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Vorwort
Heute sehe ich mich nach langem Überlegen fast gezwungen (aus einem inneren Antrieb heraus, nur keine Freude, steht keiner mit einem Schießprügel hinter mir) etwas zutiefst Privates von mir preiszugeben. Zum ersten Mal in meinem Leben.
Jedoch empfehle ich jedem, der mich nur ein bisschen kennt und allen, die mich noch nicht kennen; bevor sie etwas Unüberlegtes tun, doch ein wenig weiter zu lesen.
Oder ganz aufzuhören.
Denn dann wird ein jeder meiner überaus höflichen Bitte, mich AUF GAR KEINEM FALL auf dieses private Detail meines Lebens anzusprechen oder es gar mit ein paar Wischi-Waschi-Sätzen (Das war kein Lesevergnügen und wo ist da die Katze?

) kommentieren zu wollen, mit dem nötigen Verständnis nachkommen (können).

Nachgedanke: Dies schreibe ich auch für all die vielen, die mit mir waren und bei mir sind, ob ich sie nun kannte, kenne oder nicht.
Es gibt sie und hat sie immer gegeben.




Also dann: Ich entstamme der DDR.
Ja. Genau. Ich bin ein Ossi.
Aber ich kam nicht etwa nach 1989 hierher - nana, soweit geht die Vertraulichkeit nun doch nicht, HIER ist irgendwo im Westen - nein, es war fast ein Jahrzehnt eher. Und wie sich nun jeder mehr oder weniger vorstellen kann, bin ich nicht mal eben so in ein irgendwie geartetes Fahrzeug gestiegen und einfach losgefahren. Und ich bin auch nicht bei Nacht und Nebel und vor allem ohne das Wichtigste in meinem Leben über irgendwelche Zäune geklettert oder durch Tunnel gekrochen.
Nein. Ich teilte den damaligen Oberen der DDR mit, dass mir ihr Staat so wenig gefiele wie ihre Art und dass ich deshalb vorhabe, dem allen zu entrinnen. Ich teilte es ihnen schriftlich mit, das ist halt so meine Art. Worauf hin ich den folgenden Jahren IHRE Art zu spüren bekam. Aber darauf will ich hier nicht näher eingehen.
Eine Szene aus meinem damaligen Leben möchte ich allerdings etwas ausführlicher beschreiben, denn die Folgen dieser Szene bestimmen bis heute mein Verhältnis zu den meisten Menschen.
Es war ein Wochenende und ich war überraschend wieder zu Hause. Das machten sie manchmal so, damit man sich sicher fühlte, um sich dann eben umso schlimmer zu erschrecken, wenn sie ganz überraschend wieder auftauchten. Eine Art kindisches Buh-Prinzip, aber es war wohl ihr ganzer Stolz.
Ich jedenfalls fühlte mich aus diesen und jenen Gründen nicht so wohl oder anders gesagt, ich war ziemlich lädiert und jeder Knochen tat mir weh. Also lag ich auf meinem Sofa und bemitleidete mich ein bisschen selbst, als die Tür nach innen aufbrach. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich mich nicht einmal gerührt.
Warum auch? Schließlich wusste ich, wer das war und was die wollten. Ganz im Stil des lumpigsten Hollywood-Z-Films (Ich hatte stets den Verdacht, dass Horror-Filme-gucken deren normale Tages- Beschäftigung war, woher sonst hätte ihr Gehabe kommen sollen?) zerrten sie mich ohne lange oder überhaupt eine Erklärung aus der Wohnung. Zu einem, wie sie sich ausdrückten, erneuten Versuch mir ins Gewissen zu reden. Ich erspare mir

die Beschreibung ihrer hundertfachen Überredungs-Versuche.


Manchmal waren sie nur zu zweit, manchmal auch zu fünft, sechst oder gar im Dutzend.
Als ich da so über die Straße schleifte, wusste ich ziemlich genau was mir bevor stand. Und alle, die zuguckten wussten das auch. Meine Nachbarn und lieben Freunde, von denen sich die besseren einfach nur abwandten. Die anderen guckten beifällig, einige nickten und ein paar gaben durch halblautes Schleim-Blabla zu verstehen, wie recht mir geschähe.
Ein Haus weiter wohnte ein Polizist. Ein Major!
Ein Mann, den ich kaum kannte, denn in meinen Augen war er nur ein weiterer Büttel des Regimes und wenn einige etwas anderes behaupteten, hatte ich bis zu diesem Tag stets nur kalt gelächelt. Aber an diesem Tag kam er den Bürgersteig entlang, sah uns (alle) an, verharrte einen Moment und kam dann energisch auf uns zugeschritten. Zu den beiden Deppen meinte er in gemessenem Tonfalle, sie seien „eine Schande für unseren Staat“. Mir half er auf und den Umstehenden warf er einen so verächtlichen Blick zu, dass ich bis heute zugebe; besser hätte ich es auch nicht gekonnt.


Ich habe ihn einmal wieder gesehen.
Fast zwanzig Jahre danach. Er war ein alter Mann mit einem beinharten Blick, der mich sofort erkannte. Wir hatten uns nicht viel zu sagen, aber ich bin mir sicher, er wusste genau warum ich ihn sehen musste.
Und nun kommen wir endlich zu der Sache mit dem Bösen.
Denn als ich genau zwei Tage nachdem die Grenze gefallen war nach Hause zurückkehrte und mit einem ganz eigenartigen Gefühl durch die Straßen lief, da begegnete mir als erster einer der beiden, die mich damals immer zu den Überredungs-Versuchen abgeholt hatten.
Ich blieb so abrupt stehen, dass mein Mann gegen mich prallte, meine Freundin über meinen Mann stolperte und ihr Mann, fassungslos auf das Debakel starrend, sich (wie er später gestand) genötigt sah, kurz auf dem Bürgersteig Platz zu nehmen.
Ich sah, so versuchte er es später stets zu erklären, irgendwie „bleich“ aus. Und meine Augen seien „rot“ gewesen und meine Haare hätten im wörtlichen Sinne „abgestanden“.


Ok, damit wäre ich einem Albino-Häschen so ähnlich gewesen, wie ein Mensch es nur sein kann. Aber nach der unerschütterlichen Aussage dieses Freundes hatte mein Aussehen mit einem Häschen soviel Ähnlichkeit gehabt, wie das eines Zombies mit Barbarella.
Kurz gesagt, wir gaben sicher ein erbauliches Bild ab.
Und der einzige, der sich nicht daran störte, war der Typ. Noch während ich ernsthaft befürchtete, dass mein Herz vor Kummer und Wut gleich stehen bleiben oder bersten würde, trat diese Kreatur auf mich zu, umarmte mich und rief aufrichtig erfreut: „Das gibt’s ja nicht! Du bist es! Na so was. Das ist ja Wahnsinn, Mensch, wie ich mich freue!“
Und in diesem Moment passierte es.
Also in Wahrheit passierten in jenem Moment mehrere Ereignisse gleichzeitig.
Mein Mann rappelte sich auf und entfernte das Ding aus meinem Nah-Bereich. Meine Freundin haute mit ihrer (wirklich unschön großen) Tasche wieder und wieder auf jedes erreichbare Stück des Dings und ihr Mann schleifte es Stück für Stück von uns weg.


Ein Teil meines Inneren fand die Rum-Schleiferei nur zu gerecht aber der größte Teil von mir war mit etwas ganz anderem beschäftigt. Dieser Teil konnte es tatsächlich in den Augen der Kreatur sehen.
Es war beleidigt!
Es haderte mit dem Schicksal und fühlte sich ungerecht behandelt.
Es hatte keinerlei Schuldbewusstsein.
Und da begriff ich endlich. Dieser Typ, der mit mir in der Schule gesessen hatte, der von mir abgeschrieben hatte, mit dem zusammen ich in unserer Clique tausend Abenteuer – bis hin zu meinem ersten Alkohol-Exzess – durchstanden hatte und der mich dutzende Male über dutzende Straßen und Flure geschleift hatte, ja, der manchmal das letzte gewesen war, was ich sehen konnte, bevor sich meine Augen schlossen; der war normal. Denn er glaubte, er sei normal. Und die meisten dachten sicher dasselbe.
Ich hatte nicht etwa die Banalität des Bösen vor mir, nein, ich hatte es mit der Banalität des Normalen zu tun.


Mit der Anpassungs-Fähigkeit, der Geschmeidigkeit und dem blinden Fleck in ihrer aller kollektiven Gewissen, soweit es das Unrecht betraf, dass sie denen angetan hatten, die anders sein wollten.
An diesem Tag begann ich sie zu studieren.
Und nur um es gleich zu sagen. Ich studierte alle. Auf beiden Seiten. Denn da war kein Unterschied. Auf der einen Seite waren die, die nie etwas getan haben wollten und auf der anderen die, die nie etwas gewusst haben wollten.
Und beide Seiten waren so voller trotzigen Selbstmitleides über das ungerechte Schicksal. Ja, ja. Wie konnte es nur? Aber was noch viel unverständlicher war. Wie konnten SIE nur? Die … die … na, wie nennen wir sie denn? Also Opfer wäre doch zu übertrieben. Nicht wahr.
Für die einen wie für die anderen waren die wahren Opfer klar erkennbar.
Für die einen zum Beispiel in Nicaragua, das waren Opfer. Ja, stimmt schon. Die schossen sich unentwegt gegenseitig tot. Mal mit der, mal mit der Begründung.


Aber die eine Sorte, die, denen man die Waffen mit Spenden finanzierte, die waren ganz bestimmt toter als die anderen.
Dagegen hatten diese DDR-ler ein gutes Leben. Allein schon deshalb, weil alle es sagten. Auf die es ankam. Wie Arafat, Mao und Ho. Ein Trio hochangesehener Massen-Mörder, die eben jene Staats-Form anstrebten und – wenn endlich erreicht – so findig ausgebaut hatten, aus der das undankbare DDR-Pack zu entkommen suchte.
Und für die anderen, da waren die Opfer beinahe noch klarer erkennbar.
Sie selber waren die Opfer.
Denn ihnen wurde Unrecht getan obwohl sie nie etwas anderes getan hatten als… Ja? Als was? Das ganz Normale halt. Was alle getan hatten. Das konnte ja wohl kein Verbrechen sein.
Und als ich mir beide Seiten so betrachtete, da fragte ich mich: Was geht da wohl vor. Unter all den Che- und Arafat-Lappen, auf all den rum-krakeelenden Köpfen, von denen keiner auch jemals nur in die Nähe eines totalitären Staates gekommen war?


Nichts.
Gar nichts außer selbstgerechtem Gefasel und beleidigtem Mitleid mit den Schuldigen, sofern sie denn die geliebten Idole waren und purem Hass auf die Opfer, die sich so aufdringlich ins Bild drängten. Und die nicht verzeihen wollten!
Ja! Wieso nur wollten ihnen diese Kaum-der-Rede-wert- Opfer eigentlich nicht verzeihen? Was hatten die bloß?
Das fragten sich ganz dringend auch die anderen, die nun schon immer dagegen gewesen waren.
Noch da auf der Straße fiel mir ein, wie fast 10 Jahre vorher ein als Che verkleideter Dämlack auf meiner Willkommens-Party auf der West-Seite urplötzlich recht ungehobelt zu mir gesagt hatte, seiner Meinung nach hätten DIE da oben das Geld, das sie für mich verplempert hätten, lieber nach Nicaragua bringen sollen, denn die bräuchten es viel nötiger als ich.
Für alle Jüngeren, die sich jetzt sicher fragen, was das andauernde Gerede über Nicaragua soll. Ich habe keine Ahnung. Ich habe es damals so wenig verstanden wie heute.


Die einzig logische Erklärung im Nachhinein wäre für mich, es war halt Mode. Ja. Ein zeit-geistig angesagtes Event. Das Paris Hilton der frühen Achtziger.
In jedem Fall etwas, bei dem man unbedingt mit-schwafeln musste und wie praktisch; ein, zwei und um ganz intellektuell zu wirken auch mal vier stereotype Sätze reichten aus um dabei zu sein. Bei der Masse, die sich avantgardistisch nannte und vor lauter angestrengter Zwangs-Individualität zu einem kaum noch als Einzelteile erkennbaren Haufen verschmolzen war.
Wenn ich mal davon absehe, dass mir seit diesem Zeitpunkt Typen, die sich so einen Che-Lumpen um die Rübe wickeln und sich sofort ganz, ganz, ganz, ganz doll fühlen per se widerwärtig sind, denn weder wissen sie wer Guevara wirklich war, noch interessieren sie sich im mindesten für die Opfer der von dem mit erdachten und errichteten Terror-Regime, bleibt immer noch die nicht zu übersehende Tatsache, dass alle diese stets von Frieden und Gerechtigkeit plappernden Dummköpfe in Wahrheit weder das eine im Sinn hatten noch das andere wollten.


Und dass sich alle miteinander nicht etwa als die BÖSEN sondern im Gegenteil als die GUTEN verstanden. Von ganzem – kindlich gekränkten – Herzchen.
Und das war es, was mich an jenem Tag auf der Straße wie ein Messer mitten in mein

Herz traf und für immer dort blieb. Und dieser Schmerz funktionierte schon bald fast wie ein Mess-Gerät.
Denn seitdem muss ich nur jemanden eine Weile reden hören – oder heutzutage alternativ schreiben sehen, dann weiß ich ohne jeden Zweifel, dass auch dies so eine Kreatur ist.
Sobald ich Sätze sehe wie: „Ich kann nicht lügen, dazu bin ich nicht fähig“ oder „Ich habe ein Helfer-Syndrom, ich muss einfach jedem helfen“ oder auch „Ich tue dies alles nur im Namen der Gerechtigkeit, des Friedens und meiner großen Güte, denn ich kann gar nicht anders“ schon wird mir spei-übel. Wobei das entscheidende Detail die vielfache Variation von: "Ich kann nicht anders!" ist.
Genau dann sehe ich es wieder vor mir. Das Gesicht jenes Abfall-Haufens, der mir drei Jahre später in einem Brief großmütig mein Fehl-Verhalten verzieh.


Klarerweise nicht ohne den Hinweis, dass ich nun - wollte ich mich nicht auf der Stelle als ganz und gar böser Mensche outen - gleichfalls ihm zu verzeihen hatte.
In Bausch und Bogen.
Und auch er schrieb mir, nein, er schwor Stein und Bein und auf das Leben seiner geliebten Omi, dass er jedem alles vergeben müsste, denn leider wäre er nun mal so gestrickt, obwohl ihm diese „dumme“ Gutmütigkeit nichts als Undank eingebracht hätte. Ich bin bis heute bereit auf mein Leben zu schwören, dass an jenem Tag mein Hirn kurz davor stand, sich aus Protest zu verflüssigen.
Eines aber begriff ich damals endgültig.
Es mag hunderte abgewandelte Arten dieser "Ich bin arm dran, weil ich so gut bin-Masche" geben.
Am Kern ändert sich nichts.
Dies sind sie, und daran kann man sie immer erkennen. Die Scheinheiligen und selbstgerechten Sich-selbst-in-die- Tasche-Lügner, just das bigotte Pack, das unentwegt von Fairness, Loyalität und Großzügigkeit faselt und das UNBEDINGT AUCH ANDERS sein will.


Jedoch in Wirklichkeit nichts mehr hasst, als die, die tatsächlich anders sind; die das haben, was sie niemals haben werden, egal wie laut sie schreien und zu wie vielen sie sich zusammen rotten mögen.
Und das ist auch so eine erbärmliche Tat-Sache. Dieser Art Schwächlingen folgen immer die noch Schwächeren nach. Eifrig und willig wiederholen sie die Worte und Taten derjenigen, die ihnen möglicherweise überlegen sind, aber eben nur ein ganz kleines Bisschen. Nicht mehr als sie ertragen können.
Sie sind der Schutzwall aus Fußabtretern gegen die Wahrheit der Anderen. Denn die darf es nicht geben und also gibt es sie nicht. So wenig wie Diskussionen oder Kritik. Das alles sind für jene nur Worte ohne Inhalt, inflationär gebraucht, doch hohl und leer. Und letztendlich unbegreiflich.
Und damit bin ich auch schon fast am Ende meiner Geschichte.
Jedoch nicht, bevor ich all denen, die sich nun angesprochen fühlen, aus tiefem Herzen und richtig fröhlich zurufe: Recht geschieht euch!


Was wollt ihr auch hier? Mit euren paar einstudierten Sätzen, die vielleicht bei euresgleichen funktionieren. Bei mir ganz sicher nicht.
Denn was glaubt ihr wohl, wie furchterregend ihr für mich sein könnt? Nicht einmal so wie der schwache Abglanz eines weit entfernten Echos auch nur eines einzigen jener meist im Rudel agierenden ganz normalen Staats-Diener jener längst vergangenen aber niemals vergessenen Tage. Denn dafür hielten die

sich. Auch wenn der be-diente Staats-Bürger am Ende meist kaum noch lebendig war.
Ich bin noch lebendig.
Und in Erinnerung an all das und um mich ganz bestimmt von all diesen vielen normalen Guten abzugrenzen, nenne ich mich seitdem: Das höfliche Böse.
Und was wärt ihr in jener Zeit und unter jenen Umständen gewesen?
Ich weiß es.
Und ihr wisst es auch.
Und auch alle anderen, die euch kennen und das hier nun gelesen haben.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.11.2008

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