Koyang und Kiiyin
Gleich würde er es geschafft haben. Nur noch fünf Drachenlängen trennten ihm von seinem Ziel. Dann hatte er die Spitze des Funiang Gebirges erreicht. Das Grenzgebirge, das das Land der Feuerdrachen vom Land der Wasserdrachen trennte. Koyang spreizte seine Flügel und ließ sich von den aufsteigenden Winden tragen. Heute würde er das erste Mal sehen, was sich hinter der Gebirgskette befand. Wer weiß, vielleicht würde er auch endlich einen Wasserdrachen sehen. Sein Vater der Feuerdrachenkönig Wan Tian, hatte ihm zwar ausdrücklich verboten hier herzufliegen, doch das kümmerte ihn nicht. Er war schließlich ein junger, starker Feuerdrache, der seit einem Jahr in der Drachenarmee war und die Blicke der Drachenmädchen auf sich zog. Also alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen und seine Stand schon lange fest. Um genau zu sein, seit er ein kleiner Drache war. Als er fasziniert den alten Geschichten lauschte, die ihm seine Eltern erzählten. Die von Generationen zu Generationen weitergegebenen wurden und von ihren Nachbarn, den Wasserdrachen handelten und darüber wie gefährlich diese seien. Doch warum dies so war, das hatte ihm keiner der Erwachsenen erklären können. Denn im Laufe der Zeit waren aus den Legenden nur noch nichtssagende Geschichten geworden. Mit denen man kleinen Drachen Angst einjagen wollte. Doch er hatte keine Angst bekommen. Im Gegenteil, damals schwor er sich, ins Land der Wasserdrachen zu fliegen und heute hatte er seinen Schwur eingelöst. Er spürte, wie sein Herz wild gegen seine Brust schlug. Doch es war nicht die Anstrengung, die sein Herz zu diesem wilden Stakkato veranlasste. Nein, er war einfach nur aufgeregt, wie ein kleiner Drache, der seinen ersten Flug absolvierte. Nur noch eine halbe Drachenlänge und er würde endlich mit eigenen Augen sehen, was sich hinter der Gebirgskette verbarg. In dem Moment, als er die Gebirgsspitze erreichte, trafen Tausende kleiner Nadelspitzen aus grellem Sonnenlicht auf seine ungeschützten Augen. Vom Schmerz überwältigt, kniff er die Augen zusammen und geriet dabei ins Taumeln. Blind und mit unkontrollierten Flügelschlägen, versuchte er sich in der Luft zu halten. Doch es war zu spät. Eine Windböe ergriff ihn und zog ihn mit rasender Geschwindigkeit in die Tiefe. Nachdem der Schmerz etwas nachgelassen hatte, riss er seine Augen wieder auf und sah, dass er rapide an Höhe verlor und taumelnd einem See entgegen raste. Wenn es ihm nicht schleunigst gelang sich abzufangen, dann war das sein Todesurteil. Denn Wasser, war für einen Feuerdrachen, wie fliegen ohne Flügel. Es endete tödlich. Instinktiv legte er seine Flügel eng an seinen Körper, rollte sich zu einer Kugel zusammen und nutzte den Schwung aus, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen. Jetzt hieß es, nur den richtigen Moment abzupassen. Genau in der Sekunde, als er wieder seine Ausgangsposition erreicht hatte, riss er abrupt die Flügel weit auseinander. Dadurch bekam er wieder genügend Luft unter seine Flügel, um seinen Sturz abzufangen. Noch zwei schnelle, unkontrollierte Schläge und er glitt wieder majestätisch durch die Lüfte. Na das war ja noch einmal gut gegangen. Es zahlte sich eben aus, wenn man zu den besten der Flugschule gehörte. Während er eine große Schleife über den See flog, suchte er mit seinen scharfen Augen, das Gelände nach einem geeigneten Landeplatz ab. Das erwies sich schwieriger als gedacht. Denn der See war von dicht beieinanderstehenden Bäumen umsäumt. Als er den See zum zweiten Mal umrundete, entdeckte er eine kleine Schneise in dem dichten Blattwerk, die ihm als geeignet erschien. Er zog immer engere und tiefere Kreise, bis er endlich den richtigen Einflugwinkel fand und zum Gleitflug ansetzte. Doch er hatte sich verschätzt. Seine Flügel kollidierten mit den im Spalier stehenden grünen Baumriesen, sodass er unsanft zu Boden stürzte. Na prima, das nannte man wohl eine erfolgreiche Bruchlandung. Vorsichtig bewegte er seine mächtigen Glieder. Doch bis auf ein paar Schrammen an seinen Flügeln schien er sich nichts getan zu haben. Lauschend hob er den Kopf. Ein feiner Ton drang an seine hochempfindlichen spitzen Ohren. Er drehte seinen gewaltigen Schädel, bis er die feinen Töne klar und deutlich vernahm. Aus Richtung des Sees wehte eine zarte Melodie herüber. Eine klare, Glockenhelle Mädchenstimme die eine traurige zu Herzen gehende Weise sang, drang an seine Ohren. Neugierig, ganz in den Bann dieser lieblichen Stimme geschlagen, machte er sich auf den Weg, um zu sehen, wem diese betörend Stimme wohl gehören mag. Langsam pirschte er sich den Waldweg entlang. Jederzeit bereit zwischen den dicken Bäumen Deckung zu suchen, falls ihm ein Wasserdrache begegnen würde. Als er den Rand des Waldes erreichte, ging er vorsorglich in den dichteren Wald hinein und suchte sich einen günstigen Platz, von dem er den See beobachten konnte. Dann sah er sie. Ein bezauberndes Wasserdrachenmädchen in seinem Alter badete im See und sang diese herrliche Melodie. Sie stand mit ihrem langen bezaubernden Rücken, der in sanfter Linie zu einem langen gezackten Schwanz auslief, knietief im Wasser. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen. Sie sah ganz anders aus, als die Drachenmädchen bei ihm zu Hause. Ihre Haut war von ganz anderer Farbe, als seine eigene rotglühende, die ein typisches Zeichen der Feuerdrachen war. Sie besaß die perfektesten Schuppen, die er je an einem Drachen gesehen hatte, und funkelten in den schillerndsten Farben. Von einem zarten Türkis über ein, Fließendes hellblau zu einem leuchtenden ultramarinblau, deckte es das ganze Spektrum der unterschiedlichsten Blautöne ab. Während er vollkommen überwältigt das Mädchen beobachtete, trat er einen kleinen Schritt nach vorne. Dabei barst ein Ast unter seinen Füßen. Das Mädchen hörte schlagartig zu singen auf und stieß sie einen Schrei aus. Dann flüchtete sie ins tiefere Wasser und tauchte unter. Sekunden später erinnerte nur noch das Kräuseln des Wassers an das gut aussehende Drachenmädchen. Enttäuscht trat Koyang aus den Schatten der Bäume und suchte mit den Augen die Wasseroberfläche ab. Nichts, als wäre sie nur eine Fatamorgana in der Wüste gewesen. Enttäuschung machte sich in ihm breit und nach kurzem Zögern beschloss er, sich auf den Rückweg zu machen. Schließlich musste er noch eine geeignete Startbahn finden. Gerade als er sich vom See abwenden wollte, begann sich das Wasser zu kräuseln. Ein schmaler Kopf mit einem Paar, großer himmelblauer Augen, in denen sich der See spiegelte und der von einer wilden, langen, schwarzblauen Mähne umrahmt wurde, tauchte allmählich aus den Tiefen des Wassers empor. Koyang konnte den Blick nicht abwenden. So sehr nahm ihn die Schönheit des Mädchens gefangen. „Wer bist du?“
Ihre Stimme klang wie süßes Zuckerwerk in seinen Ohren, während ihm seine eigene wie das Knarzen eines alten Windrades vorkam, als er ihr seinen Namen nannte.
„Ich bin Koyang. Und? Bist du ein Wasserdrache?“
Kiiyin musterte den vor Kraft strotzenden Drachenjungen, der entgegen seinem wilden Aussehen, ziemlich schüchtern vor ihr stand. Sollte ihr Wunsch endlich in Erfüllung gegangen sein und sie würde einen lebendigen Feuerdrachen, vor sich sehen? Noch dazu einen solchen gut Aussehenden? Dieser Gedanke ließ ihre Wangen zwei Nuancen dunkler werden.
„Ja, und du bist ein Feuerdrache?“, entgegnete sie und schenkte ihm das strahlendste Lächeln, zu dem sie fähig war. Da erscholl in der Ferne ein lautes Grollen, wie von einem gewaltigen Donnerschlag, das sich explosionsartig über den See ausbreitete. Erschrocken zuckten die beiden zusammen.
„Das ist mein Vater. Du musst schnell von hier verschwinden. Er mag überhaupt keine Feuerdrachen und wird dich töten.“
Ängstlich schaute Kiiyin in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Koyang sah sich gehetzt um.
„Ich brauche eine Startbahn“, stieß er hastig hervor.
„Wenn du der Schneise folgst, kommst du zu einer großen Wiese. Dort hast du genug Platz.“
Sie zeigte mit ihren blauen Krallen zu dem Waldweg, der ihn hergeführt hatte. Begleitet, von dem immer näher kommenden Grollen, hastete Koyang darauf zu. Während er lief, drehte er sich noch einmal um und brüllte Kiiyan zu: "Ich komme bald wieder.“
„Ich werde auf dich warten“, rief sie zurück. Dann war Koyang auch schon im Dickicht des Waldes verschwunden.
Koyang saß wie jeden Tag, seit er Kiiyin kennengelernt hatte, in der Bibliothek. Seit drei Monaten, tat er nichts anderes als sich durch Berge von Büchern zu lesen, die sich auch nur im entferntesten mit der Geschichte der Feuerdrachen beschäftigte. Bei dem Gedanken an Kiiyin, überkam ihn ein warmes Gefühl. Seit ihrer ersten Begegnung trafen sie sich alle drei Tage. Doch es waren heimliche Treffen, von denen ihre Familien nichts erfahren durften. Doch vom ersten Moment an wussten beide, dass sie zusammengehörten. Es hatte sich eine tiefe und reine Liebe zwischen ihnen entwickelt. Sie führten lange Gespräche und stellten fest, dass sie in vielen Sachen gleich dachten, gleich fühlten und schon von klein an wussten, dass sie auf etwas Besonderes warteten. Kiiyin erzählte ihm, dass sie schon, seit sie denken konnte, immer den gleichen Traum hatte. Zuerst von einem kleinen Feuerdrachenjungen und dann, als sie älter wurde, wurde auch der Junge in ihren Träumen älter. Bis sie ihn dann traf. Ja sie hatte in all den Jahren von ihm geträumt. Daraufhin hatte er ihr von seiner Faszination für Wasserdrachen erzählt. Die ihn seit seinen Kindertagen begleitete. Es war nahezu perfekt, wie sie zueinanderpassten, wenn es da nur nicht eine einzige, aber doch unüberwindbare Sache gäbe, die ihre junge Liebe störte. Sie würden sich niemals in ihrem Leben berühren, geschweige denn Küssen können. Denn das würde ihren sofortigen, gegenseitigen Tod bedeuten. Sein Feuer würde sie austrocknen, bis nur noch eine verschrumpelte Hülle ihres wunderschönen Körpers übrig bleiben würde und Sie, sie würde ihn mit ihrem Wasser in einen kleinen Haufen Schlacke verwandeln. Alles schien so aussichtslos zu sein. Doch Koyang wollte und konnte nicht aufgeben. Deshalb saß er seit Monaten über den alten Büchern, die ihn aber bis jetzt immer nur die gleichen dummen Geschichten, die er schon auswendig kannte, erzählten. Die ihn aber keine Lösung vorschlugen, damit er und Kiiyin zusammenleben konnten. Müde rieb sich Koyang über die Augen und blickte auf den Haufen Bücher, die er heute schon gelesen hatte. Eines war noch übrig geblieben und dann würde er für heute Schluss machen. Seufzend griff er danach und schlug es auf. Nach ein paar Seiten war seine Müdigkeit, wie weggeblasen. Sein Herzschlag beschleunigte sich und seine Pranke zitterte beim Umblättern, während er die Zeilen mit den Augen verschlang. Sollte das hier die lang erhoffte Lösung sein?
Nachdem Koyang das Buch ausgeliehen hatte, war er schleunigst aufgebrochen, um zu Kiiyin zu fliegen. Er war einfach zu aufgeregt, um noch bis zum nächsten Tag zu warten. Nun saßen sie so dicht es ihnen möglich war, in der Nähe des Ufers beisammen. Wohl bedacht, soviel Abstand wie nötig, doch so wenig wie möglich, zwischen sich aufkommen zu lassen. Koyang las ihr mit vor Aufregung belegter Stimme aus dem Buch vor. Nachdem er fertig war, wartete er atemlos auf ihre Reaktion.
„Das wäre wunderbar“, brachte sie nach einigen Sekunden mit vor Rührung erstickter Stimme hervor und eine kleine, glänzende Träne rollte über ihr Gesicht. „Wir müssen es versuchen“, fügte sie leise hinzu.
„Du weißt, was das bedeutet?“ Koyang warf ihr einen verlangenden Blick zu.
„Ja, es ist gefährlich, doch lieber sterbe ich, als mich noch länger nach dir verzehren zu müssen.“
Sie sahen sich eine Weile tief in die Augen und jedem von ihnen floss das Herz vor Liebe über. Koyang stand entschlossen auf.
„Bist du bereit?“
„Ja.“
Auch Kiiyin stand auf und die beiden gingen wortlos, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, zu der großen Wiese, die ihnen als Startbahn diente. Dort erhoben sie sich in die Lüfte und flogen dem bereits dunkel werdenden Osthimmel entgegen, während sich im Westen die rotglühende Sonne verabschiedete, als würde sie den Beiden hinterher schauen und ihnen viel Glück wünschen.
Nach einer drei Tage dauernden entbehrungsreichen Reise hatten sie ihr Ziel erreicht. Vor ihnen, inmitten eines riesigen Sees, ragte eine hohe Felsnadel auf, die sich wie ein mahnender Finger gen Himmel streckte und auf dessen Kuppe sich majestätisch der Palast der Lüfte auftürmte. In dem der mächtigste und einzig wahre Drache Long lebte. Sie verlangsamten ihren Flug und setzten zur Landung auf dem Vorplatz des gigantischen Ostportals an.
„Wir haben es geschafft“, rief Kiiyin glücklich.
„Komm, wir haben nur noch wenig Zeit. Long lässt nur einmal im Jahr das Portal zur Mittagsstunde öffnen und die ist gleich um“, drängte Koyang sie.
Kaum hatte er ausgesprochen, da begannen sich die großen Türen langsam, Zentimeter um Zentimeter zu schließen. Die beiden liefen schnell wie der Wind auf die sich schließenden Türen zu und schafften es im allerletzten Augenblick durch die immer schmaler werdende Öffnung zu springen. Keuchend und nach Atem ringend, blieben sie im Inneren des Palastes stehen. Der Anblick der Gewaltigen mit Bernsteinfarbenen Marmor ausgestatteten Halle verschlug ihnen die Sprache. Am hinteren Ende stand ein goldener Herrscherstuhl, dessen Lehne zu einem Drachenkopf geformt und dessen Beine, die eines Drachen nachempfunden waren. Um den ganzen Thron herum waberte ein leichter violetter Nebel, der ihnen die Sicht auf den Herrscher erschwerte. Eine Stimme, die sich wie das Schellen von Kupferkesseln anhörte, dröhnte durch die Halle und wurde mit vielfachem Echo von den Wänden zurückgeworfen.
„Wer seid ihr? Kommt näher, damit ich euch besser sehen kann.“
Koyang schritt ehrfürchtig auf den Regenten zu und Kiiyin folgte ihm furchtsam mit einer Drachenlänge Abstand. Das also war der Große Long, der mächtige Herrscher der Drachen. Als Koyang noch drei Drachenlängen von dem Thron entfernt war, streckte ihm Long seine mächtige Tigertatze mit den langen Adlerkrallen entgegen.
„Bleib stehen“, befahl er.
Augenblicklich folgte Koyang den Befehl und wagte einen Blick in die kleinen flinken Hasenaugen, des Regenten, die verschlagen in dem langgezogenen Kamelkopf mit dem kolossalen Hirschgeweih, das zwischen den Kuhohren wuchs, saßen.
„Nun antworte endlich.“
Long bog seinen langen schlangenförmigen Hals zu Koyang, sodass sein Gesicht nur noch weniger als eine halbe Drachenlänge von Koyang entfernt war. Bei jedem Atemzug stieß Long abwechselnd eine Wolke aus Wasser und Feuer aus.
„Ich bin Koyang und das ist Kiiyin. Wir bitten dich um deine Gunst.“
„Soso, ein Feuerdrachenjunge und ein Wasserdrachenmädchen bitten mich um meine Gunst. Wobei denn, du Wurm.“
Long stieß ein dröhnendes Lachen aus und rieb sich vergnüglich seinen runden Froschbauch.
„Wir lieben uns von ganzem Herzen und wollen für immer zusammenleben. Deshalb bitten wir dich um die Perle der vereinenden Elemente.“
„Ha, ha, ha. Die Perle der vereinenden Elemente. Dass ich nicht lache. Wie kommst du darauf, dass ich sie habe. Das ist ein Märchen, das man kleinen dummen Drachenkindern erzählt. Es gibt sie nicht und nun macht, dass ihr wegkommt.“
Da trat Kiiyin, die bisher stumm den Wortwechsel verfolgt hatte, neben Koyang und zeigte auf Longs dickes Kinn, aus dem ein langer Bart, der zu einem Zopf geflochten war, wuchs. In dem Zopf war eine perlmuttene Perle eingewoben.
„Das ist sie und ich fordere dich auf, sie uns zu geben.“
Obwohl ihre Stimme fest klang, zitterte sie innerlich vor Angst. Woher nahm sie nur den Mut, so zu dem mächtigen Long zu reden? Longs Schnurrbart zitterte vor Wut und er schlug ärgerlich mit seinem Schwanz nach den beiden. Denn Long war zwar böse, verschlagen und der mächtigste der Drachen. Doch eines durfte er nicht. Lügen! Wenn ihm jemand die Wahrheit auf den Kopf zusagte, dann durfte er einfach nicht lügen.
„Nun ja, du bist ein kluges Drachenmädchen und ich liebe kluge Drachenmädchen. Deshalb bin ich auch bereit euch die Perle zu geben. Doch nur unter einer Bedingung.“
Ein verschlagener Ausdruck trat in Longs Gesicht.
„Ich werde euch drei Rätsel aufgeben, und wenn es euch gelingt, alle richtig zu beantworten, dann sollt ihr die Perle bekommen. Doch wenn es euch nicht gelingt, dann werdet ihr sterben.“
Koyang und Kiiyin wechselten einen zärtlichen Blick. Dann nickte Koyang entschlossen und sprach: „Wir nehmen dein Angebot an. Denn wenn wir nicht zusammenbleiben können, ist unser Leben nur ein ewiges Sterben. Dagegen wäre ein schneller Tod nur gnädig.“
„Wie ihr wollt. Das erste Rätsel lautet: Die Glücklichen brauchen es! Und wenn Du es isst, stirbst Du! Was ist das?
„Oh, das ist einfach“, rief Koyang. „Wenn euch nichts Schwierigeres einfällt, dann könnt ihr uns gleich die Perle geben. Es ist nichts. Denn wer glücklich ist, braucht nichts, und wenn ich nichts mehr esse, dann sterbe ich.“
Kiiyin lächelte glücklich über die kluge Antwort ihres Geliebten.
„Ich sehe schon das war etwas zu einfach, doch wie wäre es damit? Die Mutter schrie, als ihr Sohn endlich mitten in der Nacht kam. Warum?“
Diesmal grübelte Koyang über die Antwort nach. Doch es wollte ihm nichts einfallen.
„Na hat es euch die Sprache verschlagen? Ich zähle jetzt bis drei und dann will ich die Antwort haben. Eins!“
Koyang traten Schweißperlen auf die Stirn.
„Zwei!“ „Dr...“
„Sie gebar einen Sohn,“ rief Kiiyan im allerletzten Augenblick.“
Long gab ein schauerliches Brüllen von sich und stieß heftige Wasser und Feuerwolken aus.
„Da habt ihr gerade noch einmal Glück gehabt. Doch jetzt kommt das schwierigste Rätsel. Vor langer Zeit herrschte ein König, der stets alle Gefangenen hinrichten ließ. Um deren Schuld zu beweisen, hatte er eine kleine Schatulle mit einem weißen Elfenbein-Kügelchen und einem schwarzen Ebenholz-Kügelchen. Jeder Gefangene durfte eines der beiden Kügelchen aus der Schatulle ziehen. War’s das Schwarze, so galt er als schuldig und wurde hingerichtet. Zog er dagegen das Weiße, so kam er frei. Merkwürdigerweise gelang es aber nie jemandem, das weiße Kügelchen zu ziehen, und im ganzen Land flüsterte man sich bald zu: “Unser König, der Fiesling, hat zwei schwarze Kügelchen in seinem Kästchen.” Doch niemand traute sich das laut zu sagen, und so zogen weiterhin alle Gefangenen das schwarze Kügelchen und wurden hingerichtet, bis eines Tages ein Gefangener die rettende Idee hatte. Wie konnte er sein Leben retten? Da es ein wirklich schweres Rätsel ist und ich ein sehr warmherziger Drachenherrscher bin, werde ich euch ein bisschen mehr Zeit geben.“
Long lachte höhnisch auf und griff mit seiner Krallentatze zu einem Stundenglas und drehte es um.
„Die Zeit läuft. Ha, ha ha.“
Kiiyin beobachtete, wie der feine Sand unermüdlich durch die schmale Öffnung des Glases rieselte und sich im unteren Teil zu einem kleinen Berg auftürmte. Doch ihr viel keine Lösung des Rätsels ein. Auch Koyang suchte fieberhaft nach einer Lösung. Denn so einfach wollte er sich nicht geschlagen geben. Dazu waren sie ihrem Ziel schon viel zu nahe gekommen. Er sah, dass sich nicht mehr viel Sand im oberen Teil der Uhr befand, und beschloss die einzige Lösung, die ihm eingefallen war, preiszugeben. Besser eine falsche Antwort, die ihren Tod bedeuten würde, als sich einfach stumm dem Schicksal zu ergeben.
Ein letzter verzeihender Blick zu Kiiyin und dann sagte er: „ Die Lösung lautet folgendermaßen: Er zog eine Kugel und verschluckte sie, bevor jemand nach der Farbe schauen konnte. So konnte man nur beweisen, welche Farbe er gezogen hatte, indem man die Schatulle öffnete und darin natürlich nur eine schwarze Kugel fand. Da der König auch nicht zugeben konnte, dass beide Kugeln schwarz waren, kam der Gefangene frei.“
Longs überhebliches Lachen ging in ein grässliches knurren über. Er stampfte wütend mit seinen Füßen auf und stieß ein wahres Inferno von Feuer und Wasserwolken aus. Dann riss er die Perle der vereinigenden Elemente aus seinem Bart und warf sie zu den beiden hinüber. Koyang und Kiiyin stürzten auf die Perle zu und bekamen sie gleichzeitig zu fassen. Ihre Körper berührten sich zum ersten Mal und ein gewaltiger Sog ergriff sie. Ein Wirbelwind aus violettem Licht trug sie in die Höhe. Dabei klammerten sie sich jeweils an den anderen fest und sahen sich tief in die Augen. Schließlich fanden sich ihre Lippen zu einem langen und innigen Kuss. Der Wirbelwind beruhigte sich zu einem sanften Wind, der sie behutsam auf den Boden zurückbrachte. „Liebster, wir haben es geschafft.“ Tränen des Glücks, liefen über Kiiyins Wangen. „Jetzt kann uns nichts mehr trennen, liebste Kiiyin.“ Koyang drückte Kiiyin noch fester an sich und küsste ihr jede einzelne Träne fort. Das war der Beginn einer langen und liebevollen Beziehung, aus der ein neues, starkes Drachengeschlecht hervorgehen sollte.
Texte: Martina Köhler
Bildmaterialien: www.gratis-tattoovorlagen.net
Tag der Veröffentlichung: 24.03.2012
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