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Der Waaler




Als versuche jemand sein blutiges Werk mit Watte zu tünchen. Silbergraue Präzision der doch so weich gezeichneten Wahrnehmungen ergriff Besitz von der morgendlichen Landschaft.
Die Weite des Anblicks schien man der klirrenden Kälte dieses jungen Tages zu verdanken. Nur selten begann ein Morgen, wie der Abend zuvor hatte hoffen lassen. Jedenfalls hatte der Waaler das in der Einsamkeit der Natur gelernt. Nur selten sah er die Türme der weit entfernten Burg so klar und deutlich. Die fast surreal anmutende Größe, die jedem Gefühl für Entfernung zu trotzen schien, überraschte ihn.
Kaum ein Mensch war in dem kleinen Dorf im Tal auszumachen. Die sonst so emsige Geselligkeit war über Nacht verstorben. Die eben selbe Stille, kein Bote von Harmonie, sondern die langsam nagende Verwirrung, war im Innern des Waalers gewachsen. Er war es, der dafür sorgte, dass die Dinge ihren Lauf nicht änderten; dass die Veränderung nur Einzug hielt, um sich dadurch selbst zu verhindern. Wenn etwas repariert wurde, dann geschah dies, um die alten Wege wieder herzurichten. Doch war er es, der sich dies gebot? Hatten sie ihm nicht die Arbeit gegeben? Oder hatte er sie sich ausgesucht? Nur eines war klar, wenn er nicht den Lauf des Wassers ins entfernte Tal bewachte, dann würde das Tal aufhören zu existieren. "Dummer alter Narr", dachte er bei sich und kam zu dem Schluss, dass solche abstrakten Beschuldigungen gegen sich selbst vorzubringen ein erstes Anzeichen von Senilität war.
Der ungewöhnliche Anblick dieses jungen Morgens war ihm nur aufgrund eines Notfalls gewährt wurden, denn eigentlich war es viel zu früh, um die erste Kontrollrunde entlang des Waals zu machen. Die Schelle, das wichtigste Werkzeug des Waalers, war verstummt. Das konstante Leuten, der von einem Wasserrad betätigten Glocke, war dem Waaler ein Segen. Wenn die unbarmherzige Nacht herein brach, war er vollkommen allein in der kleinen Waalerhütte, deren karge Einrichtung nur aus einem alten Küchenschrank, einem Bett und einem Ofen bestand. Die Einsamkeit war für ihn zwar nicht ungewöhnlich, denn er war sein ganzes Leben allein gewesen, doch zwang sie ihn, sich mit dem zu beschäftigen, was er hinter sich zu lassen, doch schon so lange wünschte. Das Einzige, das ihn retten konnte, war das konstante Klingen der kleinen Schelle, die den Gedanken keinen Platz einräumen wollte und den Waaler jede Nacht in neblig dichten Schlaf hüllte. Nicht ein einziger Traum hatte seinen Schlaf gestört, seit er den Dienst als Waaler angetreten hatte. Doch in dieser Nacht hatte ihn seine Vergangenheit eingeholt. Ohne Gnade riss sie tiefe Furchen in seinen geordneten Verstand und bahnte sich außerhalb der festgelegten Rinnen, die er innerhalb der Jahre so fest wie seine selbst gehackten Kandeln glaubte, verzweigte Wege. Der düstere Drang des milchigen, schwarzen Rinnsals verstärkte sich. Mehr und mehr der kleinen Ströme verbanden sich zu einer Flut, die ungeachtet jeglicher Befestigung, von allem Besitz ergriff, was sie erfassen konnte und den Druck der Leben spendenden Ader, in einen Todessuhl aus mitgerissenen Erinnerungen verwandelte. Die Schelle war verstummt. Der Waal hatte aufgehört zu fließen. Und auch der reißende Sog der Vergangenheit hatte den Waaler durch sein plötzliches Versiegen freigegeben; die abrupte Stille ihn geweckt.
Er würde die Runde jetzt machen. Keine Zeit war zu verlieren, denn in wenigen Stunden würden die klaren Quellströme im Tal zur Bewässerung gebraucht werden. Die Hitze des Sommers würde ungeachtet der ungewöhnlichen Kälte dieses Morgens kommen und die Zerstörung bringen, die er zu verhindern hatte.
Keine Zeit blieb ihm, zu überlegen inwiefern er nun doch bereit war, die selbe Leere und das selbe Chaos zu erwarten, welche der Strom in seinem Traum zurückgelassen hatte.
Unzählige Male war der Waaler den Weg schon abgeschritten. Meist versunken in der Zerstreuung der ihn umgebenden Natur und doch zugleich konzentriert auf den Verlauf des Waals. Keine Veränderung im Lauf der fließenden Frische war ihm entgangen. Seine Arbeit wurde geschätzt und gelobt, doch auch wenn sie ihn den Waaler nannten, fühlte er keinen Stolz. Ebenso erwartet er auch keinen Dank dafür, dass er die Blumen in einem kleinen Schrein auf halber Strecke seines alltäglichen Wegs goss. Er tat es gerne. Er war nicht gläubig, doch glaubte er es als Brauch und fühlte sich daher verpflichtet.
Gerne akzeptierte er diese eine Verpflichtung, in Hinblick auf den Luxus einer ansonsten vollkommenen Unabhängigkeit, welche ihm doch so lange verwehrt worden war.
Nichts konnte den gleichmäßigen Takt seiner Schritte stören. Einige Abschnitte des Wegs waren gefährlich, vor allem die alte Stiege am Klüftelhang. Viele Geschichten hatte er gehört. Auch heute überkam ihn wieder ein unheimlicher Druck in seiner Brust. Er fühlte keine Angst, denn Angst gebot der Unsicherheit und diese hatte Besitz vom seinem Vorgänger ergriffen. Niemand konnte seine Angst mit Logik vertreiben, doch Dankbarkeit war diesmal auch dem Unglück nahe.
Leise raschelte der lockere Kies unter den Füßen des Waalers. Mit jedem Tritt fasste er neue Gewissheit. Dieses Erdreich war verhängnisvoll, doch das war kein Grund zu fallen. Er sicherte seinen Schritt, nachdem sich ein kleiner Absatz des schmalen Wegs gelockert hatte und in sandiger Bahn zum Tal gerasselt war. Nur er konnte in diesem Moment verstehen, dass sein Vorgänger, der alte Waaler, nicht gestürzt war. Erfahrung hatte ihn dies gelehrt. Erfahrung die ihm deutlich machte, welchen Sinn das staubig heiße Grab des alten Waalers barg.
Nur ein selbstbewusster Sprung konnte dem Waaler auf die Anhöhe des Schwarzfeurers helfen. Die Ortsansässigen mieden den Schwarzfeurer. Er war dem Waaler zwar sehr ähnlich, denn auch er hatte sich für die Einsamkeit entschieden, doch seine Arbeit erschien ungleich mysteriöser. Er arbeitete nur nachts und war tagsüber kaum zu sehen. Der Waaler bekam ihn in diesem Moment das erste Mal zu Gesicht. Der Schwarzfeurer war ein stämmiger, großer Mann. Eher eine dunkle Erscheinung als ein Mensch. Getrübte graue Augen starrten aus den tiefen Höhlen des pechschwarzen Gesichts. Das Dasein als Eremit hatte diesen Menschen gezeichnet. Der Waaler spürte einen stechenden Schmerz in seiner Brust, als er bemerkte, dass der Schwarzfeurer starr vor Schreck geworden war. Das Bild des Waalers war auf seinen Augen festgebrannt. Durch den Ruß schimmerte totenbleiche Haut. Ruckartig verschwand der Schwarzfeurer in seiner moosbewachsenen Hütte. Der Waaler dachte an eine flüchtende Assel, die, ehemals unter dem sicheren Schutz eines Steins versteckt, in Gegenwart des Lichts von schierer Panik ergriffen wird.
Auf die Anhöhe folgte ein dichter Waldabschnitt, den der Waaler sehr genoss, denn er liebte die vom Morgentau getränkte Luft. Vereinzelte Lichtreflexe stahlen sich durch das enge Blattwerk. Vom Waal blieb ein winziges Rinnsal, dessen Tropfen man beinahe hätte zählen können. Der Waaler musste sich beeilen, denn die Begegnung mit dem Schwarzfeurer hatte ihn aufgehalten. In wenigen Stunden würde die Bewässerung beginnen. Die kleinen Lichtreflexe hier, würden im Tal als brütende Hitze die Früchte austrocknen.
Selten hatte ihn an dieser Stelle Unbehagen erfasst, nur die ungewohnte Harmonie hatte ihn anfangs verunsichert, doch nun fühlte er sich getrieben. Ein Schatten verirrte sich zwischen dem fast vollständigen Muster, mit welchem die Blätter den Boden überzogen. Der Blick des Waalers konnte die Erscheinung nicht erfassen. Nicht mehr als vorbeiziehende Hitze hatte der Schatten sich eher durch die Veränderung seiner Umgebung manifestiert. Es blieb keine Zeit, um solchen Hirngespinsten nach zu jagen. Hoffentlich würde sich das Problem bald zu erkennen geben, denn einmal erkannt, bedurfte es meist nur weniger Handgriffe, um, mit Hilfe einiger Dingen aus der Umgebung, den Lauf des Waals wiederherzustellen.
Als der Waaler an den klammen Tunnel gelangte, verdunstete schon die kräftige Morgensonne einige Tropfen des Waals, der nur noch als feuchte Linie aus der modrigen Höhlung wies.
Plötzlich erschien ihm sein Streben so klar zergliedert wie noch nie. Alles lag ausgebreitet vor seinen weit aufgerissenen Augen; seine Antwort weit dort unten, tief in den glitzernden Tropfen des Waals - wie sie voller Trotz gegen das Verdampfen kämpften. Traurige Streiter, in ihrem letzten sturen Widerstand gegen den Übergang in einen freieren Zustand.
War es das? Oder verlor sich nur der Zusammenhalt alles Bisherigen? Sein Hadern hatte schon zu lange von ihm gezehrt. Im Grunde versuchte er doch nicht zu erhalten; er versuchte zu verhindern.
Sein Brustkorb zog sich krampfartig zusammen, ließ seinem Herzen keinen Platz, versagte ihm die feuchte Luft zu atmen. Seltsam ergriffen sah er den Abgrund des Klüftelhangs hinab. Er war nie weiter gekommen; wusste nicht, wie lange er bereits nach unten gesehen hatte, da wo die scharfen Kanten der Bruchsteine von verirrten Schatten umspielt wurden. Irgendwann schaute der Abgrund zurück.
Im Fallen erblickte der Waaler den Schwarzfeurer. Der dunkle Eremit sah über die steile Kante des Hangs; Nicht in die Tiefe, nein. Als seine Augen die des Waalers trafen, zog sich dessen Herz zu einem letzten Schlag zusammen. Zeitlos schien sein Fall. Nur langsam spürte er die spitzen Steinkanten gierig nach seinem Nacken greifen und hoffte ein letztes Mal, dass das Tal sterben würde. Verfaulte Trauben, verrottete Äste, fahle Wiesen, welke Blütenblätter auf den blauen Kadavern der Dorfbewohner.
Er opferte sie alle. Sah noch die aschgrauen Reste seiner lodernden Hütte. War es getan? Würde kein Nachfolger kommen? Der Plan seines Vorgängers vollendet? Das war es doch?
Dickes dunkelrotes Blut vermischte sich voll schwerer Gedanken mit dem Waal.
Es gerann. Stunden später war das Tal überflutet.


Der Erste von Vielen




Ich lebe nun schon seit ich denken kann im Hause meiner Eltern. Ein kleines Kellerzimmer steht mir zur freien Verfügung und ich habe es, so gut es mir gefällt, auch gemütlich und wohnlich eingerichtet. Es ist nicht viel, nur ein paar Schränke für meine Bücher und Hefte, ein Bett, Schreibtisch und ein einfaches Radio, das, um mir die Zeit zu verkürzen und mich zu unterhalten, nahezu ununterbrochen in Betrieb ist. Ein kleines Fenster, durch das das sommerliche Licht und der winterliche Mondschein fällt, erhellt und färbt den Raum zu jeder Tageszeit mit einem angenehmen Licht. Trotz der Kälte im Winter und der klammen Luft im Sommer, erschließt sich mir so eine besondere Arbeitsatmosphäre.
Meine Eltern sehen mich als Teil ihres Hauses und unterstützen mich mit kleinen Dingen, wie Papier, Essen und manchen alten Kleidern, die schon Jahre abgetragen sind, aber keinesfalls den Anschein des Verbrauchten erwecken. Sie verstehen meine Arbeit nicht und bemühen sich, mir dies ständig zu zeigen. Sie sind einfache Menschen, doch das stört weder sie noch mich. So leben wir nebeneinander und manchmal sogar miteinander. Ich arbeite meistens nachts, da mein Beruf dies erfordert, weshalb ich meine Familie kaum sehe, was aber nicht das Zusammenleben beeinflusst und auch keineswegs den Abstand zwischen uns vergrößert.
So wachte ich eines Mittags auf und ging in meinem Zimmer auf und ab. Ich war in großer Unruhe, obwohl das Licht wie immer Farben und Helligkeit von außen in mein Zimmer warf. Ich ging zur Tür, öffnete sie und sah einen weißen Zettel, den ich vorher noch nie bemerkt hatte. Er war im Hochformat mit einer einzelnen Reißzwecke befestigt und vollkommen leer. Ich schenkte dem keine weitere Beachtung und ging nach oben ins verlassene Wohnzimmer. Die Tür stand offen und bedeutete mir nach draußen zu gehen. Ich folgte der Einladung und wurde vom sonnenklaren Wetter zu einem ausgiebigen Spaziergang verführt.
Es war bereits Nacht als mich mein Weg zurück nach Hause führte. Sehnsucht nach meiner Heimat nach der Gewohnheit und dem Alltag hatte mich erfasst. Ich war unterwegs von einigen interessanten Landschaften und Begegnungen aufgehalten worden. Die Eingangstür meines Elternhauses stand erneut weit geöffnet. Mein erster Gedanke beim Eintreten galt dem weißen Zettel, an den ich während meines Spazierganges nicht ein einziges Mal gedacht hatte. Ich rannte durch die verlassene Stube zur Kellertreppe und bemerkte ein Licht, welches mit dunklem, altem Schein die Treppe beleuchtete. Ich hastete die Treppe hinab und sah die Quelle des Lichts. Es schien direkt meinem Zimmer zu entstammen und füllte den Kellerkorridor durch den Türspalt mit einem diffusen Licht, das gerade ausreichte, um mich erkennen zu lassen, dass nunmehr einige Sätze auf dem Zettel entstanden waren.
Ein Mietgesuch für eine geräumige Kellerwohnung. "Möbliert und einzugsbereit", versprach das Angebot, für einen sehr günstigen Preis. Die Schrift konnte ich nicht eindeutig zuordnen, doch sie schien mir sehr hastig und ungenau. Wer könnte so etwas an meiner Tür anbringen und aus welchem Grund? Ich stand eine ganze Weile vor meiner Tür und betrachtete jede Einzelheit des Zettels, wobei mir besonders ein kleiner Riss an der linken unteren Ecke ins Auge fiel. Er war ungewöhnlich groß, als ob jemand mit schneller Bewegung den Zettel abreißen wollte und dabei gehindert wurde.
Ich trat ein. Ein alter, grob schnittiger, zerzauster Mann saß auf meinem Bürostuhl mit dem Rücken zu meinem Schreibtisch, hatte seine dreckigen Füße auf das Kanapee gelegt und bewarf die gegenüberliegende Wand mit Farbe, die er mit der bloßen Hand aus einem riesigen Eimer fischte. Er schien mich nicht zu bemerken, weshalb er sich auch nicht an meinen verwunderten Blicken störte. Ich fragte ihn, was er in meinem Zimmer mache und er antwortete nur mit einem gebrüllten, kaum verständlichen "Raus hier, oder ich nehme alles mit". Ich sah keine Möglichkeit diese abstruse Situation zu kontrollieren und ging deshalb in der Hoffnung meine Eltern anzutreffen nach oben. Ich fand sie still am Tisch sitzend und sich ansehend, wie Menschen, die Geheimnisse nicht teilen wollen, oder die richtigen Worte für eine schmerzhafte Wahrheit suchen. Also fragte ich sie gerade weg, was dieser verkommene Mann in meinem Zimmer veranstalte, worauf keine Antwort kam.
Nach einer kurzen Stille fing mein Vater an zu erklären, dass der Mann ein sehr fleißiger Arbeiter sei, den man aufgrund seiner guten Mietzahlung habe einziehen lassen, denn ich müsse ja verstehen, dass sich der Vater in einer schlechten Lage befinde, da keine Arbeit mehr zu finden sei und welch ein Glücksfall dieser Fremde doch wäre, er heiße übrigens Barabas. Ich fand in diesem Moment keine passenden Worte, sodass mein Vater direkt weitersprach und mir verständlich zu machen versuchte, dass ich doch möglichst gleich nochmal hinunter gehen und Barabas meinen Schlüssel geben sollte, der Nachbar würde schon mit dem Auto warten, mich in die Stadt zu fahren, wo ich dann auf gut Glück eine Arbeit suchen könnte, oder was ich auch immer für richtig hielte. Als ich nach meinen Büchern und Heften fragte, sagte mein Vater nur, die habe Barabas verbrannt, weil sie ihn beim Farben werfen behindert hätten. Er sei ja Künstler und ich solle mir ein Beispiel an seiner harten Arbeit nehmen, denn er habe wohl kaum Schlaf. Mit einem letzten Seitenblick verabschiedete sich auch die Mutter von mir und der Vater deutete noch einmal erinnernd auf die diffus beleuchtete Treppe, von der aus man das Klatschen von des Barabas Farben hörte.
Ich ging also hinab und sah ihn unverändert auf dem Bürostuhl sitzen. Nun mit einem neuen Farbeimer zwischen den vor Schweiß triefenden, dicken Beinen. Als ob ich kilometerweit entfernt wäre, rief er mir nur das Wort "Schlüssel" zu, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Ich nahm den Schlüssel und warf ihn so stark ich konnte dem Barabas entgegen, doch statt ihn zu treffen zerschmetterte er das Glas des Bilderrahmens in dem sich ein Foto von mir und meinen Eltern befand. Barabas sah mich nun mit starrem Blick an und verzog seine aufgesprungenen Lippen zu einem Ausdruck des Unverstehens. Dann zog er ein Messer aus seiner Hose und spießte es mit einem gewaltigen Ruck in das Foto, sodass kleine Glassplitter seine Hand streiften und zerschnitten. "Ich kann nicht verstehen, wie sie mich hier wohnen lassen können...", sagte er und sah mich an, als wäre ich die Verkörperung des gesellschaftlichen Abschaums.
Es war sehr kalt in der Stadt und ich kannte keinen der unzähligen Menschen, die nur vorbei gingen, um mir einen verächtlichen Blick zu zuwerfen. In meiner Hosentasche hatte ich den einzigen Besitz, der mir geblieben war. Ein Obdachloser setzte sich zu mir und fragte, woher ich denn käme. Ich antwortete nicht, da die Kälte meine Lippen betäubt und verschlossen hatte.
Als die tiefe Nacht angebrochen und ich allein auf dem alten Bahnhofsplatz war, zog ich den kleinen, lädierten Zettel aus der Hosentasche auf dem nur eine Zeile stand,"Der Erste, der geht, ist einer von Vielen die aufgeben". Ein Satz, den ich aufgeschrieben hatte bevor ich meinen Spaziergang antrat, den Sinn des Lebens allein zu suchen und den ich in die Hosentasche gesteckt hatte, als ich nebenbei einem alten Mann namens Barabas die Tür meines Elternhauses aufhielt.


Verworren




Kometengleich bewegen wir uns zwischen Annäherung und Distanz. Die Suche nach dem Punkt einer todesgleichen Leere haftet uns seit jeher an, ob wir träumen von paradiesischem Überfluss oder uns in einsam verrauchten Ecken mit Alkohol betäuben.
Meist verläuft diese Gedankenprojektion nicht zweigleisig, sondern wie ein komplexes Gebilde aus verschiedenen hauchdünnen Drähten. Diese Drähte verbinden Wünsche, Träume und Perspektiven mit dem Status Quo. Diesen genau zu definieren, fällt uns oft schwer, denn er ist der Schnittpunkt aller Drähte und so dünn sie auch für sich sein mögen, so unübersichtlich ist ihre Gesamtheit. Oft entgleitet uns deshalb einer dieser Drähte, auch wenn wir uns noch so verzweifelt an ihn klammern. Es gibt Menschen die verkaufen kleine Zettel, mit denen man die Drähte markieren kann, doch in der Dichte des Status Quo ist es sehr schwer so einen Zettel zu befestigen. Dazu kommt das Problem der Fokussierung. Denn so schwer es fällt den Überblick in der Ferne zu behalten, umso schwerer ist es noch, ihn in der Nähe überhaupt zu bekommen.
Nun kann man sich, wie jeder wohl aus Erfahrung weiß, recht leicht verheddern im Netz der Träume und Perspektiven. Vor allem wenn jemand einen aus dem eigenen System der Orientierung reißt. Wenn plötzlich alle Drähte zu durchsichtigen Fäden werden und alles hell vor einem dunklen Untergrund erscheint. Selbst die mit aller Mühe befestigten Zettel verschwinden und auch die Menschen, die sie einem verkauft haben, sind vergessen.
Zuletzt bleibt nur ein einziger Weg, der nahezu unendlich scheint und auf dem man sich zunächst viel leichter zu Orientieren vermag. Doch irgendwann mündet der kleine Weg in eine Straße und diese führt zu einer Stadt, die unbekannt und rätselhaft erscheint und keinen Namen trägt. Ein wenig alleingelassen fühlt man sich, wenn man sie betritt. Denn obwohl das Stadttor nur mit Einladung geöffnet wird, kann keiner der Bewohner eine Karte anbieten. Und selbst jemanden nach dem Weg zu fragen ist hoffnungslos; weiß man doch nicht mal wohin.
Bald wird man jedoch sehr viel Schönes dort erleben. An jeder Ecke werden Einwegfotoapparate verkauft. Abgeben kann man sie allerdings nirgends. Die Stadt bietet immer Neues, Unerlebtes und selbst die immer öfter auftretenden Sackgassen lassen kein Misstrauen aufkommen.
Erst als man sich wieder auf dem Weg befindet, merkt man, dass man die Stadt schon längst verlassen hat und findet sich komplett verheddert in den alten Gedanken. Dies alles will nun nicht mehr richtig passen, man fühlt Verzweiflung und Angst. Kein Hoffnungsfunke, der den Ausweg aus dem Drahtgefängnis weist. Es wird immer dunkler, umso mehr man versucht aus eigener Kraft herauszufinden.
Doch es gibt Menschen, die können erkennen, wenn jemand sich verheddert hat. Und obwohl es einem unmöglich scheint, all diese Drähte zu entwirren, kann doch ein einziges Wort von ihnen soviel Kraft zum Ausbruch geben, dass man selbst erst daran glaubt, wenn man ihnen dafür danken kann. Es erscheint plötzlich lächerlich, zu glauben, dass man die Stadt nie wieder sehen wird. Auch wenn die Erinnerungen daran so schnell verblassen, wie die Fotos, die man nicht entwickeln konnte. Auch wenn alles für immer verloren scheint und man sich in seiner Trauer wohl zu fühlen beginnt.
Sie sagen, die Liebe sei wie ein Erholungsort vom Alltag, für den man ab und zu den Schlüssel verlegt. Doch ich weiß, das sie eine Stadt ist, in die man nur mit Einladung gelangt.

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Tag der Veröffentlichung: 03.01.2010

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