„Ist es wahr, wir haben einen Neuzugang?“ Aufgeregt kam ich am Gehege an, wo Kamilah sorgenvoll darauf wartete, dass die Löwin aus der Narkose erwachte.
„Ja“, sagte sie, „aber es geht ihr nicht sehr gut.“
„Sie sieht aus, als würde sie friedlich schlafen.“
„Wenn sie erwacht, wird sie etwas durcheinander sein. Sei vorsichtig und gehe nicht zu nah ans Gitter. Kannst du mir Bescheid geben, wenn sie zu sich kommt? Dann kann ich nach den anderen Tieren sehen.“
„Natürlich!“
Kamilah ging hinüber zu dem Leoparden, den wir von Wildererschlingen verletzt gefunden hatten.
Ich selbst betrachtete die Löwin.
Sie atmete ruhig. Bisweilen zuckte ihre Schulter und manchmal glaubte ich, ein Stirnrunzeln zu erkennen. Was sie wohl träumte? „Tiere träumen nicht!“, hörte ich meinen Lehrer noch sagen und erinnerte mich gut an die anschließende Diskussion, die darin endete, dass er mir eine Strafarbeit aufgab.
„Glaube nicht alles, was man dir erzählt, glaube, was dein Herz dir sagt“, war Kamilahs Kommentar zu dem Thema gewesen. „Also träumen Tiere?“, hatte ich nachgefragt, doch sie lächelte nur und ging.
Die Löwin blinzelte vorsichtig, schloss die Augen aber sofort wieder. Wie friedlich sie dalag. Am liebsten wäre ich zu ihr gegangen und hätte ihr den Kopf gestreichelt. Ein vorsichtiges „Hallo“ von mir für sie.
„Lass sie erst wissen, wer du bist.“ Ja, Kamilah, ja. Ihren Ratschlag im Kopf, setzte ich mich hin und sann über die Träume der Löwin nach.
Ich musste eingenickt sein. Als ich die Löwin wieder bewusst wahrnahm, waren ihre bernsteinfunkelnden Augen auf mich gerichtet. „Hey“, sagte ich ganz ruhig, „da bist du ja.“ Sie versuchte den Kopf zu heben. „Schsch, langsam. Langsam.“ Ich kroch ein wenig vom Gehege weg, bevor ich mich erhob und Kamilah holen ging.
„Woher kommt sie?“, fragte ich auf dem Weg zurück.
„Aus einem Zirkus. Nun ist es wieder einer weniger, der Raubkatzen hält.“
„Gottseidank.“
Kamilah näherte sich langsam dem Gehege, während ich in einigen Metern Entfernung wartete.
„Hallo, Schöne“, sagte sie und beobachtete aufmerksam jede Reaktion der Löwin. Obwohl diese noch am Boden lag, schien es, als wolle sie sich wegducken. Als Kamilah die Hand hob, schob sich die Löwin etwas zurück.
Kamilah kam zu mir. „Sie ist vorsichtig, wer weiß, welche Erfahrungen sie machen musste. Wir werden sie noch eine Weile ausruhen lassen. Ab morgen darf sie fressen. Möchtest du dich um sie kümmern?“
„Allein?“, fragte ich ungläubig.
„Du weißt doch, wie es geht.“
„Ja, sehr gern!“
In dieser Nacht schlug ich mein Lager neben dem Gehege der Löwin auf.
Am nächsten Morgen sah ich die Löwin aufstehen, während ich mit Wasser und Fleisch aus der Futterküche kam. Bedacht setzte sie ein Bein nach dem anderen, als prüfe sie die Beschaffenheit des Bodens. Nach nur wenigen Metern blieb sie stehen, nahm einen Geruch auf und wendete. Zurück an ihrem Schlafplatz drehte sie sich erneut um und ging ein wenig weiter als zuvor. Ich schob die Futterschüsseln durch das Gitter und setzte mich hin. Vorsichtig näherte sich die Löwin, zerrte ein Stück Fleisch aus der Schüssel und zog sich zum Fressen zurück.
Anschließend legte sie sich im Schatten des Baumes nieder und ruhte aus. Ich nahm ihr Blinzeln wahr und es schien, als wolle sie mir sagen, dass ich mich ebenfalls hinlegen sollte. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht war es gut, ein wenig auszuruhen und ihr die Dinge gleichzutun, die sie mich lehrte.
„Ich kam nach Afrika um der Weite der Steppe wegen, um der Grenzen, die zu erreichen Tage, nicht Minuten dauern kann. Ich kam, um den Zug der großen Herden zu sehen, die im Kreislauf der Zeit ihren Pfaden folgen. Die Sonne brannte auf mich nieder und die Nacht legte ihre Kühle um mich. Das Zirpen der Grillen nahm ich wahr, das Lachen der Hyänen, Affengeschrei und Löwenbrüllen. Aber nie war mir die Freiheit bewusster als beim Anblick der Elefanten, die ihren Weg durch die Masai Mara finden.“
Ich legte mein Blatt zur Seite und versuchte in den Augen der Löwin zu erkennen, was sie von meiner Geschichte hielt. Immerhin hatte sie während meines Vortrags nicht weggeschaut und so fuhr ich fort: „Mutige du, wenn eines Tages dein Blick die Elefanten streift, dann schick ihn mir, damit ich dich in Freiheit weiß.“
Das Bernsteinfunkeln glänzte, doch es schwieg.
„Sie erkundet immer noch nicht das ganze Gehege“, erzählte ich Kamilah.
„Wer im kleinen Rund lief, braucht seine Zeit, sich zu weiten.“
„Aber sie müsste sich doch freuen, dass sie jetzt so viel Auslauf hat!“
„Ein ‚Muss‘ leitet viele Wege auf einen einzigen Pfad.“
Gedankenversunken ging ich zur Löwin hinüber. Als ich am Gehege ankam, lag sie unmittelbar am Gitter. „Du?“, fragte ich, „darf ich?“ Ich kniete neben ihr, führte vorsichtig meine Hand vom Boden in ihren Nacken und kraulte sie. Einer von tausend Schritten auf einem Weg, dem ich den Namen „Geduld“ verlieh.
Ich saß so gern am Gehege und sah der Löwin zu. Oft schlief sie und atmete dabei in ruhigen Zügen, manchmal trommelte sie wie verspielt mit dem Schwanz auf den Boden, mal zuckten ihre Ohren. Im Schlaf schien sie zu lächeln, als träumte sie von der Steppe, deren Witterung der Wind zu ihr trug.
Wenn sie durchs Gehege streifte, bewunderte ich ihre Eleganz, ihren aufrechten Gang, das Heben und Senken der Schulterblätter bei jedem Schritt. Neugierig war sie, aufmerksam, und zugleich mit der nötigen Vorsicht, die die Erfahrung sie gelehrt hatte.
War ich zu forsch, mahnte sie mich, war ich ruhig, kam sie zu mir und rieb ihre Stirn an meiner Hand.
Eines Tages ging sie wieder am Gitter entlang und ich blieb an ihrer Seite. Sie wurde schneller, lief, und ich mit ihr, sie sprang übermütig leicht umher und ich lachte. Wir vermehrten diesen unbeschwerten Augenblick in die folgenden Tage und Wochen.
Die Löwin kam zu Kräften. Sprungkraft, Schnelligkeit, eine gewisse Ausdauer … Ich beobachtete, dass sie den frei Geborenen kaum noch nachstand, und fürchtete insgeheim den Tag, an dem ich mich von ihr würde trennen müssen.
„Sie wird mir fehlen.“
„Ich weiß, du trägst dein Herz in deinen Augen.“ Kamilah schwieg. Es gab ausgewilderte Löwen, die von Zeit zu Zeit zurückkehrten, aber niemand würde mir sagen können, ob meine Löwin dazugehörte.
„Wenn es ihr nur gut geht.“
„Du siehst selbst, wie stark sie ist.“
„Aber sie kann noch nicht jagen und braucht ein Rudel und muss sich vor den Wilderern hüten.“
Kamilah legte ihre Hand auf meine Schulter und ging.
Wir hielten die Löwin in einem abgetrennten Bereich des Geheges, während wir die Ziege in den anderen brachten. Sie wusste instinktiv, wie man Wild erlegt.
Wir brachten sie von der Farm in die Masai Mara. Sie blieb noch eine Weile in einem Auswilderungsgehege, damit sie sich an die Umgebung gewöhnen konnte. Hier gab es alles, was sie brauchte.
Als wir das Gitter öffneten, streifte sie ein paar Tage in unserer Nähe umher. Dann war sie plötzlich fort. Ich suchte ihre Spuren in den Hügeln, ich suchte sie auf den Pfaden der Elefantenherde, ich suchte sie im Schatten der Bäume, unter denen sie so gerne gelegen hatte, und fand sie nicht mehr.
Manchmal sehe ich sie mit einem Jungen in der Sonne liegen. Manchmal sehe ich sie als weitere Zahl im Buch der Wilderer. Immer aber wünschte ich, wir hätten den Faden weiterspinnen können, der zerrissen einer ohne Ende bleibt.
Wenn die nächtlichen Trommeln am Lagerfeuer die Geschichten Afrikas erzählen, sitze ich abseits. Ich höre die Menschen singen, spüre den Rhythmus, mit dem ihre Füße Bilder in die Erde malen, und summe leise deinen Namen.
Wüsste ich, ob dein Blick die Elefanten streift, wüsste ich, ob du die Freiheit gefunden hast, fände ich meinen Frieden. So aber bleibt ein Schweben, ein Suchen, ein Sehnen.
Texte: Autorin
Bildmaterialien: Autorin
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Löwin, die der zweiten fehlt.