Cover

Als ich eines Nachts in mein Bett kroch, steckte schon etwas unter der Decke. Zuerst erschrak ich, doch dann blickte ich aus dem Fenster in den großen runden Vollmond. Da fiel es mir wieder ein. Wie hatte ich das nur vergessen können! Einmal im Monat, wenn der Mond seine volle Gestalt erreicht hatte, schickte die Mondgöttin nach mir. Ob nur nach mir oder auch nach anderen, das wusste ich nicht. Ich lugte unter die Decke, um nachzusehen, wer mich dieses Mal holte. Am Anfang erkannte ich nicht, was es war. Etwas sehr großes, graues mit Fell. Ob es wirklich grau war, da war ich mir nicht ganz sicher, vielleicht ließen nur Mond und Nacht es so erscheinen. Ich strich durch das weiche Fell und zu meinem Erstaunen war das Wesen warm. Nicht so wie die meisten anderen Mondwesen kalt, sondern warm und lebendig. Das Wesen schlief und ich überlegte, ob ich es wohl aufwecken sollte oder es lieber schlafen ließ. Doch die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn das Tier reckte sich und gähnte und sah mich aus seinen großen, bernsteinfarbenen Augen an. Da erkannte ich, was es war. Ein Wolf, besser gesagt eine Wölfin! Doch nicht irgendeine, sondern Lupa, die treueste Dienerin der Mondgöttin höchstpersönlich!
Dann muss ich mich ja nicht mehr vorstellen, Ivy, hörte ich die klangvolle Stimme der Lupa in meinem Kopf. Du bist nun seit fast fünfzehn Jahren treue Vasallin der Mondin. Meine Herrin hat beschlossen dich weiter in ihr Reich vortreten zu lassen. Komm.
Mit einem großen Satz sprang die Wölfin aus dem offenen Fenster. Ich konnte mich nicht erinnern, es geöffnet zu haben.
Hast du auch nicht, entgegnete die Wölfin ungeduldig, vielleicht auch ein bisschen erbost. Jetzt komm endlich! Spring!
Verwirrt folgte ich den Worten Lupas. Es war ungewohnt eine andere Stimme in meinem Kopf zu hören, nicht viele der Mondwesen konnten das. Und schon gar nicht alle meine Gedanken lesen. Und so sprang ich aus dem Fenster aus dem ersten Stock, wie immer überrascht, dass ich unten nicht hart aufkam.
Folge mir! , rief mir Lupa in Gedanken zu, dann war sie auch schon zwischen den Bäumen des dunkle Waldes, der hinter dem Grundstück meiner Eltern anfing, verschwunden. Ich rannte los, um sie einzuholen, denn auch wenn sie ein Wesen aus Fleisch und Blut war, sie hatte keinen Sinn dafür, dass es auch langsamere Lebewesen als sie geben könnte. Aber genau wie ihr gab auch mir die Mondgöttin Kraft und nach einer Weile liefen wir dicht nebeneinander - Wölfin und Mädchen - durch den Wald.
Doch plötzlich beschleunigte die Wölfin wieder und verschwand erneut zwischen den Bäumen des Waldes, der nicht mehr wie am Anfang aus Kiefern sondern jetzt aus Birken und Eichen bestand. Ich musste abrupt bremsen.
"Halt! Keinen Schritt weiter!", rief mir ein aufgebrachtes Männlein zu. Es hatte sich mir plötzlich in den Weg gestellt und ich wäre beinahe über es drüber gestolpert. Im Schein seiner Laterne, die es in der Hand trug, erkannte ich, dass es ein Zwerg war. Ein ganz gewöhnlicher Zwerg, wie es viele im Dienst der Göttin gab, jedoch hatte dieser keinen silbernen oder goldenen Bart, wie die Zwerge denen ich schon begegnet war, sondern einen fuchsroten, der ihm in komplizierten Verflechtungen bis zu den Knien herunter hing.
"Richtig erkannt", sagte der Zwerg da in barschem Ton. Hatte er meine Gedanken oder nur die Regungen meiner Gesichtszüge gelesen? "Um dich zufrieden zustellen, ja, ich stamme aus dem Reich der Erdzwerge, aber ich stehe im Dienst der Großen Göttin. Also, nenne mir das Losungswort, das diese verdammte Wölfin schon verweigert hat. Warum ist dieses verdammte Mistvieh auch so schnell!“ Erschrocken über die Flüche, die der Zwerg einer so hohen Persönlichkeit wie Lupa anhängen wollte, setzte ich zum Sprechen an.
„Halt! Halt!“, fuhr mich der Zwerg an, „flüstere es mir ins Ohr. Es können Spione in der Nähe sein!“
Also flüsterte ich ihm die Losung, die ich nur zu gut kannte, ins Ohr. Er nickte zufrieden und ließ mich weiter ziehen.
Bald hatte ich Lupa wieder eingeholt, die ungeduldig hinter einem Baum gewartet hatte.
Warum musstest du dich von dem dummen Zwerg aufhalten lassen! Er weiß genau, dass die Herrin uns erwartet, begrüßte sie mich. Ich erwiderte nichts, aber ich wusste ja, dass die Wölfin jeden einzelnen Gedanken kannte, der mir in diesem Augenblick durch den Kopf huschte.
Steig auf!, forderte sie mich auf. Überrascht wie ich war, tat ich erst einmal nichts – außer den Mund aufzusperren.
Jetzt steig schon auf! Wir haben nicht ewig Zeit! Und so kletterte ich ihr auf den Rücken, denn sie hatte gesagt, die Göttin persönlich erwarte uns, und zu ihrem Palast war es ein langer Weg.
Kaum hatte ich Platz genommen, stürmte Lupa los, zwischen den Bäumen hindurch. Es war fast als flögen wir. Ich konnte nicht mehr sagen, wie lange wir so dahin gesaust waren, nur dass es nach anfänglicher Angst unsagbar schön gewesen war.
Genauso plötzlich wie er begonnen hatte, endete mein Ritt auch. Lupa hielt zwischen den letzten Bäumen vor einer großen Lichtung. In diesem Augenblick konnte ich noch nicht sagen, was so besonders an der Lichtung war, nur dass Lupa auf einmal nicht mehr an meiner Seite stand.
Dann trat ich zwischen den Bäumen hervor und der ganze Zauber ward augenblicklich lebendig. Auf der ganzen Lichtung in einem großen Kreis standen viele Tiere, Fabel- und Mondwesen. Füchse, Wölfe, Rehe, Eulen, Adler, ein Elch, ein Bär. Feen, Elfen, Zwerge, Trolle, Gnome, Wichtel, Kobolde, Einhörner, und sogar ein Drache. Alle diese Wesen blickten zu mir. Ich sah an mir hinunter und musste feststellen, dass ich statt meinem Schlafanzug ein reines weißes Kleid trug.
Die ganze Lichtung war in schönes, silbernes Mondlicht getaucht und als ich gen Himmel blickte, sah ich genau über uns den großen, wundervollen Mond.
Aber das aller wunderbarste war die Göttin selbst. Es war nach all den Jahren das erste Mal, dass ich sie traf und ihr Antlitz überragte alle Vorstellungen und Träume, die ich von ihr gehabt hatte. Sie saß auf einem silbernen, von weißen Blüten umrankten Thron, zu ihren Füßen die treue Wölfin Lupa. Ihre Beine wurden von einem weißen, langen, weiten, wassergleichen Rock umwallt. Der Oberkörper steckte in einem ebenso weißen Mieder, das mit silberner Spitze und Stickereien verziert war. Ihr bleiches Gesicht wurde von fließendem, nachtschwarzem Haar umrahmt, das mit einer silbernen Mondkrone geschmückt war. Aber ihr Gesicht war das wunderbarste, was ich je erblickt hatte. Es war von stolzer, mächtiger Schönheit und hatte doch etwas Zerbrechliches an sich. Die Augen fielen am meisten auf, denn ihre Farbe war schwarz. Und dieses tiefe Schwarz wechselte ohne Übergang in reinstes Weiß. Umrahmt waren diese tiefgründigen Augen mit langen, schwarzen Wimpern, die bei einem Menschen nicht natürlich gewesen wären.
Der Mund, dessen volle Lippen von tiefstem Rot waren und der dieses göttliche Gesicht vollendete, sprach nun mit melodischer Stimme zu mir: „Willkommen, Tochter Ivy, willkommen in meinem Reich, meinem Palast. Nach langer Zeit ist heute wieder ein blauer Mond aufgegangen und so geht für ein weiteres meiner Erdenkinder der große Wunsch in Erfüllung.“ Sie sprach leise und doch konnte jeder auf der Lichtung ihre Worte vernehmen. „ Komm nun her zu mir, Ivy.“
Und ich konnte nicht anders als ihren Worten gehorchen und schritt über die Wiese, um mich zu den Füßen der Großen Göttin niederzuknien. „Nicht doch, nicht doch! Steh auf und komm noch näher.“ Sie lachte ein leises klingelndes Lachen. Und wieder hörte ich auf ihr Wort.
Sie klopfte mit der rechten Hand neben sich auf den Thron. „Setz dich, Ivy“, sagte sie mit sanfter Stimme. Ich zögerte, mich auf den Thron einer Göttin zu setzen, doch ihre Aura war stärker und so setzte ich mich nieder.
„Du hast großes Vertrauen bewiesen, Ivy. Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit. Und doch bliebst du treu, auch ohne mich richtig zu kennen!“
„Ihr habt Euch mir gegenüber jede Vollmondnacht bewiesen, o Göttin.“
Wieder lachte sie hell auf. „Nenn mich nicht ,o Göttin’, da komme ich mir so alt vor. Ich habe Namen, wähle doch einen von diesen.“
Und dann sprach sie mit sanfter Stimme weiter: „Nun, dein Vertrauen wird belohnt. Nicht nur, dass du heute hier an meiner Seite feiern darfst, nein, nenne mir deinen größten Wunsch.“
Wäre die Situation anders gewesen, wären mir tausend Sachen eingefallen, doch jetzt fiel mir nur ein einziges Begehren ein: „Lasst mich Eure Tochter sein und Euch ein wenig ähnlich sein.“
„Das bist du doch bereits “, widersprach mir die Göttin lächelnd. „Doch als Beweis dafür soll Lupa deine Freundin sein und dich begleiten.“
Die Wölfin, die mich vorhin noch so abschätzig behandelt hatte, verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse, die ein Lächeln sollte, und heulte ein Heulen der Freundschaft.
Dann erhob sich die Göttin und sprach mit lauter, feierlicher Stimme: „Und nun lasst uns feiern, dass ein weiteres Erdenkind nach Hause gefunden hat!“
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, wurde es auf der Lichtung laut und alle erhoben sich. Es war das schönste Fest, das ich je erlebt hatte, so schön wie es auf der Erde gar nicht sein kann. Wir tanzten und sangen, speisten und tranken.
Stunden später schlief ich müde und zufrieden neben der Mondgöttin ein.

Am nächsten Morgen wachte ich in meinem Bett auf. Die Sonne schien mir ins Gesicht und die Vögel zwitscherten. Ich blieb noch eine Weile im Bett liegen und dachte an die vergangene Nacht. Du denkst jetzt vielleicht, ich hätte das alles nur geträumt, doch die Mondgöttin und ihr Reich gibt es wirklich. Seit dieser Vollmondnacht sind viele Monde vergangen, doch fast jede Nacht und manchmal auch tagsüber kommt Lupa mich besuchen. Und wenn dann wieder ein Vollmond am Himmel steht, holt sie mich ab und zeigt mir die Wunder des Reichs der Großen Göttin.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für meine beste Freundin Marith, dafür, dass sie immer für mich da ist

Nächste Seite
Seite 1 /