Roland Olivier kehrt nach zwei Jahrzehnten an seinen Studienort Cambridge zur Beerdigung seines Freundes David Jonathan zurück. Sie hatten sich vor 20 Jahren aus den Augen verloren. Rolands Reise in die Vergangenheit beginnt im legendären Pub „Eagle“, in dem die Freunde Francis Crick und James Watson am 28. Februar 1953 verkünden, dass sie das Geheimnis des Lebens entdeckt haben. 1962 erhielten die chaotisch-genialen Forscher für die erfolgreiche Entschlüsselung der DNA den Medizinnobelpreis. Inspiriert von Crick und Watson wollten Roland und David auch ein ungelöstes Geheimnis des Lebens enträtseln – das Geheimnis der Freundschaft. Sie ist nicht mit Regeln zu erzwingen oder zu gängeln wie andere menschliche Beziehungen. Freundschaft bewegt sich außerhalb gesellschaftlicher Normen, schafft sich seit vielen Jahrhunderten einen eigenen Raum und hat ihr Geheimnis nie ganz enthüllt.
Schon die antiken Philosophen hatten sich intensiv mit der Freundschaft, ihren Formen und ihrer Bedeutung auseinandergesetzt. Aristoteles’ Gedanken lieferten ein Fundament, das bis heute trägt. Für den Philosophen war Freundschaft Bestandteil des Glücks, etwas, das unabdingbar zum „gelingenden Leben“ gehörte.
Roland und David waren nicht nur Freunde, sie hatten auch versucht, das Geheimnis der Freundschaft in seiner ganzen Tiefe zu ergründen. In der Universitätsbibliothek will Roland den vor 20 Jahren verlorenen Faden wieder aufnehmen. Durch ein Versehen wird er in die Bibliothek eingeschlossen und hat viel Zeit – es ist Ostern – für sein Vorhaben, was ihm recht ist. Rolands Streifzug führt ihn weit zurück, bis vor die Mauern von Troja und zu dem legendären Achilles, von dort aus verfolgt er die Spur der Freundschaft durch mehr als zwei Jahrtausende. Er liest Platon, der mit seinem Freund eine Diktatur der Philosophen errichten wollte, Aristoteles, Cicero, für den ohne Freundschaft die Sonne aus der Welt wäre, Plutarch, der schon früh Hinweise gibt, wie man den Schmeichler vom Freund unterscheidet. Vom Mittelalter, das nur die Freundschaft in Gott kennt, gelangt Roland zur Renaissance und der Wiedergeburt der Antike mit ihrer Tugendfreundschaft. Über die Aufklärung, das 18. Jahrhundert, das wegen seiner geradezu kultischen Verehrung der Freundschaft Jahrhundert der Freundschaft genannt wird, die Industrielle Revolution gelangt er schließlich ins 20. Jahrhundert. Roland verfolgt nicht nur die Gedanken der Philosophen, sondern auch die der Dichter.
Große Namen der Literatur gehören dazu, aber auch ein populärer Autor wie Karl May. Seine Literatur hat immer wieder maßgeblich junge Menschen beeinflusst. Die Liste seiner Fans und Bewunderer liest sich stellenweise wie das Who is Who der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. Dazu gehören Ernst Bloch, Heinrich Mann und Hermann Hesse.
Aber es geht nicht nur um die Geschichten der Freundschaft, sondern auch um ihre Geschichten. Berühmte Freundespaare werden lebendig, wie Lessing und Mendelssohn, Goethe und Schiller. Diese Geschichten sind manchmal auch skurril. So ließ sich Goethe nach der Umbettung Schillers den Schädel des Freundes in seine Bibliothek bringen und ehrte ihn mit einem Gedicht. Sie zeigen darüber hinaus, wie sehr sich Freunde gegenseitig beflügelt haben und dadurch reiche Kulturschätze entstanden sind. Und ganz nebenbei entpuppt sich Knigge als Enfant terrible und Lessing als gefürchteter Feuilletonist.
Dieses Buch verfolgt das Thema Freundschaft auf vielen Ebenen durch die Zeiten. Dabei entsteht ein dichtes, buntes Mosaik aus Theorien, Literatur, Geschichte, Geschichten – immer wieder ergänzt und zusammengefügt durch Rolands Reflexionen und Erinnerungen. Und als die Grenzen verschwimmen, wird auch das Geheimnis gelöst, wie die Glocken von Vineta klingen ...
Das Geheimnis des Lebens wurde am 28. Februar 1953 in einem Pub in Cambridge von zwei Stammgästen enthüllt. Neun Jahre später erhielten sie dafür den Medizin-Nobelpreis. Zwischen Ale und Scotch verkündeten die beiden Freunde Francis Crick und James Watson die erfolgreiche Entschlüsselung der Erbsubstanz DNA. Es war das erste Mal, dass sie ihr Doppelhelix-Modell in der Öffentlichkeit vorstellten.
Mehr als 50 Jahre später trank Roland Olivier an einem Gründonnerstag im Traditionspub „Eagle“ sein zweites Ale. Auch er war einem Geheimnis des Lebens auf der Spur, aber im Gegensatz zu Crick und Watson wusste er es noch nicht. Und es sah am Anfang auch noch nicht so aus. Der 46-jährige Deutsche war nach 20 Jahren in den Ort und den Pub seiner Studentenzeit zurückgekehrt. Was ihn hierhergebracht hatte, war nicht das Leben, sondern der Tod. David Jonathan, sein bester Freund aus dieser längst vergangenen Zeit, war bei einem Segelunfall ertrunken. Die beiden Freunde hatten im Laufe der Jahre den Kontakt zueinander zunehmend verloren und sich nur noch sporadisch geschrieben. Als Roland Olivier die Todesnachricht erhielt, machte er sich auf den Weg. Von der offiziellen Zeremonie hatte er sich früh abgesetzt. Er fand, das war eine Sache zwischen ihm, David und dem „Eagle“, in dem er sich jetzt melancholisch an die alten Zeiten erinnerte. Hier hatten sie sich früher stundenlang die Köpfe heißgeredet. Hier hatten sie große Pläne geschmiedet – und auch über Crick und Watson gesprochen, von deren Großtat ein Metallschild an der Außenwand des Pubs kündet. Es gab Zeiten, da wollten die beiden Freunde einfach genauso berühmt werden wie die mehr als unkonventionellen Forscher und möglichst auf eine vergleichbare Art.
Die chaotisch-genialen Doktoranden Watson und Crick waren ihrem Institutsleiter ein Dorn im Auge. Eigentlich sollte Watson über Viren und Crick über Proteine forschen, aber dazu zeigten sie keinerlei Neigung. Sir Lawrence Bragg, Institutsleiter und Nobelpreisträger, hatte sie in ein gemeinsames Büro verbannt, weil er das Gespann keinem der Kollegen zumuten wollte. Crick und Watson zeigten keinen Respekt vor den wissenschaftlichen Gepflogenheiten ihrer Zeit. Sie waren schrill, schräg, machten Witze – dann nervte Crick seine Kollegen mit lautem Gelächter – und wechselten urplötzlich zu scharfsinnigen und genialischen Betrachtungen, denen nicht unbedingt alle folgen konnten – oder wollten.
Aber die Verbannung war nicht wirklich ein Ärgernis für die beiden Freunde. Denn mit Büros hatten sie es sowieso nicht so und Labore waren auch nicht ihre Welt. Lieber schlenderten sie wild gestikulierend über den Campus von Cambridge oder gingen gleich ins „Eagle“. Zeitzeugen erinnern sich daran, dass die beiden künftigen Nobelpreisträger stundenlang über zwei große Themen redeten: DNA-Strukturen und Mädchen. Rund 50 Jahre später erklärte Watson in einem Interview: „Ich entdeckte die Struktur der Gene, weil ich eine Freundin finden wollte. Das ist wahrscheinlich ganz normal. Warum kauft man ein altes Gemälde? Um Frauen zu gefallen. Warum macht man Karriere? Um ein Mädchen zu kriegen. Ich war damals 25 und hatte mehr die Mädchen als die Gene im Kopf.“
Crick und Watson waren auf eine grandiose Weise ignorant: Einige der besten Wissenschaftler hatten damals die Erforschung der DNA auf ihre Fahnen geschrieben. Bekannt war, dass der Bauplan des Lebens in der Zelle sitzt und aus Basen besteht. Auf Röntgenaufnahmen war schon schemenhaft etwas zu erkennen, das wie eine verdrehte Strickleiter aussah – die DNA. Das ungelöste Rätsel war, wie die Basen in dieses Grundgerüst passten. Und anfangs sah es auch nicht so aus, als ob ausgerechnet Crick und Watson die Antwort darauf finden könnten. Sie hörten sich die Ergebnisse an, aber sie hörten nie genau zu. Wenn sie der etablierten Forscherelite ihre Schlussfolgerungen vorstellten, war das wissenschaftliche Desaster deswegen schon vorprogrammiert.
Der renommierte Molekularbiologe Erwin Chargaff war nach einem Besuch bei dem Duo 1952 völlig irritiert. Sie hatten – mal wieder – bewiesen, dass sie mit Chemie nicht allzu viel anfangen konnten und schlicht die Molekülstrukturen der Basen vergessen. Und überdies machten sie auch noch seltsame Bemerkungen. Der merklich erschütterte Chargaff nannte sie „wissenschaftliche Clowns“ und formulierte in späteren Erinnerungen an das Treffen: „Es war mir klar, dass ich einer völligen Neuheit gegenüberstand. Enormer Ehrgeiz und Angriffslust, vereint mit einer fast vollständigen Unwissenheit und Verachtung der Chemie, dieser realsten aller Wissenschaften.“
Es konnte wohl nur Crick und Watson gelingen, angesichts dieser dramatischen Unkenntnis letztlich doch Erfolg zu haben. Denn gleichzeitig setzten sie bei ihren Forschungen alles auf die Frage nach der chemischen Struktur der Gene, was damals kein anderer Wissenschaftler in dieser Ausschließlichkeit tat. Crick und Watson sparten sich die mühselige Kärrnerarbeit im Labor. Sie nahmen die Ergebnisse vorhandener Forschungen, konzentrierten sich erstmals einen knappen Monat lang und hatten das Modell der Doppelhelix-Struktur des DNA-Strangs. Es war nicht im Labor entstanden, sondern vor ihrem „geistigen Auge“ im Reich der Imagination.
Chargaff brachte die Leichtigkeit, mit der die „wissenschaftlichen Clowns“ ihr Ziel erreichten, völlig durcheinander. Er selbst hatte „viele schweißbedeckte Jahre“ und „unzählige Stunden“ mit seinen DNA-Forschungen verbracht. Angesichts des Erfolgs von Crick und Watson „konnte ich nicht umhin, äußerst verblüfft zu sein“, erklärte Chargaff. In seinen Memoiren räumte Crick später ein: „Es stimmt, dass wir beim Herumpfuschen über Gold stolperten. Tatsache bleibt aber, dass wir auf Gold aus waren.“
Dass sie überhaupt den Nobelpreis bekamen, verdankten sie aber auch ihrer Neigung zu Partys. Peter Pauling hatte zwar die Gene des Vaters, aber nicht dessen Brillanz geerbt. Linus Pauling war der wohl renommierteste Chemiker seiner Zeit und erntete zwei Nobelpreise für sein Schaffen. Der für die Entdeckung der DNA-Struktur war allerdings nicht darunter, obwohl Linus Pauling sehr nah dran war. Was Peter an wissenschaftlichem Talent fehlte, machte er – ganz im Sinne Crick und Watsons – durch legendäre Partys wett. Sir Lawrence Bragg schaute sich eine Weile das Treiben des Neuzugangs im Cavendish Laboratory an und steckte ihn dann ins Büro von Crick und Watson. Die drei sprachen über das Übliche: die DNA und die Vorzüge der Frauen aus unterschiedlichen Ländern. Watson erinnerte sich fast fünfzig Jahre später: „Peter und ich haben im gleichen Laboratorium gearbeitet, und wir waren beide hinter Frauen her. Ich bin dabei nur unglücklich geworden, Peter aber hat echte Probleme bekommen. Die Frauen mochten ihn zu sehr.“
Auf das fröhliche Treiben fiel ein finsterer Schatten, als Peters Vater seinem Sohn Ende 1952 in einem Brief mitteilte, dass er sich wieder der Erforschung der DNA zuwenden wolle. Das war ein echter Schock für die chaotischen Forscherfreunde. Linus Pauling fürchteten sie wirklich als Konkurrenten.
Der zuverlässige Peter gab seinen Party-Freunden auch das unveröffentlichte Manuskript, das ihm sein Vater in der ersten Februarwoche 1953 zusandte. Darin stellte er sein Modell zum Aufbau der DNA vor – es war schraubenförmig, wie das von Crick und Watson, die sich schon am Ende ihrer Träume wähnten. Doch dann stellten sie fest, dass der Meisterchemiker die Nukleinsäure nicht richtig dargestellt hatte – ein dummer Anfängerfehler. Die Gefahr war, dass auch Linus Pauling das bemerkte. Crick und Watson gaben sich sechs Wochen bis Mitte März, um das Rennen um den Nobelpreis zu gewinnen. Sie gingen früher durchs Ziel. Als sie am 28. Februar 1953 im Eagle verkündeten: „Wir haben das Geheimnis des Lebens entdeckt.“, hatten sie es am Morgen dieses Tages tatsächlich geschafft. Crick und Watson waren sich ihrer Sache sehr sicher, allein weil das Modell „viel zu schön war, um nicht richtig zu sein.“ Das Geheimnis war geknackt worden von einem Ex-Physiker (Crick) und einem ehemaligen Studenten der Ornithologie (Watson). Sogar Sir Lawrence Bragg zollte dem zwei Meter hohen Modell der Doppelhelix höchsten Respekt. Allerdings sah er es erst eine Woche später, am 28. Februar lag er mit Grippe im Bett.
Der Artikel zum Aufbau der Doppelhelix erschien am 25. April 1953 in „Nature“ – er zählte ganze 128 Zeilen und 900 Wörter, war mit einer schlichten Zeichnung illustriert und endete mit dem Satz: „Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die spezifische Paarbildung, die wir hier voraussetzen, unmittelbar einen möglichen Kopiermechanismus für das genetische Material nahe legt.“ Die Geschichte der Entdeckung des Doppelhelix-Modells ist auch die Geschichte zweier Freunde, die sich gegenseitig auf so hohem Niveau inspirierten, dass 1 plus 1 nicht 2, sondern 10 ergeben habe, wie es ein Kollege der beiden Forscher beschrieb.
Roland Olivier und David Jonathan hatte die Geschichte der Freunde und Nobelpreisträger immer sehr gut gefallen. Die Missachtung der Autoritäten, die Verachtung vorgefasster Meinungen und Traditionen konnten sie genau so gut nachvollziehen wie das Interesse an Mädchen und Partys. Crick und Watson hatten ihre Rebellion mit einem Nobelpreis gekrönt – das konnte sich doch nun wirklich sehen lassen … Eines Abends beschlossen Roland und David bei einem Ale im „Eagle“, dass auch sie eines Tages in diesem Pub ein bedeutendes Geheimnis des Lebens verkünden würden. Und sie wussten auch schon, worum es gehen sollte. Francis Crick hatte sich Ende der 70er Jahre einem anderen großen Geheimnis des Lebens zugewandt, dem menschlichen Bewusstsein und seinem Ursprung. Crick behauptete, er könne dieses Geheimnis mit naturwissenschaftlichen Methoden lösen, aber der große Durchbruch blieb ihm diesmal versagt. Roland und David faszinierte diese Frage. Aber sie wollten auf völlig andere Weise an das Problem herangehen. Ungewöhnlich sollte der Weg sein. Es war das „Eagle“ selbst, dass sie auf die erste Idee brachte.
Seit dem Auftritt von Crick und Watson hatte sich in dem Pub nur wenig geändert. Der solide dunkle Holzboden hatte schon ganze Generationen getragen, Mobiliar und Täfelung an den Wänden waren aus dem gleich haltbaren Material. Wer einen belastbaren Blick in die Zukunft wagen wollte, konnte es hier tun. Der 400 Jahre alte Pub würde auch in 50 Jahren noch so aussehen. Im „Eagle“ kreuzen sich die Zeitlinien. Viele große Geister – wie etwa Charles Darwin – hatten zu ihrer Zeit an den massiven Tischen Platz genommen. Und manche Geister können sich anscheinend gar nicht mehr vom „Eagle“ trennen. Das „Cambridge GHOST BOOK“ bescheinigt dem Pub eine „long-standing reputation as a haunted building“. Diverse Geister aus verschiedenen Epochen sollen bereits gesichtet worden sein. Und von einem Tisch wird berichtet, dass er sich manchmal heftig bewegt. Den Gästen, die hier Platz nehmen, wird von der Pub-Leitung empfohlen, die Gläser stets festzuhalten. Warum, fragten sich Roland und David, sollten nicht die Geister den Weg zum menschlichen Geist weisen?
Auch die Colleges von Cambridge sind ein Biotop für Gespenster. So wird der Geist von Oliver Cromwell angeblich gelegentlich im Sidney Sussex College gesichtet, in das er am 23. April 1616 eintrat. Es war der Tag, an dem Shakespeare starb. Rund 350 Jahre später wurde der einbalsamierte Kopf des Mannes, der im Bürgerkrieg Charles I. hinrichten ließ, in einer Keksdose aus Zink an geheimer Stelle in der Kapelle des Colleges beigesetzt.
Charles I. hatte 11 Jahre versucht, ohne Parlament zu regieren. Als er es 1640 wieder einberief, ging es ihm um höhere Steuern für den Krieg gegen Schottland. Die Gegner des Königs – darunter Cromwell – forderten im Gegenzug mehr Rechte. Charles I. wollte die Opposition verhaften lassen, doch die kam ihm mit einem Staatsstreich zuvor. Cromwell finanzierte aus eigener Tasche die Ironsides, die beste Reitertruppe des Parlaments, die letztlich Schlacht entscheidend im Bürgerkrieg der Royalisten gegen die Bürgerlichen war. Cromwell wurde Lordprotektor von England, Schottland und Irland und lehnte stets die ihm angebotene Königskrone ab.
Nur sehr wenige Menschen wissen, wo genau Oliver Cromwells Kopf jetzt liegt. Damit sollte ausdrücklich verhindert werden, dass Royalisten oder andere, die Cromwells Taten missbilligen, den Kopf entweihen. Für diese Vorsichtsmaßnahme gibt es sehr gute Gründe. Der zu Lebzeiten mächtige Cromwell wurde 1658 in Westminster Abbey bestattet. Schon 1660 kehrte der Sohn Charles I. nach England als König zurück. Charles II. kündigte eine Amnestie für alle am Bürgerkrieg Beteiligten an – ausgenommen waren nur die, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren. Es war zu spät, um Cromwell zur Verantwortung zu ziehen, aber Charles II. wollte zumindest ein Exempel statuieren. Schließlich wurde Cromwell posthum hingerichtet und sein einbalsamierter Kopf an einer Stange auf dem Parlament ausgestellt. Ein Sturm wehte ihn 1688 herunter und ein Wachsoldat stahl den Kopf von Cromwell; der Soldat gestand das erst 1702 auf seinem Totenbett und gab seinen Verwandten auch das Versteck im Kamin preis.
Später verkaufte die Familie ihr einzig wertvolles „Erbstück“ an einen Museumsbesitzer in London. Nach dessen Tod wurde das Museum aufgelöst und der Schauspieler Samuel Russell erwarb 1773 den Kopf. Pikanterweise war Russell – ein Abkömmling von Cromwells Tochter Francis – ohne jeglichen Familiensinn. Als der Verkauf an das Sussex College misslang, stellte er den Kopf nahe Covent Garden in London öffentlich aus. 1787 kaufte ein Antiquitätenhändler den Kopf und verkaufte ihn mit erheblichem Gewinn 1799 an die Gebrüder Hughes. Cromwell war immer noch ein gutes Investment. Am 18. März 1799 erschien eine Anzeige im „Morning Chronicle“, in der angekündigt wurde, dass der „Kopf des mächtigen und berühmten Usurpators Oliver Cromwell“ gegen Geld im „Mead Cort/ Old Bond Street (wo im vergangenen Jahr die Klapperschlange gezeigt wurde)“ besichtigt werden könne. Die Ausstellung wurde ein Flop. Vielleicht hatte es die potenzielle Kundschaft gestört, dass Cromwell endgültig zu einer Art Rummelplatzattraktion heruntergekommen war, vielleicht war aber auch nur der Eintrittspreis zu hoch gewesen. 1814 kam Cromwells Kopf in den Besitz der Familie Wilkinson, die ihn 1960 an das Sussex College übergab. Heute steht Cromwells Statue vor dem Parlament und in einer BBC-Umfrage kam er unter die zehn beliebtesten Briten.
Roland und David hatten sich schon früh für Geschichte interessiert. Und Sydney Sussex war das College, das sie als Historiker bevorzugt hatten – allein schon wegen der Geschichten um Cromwell. Beide wurden im selben Jahr aufgenommen. In Cambridge, wo sich unter anderem Isaac Newton und Stephen Hawking um das rationale Denken verdient machten, stehen Geister nicht im Widerspruch zum Geist der Vernunft. Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten Fellows des Trinity Colleges den Ghost Club. Vornehmlich ging es um eine naturwissenschaftliche Erklärung dieser Phänomene.
1862 zog der Club nach London um und trifft sich dort heute im renommierten „The Victory Services Club“, der als Militärclub gegründet wurde und sich mit so prominenten Namen wie Marschall Montgomery schmücken kann. Das Clubjahr beginnt und endet jeweils am 31. Oktober – eine Reminiszenz an die Zeit, als zu Allerseelen die Namen der lebendigen und toten Clubmitglieder verlesen wurden. Denn traditionell endet die Mitgliedschaft dort nicht mit dem Tod. Ein prominentes Mitglied war/ist Charles Dickens. Cambridge kann im keinesfalls spukarmen Groß-Britannien die meisten Geistererscheinungen vorweisen (selbst das Tourist Office ist davon nicht verschont), was sicherlich auch an den Nebeln des Flusses Cam liegt, die aus der Sumpflandschaft rund um die Stadt auftauchen und durch ihre Straßen wabern. Kein Wunder, dass hier seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine der größten Sammlungen paranormaler Studien weltweit entstand, die 1991 an die Universitätsbibliothek Cambridge ging.
Cambridges Colleges haben gleichzeitig mehr Geister und mehr Nobelpreisträger hervorgebracht als jede andere Universität auf dem Globus. Und auf dem alehaltigen Nährboden des „Eagle“ blühte so manche Theorie erst zur Vollreife auf – wie die von Crick und Watson.
Roland erinnerte sich, wie er mit David auf den Geisterpfad von Cambridge gegangen war, und lächelte. Sie hatten sich ganze Nächte um die Ohren gehauen und auch einige wohlige Schauer verspürt. Aber eines Nachts stellten sie fest, dass ihnen Partys und Mädchen näher waren als alle Geister von Cambridge. Roland und David gaben ihren Plan nicht auf, das Rätsel des Bewusstseins zu entdecken, und warteten darauf, dass auch bei ihnen „1 plus 1 nicht 2, sondern 10 ergeben“ würde wie bei Crick und Watson. Und eines Tages hatten sie die Lösung. Sie mussten etwas im menschlichen Bewusstsein finden, was seit Jahrtausenden die Menschen beschäftigt hatte und bis heute beschäftigt. Etwas, das von der Wirkung her mächtig war und ist, aber alle Merkmale des Rätsels trug und damit vielleicht zur Lösung des Rätsels vom menschlichen Bewusstsein führte. Etwas, das wie bei den Freunden Crick und Watson 10 ergeben würde, auch wenn es nur zwei waren. Schließlich fanden sie ihren Weg: Es sollte um Freundschaft gehen. Schon die antiken Philosophen hatten sich damit auseinandergesetzt und durch alle Zeiten hindurch hat sie nie ihren Nimbus verloren. Stets wurde sie als anstrebens- und lobenswert betrachtet.
Die Freundschaft ist eine der engsten und intensivsten menschlichen Beziehungen, kennt aber kaum Vorgaben und sicher kein komplexeres soziales Regelwerk. Und doch weiß jeder, wer sein Freund ist, und Freundschaften haben einen eindeutigen und unverwechselbaren Charakter. Freundschaft kommt fast ohne Normierung aus und zieht ihre Kraft aus gemeinsamen Handlungen. Sie verlangt Authentizität, Wahrhaftigkeit und Anteilnahme. Das Verhältnis zwischen Freunden ist zutiefst persönlich und nicht primär zweckgesteuert. Damit hat sie einen besonderen Status in einer Welt, die sich hauptsächlich an Zweck und Ergebnis orientiert. Freundschaft schafft sich seit vielen Jahrhunderten einen eigenen Raum, sie wirkt wie aus der Zeit gefallen und hat ihr Geheimnis nie enthüllt.
Auch die beiden Freunde konnten damals das Rätsel nicht lösen. Zu viel war dazwischengekommen und dann stand das Examen an, nach dem sie beide Cambridge verließen. Nach einigen sporadischen Kontakten hatten sie schließlich sich und ihren Versuch, dem Geheimnis der Freundschaft auf die Spur zu kommen, aus den Augen verloren. Bis heute hatte auch Roland nicht mehr daran gedacht. Doch plötzlich wusste er, was er seinem Freund schuldig war. Er musste in die Universitätsbibliothek mit ihren 9 Millionen Bänden und den vor 20 Jahren verlorenen Faden wieder aufnehmen. Hier hatten sie damals nach den Spuren gesucht, um das Geheimnis der Freundschaft zu ergründen. Er stand auf und zahlte. Als er das „Eagle“ verließ, sah er aus dem Augenwinkel, wie der Tisch, an dem er gesessen hatte, leicht wackelte. Es kam ihm vor wie eine Zustimmung, aber sicherlich hatte er sich nur geirrt.
Der Weg durch das mittelalterliche Cambridge war wie eine Zeitreise für Roland zurück in die Jahre der Freundschaft. Er hörte den Westminsterschlag der Glocken von St Mary the Great. Denn der berühmte „Westminster Chime“ von Big Ben ist eigentlich ein „Cambridge Chime“. Der Originalklang wurde Ende des 18. Jahrhunderts für St Mary the Great komponiert, der Stadtpfarr- und Universitätskirche von Cambridge. Erst seit 1859 ertönt dieser weltbekannte Klang auch im Big Ben. Roland sah sich und David wieder durch die Straßen schlendern. Zwei junge Männer, scherzend, lachend oder in bedeutende Betrachtungen und Theorien vertieft. Die fröhlichen Erinnerungen wandelten sich in Melancholie. Roland hatte nie wieder eine so tiefe und intensive Freundschaft erlebt. Er hing seinen Gedanken nach, bis der 48 Meter hohe Turm der Cambridge University Library vor ihm auftauchte. Wenn der rötliche Turm in der Form an eine Telefonzelle erinnert, ist das nicht weiter verwunderlich. Das Gebäude wurde zwischen 1931 und 1934 nach einem Entwurf des Architekten Giles Gilbert Scott errichtet, der überall auf der britischen Insel seine unübersehbaren Spuren hinterlassen hat. Von ihm stammen die knallroten Telefonzellen. Scott ist auch verantwortlich für die Kathedrale von Liverpool. Einen bereits vorhandenen Entwurf mit zwei Türmen modelte er um, bis nur noch ein großer, breiter Turm übrigblieb. Er ist übrigens rötlich.
Der Turm der Bibliothek ist sechs Fuß (1,82874 m) kürzer als die Spitze der St-John’s-College-Kapelle, überragt aber die Spitze der berühmten King’s-College-Kapelle um zehn Fuß (3,0479 m). In Cambridge ist so etwas wichtig. Die Universität ist der Legende nach 1209 entstanden, als Dozenten und Studenten Oxford verließen. Zuvor soll es dort massive Auseinandersetzungen mit den anderen Einwohnern von Oxford gegeben haben. Offizielles Gründungsjahr ist 1284, als mit Peterhouse das erste College entstand.
31 Colleges gibt es in Cambridge. Sie sind unabhängig von der Universität, in der die Studenten zentral studieren. Die wichtigere Ausbildung erhalten sie aber in den kleinen Lehrgruppen der Colleges. Diese entscheiden darüber, wer bei ihnen als Student aufgenommen und wer Dozent und Lehrender (Fellow) wird. Bei allen Unterschieden eint eines die Colleges: Nur die Fellows dürfen den Rasen betreten. So weit war Roland nie gekommen. David schon, der sich einen exzellenten Ruf als Spezialist für Cromwell erworben hatte und als Fellow in Cambridge geblieben war.
Roland betrat die Universität mit ihren großen Lesesälen, den langen Fluren und den verschwiegenen Ecken mit abgetrennten kleinen Räumen im dunklen Holz, die an Beichtstühle erinnerten. Die Universitary Library ist ein Moloch, der jährlich zwei Kilometer Neuanschaffungen an Büchern verschlingt und nicht eines wieder hergibt. Die Präsenzbibliothek muss deswegen immer weiterwachsen und verschafft sich Platz mit Anbauten. Wer es nicht wollte, wurde in der Bibliothek nicht gefunden. Studenten hatten schon gewettet, dass sie unbemerkt vom Wachpersonal eine Nacht in der Bibliothek verbringen konnten, und gewonnen.
Roland Olivier wusste, wo er als Erstes suchen musste. Er und sein Freund waren während ihrer Jagd nach den Geistern von Cambridge auf die Geschichte zweier Freunde im Christ’s College gestoßen, die tragisch endete. Roland Olivier konnte sich nicht mehr ganz daran erinnern, aber in seine melancholische Stimmung passte Tragik ganz gut. Er wollte die Geschichte nachlesen und zog sich mit dem „Cambridge GHOST BOOK“ in einen der holzgetäfelten, uneinsehbaren kleinen Räume zurück. Hier hatte er auch häufig mit David gesessen – es war ihr Lieblingsplatz. Roland wollte mit der Geschichte und seinen Erinnerungen allein sein. Er blätterte in dem Band und dann entdeckte er das Gesuchte.
Christopher Round und Philip Collier trafen sich am Christ’s College in Cambridge im frühen 19. Jahrhundert. Die Studenten der klassischen Sprachen wurden Freunde, obwohl sie sehr unterschiedlich waren. Philip Collier war charmant und hatte ein gewinnendes Äußeres. Round arbeitete härter als Collier, aber er konnte mit dem Stil und dem Auftritt seines Freundes nicht mithalten.
Collier gewann einen Preis nach dem anderen bei akademischen Wettbewerben, während Rounds Leistungen nur ehrenhaft vermerkt wurden. Nach ihren Abschlüssen wurden beide Fellows des Christ’s Colleges und bezogen dort Appartements. Bald wurde Collier zum Professor für Griechisch ernannt, er wurde dabei dem mehr methodisch arbeitenden Christopher Round vorgezogen. Wieder einmal war Collier an seinem Freund Round vorbeigezogen.
Dann verliebten sich auch noch beide Männer in dieselbe Frau. Mary Clifford nahm zur Enttäuschung von Christopher Round den Heiratsantrag von Philip Collier an. Nach der Hochzeit verwandelte sich Philip Collier völlig. Er vernachlässigte seine Pflichten, verschwand über längere Zeiträume. Wenn er im College war, wirkte er fahrig, seine Stimme war schleppend und er roch nach Alkohol. Christopher Round konnte den Gedanken kaum ertragen, dass er die immer noch von ihm geliebte Mary Clifford und seine Professorenschaft an einen unverbesserlichen Trinker verloren hatte.
Eines Nachts ging Round auf dem College-Gelände spazieren und sah, wie Collier stolperte und in den Teich im Fellow’s Garden fiel. Round wollte Collier mit einem schweren Tau, das er auf den Boden fand, aus dem Teich ziehen. Doch dann überwältigten ihn Ärger und Eifersucht. Warum sollte er einem Trunkenbold helfen, der ihm die Frau und die Professorenstelle weggenommen hatte? Round hob das Tau und schlug es Philip Collier auf den Schädel. Am nächsten Tag wurde die Leiche gefunden. Die Polizei ging von einem Unfall aus. Mary Clifford verließ mit gebrochenem Herzen Cambridge und kehrte nie zurück.
Später erfuhr Round, dass sie an einer unheilbaren Krankheit gelitten hatte. Nur eine Operation hätte sie retten können. Doch damals waren solche Eingriffe sehr schmerzhaft, denn die Anästhesie steckte im Viktorianischen Zeitalter noch in den Kinderschuhen. Nur wenige Ärzte experimentierten damals mit dieser neuen Methode. Philip Collier hatte für seine Frau einen Arzt gesucht, der die Anästhesie vornehmen konnte. Und in seiner Verzweiflung, ihr zu helfen, hatte er die narkotischen Mittel an sich selbst ausprobiert. Das war der Grund für sein völlig verändertes Verhalten.
Christopher Round hatte nicht nur seinen Freund ermordet, sondern auch Mary Clifford die Chance genommen, ihr Leben zu retten. Sie ließ sich nie operieren und starb an den Folgen ihrer Krankheit. Für den Rest seines Lebens blieb Christopher Round, geplagt von Schuld, im Christ’s College. Er war ein einsamer Mann, versenkte sich in seine Studien und lehnte jedes Angebot auf Beförderung ab. Niemals sprach er über Philip Collier und Mary Clifford.
Als er starb, hinterließ er einen Brief, der erst 50 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden sollte. In dem Umschlag fand man das Geständnis. Angehörige des Colleges berichten immer wieder von einem alten Mann in der Kleidung des Viktorianischen Zeitalters, der nachts durch den Fellow’s Garden geht. Obwohl sein Gesicht von einem Hut verdeckt ist, berichten alle Augenzeugen, dass ihn eine Aura des Kummers und des Unglücklichseins umgibt. Immer geht er zu dem Teich, in dem Collier starb und verschwindet dann in den Schatten. Zeugen bestätigen, dass sie danach Schritte im Fellow’s Building gehört hätten und das Geräusch einer Tür, die sich öffnet und schließt. Hinter dieser Tür liegt das Zimmer, in dem Christopher Round gelebt hatte.
Geschrieben hatte diese Geschichte der Christ’s-Church-Absolvent Alfred Ponsford Baker im Jahr 1918. Doch obwohl die Novelle „A College Mystery“ reine Fiktion war, hielten die meisten Leser sie für wahr. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischen sich gelegentlich in Cambridge, besonders dann, wenn die Nebel aus dem Cam aufsteigen.
Freundschaft ist ein starkes Gefühl, Neid und Eifersucht auch. Round hatte sich von der dunklen Seite der Gefühle übermannen lassen. Er hatte nicht nur den Freund, sondern auch das Prinzip der Freundschaft getötet, in der Neid und Eifersucht keinen Platz haben dürfen, und musste dafür in alle Ewigkeit als trauriger und verlorener Wiedergänger büßen. Und mit der Freundschaft hatte er zugleich die Liebe getötet, die kranke Mary Clifford konnte wegen seiner Tat nie mehr geheilt werden. Auch wenn die Novelle in einigen Passagen so konstruiert schien, als würden launische Götter ihr Spiel mit den Menschen treiben, verabredeten Roland und David im „Eagle“, dass es zwischen ihnen niemals Neid und Eifersucht geben sollte, und hielten Wort. Zu Ponsfords Zeiten waren Latein und Altgriechisch noch Pflicht in Cambridge und die Protagonisten der Novelle studierten klassische Sprachen. Antike Autoren hatten sich mehrfach mit dem Thema Freundschaft auseinandergesetzt. Und erinnerte das Drama der Freunde Christopher Round und Philip Collier nicht an eine antike Tragödie? Hatte Ponsford das Thema Freundschaft zum großen Stoff erhoben, auch weil er die antiken Schriften gut kannte? Die Freunde hatten sich entschlossen, diese Spur auf dem Weg zur Lösung des Rätsels zu verfolgen. Roland Olivier holte sich die Bücher – sie standen noch da, wo sie schon vor 20 Jahren gewesen waren – und zog sich in seinen entlegenen stillen Winkel zurück. Er zog seinen Füllfederhalter und ein Notizbuch aus der Tasche und legte beides griffbereit hin. Den Füller hatte er schon in Cambridge benutzt, er war auch ein Erinnerungsstück. Roland und David hatten damals, noch bevor sie sich kannten, Füller der gleichen Marke für das Studium geschenkt bekommen. In der Bibliothek hatten sie viele Seiten mit ihren Notizen gefüllt. Dabei hatte Roland grundsätzlich blaue und David immer schwarze Tinte benutzt.
Roland nahm Homers Ilias in die Hand und schlug das Buch auf. Es hatte immer auch berühmte Freundespaare in der Literatur und im Mythos gegeben. So auch in der Ilias, der ältesten griechischen und somit abendländischen Dichtung überhaupt aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts vor Christus. Freundschaft spielte also schon im Urgrund des Abendlands eine wichtige Rolle. Das Freundespaar Achill und Patroklos endete tragisch, auch weil ein Gott es so wollte. Achill hatte sich wütend vom Kampf zurückgezogen, weil der Heerführer Agamemnon ihm die Sklavin Briseis weggenommen hatte, für die der große Held der Griechen große Gefühle empfand. Dadurch gerieten die Griechen vor Troja in eine schwierige Lage. Seine Mitstreiter flehten ihn an, wieder in den Kampf einzugreifen. Doch nichts konnte ihn erweichen, bis sein Freund Patroklos im Kampf fiel. Er hatte die Rüstung des Achilles angelegt, und die Trojaner meinten, den griechischen Erzfeind vor sich zu haben. Die Freundschaft war mächtiger als jede Kränkung. Es war ein Gott, der beide Freunde tötete. Apollon, auf der Seite der Trojaner kämpfend, brachte Patroklos zu Fall. Er machte ihn wehrlos und so wurde Patroklos eine leichte Beute für Hektor. Und schließlich schoss Paris dem Achilles einen vergifteten Pfeil in die Ferse. Es war aber der Gott Apollon, der die Hand des Paris lenkte. Aus Rache für den toten Freund tötete der rasende Achilles Hektor und fesselte zwölf lebende Jünglinge als Totenopfer für Patroklos. Roland Olivier fand die Stelle in der Ilias, die er gesucht hatte, im 13. Gesang und las.
Reisige Myrmidonen, ihr wertgeachteten Freunde,
Auf, noch nicht den Geschirren entlöst die stampfenden Rosse;
Sondern zugleich mit Rossen und rollenden Wagen uns nahend,
Weinen wir erst Patroklos; denn das ist die Ehre der Toten. Aber nachdem wir die Herzen des traurigen Grames erleichtert,
Lösen wir unsre Gespann', und schmausen allhier miteinander.
Sprach's, und begann Wehklag'; auch klageten alle Genossen.
Dreimal lenkten sie rings schönmähnige Ross' um den Leichnam,
Trauernd, und Thetys erregte des Grams wehmütige Sehnsucht.
Nass war der Sand von Tränen, und nass die Rüstung der Männer,
Welche den Held vermissten, den mächtigen Schreckengebieter.
Peleus' Sohn vor ihnen begann die jammernde Klage,
Hingelegt die mordenden Händ' auf den Busen des Freundes:
Freude dir, o Patroklos, auch noch in Aïdes Wohnung!
Alles ja wird dir jetzo vollbracht, was zuvor ich gelobet:
Hektor dahergeschleift den zerfleischenden Hunden zu geben;
Auch zwölf Jünglinge dir am Totenfeuer zu schlachten,
Trojas edlere Söhn', im Zorn ob deiner Ermordung!
Sprach's, und schändlichen Frevel ersann er dem göttlichen Hektor,
Vorwärts am Leichengewand des Menötiaden ihn streckend
Hin in den Staub.
Roland erinnerte sich an einen Satz von Immanuel Kant zu dem griechischen Helden: „Der Zorn eines Furchtbaren ist erhaben, wie Achilles’ Zorn in der Iliade.“ David und er hatten nie so ganz verstanden, wie Kant diese Äußerung mit seinem kategorischen Imperativ in Einklang brachte. Achilles verstieß gegen elementare Regeln der damaligen Zivilisation, als er Hektors Leichnam die Bestattung verweigerte und ihn schändete. Achill hatte in seiner Raserei die Pflichten gegenüber seinem toten Freund so vernachlässigt, dass Patroklos aus dem Jenseits eingreifen musste.
Jetzo kam die Seele des jammervollen Patroklos,
Ähnlich an Größ' und Gestalt und lieblichen Augen ihm selber,
Auch an Stimm', und wie jener den Leib mit Gewanden umhüllet;
Ihm zum Haupt nun trat er, und sprach anredend die Worte:
Schläfst du, meiner so ganz uneingedenk, o Achilleus?
Nicht des Lebenden zwar vergaßest du, aber des Toten!
Auf, begrabe mich schnell, dass Aïdes' (Hades) Tor ich durchwandle!
Fern mich scheuchen die Seelen hinweg, die Gebilde der Toten,
Und nicht über den Strom vergönnen sie mich zu gesellen;
Sondern ich irr' unstet um Aïdes mächtige Tore.
Und nun gib mir die Hand; ich jammere! Nimmer hinfort ja
Kehr' ich aus Aïdes Burg, nachdem ihr der Glut mich gewähret!
Ach, nie werden wir lebend, von unseren Freunden gesondert,
Sitzen, und Rat aussinnen: denn mich verschlang das Verhängnis
Jetzt in den Schlund, das verhasste, das schon dem Gebornen bestimmt ward;
Und dir selbst ist geordnet, o göttergleicher Achilleus,
Unter der Mauer zu sterben der wohlentsprossenen Troer.
Eines sag' ich dir noch, und ermahne dich, wenn du gehorchest.
Lege nicht mein Gebein von deinem getrennt, o Achilleus;
Sondern zugleich, wie mit dir ich erwuchs in eurem Palaste, ...
Ihm antwortete drauf der mutige Renner Achilleus:
Was, mein trautester Bruder, bewog dich herzukommen,
Und mir solches genau zu verkündigen? Gerne gelob' ich,
Alles dir zu vollziehn, und gehorche dir, wie du gebietest.
Aber wohlan, tritt näher; damit wir beid' uns umarmend,
Auch nur kurz, die Herzen des traurigen Grames erleichtern.
Als er dieses geredet, da streckt' er verlangend die Händ' aus;
Aber umsonst: denn die Seele, wie dampfender Rauch, in die Erde
Sank sie hinab, hellschwirrend. Bestürzt nun erhub sich Achilleus,
Schlug die Hände zusammen und sprach mit jammernder Stimme:
Götter, so ist denn fürwahr auch noch in Aïdes Wohnung
Seel' und Schattengebild, allein ihr fehlt die Besinnung!
Diese Nacht ja stand des jammervollen Patroklos
Seele mir selbst am Lager, die klagende, herzlich betrübte,
Und gebot mir manches und glich zum Erstaunen ihm selber!
Roland wusste, dass die griechische Unterwelt kein besonders gemütlicher Platz für Heroen war. Im Hades verlor jeder normale Mensch seine Erinnerung, den Helden hingegen blieb ihr volles Bewusstsein. Nicht immer zu ihren Gunsten, als Odysseus bei einem Abstecher im Hades Achill trifft und ihn für seine Glanztaten rühmt, erklärt dieser, er wäre lieber ein lebender Knecht auf Erden als Fürst der Toten. Mit Hektors Tod hatte auch Achill sein Schicksal besiegelt. Ihm war prophezeit worden, dass er sterben würde, wenn Hektor gefallen ist. Die Götter hatten vor Troja mit den Menschen Schach gespielt. Und nur die Freundschaft war mächtig genug gewesen, um Achill wieder aufs Brett zu locken, damit das Spiel zu Ende gespielt werden konnte. Mit Achills Ende betrat ein neuer Typ des Helden endgültig die Bühne – Odysseus. Letztlich brachte die List/die Ratio die Mauern Trojas zum Einsturz und nicht die Raserei des Achilles.
Vor Troja wurde der neue Geist des Abendlandes geboren. Roland und David hatten damals auch das historische Umfeld der Ilias näher untersucht. Für sie spiegelte der Mythos ein reales Ereignis dieser Epoche wider. Als 1200 vor Christus die Dorer in Griechenland einfielen, trafen sie dort auf die hochstehende minoische Kultur. Die Dorer hatten nur einen einzigen – aber entscheidenden – Vorsprung vor den Minoern. Sie hatten Eisenwaffen, während ihre Gegner noch mit Bronzewaffen kämpften und ihnen so hoffnungslos unterlegen waren. Das Wüten der Dorer dürfte durchaus Anklänge an den maßlosen Zorn des Achill gehabt haben. Die Invasoren räumten so gründlich auf, dass Griechenland für vier Jahrhunderte in Dunkelheit versank, sogar die Kunst des Ackerbaus war in Vergessenheit geraten. Die Ilias, so schlossen Roland und David, war auch ein Dokument des Weges aus der Dunkelheit, der Raserei, in eine neue Epoche. Und die Freundschaft zwischen Achill und Patroklos wurde zum Geburtshelfer dieser neuen Ära.
Zwei Freunde hatten maßgeblich mit zum Untergang Trojas beigetragen, zwei Freunde sollten dafür sorgen, dass die Stadt wieder ans Tageslicht kam und große Teile ihrer Schätze schließlich in Berlin landeten. Heinrich Schliemann hatte nie geglaubt, dass die Ilias nur ein reiner Mythos ist. Er hielt die Schlacht um Troja für real und las die alten Beschreibungen nicht als Fiktion, sondern als Wegbeschreibung. Der gelernte Kaufmann war als Goldgräber in Kalifornien und Spekulant in St. Petersburg reich geworden. Mit 46 Jahren stieg der mehrfache Millionär aus dem Geschäftsleben aus und machte sich daran, seinen alten Traum zu realisieren: die Entdeckung Trojas. Die wissenschaftliche Welt hatte nur Spott für den Selfmade-Archäologen übrig, bis er 1873 das Skäische Tor, den Palast und den Schatz des Priamos entdeckte. Der Schatz war zwar ungeheuer wertvoll, aber leicht zu transportieren. Schliemann setzte sich damit nach Griechenland ab. Von hier aus brachte er die Kunde in die Welt. Das Foto seiner Frau, behängt mit dem Schmuck des legendären Königs, sorgte für Unmut in der wissenschaftlichen Fachwelt. Noch ungehaltener war allerdings die türkische Regierung. Doch schließlich wurde man sich handelseinig. Schliemann zahlte, konnte den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2020
ISBN: 978-3-7487-6031-3
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