Der Gorgul
Es war dunkel, kalt und feucht. Nur der schwache Schein des Vollmondes spendete ein surreales Licht. Nebelschwaden waberten umher und gaben der Umgebung ein bizarres Aussehen. Es schien als würden riesige Gestalten mit langen Klauen nach ihr greifen. Doch beim Näherkommen entpuppten sie sich als harmlose Büsche und Bäume. Sie hatte Angst! Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ihre zögernden Schritte klangen gedämpft über den Waldboden. Wie alles um sie herum gedämpft klang. Waren da überhaupt Geräusche? Sie blieb stehen und lauschte. Nichts! Es war als würde sie sich in einer anderen Welt befinden. Sie bereute zu tiefst ihren Entschluss den Weg durch den Wald genommen zu haben. Schließlich hatte man sie seit ihrer Kindheit davor gewarnt, in der Halloweennacht den Wald zu betreten. Sie kannte all die alten Geschichten, die sich um den Wald rankten. Von all den verschwundenen Menschen, die es gewagt hatten in jener Nacht den Wald zu betreten und nie wieder gesehen wurden.
Es wurde erzählt, dass es einer Höllenkreatur, die von den Dorfbewohnern Gorgul genannt wurde, in dieser Nacht gelingen würde, die Pforten der Hölle zu passieren, um sich die Seelen der Lebenden zu holen. Es nährte sich von der Angst seiner Opfer und saugte ihnen die Seele aus, um dann ihre Leiber den Leichenfressern zu überlassen. Doch als ihr Auto auf der Landstraße liegen geblieben war, brach gerade die Dämmerung an und der Weg durch den Wald zu ihrem Dorf, betrug gerade einmal 15 Minuten. Sie hätte es locker schaffen müssen vor der Dunkelheit zu Hause zu sein. Doch kaum, dass sie wenige Meter in den Wald gelaufen war, da umgab sie eine eigentümliche Finsternis und in wenigen Augenblicken hatte sie die Orientierung in dem ihr doch sonst so vertrauten Wald verloren. Plötzlich wurden ihre Gedanken von einem lauten knacken, das aus dem Unterholz vor ihr kam, unterbrochen. Ein wildes Geheul durchbrach die unwirkliche Stille des Waldes. Zwei glühend rote Punkte tauchten vor ihr auf und ein riesiger Körper schob sich aus dem Dickicht. Entsetzt, unfähig irgendeiner Reaktion, starrte sie dem Ungetüm entgegen. Sie konnte nicht glauben, was sie dort auf sich zukommen sah. Die Kreatur war mindestens zwei Meter groß. Kam aufrecht gehend auf sie zu und besaß einen vollkommen schwarz behaarten Körper, auf dem der riesige Schädel eines Hundes saß, dessen Augen wie rot glühende Kohlestückchen in den Augenhöhlen brannten. Die Bestie stieß einen Feuerschwall aus der riesigen mit scharfen Zähnen bestückten Schnauze aus und schlug dabei wütend mit ihrem langen rattenähnlichen Schwanz auf den Boden. Dabei verströmte sie einen nach Verwesung riechenden Gestank aus. Fast unerträglich langsam kam das Ungeheuer auf sie zu. Wie versteinert stand sie da, während ihr Verstand verzweifelt, versuchte das Geschehen zu erfassen. Meter um Meter schob sich das Ungetüm zu ihr heran, bis es nur noch wenige Armlängen entfernt war. Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Das Untier stieß ein wütendes Gebrüll aus und setzte zum Sprung an. In diesem Moment löste sich ihre Erstarrung und sie drehte sich blitzschnell um und rannte weiter in den dunklen Wald hinein. Sie hörte, wie das Monster ein noch wütenderes Gebrüll ausstieß und hinter ihr hersetzte. Keuchend rannte sie durch das dichte Gestrüpp und merkte in ihrer Panik kaum, dass sie sich blutige Schrammen im Gesicht zuzog. Nur weiter! Weg von diesem Höllentier. Doch so schnell sie sich auch durch das Unterholz kämpfte, das Untier kam immer näher. Sie spürte schon den heißen Atem in ihrem Genick. Am Rande ihrer Erschöpfung angelangt, endeten die dicken Büsche abrupt und gaben eine große Lichtung frei, in deren Mitte sich ein schemenhafter Umriss am Boden abzeichnete. Sie mobilisierte ihre allerletzten Kraftreserven und rannte darauf zu. Dicht gefolgt von dem Untier, das nur noch zwei Schritte entfernt war. Als sie dreiviertel der Strecke hinter sich gelassen hatte, blieb ihr Fuß an einer Wurzel hängen und sie geriet ins Stolpern. Sofort war das Ungeheuer bei ihr und langte mit seinen Klauen nach ihrer Schulter. Doch in allerletzter Sekunde konnte sie ihren Sturz abwenden, sodass die Klauen ihr Ziel verfehlten, und mit ihren rasiermesserscharfen Krallen nur ein Stück Leder aus ihrer Jacke rissen. Ohne sich darum zu kümmern, rannte sie schwer atmend weiter auf den Umriss, in der Mitte der Lichtung zu. Als sie kurz davor war, erkannte sie, dass es sich um ein großes gleichschenkeliges Steinkreuz handelte. Sie stieß sich vom Boden ab und sprang auf das Kreuz zu. Noch während sie in der Luft war, spürte sie, wie das Monster ebenfalls lossprang und ihren Oberkörper mit seinen kräftigen Armen umklammerte. Dann landeten sie beide auf dem Steinkreuz. In dem Moment, als ihre beiden Körper auf das Kreuz aufschlugen, entflammte ein helles Licht, das vom Himmel fiel. Das Monster schrie gepeinigt auf und beugte sich über ihr Gesicht. Dabei riss es seinen riesigen Schlund auf. Ihre vor Entsetzen geweiteten Augen blickten geradewegs in den Abgrund der Hölle. Dann schossen Flammenblitze aus dem vom Himmel fallenden Licht und eine süße Melodie erklang, die sich mit dem tosenden Gebrüll des Ungeheuers vermischte. Dann entglitten ihr die Sinne und sie fiel in eine gnädige Ohnmacht.
Als sie wieder zu sich kam, saß sie am Steuer ihres Wagens. Die Sonne erhob sich gerade am Himmel und ein neuer Morgen brach an. Erleichtert schaute sie sich um. Alles sah so wie immer aus. Ein Traum! Das alles muss nur ein böser Traum gewesen sein und sie war wohl eingeschlafen, schoss es ihr durch den Kopf. Doch dann fiel ihr Blick in den Rückspiegel und sie stieß einen nicht enden wollenden Schrei aus. Aus dem Spiegel schaute ihr das Gesicht einer uralten Frau entgegen. Ihr Gesicht!
Texte: Text und Cover: Alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 23.09.2011
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