Cover

1

Das polternde Geräusch aus der Wohnung über ihr ließ Gitta aus dem Schlaf hochschrecken. Schreie waren zu hören, in unbändiger Wut ausgestoßene Wortfetzen. Sie stritten sich wieder. „Kim!“ Gitta stand auf und öffnete ihre Wohnungstür, doch Kim war nicht da. Gitta hoffte inständig, dass sie kommen würde und nicht wieder mit angstverzerrtem Gesicht und tränenüberströmt allein in ihrem Bett säße, die streitenden Eltern nebenan im Wohnzimmer.

‚Komm zu mir, Kim!’ Es war nur ein kurzer Weg vom Kinderzimmer zur Wohnungstür, doch er führte am Wohnzimmer vorbei und wenn ihre Eltern sie entdeckten, würde alles noch viel schlimmer. In den letzten Monaten hatte es Kim ein paar Mal geschafft, sich hinauszuschleichen und bei Gitta Schutz zu suchen. Doch heute kam sie nicht. Die Schreie wurden noch lauter. Gleich würde Frau Schneider die Polizei anrufen, wie jedes Mal. Die Beamten würden um Ruhe bitten und wieder abrücken. Mit etwas Glück bliebe es dabei. Doch es hatte auch schon Nächte gegeben, in denen sich dieses Szenario mehrfach wiederholte, bis die Beamten Kims Mutter mitnahmen und sie erst am nächsten Morgen zurückkehrte.

Gitta dachte über die Monate nach, die seit ihrem Einzug vergangen waren. Bei der kleinen Einweihungsfeier hatte sie Kims Eltern als nette Leute kennen gelernt; der Vater arbeitete als Kaufmann bei einer Entsorgungsfirma, die Mutter kümmerte sich um die 12-jährige Kim und half stundenweise in der Bäckerei nebenan aus. Beide machten auf den ersten Blick einen charmanten Eindruck. Auch Frau Schneider war sympathisch. Sie lud Gitta regelmäßig auf ein Stück Kuchen ein, „damit wir zwei einsamen Weiber ein wenig Gesellschaft haben“, wie sie mit einem zwinkernden Auge zu sagen pflegte.

Zwei Wochen nach der Einweihungsfeier fiel dieses scheinbar so harmonische Kartenhaus in sich zusammen, als Gitta erkennen musste, dass sie einen weiteren Mitbewohner hatten: Alkohol. Er war es, der das Leben hier für die Erwachsenen zur Qual und für Kim zur Hölle machte.

„Sie trinkt seit vier Jahren und es wird immer schlimmer mit ihr“, hatte Frau Schneider gesagt, als Gitta sie am Tag nach der ersten streitunterbrochenen Nacht angesprochen hatte. „Ich hab’ ihre Mutter noch gekannt, die hat sich zu Tode gesoffen. Ich dachte immer, sie selbst würde es schaffen, die Finger von dem Zeug zu lassen, wo sie doch weiß, wie so etwas endet. Aber jetzt trinkt sie auch und das arme Kind macht dasselbe durch, wie sie damals. Und ihr Mann kommt auch nicht dagegen an.“
„Aber da muss man doch etwas tun können, zumindest für das Kind.“
„Nein, da können Sie gar nichts tun. Wenn sie nicht von allein damit aufhören möchte, haben alle anderen keine Chance. Das ist traurig, aber das ist so.“
„Man kann immer etwas tun!“, hatte Gitta im Brustton der Überzeugung gesagt, ohne in diesem Moment zu ahnen, wie viel Macht ihr ungeliebter Mitbewohner in Wirklichkeit hatte.

2

Gitta konnte nicht mitreden. Sie hatte bereits einige Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt, doch jede Form von Sucht war ihr unbekannt. Sie wusste nur, dass Kim Hilfe brauchte, koste es, was es wolle. Kim durfte nicht noch einmal diese nächtliche Szene miterleben, die ihrer Kinderseele einen nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügte.
Doch womit sollte sie beginnen? „Wenn sie nicht von allein damit aufhören möchte, haben alle anderen keine Chance. Das ist traurig, aber das ist so.“ Frau Schneiders Worte hallten in ihr nach. Nein, es hätte sicher keinen Zweck, mit Kims Mutter zu reden. Kim selbst wollte sie auch nicht damit belasten. Es war für das Kind schon schwierig genug.

Vielleicht sollte sie sich zuerst einmal informieren. Gitta las, was sie finden konnte. Die Informationen waren ein informativer Einstieg, aber sie brachten sie einer Lösung nicht näher. Immerhin wusste sie nun, dass die Familie in eine Therapie einbezogen werden musste. Gut und schön. Aber sie konnte doch nicht zu Kims Vater gehen und ihm raten, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vielleicht kam er ja mit der Situation besser klar, als sie dachte. Und eigentlich wirkte auch Kim äußerlich wie ein ganz normales Mädchen. Mmmh. Vielleicht war ja auch alles gar nicht so schlimm, so ein gelegentlicher Ehekrach kommt ja immer mal vor.
Gittas Eifer nach dieser ersten Nacht war schnell verflogen. Nein, sie sollte sich nicht in das Leben anderer Leute einmischen, das alles ging sie auch nichts an, sie kannten sich auch erst seit ein paar Wochen. „Kümmere Dich um Deinen eigenen Kram“, sagte sie zu sich selbst und ließ die Sache auf sich bewenden.

Zwei Monate später klingelte es nachts an Gittas Tür, während in der Wohnung über ihr Scherben zu Bruch gingen. Kim stand zitternd im Hausflur. „Kim! Komm herein.“ Gitta nahm sie in den Arm und setzte sich mit ihr, warm von einer Decke umschlungen, auf die Couch. Das Kind brachte kein Wort heraus, hielt sich aber die Ohren zu, um den selbst hier deutlich wahrzunehmenden Streit nicht mitanhören zu müssen. „Bald ist es wieder gut, sie vertragen sich wieder, bald ist es wieder gut.“ Hilflos murmelte Gitta die immer gleichen Aufmunterungen und strich Kim dabei beruhigend über den Rücken. ‚Ich hätte doch etwas tun sollen, egal was, ich hätte etwas tun sollen!’ Gitta war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Kim zu trösten und ihren Selbstvorwürfen. „Bald ist alles wieder gut…“
In dieser Nacht dauerte es zwei Stunden, bis es wieder gut und oben Ruhe eingekehrt war.

„Wir müssen etwas tun!“, sagte Gitta am nächsten Tag zu Frau Schneider. „Das geht doch so nicht weiter!“
„Mädchen, glaub mir eins: Du kannst nichts tun. Das müssen Kims Eltern unter sich ausmachen.“
„Aber Kim war heute Nacht bei mir, weil sie es oben nicht mehr ausgehalten hat!“
„Dann sei für Kim da, wann immer sie Dich braucht, aber misch Dich nicht ein. Glaub mir, es gibt nichts Frustrierenderes als den Umgang mit Alkoholikern. Es ist besser für Dich, wenn Du Dich raushältst.“
„Sollen wir mal beim Jugendamt fragen, was man da machen kann?“
Frau Schneider sagte lange Zeit nichts. Dann begann sie zu erzählen.
„Gitta, Kims Großmutter Elsbeth war eine gute Freundin von mir. Sie trank schon, als wir uns kennen lernten, aber das wusste ich damals noch nicht. Wenn wir uns trafen, war sie nett und fröhlich, wir haben viel zusammen gelacht und Spaß gehabt. Mit der Zeit wurde sie anders, war unzuverlässig und nur noch auf sich selbst fixiert. Ich habe alles versucht, um ihr zu helfen, war für sie da, selbst als sie mich immer häufiger beschimpfte, hab ihr geholfen, Papierkram für sie erledigt, sie sogar finanziell unterstützt. Aber mit allem, was ich tat, konnte ich nicht wirklich etwas für sie tun. Ich bin an Elsbeth gescheitert.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Du musst nicht alles verstehen, glaube mir einfach. Jedenfalls hat Elsbeths Mann Rudolf auch alles versucht, aus dieser Situation herauszukommen, und sich ans Jugendamt gewandt. Er wollte Elsbeth verlassen und Kims Mutter mitnehmen. Damals waren aber die Jugendämter und Gerichte noch der Meinung, dass ein Kind am besten bei seiner Mutter aufgehoben wäre, und haben ihm keine Hoffnungen gemacht, das Sorgerecht zu bekommen. Also blieb er bei seiner Familie. Weitere Jahre mit wüsten Streitereien und sogar Handgreiflichkeiten folgten, immer vor den Augen des Kindes, und keiner half. Das Jugendamt sagte, es sei immer noch besser, dass das Kind gelegentliche Streitereien mitbekäme, als es aus der Familie zu nehmen. Schließlich würde es ja von seinen Eltern geliebt. Und das war so, Elsbeth liebte ihr Kind, trotzt allem. Aber ich rede viel zu viel. Jedenfalls: Vom Jugendamt ist keine Hilfe zu erwarten.“

Entmutigt hatte Gitta aufgegeben. Frau Schneider konnte die Situation aufgrund ihrer Erfahrung sicher besser beurteilen. Und dennoch: Wann immer sie nachts aus dem Schlaf gerissen wurde, wann immer Kim vor ihrer Tür stand, schwor sie sich, dass es diesmal das letzte Mal sein würde. Doch am nächsten Tag hatte sie wieder Gründe gefunden, nichts zu unternehmen.

‚Kim wo bleibst Du?’ Gitta stand noch immer in der Wohnungstür und hoffte inständig, dass Kim zu ihr käme. Der Streit dieser Nacht war anders als die vorherigen, das Poltern heftiger gewesen. Sie schrieen sich nicht einfach an, sondern waren Hasserfüllt, beide. „Ich habe die Polizei angerufen!“, hallte Frau Schneiders Stimme durch’s Treppenhaus. Wieder ein Poltern, dann ein Schrei: „Neeiin!“ Das war Kim, unverkennbar. Im nächsten Moment stürmte Gitta die Treppe hinauf.

3

Der Anblick, der sich Gitta bot, war erschreckend: Kim kauerte in der geöffneten Wohnungstür und blickte starr ins Wohnzimmer, wo ihr Vater schluchzend vor der Couch zusammengesunken war. „Ich wollte das nicht tun, es tut mir leid, ich wollte das nicht“, brach es aus ihm heraus. Kims Mutter wand sich auf dem Couchtisch und als sie sich umdrehte, erkannte Gitta die Glasscherben in ihrem Rücken. Blut quoll durch das helle Nachthemd. Gitta unterdrückte einen Schrei, hob Kim auf und brachte sie zu ihrer Wohnung. „Wir rufen jetzt zuerst für die Mama einen Doktor, ja? Dann darfst Du Dich bei mir auf der Couch einmummeln und ich schaue nach Deinem Papa.“ „Nicht weggehen.“ Das war alles, was Kim für die nächsten Stunden hervorbrachte.

Sie trafen Frau Schneider auf der Treppe. „Kims Mama ist verletzt, ich rufe den Notarzt. Bitte schauen Sie nach ihrem Vater, ich bleibe bei Kim.“ Verflucht. Frau Schneider wurde ärgerlich bei dem Gedanken, sich nun doch einmischen zu müssen. Hatte sie nicht damals mit Elsbeth genug mitgemacht? Musste sie dasselbe nun auch noch mit ihrer Tochter erleben? Sie hatte schon Elsbeth nicht helfen können, niemand war ungeeigneter, sich jetzt um ihre Tochter zu kümmern. Aber Gittas Blick ließ keinen Widerspruch zu. Also ging sie weiter nach oben, und fand Kims Eltern vor, wie sie auch Elsbeth und ihren Mann schon gesehen hatte.

Kurz darauf waren die Rettungssanitäter da, der Notarzt folgte wenige Minuten später. „Sonja Wengert, sie sagt, sie sei ausgerutscht und rückwärts auf den Couchtisch gefallen. Ihr Mann Peter hat das bestätigt. Wir haben sie noch nicht bewegt, um weitere Verletzungen zu vermeiden.“ „Zuerst müssen alle Glasscherben weg, die hier lose herumliegen.“ Peter Wengert saß noch immer bewegungsunfähig vor der Couch. „Habt ihr ihn auf Schocksymptomatik untersucht?“ „Natürlich, aber es geht ihm gut. Er kann wohl kein Blut sehen.“ Das Team arbeitete routiniert und zügig. So war Sonja Wengert sehr schnell mit einer Infusion versorgt und transportbereit. Minuten später hörte Gitta den Krankenwagen fortfahren.

„Ich wollte das nicht, aber sie hat mich so wütend gemacht, da hab ich die Kontrolle verloren. Mein Gott.“
„Es ist nicht Ihre Schuld. Ich kenne das, genau so, und es ist nicht Ihre Schuld.“
„Ich würde nie einem Menschen etwas tun, einer Frau erst recht nicht, aber sie hat mich so wütend gemacht…“
In diesem Momente klingelte es. Frau Schneider stand auf, öffnete das Fenster und blickte nach unten. Die Polizei stand vor der Tür. Nein, die konnte sie nun nicht brauchen.
„Es tut mir sehr leid, ich habe mich verhört, die Herrschaften hatten das Radio auf voller Lautstärke und da läuft gerade ein Kriminalhörspiel. Es ist aber jetzt schon leise gestellt“, rief sie.
„Wir würden uns das gerne selbst ansehen.“
„Oh, bitte nicht, das Kind ist jetzt gerade eingeschlafen, sie würden es aufwecken. Wenn Sie darauf bestehen, kommt Herr Wengert morgen zur Wache und sie können ihn dann befragen.“
Die Beamten dachten an den ganzen Papierkram, verzichteten auf eine Vorladung und fuhren davon.

„Danke“, sagte Peter Wengert.
„Nichts zu danken.“ Sie schwiegen eine Weile.
„Sie wissen, dass Sie etwas tun müssen?“, sagte Frau Schneider dann. „Wenn ihre Frau noch nicht so weit ist, etwas zu tun, dann ist jetzt zumindest für Sie der Zeitpunkt, zu handeln. Für Sie selbst und für Ihr Kind.“
„Ich weiß. Aber ich kann sie nicht verlassen. Egal, wie es ist, ich liebe sie.“
„Wenn Sie nichts tun, wird sie Sie zugrunde richten. Sie sollten sich Hilfe suchen.“
„Meine Frau braucht Hilfe, aber sie will sie nicht. Wenn sie sich nicht helfen lässt, wie kann man mir dann helfen?“
„Sie sollten lernen, was Sie tun können, um sich selbst und Ihrer Frau zu helfen. Ich habe vor langen Jahren meine Freundin nicht retten können und bin gegangen. Bis heute habe ich das Gefühl, versagt zu haben. Es gibt doch heute Gruppen, die nicht nur die Kranken, sondern auch die Angehörigen betreuen. Ich denke, es würde Ihnen schon helfen, sich mit anderen Betroffenen austauschen zu können.“
„Ich wollte das nicht. Es tut mir so leid, ich wollte das nicht.“
Peter Wengerts Gedanken drehten sich im Kreis. Es war noch zu früh, dieses Gespräch fortzusetzen.

Am folgenden Nachmittag klingelte Peter Wengert an Frau Schneiders Wohnungstür. Als sie öffnete, hielt er Ihr den Prospekt einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholkranken entgegen. „Würden Sie mich begleiten? Bitte. Ich traue mich dort nicht alleine hin.“
Frau Schneider atmete tief durch. Sie hatte mit dem Thema nichts mehr zu tun haben wollen. Nun war sie wieder mittendrin. Aber vielleicht war das auch gut so. Vielleicht würde sie es diesmal besser machen. Vielleicht würde sie Elsbeths Tochter die Hilfe geben können, die sie Elsbeth nicht zu geben in der Lage gewesen war.
„Wann ist der erste Termin?“, fragte sie.
„In einer Stunde. Ich weiß, das ist etwas kurzfristig, aber…“
„Ich komme mit Ihnen.“

4

„Der Wandel muss beim Nichtalkoholiker beginnen.“
   
„Der Alkoholiker hat zwei Waffen: Die Wut und die Angst.“

Auf dem Heimweg von der Selbsthilfegruppe sprachen Frau Schneider und Peter Wengert nur wenige Worte miteinander. Beide hingen ihren Gedanken nach. Die vergangene Stunde war sehr aufschlussreich gewesen und nun musste jeder für sich das Gehörte erst einmal verarbeiten.

Die Gruppe hatte sie herzlich aufgenommen. Sie wurden gebeten, sich mit Vornamen vorzustellen und zu sagen, warum sie hier waren. „Ich bin Peter und ich habe vergangene Nacht meine Frau verletzt.“ „Ich bin Ingrid und begleite Peter. Wir wohnen im selben Haus.“
Peter war darüber erstaunt, dass niemand ihn strafend oder entsetzt anblickte, als er bei der Vorstellung von der Verletzung seiner Frau sprach. Das gab ihm den Mut, nach dem Austausch der anderen Gruppenmitglieder ausführlicher zu berichten, wie es dazu gekommen war:

„Meine Frau macht mich oft so wütend. Ich weiß nicht, wie sie das immer wieder schafft. Es beginnt mit Kleinigkeiten, einer Meinungsverschiedenheit, die im Grunde nichtig ist. Vergangene Woche diskutierten wir über neues Geschirr. Sie sagte, wir bräuchten ein neues Service und ich wollte wissen, ob ich eines besorgen solle. Sie sagte, dass sie gerne dabei wäre, weil ich einen fürchterlichen Geschmack hätte. Gut, sagte ich, wir könnten es ja auch zusammen aussuchen. Nein, sagte sie, sie wolle lieber allein gehen. Ich wollte ihr aber das Geld nicht mitgeben, weil ich Angst hatte, sie nehme ein billiges Geschirr und würde vom restlichen Geld Alkohol kaufen. Am Ende beschimpfte sie mich als geiziges Arschloch. Genau das hat sie gesagt: Geiziges Arschloch. So was macht mich wütend, denn ich habe immer alles bezahlt, was wir uns leisten konnten, und ihr nie einen Wunsch abgeschlagen.

Gestern saßen wir gemütlich auf der Couch und sie hatte den ganzen Abend noch keinen Alkohol getrunken. Sie trinkt nicht jeden Abend, wisst Ihr? Ich hab mich jedenfalls sehr gefreut. Wir haben uns den Spätfilm angesehen, der einige erotische Szenen enthielt. Und zum ersten Mal seit Wochen bekam ich wieder Lust auf meine Frau. Versteht ihr, sonst ist es so eklig, wenn sie nach Alkohol riecht und nicht sie selbst ist. Aber gestern war sie nüchtern und stank nicht und lallte nicht und da hab ich meinen Arm um sie gelegt, sonst nichts.
‚Was wird das jetzt?’, hat sie gefragt.
‚Ich hab Lust auf Dich’, antwortete ich. Ihr Blick sagte alles. Er war so voller Widerwillen, dass ich meinen Arm sofort zurückzog. So saßen wir einige Minuten da.
‚Sonja, wir müssen miteinander reden. So, wie es jetzt ist, bin ich nicht glücklich und ich denke, Du bist es auch nicht’, hab ich ganz vorsichtig angefangen.
‚Rede mir nicht ein, ob ich glücklich bin oder nicht!’ Sie war gemäßigt sauer.
‚Sonja, wir unternehmen nichts mehr zusammen, Du lachst nicht mehr…’
‚Ich bin doch kein gackernder Hampelmann, der ständig lachen müsste!’
‚Nein, das bist Du nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass Dir nichts mehr Freude macht.’ ‚Was Du schon für Eindrücke hast. Mach Dir lieber mal um Deine eigenen Probleme Gedanken, Du Möchtegern-Therapeut!’

Sie fing schon wieder damit an, mich zu beleidigen. In diesem Moment hätte ich gehen sollen, aber ich dachte an die ganzen unnötigen Diskussionen der vergangenen Monate, an all die Beleidigungen, die sie mir schon an den Kopf geworfen hatte und sagte:
‚Wärest Du keine Alkoholikerin, würdest Du keinen Mann brauchen, der sich neben dem Job, dem Haushalt und dem Kind auch noch um seine versoffene Frau kümmern muss.’
Dann stand ich auf um zu gehen. Sie sprang hinterher, packte mich am Arm und schrie:
‚Was bildest Du Dir eigentlich ein! Du hast ja keine Ahnung! Du bist nichts weiter als ein arrogantes Arschloch!’
Sie hat früher nie ‚Arschloch’ gesagt, wisst Ihr. Aber seit sie trinkt, gehört diese Fäkalsprache zu ihrem Standardrepertoire. Ich dachte an die Sonja, die ich kennen gelernt hatte, dieses zarte, unschuldige Wesen, das in jedem, der sie kannte, den Beschützerinstinkt weckte. Ich dachte an die gemeinsamen Jahre, wie schön es früher war, und was jetzt aus meiner Frau geworden war. Die Frau, die mich nun ständig als Arschloch beschimpfte, die mich wütend machte, war nicht Sonja. Vor mir stand der leibhaftige Teufel.
‚Pass auf, was Du sagst!’ Meine Wut stieg ins Unermessliche.
‚Und ein impotenter Schlappschwanz bist Du obendrein!’
In diesem Moment verlor ich endgültig die Kontrolle und stieß diesen Teufel, der immer noch meinen Arm umklammert hielt, von mir. Ich wollte weg von hier, nur weg. Sie stürzte rückwärts auf den Couchtisch, wo noch die Wassergläser standen. Und die Scherben bohrten sich in ihren Rücken.“

Die letzten Sätze hatte Peter nur unter Tränen hervorgebracht. Anschließend herrschte Schweigen. Die Gruppe hatte Erfahrung genug um zu wissen, dass es eine Weile dauern würde, bis Peter wieder aufnahmefähig war.

Irgendwann begann Martin zu sprechen: „Der Alkoholiker hat zwei Waffen: Die Wut und die Angst. Über die Angst sprechen wir, wenn Du soweit bist. Die erste Waffe ist die Wut. Der Alkoholiker kann einen anderem Menschen so lange herausfordern oder provozieren, bis der zornig wird und die Beherrschung verliert. Dann argumentiert dieser Mensch ebenso unfair wie der Alkoholiker oder er brüllt zurück oder er wendet gar körperliche Gewalt an. An genau diesem Punkt aber hat die Beziehungsperson verloren und kann dem Alkoholiker nicht mehr helfen. Denn der Alkoholiker hat nun diesen Fehltritt des anderen in der Hand, um sein eigenes schlechtes Verhalten und sein fortgesetztes Trinken damit zu rechtfertigen.

Gelassenheit und Selbstbeherrschung sind die ersten Eigenschaften, die ein Angehöriger oder Freund von Alkoholiker lernen muss. Wenn man sich provozieren lässt, geschehen zwei Dinge: Man gibt dem Alkoholiker ungewollt Recht. Auf der anderen Seite wird man so wütend über sich selbst, weil man sich des eigenen schlechten Verhaltens bewusst ist, dass auch der Bezugsperson auf Dauer schwere seelische Schäden drohen.“

„Das kenne ich“, sagte Peter. „Wenn ich darüber nachdenke, was ich alles zu meiner Frau gesagt habe, wie ungerecht ich war, nachdem sie mir Ungerechtigkeiten an den Kopf geworfen hatte, dann bin ich wütend auf mich selbst. Und ich merke, dass ich die Wut auf meine Frau und auf mich inzwischen auch auf Menschen übertrage, die mit uns gar nichts zu tun haben. Gestern habe ich die Reinigungskraft auf der Arbeit angemault, als sie mein Büro saubermachen wollte. Die Frau ist immer nett und freundlich und sie konnte nicht wissen, dass ich Überstunden machte, also war sie hereingekommen.“

Martin fuhr fort: „Der Wandel muss beim Nichtalkoholiker beginnen. Es ist wichtig, nie die Beherrschung zu verlieren, egal, wie sich Deine Frau Dir gegenüber benimmt. Das bedeutet nicht, dass Du Dir alles gefallen lassen musst, im Gegenteil. Sage ihr, dass Du ein Gespräch immer dann beendest, wenn es nicht mehr konstruktiv weitergeführt werden kann. Sei konsequent und entziehe Dich einem Gespräch, sobald Du Dich nicht mehr wohl fühlst. Deine Frau muss die Konsequenz kennen und erfahren. Es ist wichtig, dass Du Dich selbst dauerhaft daran hältst.“

Kurz darauf war die Sitzung beendet. Ingrid Schneider hatte seit ihrer Vorstellung kein Wort mehr gesagt. Aber sie ließ nun die Erlebnisse mit Elsbeth Revue passieren und erkannte, dass auch sie sich viel zu oft auf Elsbeths verbale Machtkämpfe eingelassen und verloren hatte. Die Wut von damals stieg wieder in ihr hoch. Die Wut auf Elsbeth und die Wut auf sich selbst. Es tat wieder weh, fast so stark wie damals. In diesem Moment erkannte sie, dass sie selbst ebensoviel Hilfe brauchte wie Peter.
„Ich begleite Sie nächste Woche wieder“, stellte sie fest.
„Das freut mich sehr.“
„Und da wir jetzt schon unsere Vornamen kennen, können wir uns auch Duzen. Ich bin Ingrid.“ Sie streckte ihm aufmunternd die Hand entgegen.
„Peter. Aber das weißt Du ja.“
Er nahm ihre Hand in beide Hände. Und ohne ein weiteres Wort wussten sie, dass sie von nun an Verbündete waren.

5

Zwei Tage später wurde Sonja Wengert aus dem Krankenhaus entlassen. Kim konnte sich nicht darüber freuen, dass sie wieder da war. Sie hatte seit den Ereignissen dieser Nacht nicht mehr gesprochen. Was sollte sie auch sagen? Und vor allem: Wem? In der Schule wusste niemand, dass ihre Mutter zu viel Alkohol trank. Kim brachte nie Freundinnen mit nach Hause und mit der Zeit ging sie auch nicht mehr zu anderen Kindern. Als ihr Vater vorgestern Abend nach Hause gekommen war, hatte er gesagt, nun würde alles gut. Aber wie oft hatte er ihr das schon versprochen? Auch Gitta hatte es versprochen und nicht halten können.

‚Die Mütter der anderen trinken nicht. Warum trinkt meine Mama? An Papa kann es nicht liegen, der ist nett. Bestimmt ist es meinetwegen. Das hat Mama auch schon oft genug gesagt.’ ‚Ohne Dich könnte ich…’ oder ‚Ohne Dich müsste ich nicht…’ Die Sätze ihrer Mutter hallten in ihr nach, wurden immer lauter im Gedankenkreisel, bis Kim es schließlich nicht mehr aushielt und einen Schrei ausstieß, der im Kissen erstarb. Ihre Gefühlswelt war ein ewiges Hin und Her zwischen herzrasender Aufregung und absoluter Leere, zwischen Liebe für ihre Mutter und Hass auf die Flaschen, die sie überall fand. Früher war ihre Mutter anders gewesen, fröhlich, liebevoll, die beste Mama der Welt. Jetzt schien sie aus zwei Wesen zu bestehen, war einschmeichelnd lieb, solange sie etwas von Kim wollte, und abstoßend böse, wenn sie alles selbst im Griff hatte.

Kim war der Situation emotional nicht mehr gewachsen. Hatte ihre Mama sie nun lieb? Oder war ihre Liebe nur geheuchelt, um Kim wieder dazu zu bringen, etwas für sie zu tun? Wenn sie sie lieb hatte, warum war sie dann immer wieder so gemein zu ihr? Nein, Mama konnte sie nicht lieb haben. Wer jemanden lieb hat, ist nicht nur dann nett, wenn er etwas von einem will.
Das Beste wäre, gar nichts mehr zu fühlen. Dann entgingen einem zwar die seltenen lieben Aufmerksamkeiten, aber man würde auch den Schmerz nicht mehr fühlen, der aus Missachtung und Beschimpfung entstand. Taub müsste man sein, gefühlstaub, nichts mehr an sich ranlassen, die Mama nicht und auch sonst niemanden.
Höchstens Papa. Aber Papa war ja nie da, wenn sie nachmittags mit Mama allein war. Und wenn er dann kam, stritt er wieder nur mit ihr.
Gitta vielleicht. Gitta war nett. Oder tat sie auch nur so? Würde auch sie irgendwann gemein zu ihr sein? Sie konnte keine Versprechen einhalten. Sie lullte sie ein mit ihren schönen Worten, dass alles wieder gut würde, aber das war nichts als heiße Luft. Nichts war gut geworden in den vergangenen Monaten, seit Gitta es ihr zum ersten Mal versprochen hatte. Garnichts.
Nein. Der einzige Mensch, auf den sie vertrauen konnte, war sie selbst.

„Mädchen, kommst Du auf einen Kaffee vorbei, wir müssen reden.“ Gitta war froh über die Einladung von Frau Schneider und sehr erstaunt, als ihr diese zur Begrüßung gleich das „Du“ anbot. „Ich bin Ingrid“, sagte sie und Gitta schlug gern ein. Noch bevor sie sich an den Tisch setzten, begann Ingrid zu erzählen:
„Ich war gestern mit Herrn Wengert, also mit Peter, bei einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholikern. Sie treffen sich einmal die Woche für eine Stunde und tauschen Erfahrungen aus. Das war sehr interessant und ich denke, dass es Peter helfen wird. Ich werde ihn auch in Zukunft begleiten, denn ich möchte einige Dinge verstehen, die ich damals mit Elsbeth erlebt habe und die mich heute noch wütend machen. Was ich aber eigentlich sagen wollte: Es gibt solche Gruppen auch für Kinder alkoholkranker Eltern. Vielleicht wäre das was für Kim.“

„Kim war seit dieser Nacht noch nicht bei mir. Gestern hab ich sie im Hausflur getroffen und da ist sie wortlos an mir vorbei gegangen. Ich hatte das Gefühl, sie ist irgendwie sehr in sich gekehrt und vielleicht sauer auf mich oder so.“
„Lass dich davon nicht entmutigen! Wenn du deine Mutter blutend auf dem Tisch und deinen Vater heulend vor der Couch gefunden hättest, wärest du auch traumatisiert. Vielleicht braucht Kim sogar einen Therapeuten, ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass sie mit jemandem reden sollte, der die gleichen Erfahrungen gemacht hat wie sie. Am besten mit Gleichaltrigen.“
„Okay, ich rede mit ihr.“

Als Gitta am nächsten Tag Kims Schritte im Hausflur hörte, bat sie sie in ihre Wohnung. Kim schien keine Lust zu haben, mit ihr zu reden, doch Gitta überzeugte sie schließlich, dass es sehr wichtig sei.
‚Himmel, wie fange ich nur an?’ „Möchtest Du etwas trinken?“ Gitta kam sich hilflos vor. Sie war Ende zwanzig und hatte keine Erfahrung darin, zwölfjährige Mädchen auf den Alkoholkonsum ihrer Mutter anzusprechen. Was würde passieren, wenn sie etwas Falsches sagte?
Kim schüttelte den Kopf.
‚Verflixt, sie gibt mir nicht eine Sekunde länger Zeit zum Überlegen. … Alles ist genauso richtig wie falsch, also fang endlich an!’, sprach sie sich Mut zu.
„Kim hör zu, es tut mir sehr leid, dass es bei Euch zuhause anders ist, als Du es Dir vielleicht wünschst. Und ich weiß, wie belastend das für Dich ist…“


„Garnichts weißt Du, GARNICHTS!“ Kim schrie Gitta ihre Wut ins Gesicht. „Du hast keine Ahnung, hockst hier in Deiner Bude, sagst mir, dass alles wieder gut wird, und nichts passiert, GARNICHTS, immer die gleiche Scheiße und das wird in 10 Jahren noch so sein, aber dann bist DU ja längst ausgezogen, wie die Leute vor dir und die Leute vor denen.“ Kim war rot angelaufen.
Gitta schnappte nach Luft, wollte zurückbrüllen, besann sich eines besseren und antwortete ganz ruhig:
„Es tut mir leid. Du hast Recht, ich weiß gar nichts. Wirklich gar nichts. Ich weiß nicht, wie das ist, denn ich bin in einem guten Elternhaus aufgewachsen. Aber eines weiß ich: Du bist nicht die Einzige, der es so geht. Da draußen sind viele andere, die alles wissen, die die gleichen Erfahrungen haben wie Du. Und alles, was ich dir vorschlagen wollte, war, mit diesen Kindern zu reden. Weil sie klüger sind als ich.“
Kim stand ihr immer noch wutschnaubend gegenüber, dann drehte sie sich plötzlich um und verschwand mit einem „Ich denk drüber nach“ aus der Wohnung.

6

„Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen, was damals passiert ist. Weil ich es selbst nicht verstanden habe. Weil ich mich schämte. Weil ich glaubte, alles wäre nur meine Schuld gewesen. Und weil ich das Gefühl hatte, einen Menschen im Stich gelassen zu haben, der mich gebraucht hätte.
Elsbeth war meine beste Freundin. Sie war meine Vertraute, meine Zuhörerin. Und zugleich war sie der Teufel.

Wir arbeiteten zusammen im Krankenhaus und teilten uns ein Zimmer im Schwesternheim. Wir waren jung und oft unterwegs, gingen in der Freizeit zusammen aus, hatten Spaß miteinander. Mit Elsbeth konnte man wunderbar lachen und ausgelassen sein. Doch sie verbarg auch ein Geheimnis, das sie mir eines Tages anvertraute. Gegen Ende des Krieges, sie war 15 Jahre alt, waren die Russen in ihr Dorf einmarschiert. Ihr wisst ja sicher, was sie mit den deutschen Frauen gemacht haben, und auch Elsbeth blieb nicht verschont. Als sie davon erzählte, saß sie da wie ein Häufchen Elend und weinte bitterlich, ließ es aber nicht zu, dass ich den Arm um sie legte, um sie zu trösten. Es tat mir unendlich leid, was ihr passiert war.

Von da an kümmerte ich mich besonders um sie. Als könnte ich mit meiner freundschaftlichen Liebe alles Unheil wieder gutmachen, das ihr widerfahren war. Sie sollte wissen, dass es auch gute Menschen gab, denen man vertrauen konnte. Ich würde es ihr beweisen. Wann immer Elsbeth Hilfe brauchte, war ich da. So sind Freunde füreinander, nicht wahr?
Anfangs ging es nur darum, ihr ab und an einen kleinen Gefallen zu tun. Ihr vom Einkaufen etwas mitzubringen oder solche Sachen. Manchmal habe ich ihr auch Geld geliehen, wenn sie nicht bis zum Ende des Monats damit auskam. Eines Tages, ich wollte ihr Bett frisch beziehen, entdeckte ich unter der Matratze eine Schnapsflasche. Genau in diesem Moment kam sie ins Zimmer: „Was schnüffelst Du in meinen Sachen rum?“, herrschte sie mich an. „Ich wollte nur…“, stotterte ich. „Fass nie wieder mein Zeug an!“ Mit diesen Worten verschwand sie. Am nächsten Tag entschuldigte sie sich und sagte, die Flasche wäre ein Geschenk für ihren Vater gewesen.

Elsbeth trank immer öfter. Irgendwann machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, die Flaschen vor mir zu verstecken. „Warum tust du das?“, wollte ich wissen. „Um zu vergessen“, sagte sie. „Aber du wirst es nie vergessen und wenn du wieder nüchtern bist, ist alles schlimmer als zuvor.“ Sie hörte nicht auf mich. Wenn Elsbeth trank, vergaß sie ihren Kummer. Aber mein Kummer wurde immer größer.
Eines Tages, sie war allein auf Nachtschicht, kam sie in unser Zimmer gestürmt und weckte mich. „Ingrid, komm schnell, Du musst mir helfen!“ Ich zog mich an und eilte zur Station. Eine ältere Dame lag röchelnd in ihrem Bett. „Was ist passiert?“ „Ich glaube, ich habe ihr das falsche Medikament gegeben.“ Elsbeth zitterte am ganzen Leib und war unfähig, etwas zu tun. „Was hast du ihr gegeben?“ Sie sagte es mir. Ich wusste, was zu tun war und nach einer halben Stunde hatte ich die alte Dame wieder stabilisiert. „Bitte verrate mich nicht, wenn das rauskommt, verliere ich die Arbeit und wovon soll ich dann leben?“

Ja, wovon sollte sie dann leben? Konnte ich zulassen, dass sie die Arbeit verlor und auf der Straße stand? Sie war doch meine Freundin. Sie hatte doch schon genug Schlimmes erlebt. Ich habe niemandem etwas gesagt. So ging es zwei Jahre lang. Ich habe ihr immer wieder aus der Klemme geholfen, hab ihrem Freund Rudolf ihre Sucht verschwiegen, weil sie Angst hatte, er würde sie nicht heiraten, wenn er es wüsste. Ich habe Schichten für sie übernommen, wenn sie zu betrunken war, um ihren Dienst anzutreten.

Aber all das hat sie nicht glücklicher gemacht – im Gegenteil. Immer wieder erzählte sie von den Russen, auch noch, nachdem sie verheiratet war. Immer wieder weinte sie über ihr verkorkstes Leben, dabei hatte sie mit Rudolf einen Mann, der sie wirklich liebte, und sie hatte eine Arbeit und ein Zuhause. Und mich. Mich, die sie immer wieder ihre Fehler ausbügeln ließ. Mich, die sie immer wieder brauchte, wenn etwas zu erledigen war, was sie unter normalen Umständen auch selbst hätte erledigen können. Mich, die sie immer häufiger beschimpfte, weil ihr irgendwas nicht gut genug war. Mich, die sich dauerhaft zu ihrem Trottel machen ließ.

Mit der Zeit wurde ich immer wütender auf sie. Sie saß da und soff, obwohl sie glücklich und zufrieden hätte sein können. Und ich war diejenige, die ihr das ermöglichte. Als Elsbeth das nächste Mal nicht zum Dienst erschien, sagte ich nicht wieder, dass wir die Schichten getauscht hätten, sondern ging einfach nach Hause. Die Oberschwester rief bei Elsbeth an, die besoffen den Hörer abhob und sagte, sie habe gerade wichtigere Dinge zu tun, als irgendwelche Kranken auf die Bettpfanne zu setzen. Daraufhin war sie ihre Arbeit los. Und mir gab sie die Schuld. Bis heute denke ich, sie hatte Recht. Mein Verstand weiß, dass es nicht stimmt, aber mein Herz glaubt noch immer, sie hatte Recht.“

Eine Weile sagte niemand etwas. Ingrid konnte noch nicht zuende erzählen, weil die Erinnerungen sie wieder in das gleiche Gefühlschaos stürzte, das sie damals empfunden hatte.

„Ich nehme Sonja auch alles ab, was sie unter normalen Umständen selbst tun könnte. Weil sie es einfach nicht schafft“, sagte Peter. „Und ich habe sie auch schon mehrfach davor bewahrt, die Arbeit zu verlieren. Das macht man doch, wenn man den Partner liebt und will, dass es ihm gut geht.“

„Könnt ihr Euch erinnern, dass ich sagte, der Alkoholiker habe zwei Waffen: die Wut und die Angst? Über die Wut haben wir bereits gesprochen. Schlimmer aber ist die Fähigkeit des Alkoholikers, Angst zu erwecken. Durch Angst fühlt sich die Bezugsperson genötigt, dem Alkoholiker abzunehmen, was nur von ihm selbst getan werden kann, wenn die Krankheit zum Stillstand gebracht werden soll.“ Martin schwieg eine Weile.

„Das verstehe ich nicht“, sagte Ingrid.

„Bitte geh’ für mich einkaufen, sonst habe ich nichts mehr zu Essen im Haus.“ Die Familie hat Angst, dass der Alkoholiker sich nicht vernünftig ernährt und nimmt ihm den Einkauf ab. Aber: Was die Familie bereits getan hat, kann der Alkoholiker nicht mehr selbst tun. Das verstärkt seine Schuldgefühle und Minderwertigkeitskomplexe. Und es verhindert, dass er selbst Verantwortung für sein Leben übernimmt. Wenn jemand für den Alkoholiker einkaufen geht, muss der selbst nicht mehr vor die Tür. Die alltäglichen Dinge des Lebens zu bewältigen, ist aber eine Aufgabe, der er sich stellen muss.

Wenn die Familie aus Angst alles tut, um den Alkoholiker vor den Folgen seines Tuns zu bewahren, ist sie Co-abhängig. Es geschehen zwei Dinge: Der Alkoholiker bekommt ein Gespür dafür, wie er die Familie nach Gutdünken beeinflussen kann, indem er ihr Angst macht. Er spielt sich auf wie der allmächtige Gott. Er verliert den Respekt vor seinen Bezugspersonen. Er macht sie zu Komplizen bei seinem Ausweichen vor der Verantwortung.
Zugleich aber ist er sich bewusst, dass alle anderen mehr können als er und dass er von ihnen abhängig ist. Das verstärkt seinen Minderwertigkeitskomplex.
Die Alkoholkrankheit kann daher am besten überwunden werden, wenn die Familie dem Alkoholiker die Verantwortung für die Folgen seines Handelns konsequent selbst überlässt.
Wenn der Kühlschrank leer ist, gibt es eben für ihn nichts zu essen, bis er selbst vor die Tür geht und einkauft. Das ist der erste Schritt.“

„Das heißt, es war richtig von mir, Elsbeths Schicht nicht zu übernehmen, auch wenn sie dadurch ihre Arbeit verloren hat?“, fragte Ingrid.

„Ja, Ingrid. Es war das Beste, was du für Elsbeth tun konntest.“

7

„Als ich Sonja kennen lernte, hat mich ihr Herz berührt. Heute ist dieses Herz umschlossen von Mauerringen aus geleerten Flaschen und ich finde keinen Zugang mehr zu ihm. Sonja fügt den Mauern immer mehr Flaschen hinzu. Sie verändert sich, wird ein anderer Mensch. Und ich habe Angst, dass ich sie nicht mehr wiederfinde, wenn es eines Tages doch gelingt, die Ringe einzureißen.“

Peter Wengert wirkte niedergeschlagen. Seit vier Monaten kam er nun schon in die Selbsthilfegruppe, hatte so gut es ging alle Ratschläge befolgt, und doch waren bei seiner Frau nur kleine Fortschritte zu erkennen. Er wusste, dass er selbst sie nicht würde heilen können. Dass Sonja von sich aus den Weg in professionelle Hände suchen musste. Obwohl es ihm schwer fiel, versuchte er nun nicht mehr, Sonja vom Trinken abzuhalten, doch er überließ es ihr, die Konsequenzen zu tragen. Sie hatte inzwischen ihre Arbeit verloren. Aber sie behauptete noch immer, sie hätte alles im Griff.

Irgendwie schaffte sie es, den Alltag zu meistern. Anfangs war sie sehr erstaunt gewesen, als Peter ihr gesagt hatte, sie möge ab sofort wieder einkaufen gehen, ihm sei das nach der Arbeit zu anstrengend. Daraufhin war drei Tage lang der Kühlschrank leer geblieben. Peter fuhr in dieser Zeit mit Kim auswärts essen und ließ Sonja zuhause. Sie tobte. Sie schrie. Sie versuchte, sich bei Gitta und Frau Schneider etwas zu essen auszuborgen, doch die beiden waren eingeweiht und gaben nichts heraus. Schließlich ging sie einkaufen, ein paar Teile nur, aber sie kaufte ein, inzwischen fast jeden Tag.

Peter wusch und bügelte nur noch seine und Kims Sachen und überließ es Sonja, sich um ihre Kleidung zu kümmern. An guten Tagen schaffte sie es, ein wenig zu waschen und zu bügeln. Aber manchmal trug sie zwei Wochen lang dieselben Sachen, weil sie nichts anderes mehr zum Anziehen hatte. Peter ertrug den penetranten Gestank, der in dieser Zeit von ihr ausging. Wenn Sonja schimpfte, ging er ins Nebenzimmer. Wenn sie tobte, brachte er Kim zu Gitta und ging selbst zu Frau Schneider. Wenn sie versuchte, ihm Angst einzureden, sagte er: „Es ist deine Entscheidung zu trinken, also trage du auch die Konsequenzen daraus.“

Kim war in den letzten Monaten seine Verbündete geworden. Peter hatte ihr erklärt, dass sie ihrer Mutter am besten damit half, indem sie nichts für sie tat, was sie selbst tun konnte. Außerdem schärfte er ihr ein, dass sie ein Gespräch mit Sonja sofort abbrechen sollte, wenn ihr unwohl wurde. Sonja versuchte es mit allen Tricks. „Du hast mich nicht mehr lieb! Was bist du nur für eine Tochter!“, schimpfte sie, als Kim ihr nicht eine neue Flasche aus der Vorratskammer holen wollte. Danach meldete Peter seine Tochter bei der Ganztagsbetreuung der Schule an und holte sie nach der Arbeit dort ab, damit Kim nicht mit Sonja allein bleiben musste.
Kim wollte weiterhin keine Selbsthilfegruppe für Jugendliche besuchen, doch Gitta hatte ihr ein Internetforum empfohlen, wo sie sich, wenn sie bei Gitta war, mit anderen Kindern austauschte.

Aber im Grunde hatte sich nichts geändert. Sonja trank weiterhin, regelte ihre Dinge, wenn sie dazu in der Lage war, und versuchte ansonsten, ihre Familie zu schikanieren. Zugleich baute sie sich eine eigene Welt auf. In ihrer Version der Vergangenheit war sie immer das Opfer und alle, die ihr begegnet waren, hatten ihr Unrecht angetan. Es war die Schuld ihrer Chefin, dass sie ihre Arbeit verloren hatte. Davon, dass sie selbst Geld aus der Kasse genommen hatte, wollte sie nichts mehr wissen. „Ich hätte es doch vor Ladenschluss zurückgelegt“, argumentierte sie, wenn man sie darauf ansprach. Oft genug beschimpfte sie Peter als Mörder, weil er sie auf den Couchtisch gestoßen hatte. Davon, dass sie ihn zuvor provoziert hatte und er ihr im Grunde nicht hatte wehtun wollen, sprach sie nie. Selbst an Kim ließ sie kein gutes Haar.

„Sonja wird nie wieder so wie früher sein, nicht wahr? Selbst wenn sie aufhört zu trinken, bleibt doch ihre veränderte Persönlichkeit, wie sie jetzt ist.“
„Es kommt darauf an, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist. Die Wesensveränderung ist auf die chronische Alkoholvergiftung zurückzuführen. Es gibt trockene Alkoholiker, die ein halbwegs normales Leben führen und auch ihre Gefühlswelt wieder in den Griff bekommen. Aber es gibt auch welche, die nie wieder so werden, wie sie waren.“
„Wenn Sonja eine Chance haben will, muss sie sich also schnellstmöglich in Behandlung begeben?“
„Du weißt, dass sie den Schritt selbst tun muss.“
„Ja, das weiß ich.“

Als Peter Wengert an diesem Abend von der Selbsthilfegruppe nach Hause kam, hatte er einen Entschluss gefasst.
„Sonja, ich werde mir mit Kim eine eigene Wohnung suchen. Ich liebe Dich immer noch sehr, aber ich halte die jetzige Situation nicht mehr aus. Wenn du irgendwann Hilfe brauchst, wenn ich einen Arzt oder eine Klinik suchen soll, die deine Krankheit behandeln, bin ich jederzeit für dich da. Aber solange du dich nicht behandeln lässt, kann ich nicht mehr mit dir zusammenleben.“
„Von mir aus geh zum Teufel.“
‚Vor genau dem laufe ich weg’, dachte er. Aber er sprach es nicht aus.

Ein paar Monate später stand der Umzug kurz bevor. Sonja litt Höllenqualen. Sie hatte alles versucht: Sich bei Peter eingeschmeichelt, den Haushalt erledigt, regelmäßig eingekauft. Manchmal kochte sie sogar. Doch Peter blieb bei seinem Entschluss. Dann hatte sie ihm gedroht, dass sie das Sorgerecht für Kim beantragen würde und dass er ihr lebenslang Unterhalt zahlen müsse, weil sie ja nicht arbeiten könne. Als er auch darauf nicht reagierte, erniedrigte sie sich: „Bitte, Peter, was soll ich denn ohne dich machen? Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht leben kann. Ich liebe dich doch und mache auch alles, was du sagst. Denk an die schönen Zeiten, die wir miteinander verbracht haben. Die können wir wieder haben. Ich werde mich bessern, versprochen!“ Wie oft hatte er diesen Satz schon gehört? „Versprich mir nichts, was du nicht halten kannst“, antwortete er ihr.
Zwei Tage vor dem Umzug fiel dann der Satz, vor dem sich Peter die ganze Zeit gefürchtet, für den er sich aber schon eine Antwort zurechtgelegt hatte: „Wenn du ausziehst, bringe ich mich um!“
„Sonja, du bringst dich schon seit Jahren um. Mit jedem Schluck Alkohol, den du trinkst. Die Sonja, die ich liebe und die ich geheiratet habe, ist fast schon tot. An deren Stelle ist jemand, der sich nicht helfen lassen möchte und mit der ich nicht mehr leben kann. Ich werde gehen, Sonja. Und was immer du dann tust, liegt nicht in meiner, sondern in deiner Verantwortung.“

Als er am ersten Abend mit Kim in der neuen Wohnung zusammensaß, klingelte das Telefon. Peter erkannte Sonjas röchelnde Stimme und wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Er rief den Notarzt an und fuhr dann selbst so schnell er konnte zu ihr. Sie war bewusstlos. Zwei Röhrchen Tabletten lagen neben ihr, auf dem Boden eine Flasche Schnaps. Der Notarzt schaffte es, sie zu reanimieren. „Sie ist Alkoholikerin. Bitte bringen Sie sie in eine entsprechende Klinik.“ Die Sanitäter nickten. „Sie kommt ins St. Vinzenz-Krankenhaus.“
Als Peter nach Hause kam und Kim erzählte, dass ihre Mutter im Krankenhaus war, ahnte sie den Grund.
„Sind wir schuld, dass Mama sich umbringen wollte?“
„Nein Kim, das sind wir nicht. Die Krankheit ist Schuld, einzig und allein die Krankheit. Sie macht aus Mama einen anderen Menschen als den, den wir lieben. Aber jetzt kann alles gut werden. Die Mama ist jetzt in einer Klinik, in der die Ärzte auf die Alkoholkrankheit spezialisiert sind. Jetzt hat sie eine Chance.“
„Du hast schon so oft gesagt, dass alles gut wird und es ist nicht gut geworden.“
„Ja, das habe ich. Weil ich die Hoffnung nicht aufgebe. Weil ich glaube, dass hinter dieser Fassade aus Flaschenmauern noch immer die Frau steckt, die ich liebe und die Mutter, die für dich die beste Mama der Welt war.“
„Du bist ein Träumer, Papa!“
Was sollte er darauf sagen? Peter verstand Kims Resignation nur allzu gut. Irgendwann würde auch er der Realität ins Auge sehen müssen. Wenn Sonja es diesmal nicht schaffte, wenn sie sich weiter weigerte, nach dem Entzug auch eine Langzeittherapie zu machen, dann war wirklich alles verloren. Für heute aber blieb ihm ein Lichtblick Hoffnung.

Impressum

Texte: Autorin, 2009
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für ihre Kinder

Nächste Seite
Seite 1 /