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Der Riss

Am ersten Tag wurde ich durch das fröhliche Zwitschern von Vögeln geweckt. Verheißungsvolle Lieder von überbordender Lebenslust und der Hoffnung auf einen phantastischen Neubeginn. Zirpende Grillen im hohen Gras hießen mich willkommen und ein dicker rotweiß getigerter Kater lag faul in der Mittagssonne. Barfuß lief ich über die rauen Holzdielen und trat mit klopfendem Herzen an das geöffnete Fenster. Den ersten Sonnenaufgang hatte ich verpasst, aber ich war zu müde von der Reise. Ein lauer Wind blies mir die weiße, hauchdünne Gardine ins Gesicht. Der Stoff -frisch gewaschen und nach exotischen Blumen duftend- glitt durch meine Finger. Während ich mich staunend auf das schmale Fensterbrett mit der abblätternden Farbe stützte, bot sich mir der herrlichste Ausblick. Überdimensionale Hibiskus Blüten, deren Farben Fontänen von Rot, Orange und Lila abfeuerten, wetteiferten mit dem satten Grün der Palmen. Das Meer, gleich einem türkisenen Mosaikteppich, schwappte beruhigend und mit sonorem Rauschen an den weißen Sandstrand. Ich musste lächeln, denn ich war endlich im Paradies angekommen.

Am zweiten Tag hatte ich den Sonnenaufgang miterlebt. Würde ich jemals etwas Schöneres sehen, etwas, was meine Seele so sehr jubilieren ließ? Mir fiel auf, dass die Vögel nicht sangen. Kein einziger wollte sich heute blicken lassen. Also würde ich die gefiederten Sänger selber suchen müssen. Maria hatte mir bereits erzählt, dass sie sich alle vor dem Haus versammelten, wenn der Bäcker das Brot für die Pensionsgäste lieferte. Lässig schlich mir der Kater um die Beine, als ich zu der Vorderseite des kleinen Gästehauses schlenderte. Die Backwaren wurden gerade in die Küche getragen. Doch meine zwitschernden Freunde konnte ich nicht entdecken. Mein Blick wanderte in die Baumwipfel und meine Hand brauchte meine Augen heute nicht vor der Sonne abzuschirmen, denn Wolken waren aufgezogen. Nichts. Keine Spur von den Vögeln.

Am dritten Tag fiel keine Morgensonne in mein Zimmer. Und zum ersten Mal nahm ich wahr, wie einfach mein Zimmer eingerichtet war. Weiß getünchte, glatte Wände ohne Bilder. Ein kleiner, wurmstichiger Holzschrank, der sich nicht verschließen ließ und eine in die Jahre gekommene Waschschüssel, die genügsam in ihrem Eisengestell thronte, nahmen den Raum für sich ein und ließen kaum Platz für den wackeligen Tisch und den niedrigen Hocker. Es roch heute nicht nach Blumen und Früchten und das Meer selbst schien salzige, feuchte Luft in meine Richtung zu blasen. Ich zog eine dünne Strickjacke über meine nackten Arme, da mein buntes Baumwollkleid ärmellos war. Ich konnte Marias Stimme im Frühstücksraum hören, ein energisches Stakkato, welches auf die betagte Köchin herniederrasselte. Die gekochten Eier seien zu weich. Nein, das könne nicht sein, verteidigte sich die Alte, das Wasser spiele verrückt. Ich sah gerade noch, wie Maria ihren Zeigefinger an die Stirn tippte und ihr Personal kopfschüttelnd stehen ließ. Mir fiel auf, dass der dicke Kater nicht zu sehen war.

Am vierten Tag wurde ich durch lautes Geschrei geweckt. Maria stritt mit ihrem Nachbarn. Sie hätte seinen Hund nicht in ihren Kriechkeller gesperrt, auch nicht aus Versehen. Und ihr Kater sei schließlich auch verschwunden. Antonio aber, der am anderen Ende der Straße lebte, hasste Tiere. Zu ihm solle er sich scheren und seinen verlausten Köter suchen. Es war drückend schwül und ein unangenehmer Wind kam auf, der mir Sand in die Augen blies und an meinem verschwitzten Dekolleté kleben blieb. Ich wollte gleich ins Meer gehen, um zu schwimmen und den Staub abzuwaschen, aber Maria meinte, das Wasser sei viel zu aufgewühlt und die Wellen zu stürmisch. Die Fischer seien heute auch nicht hinaus gefahren. Ich war enttäuscht. Das Wasser war tatsächlich grau und Tang sowie Algen wurden energisch an den Strand gespült. Ein Schlechtwetter Tag im Paradies. Ausgerechnet jetzt.

Am fünften Tag erwachte ich und starrte auf einen langen, breiten Riss an der gegenüberliegenden Wand. Putz war auf den Boden gerieselt. Also hatte mein Bett tatsächlich in der Nacht gewackelt und es handelte sich um keinen Traum. Unruhig ging ich zum Fenster, blickte hinaus ins Paradies und entdeckte Maria am Strand. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Das Meer war verschwunden.


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Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2012

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