tausend Fragen. Mit deinem Blick, dem keine Kleinigkeit entgeht.

Dein Blick lenkt meine Augen. Deine Fragen meine Ge­danken. Hin zu dem, was wirklich wichtig ist. Und nicht nur dafür lieb’ ich Dich, mein Kind.

Sankt Martin und der Nebel des Grauens

Martinszug. Laternen. Leuchtende Kinderaugen. Und eine Fachsimpelei über Horrorfilme. Zwischen mir und einem Achtjährigen. Wobei er der Experte war.

Gestern Abend. Martinszug bei uns im Dorf, von den Kin­dern mit Vorfreude erwartet und von mir wie jedes Jahr be­gleitet. Es beginnt mit aufgeregtem Plappern, bis die Musik erklingt und sich der Zug in Bewegung setzt, St. Martin auf dem Pferd voran und die Grundschüler hinterher. Ein tolles Bild. Die Kinder, noch voll motiviert, singen lauthals mit. Gut, sie singen schneller, als die Musik spielt, aber über sol­che Kleinigkeiten sehen wir gelassen hinweg. Wie übrigens auch darüber, dass sich unsere Klasse genau zwischen zwei Musikkapellen befindet und wir nie so genau wissen, welches der beiden (natürlich unterschiedlichen) Lieder dieser Kapel­len wir denn nun mitsingen sollen. Nun ja.

„Du singst ja falsch.“, muss ich mir von dem Schulfreund meiner Tochter sagen lassen, der gleich neben mir geht. Nein. Ich singe nicht falsch. Die Kapelle spielt die Lieder eine Terz zu hoch und da komme ich nicht hin. So. Dafür bin ich un­glaublich textsicher. Und es macht mir auch gar nichts aus, dass die Lehrerin meiner Tochter die Strophen von „Laterne, Laterne…“ in einer anderen Reihenfolge singt als ich. Von so etwas lasse ich mich keinesfalls entmutigen. Immerhin finde ich vier Kinder, die sich meinem Singsang anschließen, wäh­rend ein paar andere der Lehrerin folgen und der Rest das Lied der vorderen Kapelle mitsingt.

Bei der Hälfte des Zugweges lässt der Enthusiasmus der Kinder spürbar nach. Die hintere Kapelle spielt ein Lied, das kein Mensch kennt, und da wir infolgedessen nicht singen können, ist der junge Mann neben mir um Konversation bemüht. Ein echter Gentleman.

„Frau Waller, magst Du Horror?“

„Nein, ich mag Horror nicht besonders.“

„Kennst Du denn Halloween?“

„Ja, Halloween kenne ich.“

„Also, ich meine den Film, hast Du den gesehen?“

„Nein, ich gucke keine Horrorfilme, weil die mir nicht ge­fallen.“

„Also ich finde die toll. Von Halloween gibt es ja mehrere und ich habe schon 1 und 3 gesehen.“

„DU darfst Horrorfilme gucken???“

„Ja, ich kenn auch noch „Fog-Nebel des Grauens“ und … und … Und in … hatte der Typ das gleiche Messer, das wir auch zu Hause haben, damit hat der den Frauen den Hals aufgeschlitzt.“

„Aber Du machst das nicht nach, was Du da in dem Film gesehen hast???“

„Nein, mach ich nicht. Aber ich kenn auch noch … und da war … Und in … hat der …“

Ich höre nicht mehr richtig hin und denke nur, ich sei im falschen Film. Der Knirps neben mir ist acht Jahre alt.

„Du, Frau Waller, warum meinst Du denn, dass ich das nicht gucken soll? Haste etwa Angst, ich könnte danach nicht mehr schlafen? Also ich kann ganz gut schlafen und ich hab schon ganz viele Filme geguckt, die waren alle ab 18.“

Ich beschließe, unsere Tochter nicht bei diesem jungen Mann spielen zu lassen. Er darf gern zu uns kommen, die wir den Medienkonsum unserer Kinder in geordneten Bahnen ablaufen lassen.

„Frau Waller, welche Horrorfilme kennst Du denn?“

„Keine.“, sage ich und habe kein schlechtes Gewissen, ob­wohl diese Antwort eine Lüge ist. Ich werde doch dem jun­gen Mann nicht noch Tipps geben, was man sich noch so ansehen kann. Und mit Grauen denke ich an „Freitag der 13.“, „Hitcher – Der Highway-Killer“ und „Der Blob“ zu­rück. Die ich mit Anfang 20 sah und die auf meiner zartbe­saiteten Seele einen derart nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, dass ich mir so etwas seither nicht mehr angesehen habe.

„Ich schlage vor, wir singen noch ein wenig. Schließlich ist Sankt Martin.“, sage ich und stimme in den Singsang ein, der sich inzwischen wieder um uns herum entwickelt hat. Wobei: Für jeden Freund von Chorkonzerten erweckt der Gesang dieser Klasse ein Grauen. Und ist von daher durchaus mit dem Effekt eines Horrorfilms zu vergleichen.

Wir erreichen den Schulhof, auf dem das Martinsfeuer brennt. In Viererreihen stehen die Kinder um das abgesperrte Areal und es dauert eine Weile, bis die kleineren Schüler vorne und die größeren hinten stehen. Die Mantelteilung kann erst vorgeführt werden, als keiner mehr „Ich kann nichts sehen“ brüllt. Der Bettler, spärlich bekleidet, bittet Sankt Martin um Hilfe, und gerade als dieser seinen Mantel hingibt, sieht sich jemand aus der Klasse meiner Tochter zu der lautstarken Bemerkung veranlasst „Sankt Martin ist schon lange tot.“

Dass beim abschließenden „Großer Gott, wir loben Dich“ niemand mehr den Text kennt, mir bei den hohen Tönen die Stimme versagt und die Kapelle zu allem Unglück auch noch zwei Strophen spielt, kann diese Veranstaltung dann auch nicht weiter beeinträchtigen. Immerhin stellen wir abschlie­ßend fest, dass wir in diesem Jahr keines der Kinder verloren haben. Das ist doch auch schon etwas wert.

Die Kinder gehen in ihre Klassen und bekommen die Mar­tinstüten. Ein letztes Mal wird „Sankt Martin“ gesungen, meine Stimme ist inzwischen wieder tonabgabebereit, und dann geht es nach Hause. Mit einer zufriedenen Tochter. Die weder von den Horrorstories noch von dem toten Sankt Martin etwas mitbekommen hat. Und dementsprechend zu­frieden ist. Was will Mama mehr. Und nächstes Jahr gibt es wieder the same procedure as every year. Dann hoffentlich weniger grauslich.

Salzstangenerinnerung

Die Zeilen vor meinem Auge lösen eine Welle der Erinne­rung aus. Sofort ist das Bild da, das sich mir zeigt, kurz bevor wir Euer Dorf erreichen, welches oben auf dem Hügel liegt. Ich sehe schon die Rückseite Eures Hauses, die Wiese, die am Berghang sich erstreckt, den Kirschbaum darauf.

Nur noch um die lange Kurve in das Dorf, die Anhöhe herauf und dann gerade auf das Haus zu, von vorne nun. Der Hänger steht im Hof, die Stalltür offen, und Deine Frau be­grüßt uns herzlich. „Jieht at ran, äich federe noch die Schween, dann kunn ich.“ Und wir gehen schon hinein, wäh­rend sie die Schweinetröge füllt.

Der Haustürschlüssel steckt, wie immer, und wir treten in die Küche ein. Kein Flur, nur keinen Raum verschwenden, das Haus ist klein, da ist für so etwas kein Platz. Zur Linken füh­ren zwei Stufen in die Stube, geradeaus die Vorratskammer, die später meinem Großvater als Zimmer dienen wird.

In der Stube eine Eckbank und ein kleiner Schrank, die Tür zum Zimmer Eurer Tochter. Durch dieses hindurch Euer Schlafzimmer, klein wie alle anderen Räume. Kein Bad im ganzen Haus.

Doch das ist nicht, was zählt. Was zählt ist Eure Liebe, die in diesem Hause wohnt, die Herzlichkeit, die von Euch aus­geht. 

Ich seh Dich immer noch auf dieser Eckbank sitzen, an Deinem angestammten Platz, die Zigarette in der Hand und den grünen Aschenbecher auf dem Tisch, der für mich stets ein Faszinosum war: Ein Druck auf seinen schwarzen Knopf bewirkt, dass sich die Oberfläche dreht und die Asche in seinem Inneren versenkt.

So sitzt Du also da und lachst. Erzählst von Deiner Arbeit auf der Straße, vom Winterdienst und den Geschichten aus dem Dorf, wo jeder jeden kennt. Sprichst Platt, wie Du es immer tust, und meine Mutter – Deine Schwester – fällt in diese Sprache ein, die sie zuhause nur mit meinem Vater spricht, damit wir Kinder Hochdeutsch lernen. Oder das, was man im Rheinland Hochdeutsch nennt. Dennoch ist mir der Dialekt im Blut. Und nach zwei Wochen Ferien bei Euch spreche auch ich ihn wieder selbstverständlich.

Die Ferien bei Euch sind, was ich liebe. Kein Platz im Haus, drum schlafe ich bei Euch im Bett, bis Deine Schnar­cherei beginnt. Ganze Wälder sägst Du durch. Und ich bin froh, wenn Du um 6.00 Uhr zur Arbeit fährst und ich den Schlaf nachholen kann.

Kommst Du nach Hause, spring ich auf den Traktor. Die vier Kühe sind noch auf der Wiese und werden damit heim­gebracht.

Wir machen Heu und ernten Rüben. Du bringst mir Trak­torfahren bei auf dem McCormick. Stolz sitz ich auf dem Fahrersitz und lenke diesen roten Trecker mit dem Hänger dran. Einmal hab ich Dich fast umgefahren, als es steil den Berg hinunter ging und ich die Kurve fast nicht schaffte.

Nur kurz Dein Schreck, dann hast Du gelacht.

Später habt Ihr umgebaut. Ein Bad ans Haus, so dass man nicht mehr auf das Plumpsklo gehen musste. „Bau eine Hei­zung ein!“, hat mein Vater Dir geraten, doch dafür hattest Du kein Geld. Und Du wolltest keine Schulden machen. So steht bis heute noch der Ofen in der Stube, gleich bei der Eckbank, bei Deinem angestammten Platz.

Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, dass etwas anders wurde. Kurz nach Deiner Pensionierung, glaube ich. Du fuhrst im Auto nicht mehr sicher. Hast vergessen, was früher selbstverständlich war. Konntest Dich an Menschen nicht erinnern. Wurdest störrisch und bisweilen aggressiv. Das kannten wir so nicht.

Mit der Diagnose umzugehen war schwer. „Er darf nicht Autofahren“, hat der Arzt gesagt. Doch Du wolltest. Du wolltest unbedingt. Und bist gefahren, mit Deiner Frau, die nicht selbst fahren konnte. Bis es wirklich nicht mehr ging. Bis es so gefährlich war, dass Du kein Vorfahrtschild beach­tet hast. Bis man den Wagen aus dem Feld hat ziehen müssen – ein zweites Mal. Bis Deine Frau den Nachbarn überzeugte, irgendetwas auszubauen, so dass das Auto offiziell kaputt war. Dann war es gut. Nicht fahren können war für Dich in Ordnung, nicht fahren dürfen nicht zu akzeptieren.

„Er darf nicht rauchen“, hat der Arzt gesagt. Doch Du musstest. Du musstest unbedingt. Bis Dein Gehirn genug vernebelt war, dass Du es nicht gemerkt hast. Dass Du nicht merktest, dass es nicht Zigaretten waren, die Du in Deinen Fingern hieltest, sondern Salzstangen. An denen Du genüss­lich zogst. Die Du im Aschenbecher ausklopftest und deren Krümel Du in ihm versenktest. Mit dem schwarzen Knopf. Den man nur drücken muss, damit sich diese Scheibe dreht und alles was darauf ist im Inneren versenkt.

„Er sollte nicht allein sein“, hat der Arzt gesagt. Doch wie ist das zu schaffen? Das wäre ja Rund-um-die-Uhr-Bewa­chung. Doch bist Du mal allein, wird es gefährlich. Du läufst durchs Dorf und weißt nicht, wo Du bist. Gehst in die Felder und verläufst Dich dort, bis Dich jemand findet und Dich heimbringt.

Dass Deine Frau zu Dir gehört, das weißt Du noch, doch Deine Schwester ist Dir eine Fremde. Ich sowieso. Und auch mein Kind, mit dem wir Dich besuchen. Doch etwas ist noch da von Dir. Ich weiß noch, wie besorgt Du warst, als ich das Holz für Euren Nachbarn hackte. „Tu Dir nicht weh!“, hast Du gesagt, und hattest keine Ruhe, bis nach zwei Tagen alles fertig war. Nun spielt meine Kleine auf der Treppe. „Pass auf, dass sie nicht fällt!“ Du bist noch da, ich weiß es, in Deiner Sorge um mein Kind.

Als es zuende ging, warst Du im Krankenhaus, mit Deiner Frau, die man nach Tagen abends heimschickte. „Es geht ihm gut“, hat der Arzt gesagt. Doch Deine Frau ist nie darüber weggekommen, dass Du gestorben bist, in dieser Nacht, und sie nicht da war.

Eine kleine Notiz nur. Und Du dahinter. Heute ist Welt-Alzheimertag. Eine Erinnerung an die Krankheit des Verges­sens.

Wie könnte ich? Wie könnte ich vergessen, was ich mit Dir erlebt hab? Ich brauch keinen Gedenktag. Weil ich Dich er­innere.

Die andere Seite des Schreibtischs

Der Anruf kam am späten Vormittag. Albert war am Appa­rat. Sie kannten sich seit der Zeit, als sie beide im Sozialamt eingesetzt waren. Das war nun schon mehr als zehn Jahre her und ihre beruflichen Wege hatten sich längst getrennt. Doch beiden war diese Zeit aus verschiedenen Gründen in guter Erinnerung.

Die Begrüßung fiel kurz aus. Er tastete sich eher vorsichtig an den Grund seines Anrufes heran: „Maria, Peter S. ist gestorben. Ich dachte, Du würdest es wissen wollen, weil ihr beide doch …“ Sie hatte schon gleich nach der Nachricht nicht mehr richtig zugehört. „Woher weißt Du’s?“, fragte sie. „Die Kollegen haben eben angerufen, wegen der Beerdigungskosten, Du weißt schon. Na ja, jedenfalls dachte ich, ich sag’s Dir.“ „Danke, ja, Du hast Recht, ich möchte es wissen. Mach’s gut.“ Sie legte auf.

Sie nahm ihre Arbeit wieder auf. Versuchte es zumindest, doch brachte sie keinen klaren Gedanken zusammen. „Durchatmen“, dachte sie und spürte die fragenden Blicke ihrer beiden Kollegen, die ihren plötzlichen Stimmungs­wechsel bemerkt hatten. „Das war Albert. Peter S. ist tot.“ Sie stand auf. „Ich gehe mal eine Etage höher.“ Sie wusste, dass sie nicht mehr erklären musste, denn auch einer ihrer jetzigen Kollegen hatte Peter S. gekannt.

Sie wollte allein sein und oben gab es einen Raum, in dem sie es konnte. Seltsam. Peter S. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an ihn gedacht, würde auch nicht zu seiner Beerdigung gehen und doch berührte sein Tod sie unerwartet stark. Dann kamen ihr die Bilder wieder in den Sinn. Sie sah sich im So­zialamt sitzen, auf ihrer Seite des Schreibtischs, und diejeni­gen, die sie betreute, auf der anderen Seite. Bis zu 150 „Fälle“ hatte sie zeitweise, einige Rentnerinnen, viele Alleinerzie­hende und ein paar alleinstehende junge Männer, die sie in Arbeit zu bringen versuchte. Und Peter S.

Peter S. gehörte nicht dazu. Nicht zu denen, die auf ihrer Seite des Schreibtischs waren und nicht einmal zu denen auf der anderen Seite. Denn Peter S. hatte nicht nur keine Arbeit und zu wenig Geld, sondern auch kein Dach über dem Kopf. Ein „Durchreisender“ also im offiziellen Sprachgebrauch.

Für die Durchreisenden musste man keinen Antrag auf­nehmen. Sie kamen immer nur kurz herein, legten ihren Ausweis vor, mit dem Aufdruck „ohne festen Wohnsitz“ und bekamen mittags ihr Geld ausgezahlt. Manche verschliefen die Wartezeit vor dem Büro. Manche roch man schon, bevor man sie sah. Manche hinterließen gelbe Flecken auf dem Flurteppich. Manche pöbelten im Büro herum, benebelt vom Alkohol und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Und die meisten hatten Augen, deren leerer Blick die Strapazen ihres Lebens nur annähernd vermuten ließ. Kaum einer sprach ein Wort mehr, als unbedingt nötig war.

Das war schon ein seltsames Volk, diese Durchreisenden.

Peter S. gehörte nicht dazu. Auch hier nicht. Wohnungslos ja, aber nur selten von Gerüchen umweht. Niemals gelbe Flecken hinterlassend. Und mit Augen, aus denen trotz allem die Lebensfreude sprühte. Immer freundlich. Immer ein net­tes Wort auf den Lippen.

Immer unaufdringlich, selbst dann, wenn er zu viel getrun­ken hatte. Von Anfang an. Ein Mensch, der noch zeigen konnte, dass er ein Mensch war. Der ihr half, auch das Menschliche in den anderen Durchreisenden zu sehen.

Das war es, was sie an ihm mochte. Ihre Kolleginnen waren entsetzt, als sie einmal sagte, sie finde ihn nett. Aber es war ihr egal.

Er kam jeden Tag. Es gibt Durchreisende, die ziehen nicht täglich in eine andere Stadt, sondern bleiben längere Zeit an einem Ort. Sie freute sich auf ihn, so wie er sich auf sie, ohne dass sie es je ausgesprochen hätten. Sie war nicht nur seine Sachbearbeiterin. Und er war nicht nur einer ihrer Fälle. Sie waren einander der Grund für ein Lächeln.

Eines Tages kam er mit einem Geschenk. Es war ihr pein­lich, denn sie verdiente genügend Geld und er hatte nur sei­nen Tagessatz. Nein, sie solle es nehmen, sagte er, er habe es extra für sie gemacht. Sie öffnete das Papier. Ein Stickbild kam zum Vorschein, ein gestickter Vogel auf braunem Lei­nen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, doch er sah die Tränen der Rührung in ihren Augen, lächelte und ging. Sorg­sam legte sie das Bild in die Schreibunterlage. Dieses Ge­schenk war wertvoll, denn es steckte viel Herzenswärme darin.

Dann bekam er eine Chance. Eine Arbeit, die er machen durfte, ABM, ein halbes Jahr. Und er nutzte sie. Nutzte sie, um wieder einen geregelten Tagesablauf zu haben, fand eine Frau, die ihn aufnahm, führte ein „normales“ Leben, ein Leben auf ihrer Seite des Schreibtischs. Sie freute sich so sehr für ihn.

Danach sah sie ihn noch manchmal in der Fußgängerzone, gut angezogen, sauber, und sie grüßten sich freundlich. Später sah sie ihn nicht mehr. Er sei nun in der Nachbarstadt, hieß es, und wieder obdachlos. Irgendwann verschwand er aus ihren Gedanken. Doch den Vogel auf Leinen hatte sie immer noch, nahm ihn mit in jedes Büro, das sie danach bezog. Als Erinnerung daran, wie schnell man auf die andere Seite des Schreibtischs geraten konnte. Und wie es einem dort erging. Und dass man dennoch immer noch ein Mensch war.

Und nun war da dieser Anruf. Sie spürte die Tränen in ih­ren Augen. „Mach’s gut Peter“, sagte sie. Und war sich sicher, dass er sie sah und lächelte.

Für Peter

Und für die, die noch hier sind.

Good bye, Ben

Vor elf Jahren war es Liebe auf den ersten Blick. Nun geht es zu Ende …

Bei unserer ersten Begegnung hast Du mich angestrahlt. Was will eine Frau mehr: ich schmolz dahin. Seitdem sind wir zusammen. Ich konnte mich immer auf Dich verlassen, nie­mals hast Du mich enttäuscht, na gut, vor vier Jahren und vor zwei Jahren ein wenig, aber mein Groll war nur von kurzer Dauer.

Was haben wir nicht alles zusammen erlebt: Die Liebe, eine Hochzeit, zwei Kinder, die dich heiß und innig lieben. Du warst die ganze Zeit an meiner Seite und ich hätte mir keinen besseren Partner wünschen können. Du hast mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen, hast nie gebockt, warst immer für mich da.

Du hast Dir meine Gesänge zur Musik im Radio angehört (niemand sonst hält das aus). Du hast ertragen, dass ich mich nicht so um Dich gekümmert habe, wie Du es verdient ge­habt hättest. Du bist mit mir dem Morgenrot entgegen gefah­ren und hast mich träumen lassen, ich wäre in den Weiten des amerikanischen Westens. Wir waren in Dream-Team, im wahrsten Sinne des Wortes.

Doch heute kam der Anruf. Ich wusste, dass es irgendwann passieren würde, aber ich hatte nicht so schnell damit gerech­net. Ich solle mehr in Dich investieren. Gefühle, Zeit und Geld. Mist. Bei Deinem Vorgänger Charly hat es genauso angefangen. Ich weiß, wohin das führt. Damals wurde es ein endloses Loch, in dem ich nach zwei Jahren des Kampfes versunken bin. Diesmal werde ich nicht kämpfen. Diesmal gebe ich auf, bevor die Enttäuschungen von Jahr zu Jahr größer werden. Bevor Du mich immer öfter im Stich lässt, auch wenn es nicht Deine Absicht ist. Wir werden noch un­sere Trennung abwickeln und dann ist es vorbei.

Gut, so leicht, wie es scheint, fällt es mir nicht. Mir fällt so vieles wieder ein, was wir zusammen erlebt haben. Weißt Du noch, als wir zusammen an einer Ampel standen und der Polizist hinter uns ausstieg, um uns zu belehren, dass man amtliche Kennzeichen nicht mit Herzen bekleben dürfe? Seitdem klebt das Herz neben dem Kennzeichen, denn ver­zichten wollte ich nicht darauf. Oder als ich bei einer Polizei­kontrolle in den Alkoholtester pusten musste, weil meine drei Beifahrer derart viel getrunken hatten, dass es stank wie in einer Spelunke? Oder als wir nach einer Schussfahrt mit Sommerreifen im Eifler Schnee um Haaresbreite vor einem Zaunpfahl gehalten haben? Die Erinnerungen werden uns bleiben.

Und die Dankbarkeit, dass wir immer sicher ans Ziel ge­kommen sind.

Ja. Du hast Recht. Es ist überwiegend meine Schuld, dass unsere Beziehung zu Ende geht. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte Dich nicht an einem 13. beim TÜV anmelden dür­fen.

Auch wenn es nur ein Donnerstag war.

Du

Wir beide auf der Bank, Du den Kopf in meinem Schoß …

Liegst ganz ruhig da, den kühlen Windhauch genießend, hier, auf unserem Schattenplatz, wo sich die Schwüle des Sommers ertragen lässt. Augenblicke nur, jeden Tag, doch Augenblicke, die ganz uns gehören. Wir beide, niemand sonst. Verborgen sind wir hier, abgeschirmt vom Rest der Welt, dessen Lachen zu uns dringt, doch dessen Augen uns nicht sehen können.

Ein Atemzug von Dir, so ganz entspannt. Du schickst mit ihm hinfort die Last des Tages, die Zeiten ohne mich, da Du allein bist. Ich nehm’ die Atmung auf und werde ruhig. Nicht mehr denken, nur noch spüren, dass Du da bist. Du kitzelst mich ein wenig. Und meine Hand streicht ganz sanft an Dir entlang, so wie Du es gerne magst. Du schließt die Augen, die mich eben noch gefangen nahmen. Ich spüre, wie auch ich entspanne. Durch dich, der Du die Ruhe selber bist.


Du liebst diese Momente ebenso wie ich. Kommst mir entgegen, kaum dass Du mich siehst und oft hör ich dich schon vorher rufen, sobald Du weißt, dass ich Dir nahe bin. Ich nehme dich in meine Arme und so gehen wir zum Schattenplatz und genießen unsere Zweisamkeit. Niemand, der uns stört.

 Doch du gehörst mir nicht und ich nicht Dir. Alles, was uns zusammenführt, sind diese Urlaubstage, die unbeschwerte Zeit, die Gelegenheiten schafft… Gelegenheit macht Liebe, sagt man. Und ich liebe dich, nicht nur in diesen Tagen, doch niemals sonst darf ich es zeigen. Niemals sonst sind wir allein, wir beide, hier auf unserer Bank. Bald ist sie wieder da, sie, die Dir ihr Herz geschenkt, bevor ich es tun konnte. Und dann sind sie vorbei, unsere Tage auf der Bank.

Ich komm’ nicht los von Dir, doch ich muss gehen. Ich kraule Dich ganz sanft am Kinn und weck’ Dich auf. Verträumt siehst Du in meine Augen. Ich schenke Dir ein Lächeln – wie jeden Tag – und gehe heim. Und höre Dich noch nach mir rufen und doch dreh’ ich mich nicht um. Ich wär’ versucht, zu bleiben, wenn ich’s täte.

Mach’s gut, bis morgen, Findus.

Du kleiner Schmusekater.

Samaria

Geschichten soll ich Dir erzählen, hast Du gesagt. Und Dir verraten, welches der schönste Ort der Welt ist. Nun, die Erzählung kannst Du hören. Doch auf Deine Frage keine Antwort. 

Der Nebel des frühen Morgens hüllt mich kalt ein. Ich bin ein Frühaufsteher, ja, doch heute war es selbst mir zu zeitig. Aber es muss so sein. Wer Samaria sehen will, sollte früh morgens oben sein in Omalos. 18 Kilometer stehen mir bevor, 13 davon durch diese Schlucht, die eine der längsten und schönsten Europas ist.

Zu Anfang geht es steil bergab, Treppen erst, dann einen Schotterpfad. 1250m hoch sind wir gestartet und der Weg führt uns hinunter bis ans Meer. Zunächst zwei Stunden steil nach unten. Kondition ist hier gefragt und gutes Schuhwerk. Wer sehen will und staunen, der bleibe tunlichst stehen, denn jeder unbedachte Tritt mag einen Sturz bedeuten.

Es ist noch Frühjahr und so soll es sein. Im Hochsommer brennt die Sonne unbarmherzig und schon manch einer hatte nicht genügend Wasser mit dabei. Doch der April ist gnädig. Und er bietet Labsal für die Augen. Frisches Grün und Frühjahrsblumen säumen meinen Weg.

Dann beginnt die Schlucht. Ich wandere nun auf Steinen, an dem kleinen Bach entlang, der wenig Wasser führen muss, damit die Schlucht begangen werden kann. Gebirgsbach-spieler war ich früher schon und so befällt mich ein Gefühl von Kindertagen.

Auf halber Strecke Samaria, das Dorf, das längst verlassen ist, weil die Schlucht Nationalpark wurde. Die Ruhe hier tut wohl. Und gibt Gelegenheit zu rasten, doch nicht zu lang, sonst werden alle Knochen steif und ein Weitergeh’n fällt schwer.

Im zweiten Abschnitt tun sich Felsen auf, 600 Meter hoch zu beiden Seiten. Die eigentliche Schlucht beginnt und durch sein Nadelör, die „Eisernen Pforten“, gehe ich mit Staunen und Respekt.

Ein paar Kilometer noch, dann sehe ich das Meer. An seinem Ufer Agia Roumeli, der Ort, der wie Verheißung klingt nach dieser langen Wanderung. Die Fähre ist schon dort. Unwirklich, übers Meer zu fahren, doch auch Gelegenheit, die Schlucht im Herzen zu verankern, wo sie für immer bleiben wird.

Hast Du’s gesehen? Das Leuchten meiner Augen, wenn von Samaria ich erzähle? Und doch ist Samaria nicht die Antwort. Weil es noch viele Orte gibt, die unser Herz so sehr berühren, das es anhält.

Linksverkehr

Autofahren in Irland

Das Problem ist nicht, dass das Lenkrad auf der rechten Seite ist. Das Problem ist nicht der Linksverkehr, nicht, dass ich nach dem Einsteigen immer nach links zu dem dort nicht vorhandenen Sicherheitsgurt greife, nicht, dass mein linker Ellbogen keinen entspannenden Halt auf dem Fenster findet.
Das Problem ist, mit der linken Hand die Gänge einzulegen und das Auto in der Mitte der Fahrspur zu halten. Schon nach 500 Metern quietscht es.

"Mama, du bist an den Bordstein gefahren."


Huch.
Das hätte ich nicht gedacht.


Neben dem Kommando "links fahren" bekomme ich nun wesentlich häufiger das Kommando "Mitte", was mich in der Fahrspur halten soll. Alternativ klingt vom Nebensitz auch "Bordstein!", "MAMA!" oder nur noch "Aaaah!", wobei letzteres so schrill herüberschallt, dass ich den Wagen etwas schneller nach rechts ziehe als sonst. Erleichtertes Aufatmen meiner Tochter.

"Du bist beinahe in das parkende Auto reingefahren!"

"Echt?"
"Echt. Und das ist auf meiner Seite."

"Aber auf meiner Seite kommen mir Autos entgegen, ich habe Angst, ich rasiere denen den Seitenspiegel ab."

"Mama, guck mal, das Auto vor uns, das fährt in der Mitte"

"Ich auch."

Tochter neben mir: "Das gibt's doch nicht, dass du das nicht siehst!"
Tochter auf der Rückbank: "Ich will hier raus!"

Vorne lachen wir, schließlich ist das hier ein echtes Abenteuer. Von hinten dringt nur noch ein "Das ist nicht lustig" nach vorne.

"Ich finde, ich mache es schon prima", sage ich.

Bis das nächste "Aaaah!" vom Nachbarsitz herüberschallt.

*

Ein paar Tage und rund 1000 Kilometer später kam vom Rücksitz: "Mama, du fährst jetzt richtig gut."

Ich werde auch nicht mehr im Kreisel angehupt, seit ich verstanden habe, dass man dort innen und nicht außen fährt, während man seine Runden dreht, bis man sich für eine Ausfahrt entschieden hat :-)

Nachtgedanken

Gerade jetzt
denke ich ans Meer
an den unbezähmbaren Zwang
hineinzuspringen
mich treiben zu lassen
nichts
als seinen Gesang im Ohr.

Und schon trägt der Wind
das Gefühl wieder her.

Nichts und alles

Auf dem Wasser liegend ist nichts und alles. Im klaren See oder im Meer, die Augen geschlossen, einen leichten Wind im Gesicht. Getragen von den Geschichten der Zeit, die sich die Wesen dieser Welt erzählen. Versunken, nicht ertrunken, vergessend. Ausgeliefert und doch gehalten. Eins mit sich und den Klängen der Tiefe. Um dann die Augen ins Licht zu richten.

Ganz in mir

Weißt du,
wenn ich mit der Hand über die Holzplatte streiche,
aus der mein Tisch entsteht,
wenn ich die Kanten fräse und die Schlitze stemme,
die die Zargenzapfen aufnehmen,
wenn ich alles schleife und dabei der Richtung der Maserung folge,
bis es ganz glatt ist,
wenn ich meinem Vater dabei zusehe,
wie er – einen mir unbekannten Plan im Kopf –
die Schritte vorgibt, die wir tun,
wenn ich dann sehe, wie aus diesem Holz
mein Unikat entsteht,
das mich begleiten wird
und erinnern,
daran, wie wir es schufen,
dann bin ich
ganz in mir.

Impressum

Texte: Autorin 2010-2012
Bildmaterialien: Autorin
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2013

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