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Der Moment der Verdammnis


Das Geräusch von Fingernägeln an einer Tafel ertönte und hinterließ eine Gänsehaut bei mir. Ich fuhr zur gleichen Zeit zusammen und setzte mich auf. Vollkommen desorientiert rieb ich mir den Kopf und nahm nach ein paar Sekunden einen widerlichen Gestank war. Es roch nach verfaultem Fleisch. Als ich etwas genauer hörte, bemerkte ich außerdem das Summseln von Fliegen, die nicht weit von hier umherschwirrten. Der Schlamm in meinem Gesicht fühlte sich trocken an und gab mir ein leichtes Gefühl mumifiziert zu sein. Langsam fand ich meine Kräfte wieder und stand mit großer Mühe auf. Bevor ich mich noch wieder zu Boden fallen konnte, hielt ich mich vorsichtshalber an einem nahe stehenden Stahltisch fest. Dort rutschte mir ein wenig getrockneter Schlamm in die Luftröhre und ich prustete augenblicklich, als hätte ich einen Asthmaanfall gehabt. Als ich endlich den trockenen Schlamm oder was auch immer es gewesen war, hervorgehustet hatte, sah ich mich begeistert um.
Der Ort an dem ich mich wieder gefunden hatte, war ein kleiner Raum ohne Fenster. Große leere Regale aus Metall standen rechts und links von mir und als ich meinen Blick vor mich schweifen ließ, entdeckte ich den Tisch an dem ich mich festgehalten hatte. Dort erkannte ich plötzlich auch, wieso ich dieses Geschwirr von Fliegen wahr genommen hatte und außerdem diesen fürchterlichen Gestank von verfaultem Fleisch. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, doch ich musste. Die Erklärung für meine Wahrnehmungen war eine Leiche. Ein, genauso wie ich, nackter und mit Schlamm bedeckter Körper. Es war eine blonde Frau mit so atemberaubend schönen blauen Augen, die mir nun mit kaltem Blick einen Stich in den Magen verliehen. Ich begutachtete sie weiter und merkte ihren ausgemagerten Körper. Ihre Rippen stachen regelrecht von ihr weg. Nur Haut und Knochen lagen auf diesem Tisch. Das Einzige, was sie trug, war eine goldene Kette, an der ein kleines Herz hing. Vorsichtig fasste ich es an, um es genauer betrachten zu können. Man konnte eine kleine Gravierung erkennen. Ich konnte nicht genau sehen, was dort stand, doch es sah aus wie "Alicia Springs" und auf der Rückseite "I love U". Wahrscheinlich hieß diese Frau so und sie musste wohl einen Liebhaber gehabt haben.
Wieder hörte ich das schrille Geräusch von Fingernägeln, die diesmal jedoch auf einem anderen Gegenstand kratzten. Es klang noch unangenhmer, sodass mein Magen sich verdrehter und ich zuckend nach Luft schnappte. Die einzige Tür im Raum sprang auf und verlieh mir beinahe einen Herzentfarkt. Ich erwartete, dass jemand den Raum betreten würde, doch es war niemand zu sehen. Ich blickte etwas tiefer und sah einen Hund. Ein Schäferhund, der die Zähne fletschte mit dem Blick auf mich gerichtet. Ich begann schon in Gedanken zu beten, als ich zusätzlich noch Schritte hörte, die eindeutig von einer Person stammten. Es könnte die Person sein, die die Frau auf dem Stahltisch umgebracht hatte oder jemand, der mir helfen könnte, wie zum Beispiel die Polizei. Doch um jenes Risiko zu vermeiden, versteckte ich mich hinter eines der Regale, was nicht besonders viel brachte, doch ich hatte keine anderen Möglichkeiten.
Ein gut gebauter Mann in einem schwarzen Anzug betrat das Zimmer. Als ich seinen Anzug genauer ansah, las ich "POLICE". Und damit waren all meine Sorgen verschwunden. Ich zeigte meine nackte Gestalt langsam und unsicher. Der Mann drehte sich zu mir und zielte die Pistole in seinen Händen ein wenig erschrocken auf mich. Ich hob instinktiv die Arme und viel vor Schreck auf die Knie. Der Mann fragte mich nach meinem Namen. Ich wollte ihm antworten, doch mit einem Mal grummelte mein Magen so laut, dass es uns beide beeindruckte. "Erin Chessmarie", antworte ich ihm schließlich.
"Alles klar, Erin. Kommen Sie zu mir. Ich werde Verstärkung und einen Krankenwagen rufen. Es wird alles wieder gut, Erin, keine Sorge", sprach er mit ruhiger Stimme. Ich wollte ihm glauben, doch etwas in meinem Kopf erlaubte es mir nicht. Trotzdem gehorchte ich ihm und näherte mich der Tür von der er gekommen war.
"Officer. Dort liegt jemand. Sie ist tot", brachte ich heraus, als ich noch einen letzten Blick in den dunklen Raum warf.
"Ich kümmere mich um sie", versicherte er mir mit einem Hauch Verzweiflung in der Stimme.
Mit zitternden Händen fasste ich mich die Stiegen hinauf und fand nach wenigen Sekunden eine große grüne Tür, die ein Schild trug, auf dem "Ausgang" stand. Sofort öffnete ich die schwere Tür mit all meiner verbliebenen Kraft und verließ das Gebäude mit freiem Gefühl. Aus lauter Glücksehligkeit fiel ich nochmals auf die Knie und legte mich mit einem kleinen Lächeln und geschlossenen Augen ins trockene Gras und wartete dort für ungefähr fünfzehn Minuten auf die Verstärkung und den Krankenwagen, der mich sofort behandelte.

Ein Mensch mit Hoffnung


Ich hörte wie die kleinen Räder unter mir auf den Linoleumboden rollten und manchmal quietschten. Da wurde mir klar, dass ich in einem Krankenhaus war. Ich öffnete die Augen und sah Ärzte und Krankschwestern neben mir laufen. Sie schienen das Bett auf dem ich lag einen langen Gang entlang zu ziehen bis wir in einen relativ großen Raum gelangten. Es erinnerte mich an einen OP-Raum.
Plötzlich versank ich in meinen eigenen Gedanken und erinnerte mich an Bilder und Geräusche, die mich so derartig erschreckten, dass ich am ganzen Körper zuckte. Ich sah mich auf so einem Stahltisch, wie bei der Leiche von Alicia, die ich gefunden hatte. Ich wurde für tot gehalten. Das nächste Bild zeigte einen Arzt neben mir, der mich aufschlitzte. Das letzte Bild wie ich durch den schmerzhaften Y-Schnitt aufwachte und beängstigt auf das Blut starrte, dass in großen Mengen von mir floss. Noch dazu hörte ich meinen eigenen Schrei, der aus meinem Mund ertönte, als sie mich zurück auf den Tisch drückten. Mit viel Kraft schafften die Ärzte meine Gliedmaßen an den Ecken des Tisches fest zu binden und verpassten mir gleich darauf eine Spritze. Ein letzten Schrei ertriss mir, indem man meinen Schmerz hören konnte. Dann lag ich still.
Ich atmete stoßweise und schlug die Augen auf. Ich wollte aufstehen und weglaufen. Dieser Raum gefiel mir nicht. Er trug Erinnerungen von denen ich zuvor nichts gewusst hatte. Irgendjemand musste etwas Furchtbares mit mir gemacht haben und ich musste herausfinden wer und was.
Ich setzte mich schnell auf und sprang von dem Bett. Sofort blieben die Ärzte stehen und liefen mir schon nach den ersten Metern keuchend hinter her. Sie schrien andere Ärzte an: "Haltet sie auf!" Doch keiner konnte so schnell reagieren. Ich flitzte durch die Gänge und folgte einfach dem grünen Schild auf dem ein Männchen, das durch eine Tür ging, abgebildet war. Das Ausgangsschild. Als ich eine schwere Glastür nach vorne schob, fand ich endlich wieder Sonnenlicht, das meine mit Schweiß bedeckte Haut zum glänzen brachte. Ich atmete tief ein und hörte schon wieder im Hintergrund die Ärzte. Schnell lief ich eine Straße entlang, dann auf die andere Straßenseite. Dabei hüpfte ich über die Autos, die gerade in einem Stau standen. Mit nur einem dünnen Kittel flog ich regelrecht durch die Straßen und wunderte mich, wieso auf einmal alles so leicht für mich war. Wie eine Feder sprang ich von einem Ort zum nächsten. Und so hatte ich die Männer in dunkelblauen Kleidern abgehängt. Ich musste zugeben, dass ich Spaß dabei gehabt hatte und kicherte leise, als ich endlich stehen blieb.
Vor mir stand ein großer Mann in einem grauen Anzug und einer schwarzen Krawatte. Ich sah ihn verwundert an. Er sah mich mit gleichem Blick an, als wäre er mein Spiegelbild.
"Guten Tag, Erin", sagte der Mann.
Woher kennt der meinen Namen?, dachte ich.
"Ähm ...", stotterte ich "Hallo."
"Wissen Sie nicht mehr, wer ich bin?", fragte er verwundert.
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich bin der Officer, der Sie gefunden hat. Wissen Sie noch? Der Raum, wo die Leiche lag?"
"Ach ja!", sagte ich, als er meine Erinnerung wieder weckte.
Er lächelte und meinte: "Miss Chessmarie, ich muss mich entschuldigen, aber Sie sehen nicht viel besser aus, als vor ein paar Tagen, als ich Sie gefunden habe. Und so wie Sie gekleidet sind, kann ich wohl nicht behaupten, dass Sie so von dem Krankenhaus entlassen wurden. Kommen Sie, ich bringe Sie zurück.", sagte er mit besänftigender Stimme, doch ich musste mich ihm widersetzen.
"Nein", sagte ich schnell.
"Wie bitte?"
"Ich möchte nicht zurück."
"Aber Sie brauchen doch keine Angst zu haben. Das Krankenhaus, wird Ihnen nur eine angenehme Unterkunft bieten und Menschen, die sich rund um die Uhr um Sie sorgen werden."
"Ich möchte nicht!", sagte ich nun etwas lauter.
Der Officer starrte mich an. "Wieso denn nicht?"
Ich schüttelte den Kopf mit zusammengekniffenen Augen und versuchte die Bilder zu unterdrücken, die sich wieder zeigen wollten.
"Dann kommen Sie. Sie brauchen andere Kleider und etwas zu essen", sagte er sofort, als er meinen Gesichtsausdruck sah.
"Danke", flüsterte ich leise, als ich ihm folgte.
Er führte mich in eine Shopping-Street, wo ich mir ein Outfit aussuchen durfte. Ich wählte bei einem Geschäft namens Peek&Kloppenburg eine grau karierte Bluse und eine dunkelblaue Jeans. Danach gingen wir zu McDonald's. Der Officer aß einen Burger und ich gleich drei, als ich nach dem ersten merkte, wie hungrig ich eigentlich war. Der Mann konnte nur lächeln. Es schien, als würde es ihn glücklich machen, mir zu helfen.
Als ich endlich satt war, ließ ich meinen Blick an seinem Anzug tiefer schweifen und entdeckte eine kleine Visitenkarte, die ihm beinahe aus der Innentasche fiel.
"Sie haben da", fing ich an und zeigte auf die Karte.
"Ach ja, danke. Davon können Sie gleich eine haben." Er nahm eine Visitenkarte heraus und steckte die restlichen tiefer in die Innentasche.
"Danke", sagte ich und lächelte ihn an, als er mir das kleine Sück Papier reichte.
"Kein problem", meinte er und lächelte zurück. "Sind Sie fertig?"
Ich nickte. "Bitte duzen Sie mich doch, wenn es Ihnen nichts ausmacht."
"Na gut, wenn du willst, aber das gilt auch für dich."
Ich nickte noch einmal.
Wir standen auf und verließen den Fast-Food-Shop, dann wanderten wir ein wenig in Richtung eines großen Parks. Währned dessen fragte mich Harry Goldberg, so hieß es auf der Karte, aus. Er wollte wissen, wieso ich Angst hatte, wieder in das Krankenhaus zu gehen. Ob ich mehr über den Vorfall wusste. Ob ich Alicia Springs gekannt hatte, doch ich konnte ihm zu wenigen Fragen eine nützliche Antwort geben. Nachdem er durch diesen furchbaren Bildern und Geräuschen in meiner passiven Erinnerungen schlauer geworden war, sah er mich mit verächtlichem Blick an.
"Das ist ja schlimm."
Ich nickte zustimmend.
"Und du hast wirklich keine Ahnung, wann das passiert sein könnte?", fragte er vorsichtig und legte mir eine Hand auf die Schulter.
Ein wenig durcheinander blickte ich auf seine Hand, als suchte ich dort nach der Antwort, doch es endete nur mit einem Kopfschütteln.
"Na gut, lass wir das Thema jetzt einmal fallen. Wo lebt deine Familie?"
Ich zuckte mit den Schulter. "Ich weiß nicht."
"Du weißt nicht, wo deine Familie ist?", fragte er mit großen Augen.
Wieder nur ein Kopfschütteln.
"Wo willst du denn übernachten?"
"Darüber hab ich noch nicht nachgedacht."
Noch weiter öffneten sich die Augen des Officers. "Wie alt bist du denn?"
"Ich bin sechzehn."
"Hmm", machte er, setzte die Stirn in Falten, starrte mich an und zupfte an seinem Bart. "Dann übernachtest du bei mir. Aber nur eine Nacht! Verstanden?"
Ich nickte entschuldigend.
"Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen wieder und er brachte mich in einem Taxi zu sich nach Hause.
Ein wenig ungeduldig wartete ich vor der Wohnungstür, während Harry nach dem richtigen Schlüssel suchte.
"Wohnen Sie alleine?", fragte ich kleinlaut.
"Jein", antwortete er.
"Das heißt?"
"Das heißt, dass kein menschliches Wesen mit mir da drin wohnt, aber ein Katze, die ich vor einem Jahr gerettet habe. Bist du gegen Katzen allergisch?"
"Ich glaube nicht", sagte ich unsicher.
"Na dann", sprach er und öffnete endlich die Tür.
Ich trat ein und fand links von mir eine kleine Küche, rechts von mir einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen daneben. Dann bewegte ich mich weiter vorwärts durch einen schmalen Gang, links waren zwei Türen und rechts eine etwas breitere, als die anderen.
Harry führte mich zuerst durch die rechte Tür, wo sich das Wohnzimmer befand. Es bestand aus einem kleinen Ledersofa, einem Kaffeetisch und einem alten Fernseher. Danach ging es in eins der anderen zwei Räume, wo sich das Badezimmer befand und im letzten Raum das Schlafzimmer.
"Wo werde ich schlafen?", fragte ich leise.
"Auf dem Sofa. Ich hab leider nichts anderes. Ist das okay?"
"Kein Problem", sagte ich etwas selbstsicherer und lächelte ihn glücklich an.
Er lächelte zurück. Für den Rest des Abends gingen wir nicht mehr hinaus. Er stellte mir nur seine schwarze Katze, Midnight, vor und ließ sich dann mit mir vor seinem kleinen Fernseher nieder. Um 10:15 Uhr gingen wir beide schlafen.
Ich starrte Löcher an die Decke und lauschte ruhig dem Plätschern des Regens an dem Fenster hinter dem Sofa, auf dem ich nun lag. Ich seufzte und versank in das Land der Träume.

Superman


Gerade als ich mir die Decke nach meiner ersten erholsamen Nacht vom Leib ziehen wollte, klopfte es an der Tür des Wohnzimmers, indem ich mich befand.
"Ähm, Erin? Bist du schon wach?", fragte mich Harry unsicher und öffnete die Tür einen schmalen Spalt. Ich strahlte, als ich eines seiner grünen Augen durch den Spalt hervorblicken sah.
"Ja, du kannst reinkommen!", rief ich glücklich.
"Na, super!", sagte er und betrat das Zimmer. Ich hatte das Gefühl, als würde in seinem Magen gerade genau das Gleiche wie in meinem vorgehen. Freude in Übermaßen ... und großer Huger. Dennoch lächelte er mich glückselig an. Ich war in meiner Decke eingehüllt, weil ich normalerweise mit nur wenig Klamotten schlief, denn ich mochte das Gefühl so warm angezogen zu sein einfach nicht. Nun trug ich nur einen BH und meine Panty. Harry trug auch nicht viel mehr als seine Unterwäsche: Unterhemd und seine Boxer-Short. Mein Gesicht lief leicht rot an, als ich ihn von oben bis unten musterte.
Ich räusperte mich.
"Sag mal, was hättest du denn gerne zum Frühstück?", fragte er, nachdem er wegen meiner roten Wangen, anfing leise zu lachen.
"Völlig egal, Hauptsache: Essbar."
"Also gut, komm doch in die Küche und leiste mir Gesellschaft."
"Ähm", machte ich schüchtern, "ich muss mich noch anziehen und dann komme ich sofort", sagte ich fast entschuldigend und lächelte ihn unschuldig an.
"Okay, kein Problem. Möchtest du Kaffee?"
"Nein, danke", antwortete ich immernoch mit freundlichem Lächeln auf den Lippen.
Dann verließ er das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Als ich hörte wie seine Schritte in Richtung Küche gingen warf ich die Decke von mir und schlüpfte schnell in die Kleidung, die mir Harry am vorherigen Tage gekauft hatte. So schnell ich konnte sauste ich zum anderen Ende des Zimmers, wo ein Spiegel stand und ich mir schnell versuchte die Haare zurecht zu kämmen – vergebens, da ich nicht einmal eine Bürste oder einen Kamm bei mir hatte. Ich seufzte mein Spiegelbild an und schob die Unterlippe vor.
"Mist", flüsterte ich. Dann ließ ich es einfach bleiben und ging schnell in die Küche, wo Harry schon fleißig am Herd kochte oder wohl eher backte, so wie das roch.
"Hmm", machte ich und fragte neugierig, was für eine Köstlichkeit mich da erwartete.
Er kicherte und meinte er würde French Toast machen.
Das Wasser lieg mir im Mund zusammen und ich setzte mich benommen auf den Anrecht neben ihm.
"Hast du gut geschlafen?", fragte Harry freundlich.
"Ja, wunderbar. Danke, dass ich hier schlafen durfte. Danke, für alles."
"Hey, keine Ursache, mach ich doch gern."
Als er den Satz beendete, legte er die zwei Toasts von der Pfanne auf die zwei Teller, die er schon neben ihm bereit gestellt hatte. Dann nahm er sie und stellte sie auf den kleinen runden Tisch, wo er sich auch gleich anschließend auf einen der Sessel setzte.
Sofort setzte ich mich zu ihm und genoss das köstliche Frühstück.
Während wir beide still vor uns hin aßen fasste ich endlich den Mut, um zu sprechen.
"Jetzt bin ich dran."
"Womit?", fragte er verwundert.
"Ich möchte mehr über dich wissen."
"Hmm, okay", meinte er und zuckte die Schultern. "Frag mich 'was."
"Wie alt bist du?"
"Zweiundzwanzig."
"Ach echt? Du siehst aber älter aus."
"Das sagen die meißten, ich weiß."
"Hast du schon oft Leuten das Leben gerettet?"
"Ziemlich oft, ja."
"Wow, ein richtiger Held", sagte ich überwältigt und zugleich auch spaßend und boxte ihm leicht an die Schulter.
"Ich mach nur meinen Job", sagte er wieder achselzuckend und lachte kurz auf.
Nach diesem Satz versank ich kurz in Gedanken.
Wieso hatte Harry mich überhaupt bei ihm schlafen lassen? Er hätte mich auch einfach wieder zurück in das Krankenhaus bringen können. Wieso gab er ausgerechnet mir eine Chance? Es konnte doch nicht bloß Mitgefühl sein. Oder? Mit den Worten "Ich mach nur meinen Job" brachte er mich durcheinander. Zählte er das, was er für mich getan hatte, zu seinem Job, oder war das nur er selbst, der mich eingeladen hatte? Viel zu viele Fragen schwirrten mir im Kopf umher, daher ließ ich sie vorerst fallen und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt.
"Alles in Ordnung?", fragte mich Harry schon etwas besorgt.
Ich schüttelte den Kopf und antworte kurz und knapp: "Ja, ja."
"Sicher?"
"Ja, alles okay."
"Hmm, ... okay. Worauf hättest du heute Lust?"
"Ich weiß nicht, schlag 'was vor."
"Wir können alles Mögliche machen. Nochmal shoppen gehen", sagte er und kicherte scherzhaft, "oder in einen Vergnügungspark gehen, oder einfach nur spazieren gehen, oder auch einfach nur zuhause anhängen."
"Wir könnten spazieren gehen oder zuhause bleiben."
"Okay, wir können folgendes machen. Wir bleiben heute Vormittag noch zuhause und nach dem Mittagessen gehen wir raus. Ist das okay für dich?"
"Na sicher!", sagte ich.
Und so war es dann auch. Wir verbrachten den Vormittag bei ihm in der Wohnung. Wir saßen auf dem Sofa und spielten UNO, während ich mich mit Midnight etwas vertrauter machte. Dann am Nachmittag gingen wir hinaus in einen Park, plauderten über verschiedene Dinge und genossen die strahlende Sonne. Zwei Stunden später kamen wir auch schon wieder zuhause an. Spät abends, als wir ins Bett gingen und ich schon im Halbschlaf war, sah ich eine kurze Vision von Midnight.
Die schwarze Katze schmiegte sich an mich und schnurrte vor sich hin, als plötzlich die Wohnungstür aufsprang und ein Mann in komplett schwarzer Kleidung das Zimmer betrat. Er röchelte etwas Unverständliches, packte Midnight vor meiner Nase und biss sie. Das Blut spritzte in alle Ecken des Raumes, als die Katze vor mir zerfetzt wurde. Ich selbst sah nur zu und war vollkommen versteinert. Als der geheimnisvolle Mann mit der Katze fertig war, sah er mich an und wollte schon mich packen, als ich sofort aufwachte, stoßweise atmete und die Augen aufschlug. Ich hörte vor mir ein Miauen und sah Midnight auf meinem Bein balancieren und vor sich hin schnurren. Sanft drückte ich sie gegen mein Herz und atmete tief durch. Ich konnte auf keinen Fall weiterhin hier alleine schlafen. Ich hatte furchtbare Angst. Ich wollte zu Harry.
Ich stand auf und kam vor Harrys Schlafzimmertür. Langsam öffnete ich sie und schlich mich hinein. Dort befand sich ein XXL-Einzelbett, wo er lag.
"Erin?", hörte ich seine Stimme sagen.
"Ja, ich bin's", flüsterte ich zurück.
"Was ist los?"
Ich zögerte.
"Hmm?", fragte er durcheinander.
"Darf ich", wieder zögerte ich, "darf ich mich zu dir hinlegen?"
"Ähm, sicher."
Ohne Weiteres, legte ich mich zu ihm und da es nicht anders möglich war, legte er den Arm um mich, sonst würden wir nur schwer beide auf das Bett passen. Seine große Hand, die auf meinem Bauch lag, streichelte mich mit langsamen Bewegungen. Sofort schloss ich die Augen und schlief schon im nächsten Moment tief und fest.

Der Alltag Setzt Fort


Da saß ich nun am Tisch und aß das gleiche Frühstück, das mir Harry am Vortag auch zubereitet hatte. Er saß gegenüber mir und sah zu, wie ich speiste.
"Wieso isst du nichts?", fragte ich verwundert.
"Hab keinen Hunger."
Ich nickte, als hätte ich ihn verstanden. Wie kann man den Tag ohne Frühstück beginnen? Undenkbar für mich.
Ich merkte jedoch, wie sehnsüchtig er auf meinen Teller sah. Ich grinste.
"Bist du sicher, dass du nichts von mir willst?"
"Ganz sicher."
Er überzeugte mich nicht gerade sehr. Also gabelte ich ein Stückchen French Toast auf und hielt es vor seine Nase.
"Nimm einen Bissen", sagte ich lächelnd.
Er sah mich überrascht an, was mich nicht wunderte. Wer würde schon von dem selben Besteck einer Person essen, die man erst kürzlich kennen gelernt hat? Doch überraschender Weise nahm er mein Angebot an und strahlte danach etwas verlegen.
"Hast du 'was dagegen, wenn ich dir ein paar Fragen stelle?", fragte er mich langsam.
Ich schüttelte den Kopf.
Er öffnete seinen Mund, doch zögerte. Ich ahnte schon, was er mich fragen wollte.
"Was war gestern Nacht los?", brachte er schließlich heraus.
"Ich hatte im Halbschlaf so eine Vision, die mich wohl sehr erschreckt hat."
"Oh", machte er, "möchtest du darüber reden?"
"Im Moment nicht, vielleicht später", antwortete ich bedrückt und schluckte laut den Bissen French Toast hinunter.
"Alles klar", meinte er und damit war die Unterhaltung beendet.

Nach dem Essen setzten wir uns gemeinsam auf das Sofa.
"Harry?", fragte ich.
"Ja."
"War es schlimm, dass ich gestern zu dir gekommen bin?"
"Nein", sagte er etwas leiser, als sonst.
Ich grinste innerlich groß und konnte deswegen außerhalb ein winziges Lächeln nicht unterdrücken. Damit er es nicht sehen konnte, setzte ich mich näher an ihn, lehnte mich leicht an seine Schulter und winkelte meine Beine an, damit ich meinen Mund dahinter verstecken konnte. Doch egal, wie viel Mühe ich mir gab, er hatte es gesehen und lachte.
"Na gut, anderes Thema", meinte er, als würde es ihm langsam zu peinlich werden. "Hast du etwas dagegen, wenn ich ein paar Freunde heute Abend zu mir einlade?"
"Nein", sagte ich und versuchte sie mir sogleich vorzustellen.
"Okay, aber du kriegst etwas anderes zum Anziehen. Pass auf, du gehst dich duschen und ich laufe schnell zu einem Geschäft, wo ich dir 'was neues hole, okay?"
Ich nickte und lachte innerlich. Was er mir wohl mitbringen würde? Ob er sich bei so etwas auskennt?, dachte ich mir und versuchte ein Kichern zu unterdrücken.
Harry merkte davon nichts und führte mich in das Badezimmer, legte mir ein Handtuch neben die Dusche und erklärte mir, wie er die sie benutzte. Anscheinend war es komplizierter mit dieser Dusche, als bei einer normalen. Das Problem bei dieser war das warme Wasser, dass wohl die Wohnung nicht erreicht. Und so hatte Harry einen Trick herausgefunden, den er mir nun erklärte. Dann sagte er noch kurz, dass ich alle Produkte, wo "For Men" stand auch benutzen konnte. Ich würde nur etwas männlicher riechen, aber das würde niemanden stören. Als er den Satz beendete, verabschiedete er sich gleich und war auch schon im nächsten Moment verschwunden.
Nun war ich seit langem wieder absolut allein. Ich watschelte langsam vor den Spiegel über dem Waschbecken und erschrak vor meinem eigenen Anblick. Die dunklen Augenringe und die blasse Haut störte mich am meißten. Wie kann Harry bloß so ein Monster bei sich wohnen lassen?, fragte ich mich und da ich das ändern wollte, zog ich mich aus und stieg sofort in die Dusche. Ich nutzte die Dusche, wie er es mir erklärt hatte. Während dessen merkte ich, dass all seine Produkte von Nivea waren und lächelte. Zuerst Shampoo, dann Spülung, einwirken lassen und Körper mit Shower Creme einreiben, wieder wegspülen, Spülung wieder auswaschen und raus aus der Dusche. Ich trocknete mich behutsam und sanft an den blauen Flecken, die ich entdeckt hatte. Ich sah wieder in den Spiegel und konnte mich auf einmal besser leiden. Na bitte! Gesichtsfarbe sieht sogar besser aus!, dachte ich mir, als ein Lächeln auf meinen Lippen wuchs. Ich band das Handtuch um meinen Körper. Nun konnte ich nur noch auf ihn warten. Gelangweilt stand ich etwa fünf Minuten vor dem Spiegel und setzte mich schließlich auf den kühlen Boden, der mit weißen Fliesen bedeckt war und seufzte. Dann, nach weiteren fünf Minuten stand ich wieder auf und ging in die Küche, machte den Wasserkocher an und überprüfte noch einmal, ob das Handtuch immer noch richtig an Stelle saß und das tat es.
Wenig später goss ich mir einen Tee ein und trank ihn langsam am Tisch, als die Tür aufging.
"Hey, Erin", sagte Harry halblaut, als er durch die Tür kam und sie dann hinter sich zusperrte, "Ich hab hier ein paar neue Sachen für dich, ich hoffe ich hab die richtige Größe für dich erwischt."
"Das wird schon irgendwie passen", sagte ich freundlich und fasste in die Tüte, die er mitgebracht hatte. Ich fand ein weißes Shirt, eine kurze Hose (etwas zu kurz für meinen Geschmack) und eine Jeansjacke. Ich griff noch etwas tiefer und zog eine angenehme, schmuddelige, viel zu große Jogginghose heraus.
"Ah, das ist für mich", sagte er und nahm es mir aus der Hand.
Ich griff also noch einmal hinein und fand einen Dreier-Pack Unterhosen. Ich starrte auf das Etikett auf dem stand: Panty, Größe: 36-38. Es wunderte mich, dass er sich tatsächlich traute mir Unterwäsche zu kaufen. Während ich überlegte, griff Harry noch einmal in die Tüte und holte zwei Paare Bhs heraus und wurde leicht rot im Gesicht.
"Ich kenne mich bei so etwas ja nicht aus, aber vielleicht magst du sie anprobieren."
Ich lachte und nahm es ihm aus der Hand.
"Klar", lachte wieder, "mach ich."

Der Pokerabend


Im Badezimmer pobierte ich die Unterwäsche also an. Die Panties passten ohne Zweifel, doch die BHs in Größe 75 B waren etwas zu groß. So kam ich auf die Idee mir Klopapier in den BH zu stopfen, damit sie nich auffallend zu groß aussahen. Es half etwas, doch wirklich perfekt sah es letzten Endes auch nicht aus. Dann zog ich das Shirt an und die Hose und schließlich die Jeansjacke die ich an den Armen hochkrämpelte, damit es besser aussah. Ich posierte ein wenig vor dem Spiegel und kam zu dem Schluss, dass ich absolut zufrieden war. Dann klopfte es an der Tür.
"Komm rein!", rief ich.
Harry öffnete die Tür und gab mir ein Paar frische Socken und ein Paar Converse, die überraschender Weise in meiner Größe waren: 39.
"Danke", sagte ich und lächelte ihn an.
Er lächelte ebenfalls.
"Und passt alles?", fragte er dann neugierig.
"Fast alles, aber das geht schon."
"Okay, cool."

Harry und ich verbrachten den Tag noch miteinander bevor die Gäste kamen. Er führte mich quer durch die Stadt, kaufte mich einmal ein Eis und um 5 Uhr waren wir schon wieder zuhause. Um 6 Uhr kamen die Gäste. Es waren nur Männer im Alter von 19 bis 26 Jahren. Als sie eintrafen, merkte ich wie mich alle so eigenartig an grinsten, sodass es mir fast Angst machte. Im Laufe des Abends konnte ich mich jedoch halbwegs an sie gewöhnen und es war zu ertragen. Im Endeffekt waren sie alle ziemlich freundlich zu mir. Harry und seine Freunde spielten an dem kleinen Tisch Poker mit schallendem Lachen, während ich glücklich neben ihnen saß und zusah.
"Na, Harry? Was setzt zu jetzt, da du nichts mehr hast? Deine süße Schnalle?", fragte er schon angesoffen von dem Bier, das sie alle tranken.
Ich horchte sofort auf.
"Red' nicht so bescheuert über sie!", brüllte ebenfalls betrunken.
Ich reagierte sofort.
"So, das reicht jetzt mit dem Bier", sagte ich mit ruhiger Stimme und nahm alle Flaschen am Tisch weg.
Alle Männer quängelten wie kleine Kinder, um das Bier, doch ich ließ mich nicht bezwingen bis einer von ihnen aufstand und auf mich zukam. Er sah groß aus und vor allem sehr böse. Mein Herz klopfte schneller und ich krallte meine Finger am Anrecht in der Küche fest. Kurz vor mir blieb er stehen.
"Du!", sagte er laut und ich roch seinen entsetzlichen Atem, "Gib uns unser Bier, oder du kriegst 'was zu hören ... oder wer weiß? Vielleicht auch zu spüren!", beendete er seinen Satz mit einem fiesen Grinsen im Gesicht, während hinter ihm zwei der anderen Männer seinen Namen jubelten.
Unsicher nahm ich eine Flasche hinter mir in die Hand und reichte sie ihm zitternd.
"So ist es brav!", brüllte er.
Doch ich weigerte mich ihm die restlich Flaschen zu geben, denn ich hatte Angst, dass mir bei so vielen alkoholisierten Männern vielleicht etwas zustoßen könnte. Ich sah seinen fordernden Blick. Er machte mir immer mehr Angst. Doch da ich mich nicht vom Fleck bewegte, packte er mich an der Taille und schob mir, oder fast schubste mich kraftvoll in die Ecke, wo ich sofort hinfiel. Er nahm das Bier und stellte es an den Tisch.
"So, Harry, und jetzt setz endlich etwas, sonst wird's echt langweilig hier!"
"Ich setze", er machte eine Pause, um die Spannung zu steigen, "Erin!"
Mir stockte der Atem.
"Na bitte!", rief der Mann, der übrigens von den anderen Blaster genannt wurde und lachte laut. Die anderen Kerle stimmten ein.
"Komm her, Süße", sagte Harry mit zwinkerndem Auge zu mir.
Ich wollte ihm nicht glauben, ich wollte ihm nicht trauen, doch etwas zog mich gewaltig zu ihm. Also stand ich langsam auf und ging unsicher auf ihn zu. Sobald ich kurz vor ihm war, zog er mich mit einem Arm an der Hüfte auf seinen Schoß.
Es wurde still im Raum und allen lagen mit ihren Blicken auf mir bis Blaster die Stille unterbrach.
"Weißt du was, Harry? Mir macht das Spiel keinen Spaß mehr, aber wenn ich mir diese Schönheit hier ansehe, dann würd ich doch glatt mit ihr spielen wollen."
"Ja", sagte Harry, "das is gar keine so schlechte Idee!"
Mein Herz schlug noch schneller und ich wollte aufstehen, doch Harry hielt mich fest. Er flüsterte mir ins Ohr: "Na komm, meine Süße, wie wär's wenn du dich mal von den Kleidern befreist, die ich dir gegeben habe? Die sind doch zu groß hast du gesagt."
"Ja, Süße, mach das", sagte ein anderer der Männer.
"Nein", schrie ich und wollte mich von Harry's Fängen befreien, doch er war zu stark. "Lass mich los!", rief ich. Doch das tat er natürlich nicht. Statt dessen stand er auf und drückte mich an die Wand, sodass mein Rücken zu ihm zeigte.
"Okay, Jungs, ich krieg echt Mordshunger auf sie und es wird Zeit, dass ihr geht, bevor ich euch noch traumatisiere", sagte er und lachte. "Das war mein Ernst! Los, raus hier!", rief er nun ernst.
Mit ihm schien wohl nich zu spaßen sein, denn er dauerte nicht lange bis alle Jungs die Wohnung verließen. Sobald die Tür geschlossen war, ließ er mich los, ich fiel kraftlos zu Boden und wollte nur weinen.
"Jetzt geh schon ins Wohnzimmer bevor ich dir wirlich etwas antue."
Ich sah ihm fragend in die Augen, während eine Träne mein Auge verließ. Wieso benahm er sich so eigenartig? Er war doch sonst nie so. Ich musste zugeben, dass ich ihn noch nicht lange kannte, doch trotzdem hätte ich mir so ein Verhalten bei ihm nicht vorstellen können und vor allem seine Freunde verblüfften mich! Wie konnte so ein netter und anständiger Officer solche Freunde haben. Das war für mich, als würde das Gute sich mit Bösen anfreunden und sich aber trotzdem gegenseitig nerven und wehtun. Eigenartig, dachte ich nur, eigenartig.
Er zog mich an den Armen herauf und setzte mich auf den Stuhl. Als ich seinen Blick sah, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und weinte und wimmerte vor ihm.
"Tut mir Leid", gab er leise zu und ging in sein Zimmer. Hinter sich knallte er die Tür zu und ich weinte sofort lauter. Ich, Heulsuse! Ich stand auf und ging schwach ins Wohnzimmer, wo ich mich sofort auf der Couch niederließ und das Kissen in meine Tränen tränkte.

Gedankenverloren


"Alicia! Alicia!", hörte ich jemanden rufen. Alicia? Den Namen kenne ich doch von irgendwo. Alicia Springs? "Alicia Springs, wo bist du?", hörte ich wieder. Bin ich in einem Traum? Alicia ist doch tot, oder? Natürlich ist sie tot, ich habe sie doch gesehen. Ich redete mit mir selbst. Armselig!, dachte ich.
Ich blinzelte mit den Augen und spürte langsam meine Umgebung. Ich lag irgendwo, wo es Schlamm gab. Im Matsch lag ich wohl. Ich öffnete die Augen nun ganz und ließ sie durch die Gegend kreisen. Erschrocken sah ich nach oben. Ich sah nichts, als schwarz. Wo war ich bloß? Ist das vielleicht doch kein Traum? Ich setzte mich langsam auf und bemerkte meinen Bauchmuskelkater, der mich etwas dabei quälte. Als ich mich besser umsehen konnte, sah ich, dass ich in einer Müllhalde lag, die vom Regen feucht geworden war. Es stank fürchterlich. Bevor diese unzähligen Fragen wieder in meinen Kopf huschen konnten, versuchte ich mit aller Mühe aufzustehen und schaffte es nach überraschend wenig Zeit. Da stand ich nun und hatte keine Ahnung wie ich hier her gekommen war und warum wor allem. Ich war auf einer alten Spülmaschine, ein paar Bananenschalen, ein paar Dosen und außerdem zwei benutzten Kondomen. Plötzlich hörten ich, wie hinter mir viele Dosen von irgendwo herunter donnerten. Ich drehte mich erschrocken um, doch konnte niemanden entdecken, außer eine Katze. Langsam kniete ich mich auf die Spülmaschine und lockte sie näher zu mir. Als wäre ich ihr Herrchen, spazierte sie so elegant, wie es nur ging, zu mir. Eine schwarze Katze war es und nicht irgendeine, sondern Midnight. Die Situation erschien für mich in dem Moment sehr rätselhaft. Gerade eben hatte ich noch Alicia Springs Namen rufen hören und es hatte geklungen, als hätte es ein Mann verzweifelt, nicht weit von hier geäußert. Und warum war Midnight hier auf dieser Müllhalde? Ich streichelte die Katze, die ihren Kopf meiner Hand sofort entgegenstreckte. Ich schmolz innerlich dahin. Sie schnurrte zufrieden und für einen Moment war ich genauso zufrieden wie sie, doch dann blitzte mir wieder der Name Alicia in den Kopf. Da hörte ich ihn wieder!
"Alicia! Alicia, wo bist du?", hörte ich die Stimme des Mannes wieder rufen, immer verzeifelter.
Ich beschloss ihm entgegen zu kommen. Also ging ich seiner Stimme nach und wie ich es mir schon gedacht hatte, folgte mir Midnight dabei.
"Alicia?", war es wieder.
"Hallo?", rief ich entgegen.
"Wer ist da?", erwiederte er erschrocken.
Ich kam ihm immer näher. "Ich", ich stotterte, als ich ins Schwanken geriet, wegen einer Dose, über die ich beinahe gestolpert wäre, "ich bin Erin ... und Sie?", beendete ich meinen Satz und sah den Mann nun schließlich. Er erblickte mich sofort und musterte mich von Kopf bis Fuß.
"Ich heiße Javier", sagte er und sprach das "J" dabei wie ein "H" aus, sodass man hörte, dass er wohl aus Spanien kommen musste oder so. "Haben sie meine Freundin gesehen? So ein blonde, junge Frau, blaue Augen und so."
Ich schüttelte mit bedrückter Miene den Kopf. Es tat mir Leid, dass ich ihn enttäuschen musste, denn er sah so verloren aus. Noch dazu hatte er auch so viel Schlamm im Gesicht wie ich. Er sah mich traurig an und seufzte seine letzte Hoffnung aus. So sah es zumindest für mich aus.
"Was ist denn mit ihr? Und warum suchen Sie hier nach ihr?", fragte ich ihn leise.
"Ich weiß es auch nicht genau. Alicia hatte heute Vormittag eine Operation und seit dem habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie hat mich nicht einmal angerufen, obwohl ich sie darum gebeten hatte das zu tun, sobald die Narkose nachlässt und sie aufwacht. Also habe ich versucht sie zu erreichen, doch sie hatte ihr Handy aus, nehme ich an. Dann bin ich also ins Krankenhaus gefahren und habe nach ihr gefragt. Die Ärzte meinten, dass sie irgendetwas von einer Müllhalde und großen Schmerzen und so gesagt hat, aber damit nicht ihre eigenen gemeint hatte. Deswegen bin ich hier, weil es sonst keine andere gibt im Umkreis von 400 Kilometern", erzählte er.
"Alicia Springs", wiederholte ich ihren Namen und grübelte ein wenig, doch wusste nicht wie ich dem jungen Mann weiter helfen könnte.
"Und warum sind Sie hier?", fragte der Mann schließlich und unterbrach meine Gedanken.
"Ich weiß es nicht", sagte ich.
"Wie meinen sie das?"
"Na ja, ich weiß es nicht. Ich bin vor fünf Minuten oder so hier aufgewacht mit einer Katze. Sehen sie...", sagte ich und wollte sie ihm zeigen, doch sie war nicht mehr da. "Midnight? Na ja, jedenfalls war sie da."
Er sah mich verstört an und musste wohl denken, dass ich einen Vogel hätte.
"Sie wird schon wiederkommen", sagte er mit beruhigender Stimme und klopfte mir vertrauenswürdig auf die Schulter. Der Typ hält mich für absolut verrückt. Wie peinlich!, dachte ich mir.
Dann, plötzlich wachte ich auf. Ich öffnete die Augen schlagartig. Warum war ich jetzt aufgewacht? Ich wusste doch jetzt noch gar nicht mehr von Alicia. Nun ja. Meine innersten Gedanken können mir auch nicht mehr verraten, als ich schon weiß, dachte ich und legte mich wieder hin. Dann schlief ich ruhig wieder ein.
"Erin", hauchte eine Stimme in mein Gesicht, "komm mit mir", flüsterte sie.
Langsam erhebte ich mich und sah ihr in die Augen. Alicia.

Vertraute Fremde


Atemlos und erschrocken wachte schon wieder ich auf, doch diesmal zu Hause bei Harry. Ich atmete tief durch, doch ich zitterte, als ich ausatmete. Ich setze meine nackten Füße auf den Boden, spannte meine Bein-Muskulatur an und stand langsam auf. Jetzt war alles anders.
Alles in mir fühlte sich fremd an. Alle Sorgen: weg. All die Verzweiflung: weg. All meine Gefühle: weg.
Nochmal atmete ich ein, spürte die Luft in meine Luftröhre, in meine Lunge und wieder zurückführen, als ich ausatmete. Ich schloss die Augen und spürte wie mein Blut schneller durch meinen Körper floss, mein Herz pumpte schneller und alles an mir schien zu pulsieren. Ich senkte den Kopf und merkte, wie mein langes Haar nach vorne fiel, als ich meine Augen wieder geöffnet hatte. Es war blond. Ich erschrak augenblicklich und lief zum Spiegel, der im Zimmer hing. Meine Augen: blau, wie Wasser.
Ungläublig starrte ich auf die Spiegelung von ... mir? Ich tastete vorsichtig meine Haut ab und merkte außerdem, dass meine Hände ebenfalls anders aussahen. Dünner war ich auch. Ich war jemand, den ich nicht kenne, aber gesehen hatte. Nun fühlte ich sie. Sie fühlte mich, lebte in mir, da war ich mir sicher, denn ich konnte meine Gesichtszüge nicht kontrollieren. Ein ausdrucksloser Blick bildete sich gegen meinen Willen auf "meinem" Gesicht aus und sie sprach:
"Erin", hauchte sie wieder, "lasse Hoffnung in meiner Welt blühen und enttäusche mich nicht."
Ich verstand nicht was sie wohl damit hätte meinen können.
"Ich glaube an dich", flüsterte sie noch ganz leise bis sie sich wieder in mir zurückzog.

Abschied


Fassungslos saß ich nun wieder auf dem Sofa in Gedanken versunken.
Jetzt, wo ich ja in Alicia's Körper festsitze, wird mich Harry nicht erkennen. Wenn ich ihm versuchen würde es ihm zu erklären, hätte er bloß Angst und wüsste nicht, ob er mir glauben sollte. Da bin ich mir sicher. Schließlich habe ich ihn ja in letzter Zeit sehr viel besser kennen gelernt. Also muss ich mir etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht sollte ich einfach abhauen. Aber dann würde mich Harry suchen und sich tierische Sorgen um mich machen. ... Und wenn ich ihm einen Zettel da lasse mit einer Notiz?
Plötzlich hörte ich das Schließen einer Tür und Schritte, die näher ans Wohnzimmer kamen. Langsam wurde die Türklinke herunter gedrückt und ich sagte laut und deutlich: "Moment, nicht aufmachen!"
Die Klinke hob sich wieder und ich atmete erleichtert aus. Er darf mich auf keinen Fall sehen!, dachte ich mir.
"Was ist denn los?", fraget Harry von draußen.
"Äh", stammelte ich, "ich ... ich wollte mich gerade umziehen", brachte ich heraus, denn es viel mir nichts besseres ein.
"Um halb 12 Uhr nachts?", fragte er ungläubig.
"Äh ja, ganz recht. Ich mach das öfter, weißt du? Einfach so, weil ich mich danach fühle", sagte ich und merkte es kurz darauf, was für ein Schwachsinn da meinen Mund verließ.
"Aha", machte Harry verwundert und ich konnte mir seinen Gesichtausdruck nur zu perfekt vorstellen. Wie er dort stand und die Stirn runzelte, während er sich krampfhaft ein Bild davon zu machen versuchte und scheiterte.
"Was ist denn?", fragte ich nun etwas ruhiger.
Er schwieg. Ich hörte nichts mehr für eine kurze Weile.
"Harry?"
"Ja, ich bin noch da", antwortete er schließlich, "ich wollte nur nach dir sehen."
"Ach so", sagte ich nun noch leiser und etwas peinlich berührt.
"Na gut, ich geh dann wieder ins Bett", meinte er und ich hörte seinen traurigen Unterton, den er versuchte zu unterdrücken.
Es schmerzte, denn ich hätte ihn so gerne herein gelassen, doch es hätte bloß böse geendet. Ich presste die Lippen zusammen und schluckte laut in der Hoffnung, dass der große Kloß in meinem Hals damit weggehen würde.
Sobald ich seine Schlafzimmertür klicken hörte und mir sicher sein konnte, dass sie zu war, wurden meine Augen auf einmal ganz feucht und ich wollte weinen, doch ich hielt meine Tränen zurück.
Dann packte ich zwei Unterhosen in eine kleine, leere Tüte, die ich hinter dem Sofa gefunden hatte und außerdem die Decke vom Sofa. Mehr konnte ich nicht mitnehmen, denn mehr hatte ich nicht.
Ich fasste all meinen Mut in mir zusammen, atmete nochmals ganz tief durch und wagte die Schritte zur Tür langsam und unsicher. Meine Lippen presste ich wieder zusammen und versuchte meine Tränen wieder zurückzuhalten. Es fiel mir immer schwieriger.
Die Tür öffnete sich und ich ging hinaus in die Küche, wo ich die Rückseite der Einkaufsliste, die dort auf dem Tisch lag, verwendete, um eine kleinen Notiz zu hinterlassen. Ich nahm also den Kuli, der ebenfalls dort lag und schrieb:

Harry,

ich möchte Dir für deine Gastfreundschaftlichkeit mir gegenüber danken. Für alles was du wür mich getan hast. All das Geld, dass du für mich ausgegeben hast.
Harry, ich habe mich verändert. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen, aber ich muss gehen. Ich weiß nicht, ob wir uns wieder sehen werden. Wenn nicht, dann vergiss mich nicht und dass ich dich wirlich gern habe. Leb wohl.

Erin

Damit beendete ich mein Schreiben und ging zur Tür hinaus. Bevor ich die Tür schloss, warf ich noch einen letzten Blick in die Wohnung, ließ meinen Blick auf dem Zettel ruhen und dachte an die Zeit, die Harry und ich hier verbracht hatten. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten, als eine Träne mein rechtes Auge verließ.
Ich wollte nicht gehen. Doch ich musste. Das war sicher.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Google
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2011

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