Die Nachbarin
Klara saß in ihrem Lieblingssessel und las in einem dicken Kriminalroman. Sie liebte Krimis über alles und in jeder freien Minute die sie erübrigen konnte, nahm sie die Gelegenheit zum lesen wahr. Gerade war sie an einer besonders spannenden Stelle, als es klingelte. Widerwillig legte sie ihr Buch beiseite und stand auf um zur Tür zu gehen. Das wird bestimmt wieder der Postbote sein, der für jemandem im Haus ein Päckchen abgeben will, überlegte sie. Sie schaute durch den Türspion und sah zwei Männer vor der Tür stehen.
„Ja“, rief sie.
„Frau Nolte? Wir sind von der Polizei. Könnten sie bitte die Tür öffnen? Wir haben eine kurze Frage an sie.“
Die Polizei, was will die denn von mir?, überlegte Klara und öffnete die Tür. Sie schaute die beiden Männer fragend an.
„Ja, was möchten sie?“
„Guten Tag, wir sind von der Kriminalpolizei. Mein Name ist Hansen, und das ist mein Kollege Peterson. Sie kennen doch den Herrn der in der Wohnung über ihnen wohnt?“
„Ja“, antwortete Klara misstrauisch und wartete darauf dass der Mann der sich als Hansen vorgestellt hatte weiter sprechen würde.
„Nun wir würden gerne von ihnen wissen, wann sie Herrn Bauer zum letzten mal gesehen haben?“ „Nun, wann war das?“, überlegte Klara halblaut und ging im Geiste die letzten Tage durch.
„Ja, jetzt weiß ich es, das muss gestern Mittag gewesen sein. Da ging Herr Bauer aus dem Haus. Ich glaube er ging zum Sport, denn er hatte eine große blaue Sporttasche dabei.“
„Und, haben sie auch gesehen, wann er zurück gekommen ist?“ „Nein, ich habe besseres zu tun als darauf zu achten, wann die Mieter im Haus kommen und gehen“, entrüstete sich Klara. „Selbstverständlich, wir wollten auch nur wissen, ob ihnen etwas außergewöhnliches aufgefallen ist, oder ob sie etwas ungewöhnliches gehört haben?“
„Nein, absolut nichts. Was ist denn los? Warum fragen sie mich das alles? Ist etwas mit Herrn Bauer passiert?“, wollte Klara jetzt wissen.
„Ihr Nachbar wurde von einem Bekannten tot in der Wohnung gefunden. Aber näheres dürfen wir ihnen nicht mitteilen. Vielen Dank für ihre Mithilfe, und einen schönen Tag noch.“
Damit wandten sich die Beamten ab und gingen wieder die Treppe hoch, zurück in die Wohnung von Herrn Bauer.
„Bitte, und auf Wiedersehen“, rief Klara ihnen nach und schloss die Tür.
Sofort machte sich ein breites Lächeln auf Klaras Gesicht breit. Na endlich,dieses Problem wäre also auch erledigt. Wenn das kein Grund zum feiern ist, na dann weiß ich auch nicht. Voller Vorfreude ging sie in ihr Wohnzimmer und nahm ein Weinglas aus der Vitrine. Anschließend holte sie eine Flasche Rotwein aus der Küche und stellte alles auf den kleinen Tisch neben ihrem Lieblingssessel ab. Dann machte sie es sich in dem Sessel gemütlich, goss sich ein Glas Wein ein, und trank einen großen Schluck. Ah das tat gut. Sie schloss die Augen und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
Dieser Mann, dieser Herr Bauer, war von Anfang an ein Problem gewesen. Er war einfach nicht fähig sich an die normalen Regeln des Anstands zu gewöhnen. Vor vier Jahren, kaum dass er eingezogen war, da ging das Theater los. Er ging nicht wie ein normaler Mensch in seiner Wohnung umher. Nein, er hoppelte und galoppierte von einem Zimmer zum anderen, so dass bei Klara die Deckenleuchte und ihre Gläser in der Vitrine klirrten. Der Klodeckel wurde mit solcher Wucht herunter gelassen, dass Klara jedes mal zusammen schreckte. Gut am Tage konnte sie noch damit leben. Aber Nachts war es schier unerträglich. Sie fand kaum noch Erholung und litt seit dem unter Schlafstörungen. Als sie ihn daraufhin angesprochen hatte, meinte er nur, ach ja, bin ich so laut? Doch es änderte sich nichts. Ein Jahr später stellte er seinen abgemeldeten Wagen einfach hinten im Garten ab, und ließ ihn vor sich hin rosten. Ein Schandfleck, auf den Klara jedes mal wenn sie ihren Balkon betrat blicken musste. Es nutzte auch keine Beschwerde bei der Hausverwaltung. Das Jahr darauf konnte sie zwei Monate lang ihren Balkon nicht benutzen, obwohl es ein Top Sommer war. Und das nur weil Herr Bauer der Meinung war, er müsse seine Pflanzen mit Gülle düngen. Der Gestank war unerträglich. Ja und schließlich fing er letztes Jahr an Tauben auf seinen Balkon anzulocken. Fliegende Ratten! Der ganze Garten war voll davon, und eines Nachmittags flog ihr doch solch ein Tier in ihr Wohnzimmer.So dass sie ihren Nachbar aus dem Nebenhaus bitten musste die Taube einzufangen, und aus ihrer Wohnung zu entfernen. Das war dann auch der ausschlaggebende Grund gewesen. An diesem Tag beschloss sie: Herr Bauer muss weg! Denn noch mehr Geduld konnte man nicht von ihr verlangen. Schließlich war sie die gute Seele des Hauses. Im geheimen bezeichnete sie es sowieso als ihr Haus. Schließlich lebt sie hier seit über vierzig Jahre, und in diesen Jahren hat sie stets dafür gesorgt, dass es auch ein ehrenwertes Haus blieb. Obwohl das nicht ganz einfach gewesen war.
Sie dachte an Frau von Hagen, die zum Schluss so senil war, dass sie ständig den Gashahn offen ließ und eine Gefahr für das ganze Haus darstellte. Nun dieses Problem war recht einfach gewesen. Da Klara Apothekerin ist, und zu dieser Zeit noch ihre eigene Apotheke besaß, brauchte sie sich nur darüber zu informieren, welche Medikamente Frau von Hagen nahm, und die Gefahr war aus dem Weg geräumt. Das war jetzt ungefähr 25 Jahre her, und schon damals war sie immer für ihre Nachbarn da gewesen. Also auch für Frau von Hagen. Sie schaute jeden Abend bei ihr vorbei und achtete darauf, dass sie ihre Medikamente nahm. Der einzige Fehler der ihr dabei unterlaufen war, war jener, dass sie es nicht so genau mit der Dosierung nahm. Denn ob Frau von Hagen nun eine oder zwei von den kleinen roten Pillen einnahm ... Nun, doppelt hilft auch doppelt. Jedenfalls wenn man seine unliebsame Nachbarin los werden will.
Der nächste Störenfried war Klaus. Klaus lebte mit seiner Mutter im Haus. Klara kannte ihn schon als kleinen Jungen. Als Klaus 18 wurde zog seine Mutter zu ihrem Freund, und er blieb in der Wohnung. Das ging ein, zwei Jahre gut, und dann entwickelte Klaus eine Psychose. Er stand regelmäßig vor ihrer Tür und beschuldigte sie, dass sie mit dem Teufel im Bunde sei und ihn verhexen wollte. Einmal wollte er sie sogar angreifen. Das war zu viel für Klara. Also sprach sie mit seiner Mutter, die dann für eine stationäre Unterbringung in der psychiatrischen Klinik für Klaus sorgte. Dort blieb er 9 Monate, und in der Klinik hatte er sich mit Jacob Ganz angefreundet, der wegen ähnlicher Probleme dort war. Ja, und ausgerechnet dieser Jacob Ganz wurde der Nachmieter von Klaus. Denn seine Mutter hatte ihm eine Wohnung in ihrer Nähe besorgt, um sich besser um Klaus kümmern zu können. Das war ein Riesenglück für ihn gewesen, denn Klara hatte schon ihre Pläne geschmiedet, um ihn für immer los zu werden.
Aber bei Jacob Ganz hatte sie Glück! Er entkam ihr nicht. Denn das wäre ja noch schöner, psychisch kranke in ihrem ehrenwerten Haus. Obwohl Jacob am Anfang einen recht vernünftigen Eindruck machte. Seine Therapie hatte wohl ganz gut angeschlagen. Er war nett und freundlich und half ihr sogar im Haushalt. Er putzte ihre Fenster, übernahm schwere Einkäufe für sie und war ein guter Zuhörer. Aber irgendwann überfiel ihn eine schwere Depression, und er zog sich immer mehr zurück. Eines Tages räumte er seine Wohnung komplett aus und schmiss sämtliche Gegenstände auf den Müll. Er erzählte Klara dass die Sachen alle böse wären und sich gegen ihn verschworen hätten. Sie redeten angeblich zu ihm,und befahlen ihm, dass er schlimme Dinge tun soll. Deshalb musste er sich von ihnen trennen. Musste er sich aus diesem bösen Bann befreien. Das langte Klara. Sie musste wieder einmal etwas unternehmen, und das war leichter getan, als sie gedacht hatte. Da Klaus ja in der Nebenwohnung lebte und sein Schlafzimmer direkt an ihrem Wohnzimmer grenzte, hatte sie ihre Lautsprecher so aufgestellt, dass sie zur Wand zeigten. Dann hatte sie ein Mantra auf eine Kassette gesprochen.
„Du entkommst uns nicht. Du bist uns ausgeliefert. Wir finden dich überall. Nur im Tod können wir dir nicht folgen. Nur der Tod ist deine Erlösung. Du weißt was du zu tun hast.“
Nacht für Nacht beschallte sie damit die Wand des Nachbarn. Nach zwei Wochen klingelte die Polizei bei ihr und fragte nach, wann sie ihren Nachbarn zuletzt gesehen hatte. Es waren fast die selben Worte, die selben Fragen, wie die Polizisten sie gestellt hatten, die vorhin bei ihr waren. Bei diesen Gedanken musste sie wieder lächeln. Wie gut, dass sie sich einen ordentlichen Vorrat an Arsen aus ihrer Apotheke aufgehoben hatte.
Und was Herrn Bauer anging. Wie konnte man nur so dumm sein und seinen Ersatzwohnungsschlüssel am Briefkastenschlitz kleben.
Sie würde so etwas nie tun, denn dann könnte ja jeder einfach so in ihre Wohnung spazieren und Unfug anstellen. Sie griff nach ihrem letzten Glas Wein und trank es zufrieden aus. Ihre letzten Gedanken, ehe sie in einem tiefen, vom Alkohol verursachten Schlummer fiel, waren: Aber auf eines bin ich schon gespannt. Auf meinen neuen Nachbar!
(@Martina Köhler, 2011)
Texte: Bild und Text:
Copyrhigt M. Köhler 2011
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2011
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