Seelenbann
1986…
Regen! So viel, dass es ein ganzes Schluchtendorf wegschwemmen könnte und kaum sind die Tropfen gelandet, folgen schon die Nächsten. Grössere. Es ist, als würde jemand eine volle Badewanne leeren und fände den Stöpsel nicht mehr, um dem Wasserstrom zu stoppen. Die Tropfen fallen zu Boden, werden zu kleinen Wasserläufen, vermehren sich zu Rinnsalen, werden zu kleinen Strömen, zu Pfützen. Eine Millionenanzahl an Tropfen, die sich zusammen über die Strasse walzen und jedes Blatt, jeden Käfer mit sich schleppen und einem nassen Ende entgegentragen. Doch es wird noch mehr Regen nötig sein. Wir brauchen jeden einzelnen Tropfen, um zu verbergen, welche Freveltat wir begangen haben und doch ist es der einzige Weg wieder in Frieden zu leben. Wir, das sind drei gestandene Männer, alles Familienväter. Ein Archäologe, ein Förster und ein Tierschützer uns seit Kurzem, gehören wir zum Kreise der Mörder. Wir haben ein Brüderpaar ermordet, das durch unsere Wälder gestrichen ist und die Tiere brutal abgeschlachtet hat. Sie vergifteten den Wald mit ihren sonderbaren Ritualen und jagten den Menschen abgrundtiefe Angst ein, wenn man ihnen begegnete. In unserem Dorf kochte die Gerüchteküche bereits am Siedepunkt; Gerüchte dass die beiden Brüder nicht von dieser Welt kommen würden. Eltern hatten die beiden keine, was die Leute dazu veranlasste zu glauben, sie hätten sie umgebracht oder die Hölle persönlich hätte diese beiden Brüder ausgespuckt. Sie gleichen sich wie ein Ei dem andern und dennoch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Colin und Evan sind 17 Jahre als, tragen beide langes, schwarzes Haar und haben eisblaue Augen. Doch was der eine an Böses in sich trägt, ist der andere mit Gutem gesegnet, so sind viele Dorfbewohner überzeugt. Dennoch heisst es immer: Die Brüder waren wieder am Werk oder diese vermaledeiten Walker-Zwillinge. Dabei war immer nur Colin gemeint. Evan war der Gute, der alten Damen über die Strasse helfen wollte, wenn diese noch nicht Reissaus genommen hatten, weil sie ihn für Colin hielten. Doch die beiden zu unterscheiden ist nicht leicht. Hat Evan in der Nachbarschaft 50 Hühnern die Kehle durchgeschnitten und sie an Ort und Stelle verbluten lassen? Oder war es Colin, der dem Papageien meiner Tochter sämtliche Federn ausgerissen hat und seine Krallen für seine kranken Rituale verwendet hat? Dies sind nur die harmlosesten Beispiele für die Verbrechen, die das Brüderpaar begangen hat, oder die zumindest Colin begangen hat, denn wie schon gesagt, es klingt gruseliger, wenn im Dorf von den schrecklichen Brüdern geredet wird. Das wir dabei Rufmord begehen und Evan ein normales Leben in einer verkorksten Gesellschaft verbauen, das war uns überhaupt nicht bewusst, oder es war uns egal, denn jeder der mit Colin verwandt war, verdiente es, ausgegrenzt zu werden. Es kam sowieso alles anders, denn eines Tages waren wir gezwungen, die beiden zu töten. In unserem Wald wohnt eine Kreatur, die wir bereits vor Jahren zu beschützten geschworen hatten. Eine Kreatur, die unseren Wald mit so unglaublich viel Zauber versieht, dass manche magisch angezogen werden von der Schönheit der Natur. Doch die Schönheit ist trügerisch, denn unter der dunklen Erde liegt etwas begraben, was keinesfalls ans Tageslicht kommen darf. Deswegen haben wir mit der Kreatur einen Pakt geschlossen. Sie bewacht unsere grösste Bürde und im Gegenzug lassen wir sie hier leben und wir beschützen sie mit all unseren Leben. Denn ihr Zorn ist schlimmer, als alles was Menschen je in der Erde vergraben haben und ihre Rache wird zerstörender sein, als die zehn biblischen Plagen, die über Ägypten fegten. Doch man ahnt es schon. Die Brüder haben irgendwie herausgefunden, wen wir schützen und als was sie durch unsere Wälder streift. Sie griffen sie an und nur mit viel Glück konnte Schlimmeres vermieden werden, doch jetzt mussten wir unseren Schwur halten, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um sie zu schützen. Unser Förster hat die beiden Brüder in einer Notwehraktion erschossen und nun liegen die toten Körper vor uns, eingewickelt in Leinen, damit wir keinen Millimeter ihrer verdorbenen Haut ansehen müssen, damit wir auch nicht unsere Schuld in ihren glänzenden, toten Augen gespiegelt sehen müssen. Wir lassen den Gedanken, mit Evan einen Unschuldigen ermordet zu haben, nicht zu, denn zu gross ist die Wahrscheinlichkeit der Verwechslung, hätten wir einen am Leben gelassen.
„Wir sollten ihnen sämtliche Gliedmassen abhacken und sie im Wald verstreut vergraben! Die werden wiederauferstehen, da bin ich mir ziemlich sicher! Das Böse findet immer wieder einen Weg zurück!“, sagte unser Förster und hielt sein Gewehr umklammert.
„Ich kann das nicht verantworten!“, sagte ich. „Das ist Leichenschändung und was wir gemacht haben, ist schon schlimm genug.“
„Den Leuten wir es auffallen, wenn plötzlich zwei Jungen fehlen!“
„Ja, es wird ihnen auffallen, aber keiner wird ihnen nachtrauern und keiner wird Fragen stellen, auf die er keine Antwort hören will.“
„Wir sollten ihnen den Mund zunähen, damit sie nicht um Hilfe rufen können! Vielleicht gibt es noch mehr Ausgeburten aus der Hölle, die den beiden zu Hilfe eilen!“, sagte der Förster und er wedelte drohend mit der Faust vor unseren Nasen herum.
„Wir werden nichts dergleichen tun. Aber es ist Zeit, dass Ritual zu vollstrecken!“
Ich hatte vor Kurzem in einem Buch voller dunkler Verwünschungen von diesem Ritual gelesen. Es war quasi zur Absicherung gedacht. Kurz nach dem Tod der beiden Jungen, wenn die Seelen sich vom Körper lösten, mussten wir einige uralte Zauberformel sprechen und damit ihre Seelen aufzuhalten in den grossen Himmelstopf zu gehen, wo alle Seelen darauf warten, wieder auf die Erde geschickt zu werden. Mit den Formeln banden wir ihre Seelen an ihre toten Körper, die daraufhin versteinern sollten. Die Steinfiguren schliesslich, sollten wir zu 1000 Stücken zerschlagen und jeder von uns sollte die Einzelteile in die ganze Welt hinaustragen. Ich wankte also auf die beiden verhüllten Leichen zu und schlug das alte Buch voller abscheulicher Notwendigkeiten auf. Meine Hände zitterten, als wäre ich der Kapitän der Titanic gewesen, der gerade feststellt, dass er das Schiff gegen einen Eisberg gefahren hat. Ich musste hüsteln und meine beiden Kollegen warfen mir nervöse Blicke zu. Ich begann zu lesen. Ich las die anmutig klingenden Formeln und sofort zog sich eine Gänsehaut, wie in Stein gemeiselt, über unsere Körper. Ich war überzeugt: die Gänsehaut würde niemals mehr von unseren Armen verschwinden. Dann trat die Wirkung ein. Die beiden Toten wurden von magischer Hand in die Luft gehoben. Ein hässliches Geräusch erfüllte die Höhle und seltsame Flüsterstimmen widerhallten von den Wänden, so dass man es mit einem wackeligen Nervenkostüm einfach zum Zusammenbruch gebracht hätte. Ich schlug das Buch zu und drückte die gebundenen Seiten fest an meinen Brustkorb. Das Knacken wurde lauter und schliesslich vielen die beiden Leichname zu Boden. Der Förster trat mutig vor und stellte einen Fuss auf den Brustkorb des einen Jungen. Er drückte heftig dagegen, doch der Körper gab keinen Milimeter nach. Er war hart wie Stein. Es hatte funktioniert. Ich lächelte meinen Mitbrüdern zu und eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel. Doch als ich es sah, war es bereits zu spät. Über dem anderen Toten schwebte eine schimmernde Kraft. Sie war weder besonders gross, noch hatte sie eine bestimmte Form. Sie schwebte einfach über dem Körper. Ich blickte den Förster und den Tierschützer an und sah dieselbe Panik in ihren Blicken, die auch an meinem Seelengewand zerrte. Dann, mit dem Sausen eines stürmischen Gewittervorboten sauste der schwebende Schimmer an uns vorbei und kurvte über den Boden in den dunklen Wald hinaus. Der Tierschützer liess sich auf die Knie fallen, direkt neben dem toten Jungen. Er drückte mit der Hand gegen seinen Bauch und das Gewebe gab nach. Noch nicht einmal die Totenstarre hatte eingesetzt, ganz zu Schweigen von unserem Seelenband. Mein Zauber hatte gewirkt und gleichzeitig versagt. Wir hatten die Seele des einen Bruders an dessen Körper gebunden, doch die andere war in die tiefen Geheimnisse des Waldes entschwunden. Der Förster legte die Hand auf meine Schulter und sprach an, was mir gerade durch den Kopf gegangen war.
„Lasst uns beten, dass dieses fliehende Etwas nicht die Seele von Colin Walker war...“
25 Jahre später…
Wie viel ist ein Menschenleben wert? Ist es mehr wert, wenn dieser Mensch dein Freund oder deine Freundin ist? Bezahlt man mit Geld oder mit Gefälligkeiten? Lohnt es sich, für einen Freund mit dem eigenen Leben zu bezahlen, weil man davon ausgeht, dass auch derjenige es für einen tun würde? Es sind Fragen, die jeder Mensch schon einmal in seinem Leben gehört hat oder sie vielleicht sich selber gestellt hat. Auch ich habe dies getan. Doch nach all dem, was ich bisher erlebt habe, weiss ich nicht, ob es auf diese Fragen überhaupt eine Antwort gibt!
„Stian, was dauert das denn so lange?“
„Was wollt ihr von mir? Das Zelt steht! Ihr könnt jetzt das Holz sammeln.“
„Kommst du etwa nicht mit?“
„Das schafft ihr schon alleine. Ihr seid ja zu zweit. Ausserdem seid ihr alt genug zum Holzsammeln. Aber schaut ja, das es trocken ist, sonst raucht es nur, wenn wir es anzünden!“
„Jaaa, jaaa, wir sind alt genug, um trockenes Holz zu erkennen, Stian! Mach's gut, Alter!“
Da liefen sie. Schlängelten sich durch den Wald, hüpften über die Wurzeln und rempelten sich gegenseitig an. Kicherten und scherzten und zeigten mit dem Finger auf mich. So waren sie, meine besten Freunde Leander Leonell und Anja Tunesi, beide 20 Jahre alt. Leander, mein bester Freund seit Kindergartenalter, sah aus wie eine lebendig gewordene Comicfigur. Er redete auch wie eine. Sein Haar war eigentlich braun gefärbt, doch der letzte Friseur hatte es versaut und jetzt erstrahlte sein Schopf in einem dunklen orange. Immer dabei war sein weisses Indianderhaartuch. Die Leute fragten uns oft, wie zwei so unterschiedliche Typen wie wir, befreundet sein konnten. Ich las gerne ein Buch, während Leander Aliens auf seinem Computer entzweiballerte. Doch auch Anja ist im Prinzip ein ganz anderer Typ als wir. Leander und ich haben Anja kennengelernt, als sie mit ihrer Familie vom Tessin in die Deutschschweiz zog und sie wurde von Anfang an wie ein Ausländer behandelt. Anja spricht alle Landessprachen perfekt, vielleicht war also der Neid der anderen Grund genug, sie abzulehnen. Anja hat schwarze lange Haare und haselnussbraune Augen, aber sie mag es gar nicht, wenn sie mit Pocahontas verglichen wird. Verständlich, wie ich finde. Auf jeden Fall sind meine Freunde mein ein und alles und sie sind immer gut drauf, was ich sehr an ihnen schätze. Normalerweise bin ich auch so, doch heute war ich von einer inneren Unruhe ergriffen, wie ich sie niemals im Leben gespürt hatte. Ich fühlte mich beobachtet. Von den alten, knorrigen Bäumen, die mir beim Arbeiten zusahen. Von den Ameisen, die unter ihren Völkern erzählten, dass drei Neuankömmlinge sich in ihrem Wald breitmachten. Vom plätschernden Waldbach, der unsere Anwesenheit durch das ganze Gebiet mit sich spülte. Und schliesslich auch von der herbstlichen Windböe, die unseren Duft in die Nasengänge der hintersten und letzten Waldbewohner trug. Etwas war Stian, an diesem Wald und alles, was mich so sehr von hier fortdrängte, zog Leander und Anja offenbar magisch an. Es war ein demokratischer Entscheid gewesen, hier unsere Zelte aufzuschlagen. Scheissdemokratie!
„Unser Stian ist ein wenig verkrampft, findest du nicht, Anja?“, fragte Leander und bohrte gleichzeitig in der Nase.
„Au ja! Total verkrampft. Dabei hat er doch jetzt Ferien! Ob es an uns liegt? Oh Gott, hör auf damit, Leander, du weisst, dass das eklig ist!“
Leander zog den Finger aus der Nasengrube und wischte den Anhang an einem Blatt ab. Anja verzog das Gesicht, äusserte sich jedoch nicht zu der Szene. Sie begann dürres Holz zu sammeln und stapelte alles in ihren Armen. Leander lief hinter ihr her und sammelte alles auf, was ihr aus dem Schwitzkasten rutschte. Eine Weile torkelten sie durch die stille Waldgegend und das Knacken, wenn sie auf einen Ast traten, hallte durch die Lichtung.
„Das muss doch genügend, Stian will ja nicht den ganzen Wald verbrennen oder?“, rief Leander und keuchte, wie ein Dudelsackbläser nach einem 2-Stunden-Konzert.
„Ich hab keine Ahnung, was Stian will. Ich weiss nur, dass er sich hier nicht wohl fühlt und das kann ich nicht verstehen. Denn, Leander, du musst doch zugeben, dieser Wald hat etwas Magisches.“
„Ja, total. Du weisst, ich kenn Wälder sonst nur aus Computerspielen, von dem her, würde mich wahrscheinlich jeder Wald aus den Socken hauen. Und überall dieses Grün, fantastisch.“ Die Spur Sarkasmus in Leanders Stimme war kaum zu hören, doch Anjas aufmerksamen Ohren entging nichts.
„Ich denke, es ist die Stille hier, die mich so anzieht. Kaum ein Geräusch, kaum eine Spur der Anwesenheit von Lebewesen. Eine Unberührtheit, hat dieser Wald. Oder hatte. Jetzt sind wir ja hier.“
„Dann sollten wir das Holz lieber wieder hinlegen und uns aus dem Staub machen, was meinst du?“, rief Leander und liess sein Bündel fallen.
„Bist du irre? Heb das wieder auf, dann wär die ganze Arbeit ja umsonst gewesen. Ausserdem willst du doch heute ein warmes Essen und wir haben keinen Gaskocher dabei. Du wolltest doch Natur pur, jetzt tu auch was dafür.“
„Ja, schon gut. Da sagt man einmal etwas von Natur und schon hältst du mich für einen Pfadfinder.“
„Leander! Jetzt komm schon!“
Leander schwieg und trottete mit gesenktem Haupt hinter Anja her. Dass er dabei wie ein Lama aussah, schien ihn nicht zu stören.
Eine Stunde später prasselte ein Feuer und drei Würste brutzelten über den Flammen. Es roch, als wäre ein Supermarkt bis auf die Grundmauern abgebrannt.
„Ich denke wir sind dabei unsere Würste zu räuchern, anstatt zu grillieren.“, rief Leander nörgelnd und beobachtete den steigenden Rauchschwall. Anja blickte ihn kurz an und wandte sich dann wieder Stian zu. Dieser blickte in kurzen Abständen über die Schulter in den finsteren Wald und schüttelte sein Blondschopfhaupt, als könnte er nicht fassen, was er da sah. Anja wagte einen Vorstoss: „Ich versteh dich nicht, Stian! Du kommst doch aus Norwegen, bist um Wälder herum aufgewachsen, warum fühlst du dich in diesem hier nicht wohl? Sind denn die Schweizer Wälder so Stian?“
Stian antwortete nicht, zog bloss die Arme fest um seinen Oberkörper und unterdrückte ein Schaudern.
Sie verstehen mich nicht! Seht sie euch an. Sitzen da und verspeisen ihre Würste, doch der Geschmack des Fleisches ist längst erstickt im dichten Rauch des Feuers. Wir könnten genauso gut grillierte Schuhsohlen essen, so gross wäre der Unterschied nicht. Jetzt fragt Leander tatsächlich, ob er meine Wurst haben kann. Gut, warum nicht, habe eh keinen Appetit. Dieser Wald ist so grün und voller einzigartiger Pflanzen, dass ein Biologieprofessor seine Freude daran hätte und doch besitzt der Wald eine Aura, wie nach einem Vulkanausbruch. Asche und Tod, sonst fühle ich nichts hier. Wir sollten von hier verschwinden, solange die Zeit noch mit uns spielt!
„Ich fühle mich nicht wohl, können wir uns nicht woanders niederlassen?“, rief Stian seinen Kumpels zu. Diese wurden gerade von einem herzhaften Witz Leanders geschüttelt und Stian verharrte, bis ihr Lachen in einer schnutenhaften Gesichtsentgleisung endete.
„Ist das dein Ernst?“, fragte Anja und blickte vollkommen fassungslos. „Meinst du wirklich was du sagst, oder sagst du wirklich, was du meinst? Stian, wir haben das Zelt gestellt und gegessen und sind jetzt eigentlich bettfertig. Es hat schon eingedunkelt und glaubst du wirklich, dass wenn wir weiterfahren, noch ein Stück Wald auftaucht, wo du dich dann besser fühlst?“
„Dieser Wald ist nicht gut für uns!“, sagte Stian und wusste selber, wie irre dies klang.
„Junge, was hast du denn geraucht, Mann? Krieg ich das nächste Mal ein Stück davon ab?“
Anja brachte Leander mit ihrem strengen So-redet-man-nicht-mit-seinem-besten-Freund-Blick zum Schweigen. Sie ging auf Stian zu und nahm ihn in die Arme, ohne ein Wort zu sagen. Einen Augenblick lang, ergriff ihn eine wohltuende Wärme, als würde er seit Stunden vor einem Schwedenofen sitzen. Doch als Anja sich abwandte, fegte die Kälte über seine Haut, kroch unter den Herbstpulli hinauf, wanderte über sein Gesicht, bis in die letzten Haarspitzen. Er setzte sich vor das Feuer, ganz nah.
„Alter, du solltest da nicht so nahe ans Feuer gehen. Wer weiss, dein Hungerhakenpullover fängt vielleicht noch Flammen und hier ist nirgends ein See, wo wir dich löschen könnten.“ Leander zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Tja, Pech für dich!
„Es ist überhaupt nicht heiss!“, flüsterte Stian.
„Rede lauter, Mann, meine Ohrmuscheln haben schon fast 21 Jahre auf dem Buckel. Ich bereite mich jetzt schon aufs Verwesen vor.“
Stian streckte seine Hand über das Feuer und die Flammen berührten seine Haut.
„BIST DU IRRE, WAS SOLL DAS DENN?“, schrie Anja und zog Stian rückwärts am Pulli von der Feuerstelle weg.
„Es ist überhaupt nicht heiss, sieh doch. Meine Hand ist unversehrt! Ich weiss nicht, was das für ein Feuer ist, aber es ist kein Normales, Anja. Es brennt überhaupt nicht.“
Leander streckte nun seinerseits die Hand übers Feuer, zog sie jedoch sofort zurück, als eine brennende Hitze seine Haut zu versengen drohte.
„Ah, scheisse, Alter, du bist doch nicht mehr ganz dicht. Von wegen, kein normales Feuer. Dieses Feuer ist heiss wie die Hölle. Zeig mir deine Hand, Kumpel!“ Leander packte Stians Hand und zog sie ins Licht der Flammen, wobei er seine Augen vor der Hitze des Feuers abschirmte.
„Oh mein Gott!“, stiess Leander hervor.
„Klasse, gell!“, setzte Stian zufrieden an. „Nicht ein Kratzer!“
Anja folgte Leanders Blick und spähte auf Stians Handfläche. Sie war übersät mit Schwielen und Blasen.
Anja hatte Stians Hand mit etwas Salbe eingebunden, doch kaum hatten sie und Leander sich ins Zelt zurückgezogen, riss Stian den störenden Verband wieder ab und warf ihn in die Glut. Warum eine gesunde Hand verbinden? Warum spürten sie eine Hitze, die für ihn nicht vorhanden war? War es denkbar, dass Leander und Anja beide gleichzeitig den Verstand verloren? Würde das auch erklären, warum sie unbedingt in diesen Wald wollten? Seit er in diesem Waldstück angekommen war, arbeitete sein Gehirn unaufhörlich. Die Gedanken kreisten durch die Kanäle der Gehirnwindungen, wendeten wieder und kamen zum Anfangspunkt zurück, nur um wieder aufs Neue in die Gedankenwelt hinausgeschleudert zu werden. Das viele Denken hatte ihn müde gemacht und er wandte sich dem Zelt zu. Konnte er es wagen mit zwei Verrückten in einem Zelt zu liegen? Würden sie ihn lynchen, sobald er eingeschlafen war? Ein Blitzen in seinem Augenwinkel liess ihn den Kopf drehen. Da hockte eine Schleiereule auf einem Baumstumpf. Ihr schneeweises Gefieder verlieh ihr etwas Seelenloses und zugleich etwas Liebliches, doch ihre Augen vermochten nicht darüber hinwegtäuschen, welch gnadenloser Jäger sich hinter der Fassade verbarg. Nun starrte von ihrem Holzpodest auf den jungen Mann mit den blonden Haaren.
„Hm, du bist wohl aus einem Zoo ausgebüxt, was?“, sagte Stian ruhig und gefasst, „hier ist nicht wirklich dein natürlicher Lebensraum! Oder kommst du gar aus einem Zirkus?“
„Alter, mit wem faselst du denn da?“
Leander kroch auf allen Vieren aus dem Zelt, wobei er mit einem Knopf seiner Jeans hängen blieb und sich das Zelt bedrohlich nach vorn beugte.
„Ich rede mit einer Schleiereule, falls es dich interessiert. Tut mir Leid, da ihr beide schon ins Bett gegangen seid, habe ich nach jemandem zum Kommunizieren gesucht!“
„Eine Schleiereule! Du bist echt gut, Junge. Du könntest in diesem berühmten Piratenfilm den Deppen spielen!“ Leander lachte herzhaft und waldbodenerschütternd. Die Schleiereule zwinkerte.
„Ja, ich bin nicht besonders gut in Tierkunde, aber was bitte schön, soll das denn sonst sein, als eine Schleiereule!“, rief Stian erzürnt und wies mit der Hand Richtung Baumstumpf. Leander starrte den Baumstumpf an und schliesslich wieder Stian. Etwas in seinem Blick liess in ihm das Gefühl aufkeimen, dass etwas überhaupt nicht in Ordnung war. Stian drehte sich nun selbst dem Baumstumpf zu und ihm stockte der Atem. Auf dem Holzsockel sass eine gewöhnliche, rabenschwarze Krähe!
Vielleicht bin ich es, der den Verstand verliert? Oder habe ich gar nie welchen besessen? Eine Krähe mit einer Eule zu verwechseln ist schon besorgniserregend! Aber da WAR eine Schleiereule, ich hab sie doch genau gesehen. Sie muss verschwunden sein, als ich mich Leander zugewandt habe. Vielleicht leide ich auch einfach nur an Schlafmangel, das könnte doch sein? Die Wochen waren hart, ich habe viel gearbeitet. Ich habe mir diese Ferien verdient und nichts und niemand können mir den Spass verderben. Auch nicht so ein blöder, seelenloser Wald. Hach, wären wir doch nur ans Meer gefahren!
„…und er dachte wirklich, da wäre eine Eule?“
„Ja, wenn ich es dir doch sage! Psst, Anja, er kommt ins Zelt!“
Stian kroch zu seinen Kameraden ins Zelt und legte sich wortlos in seinen Schlafsack. Natürlich hatte er sie tuscheln hören, doch er wollte ihnen keinen neuen Stoff liefern, indem er den Mund aufmachte und sie zurechtwies. Er kehrte ihnen den Rücken zu, um zu signalisieren, dass er nur noch schlafen wollte. Auch Anja und Leander drehten sich von ihm weg und legten sich schlafen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Stian Leanders tiefe Atemzüge hörte. Doch Anja lag wach im Zelt, genau wie er und beide lagen sie auf der Lauer, wie zwei Löwen auf der Pirsch, abwartend wer den ersten Sprung machte. Anja lag wach, weil sie irgendwie das Gefühl hatte Leander beschützen zu müssen und Stian lag wach, weil die eisige Kälte des Waldes unter seinen Fingernägeln hockte und ihn am Einschlafen hinderte.
Zwei Stunden waren vergangen und auch Anja war eingeschlafen. Ihre Atemgeräusche hallten durchs Zelt und sie stiessen kleine Rauchschwaden aus. Es war kalt. Zu kalt für diese Jahreszeit. Stian hatte sich aufgesetzt, sein Körper war bis zum letzten Muskel gespannt, doch er hatte keine Ahnung warum. Das Feuer draussen war längst erloschen, doch noch immer knisterte es. Oder kam das Knistern aus seinem Schlafsack? Jetzt, als er diesen Gedanken zugelassen hatte, spürte er ein Kribbeln in den Kniekehlen. Waren das Ameisen? Stian schreckte hoch, rutschte aus dem Schlafsack und huschte aus dem Zelt. Eine Angst hatte ihn um die Brust gepackt und nahm ihm beinahe den Atem. Stian wich rückwärts vom Zelt weg, obwohl sein Verstand im deutlich sagte, dass da nur seine Freunde drin waren, lief er weiter davon. Er stolperte über die Feuerstelle und landete in der warmen Asche.
„Scheisse!“
Der Wind, der nun durch die Bäume säuselte trug die letzten glühenden Flocken des Waldfeuers durch die dunkle Nacht. Nachtvögel schrien draussen in den Bäumen und der Mond leuchtete durch die schwarzen Wolken.
Jetzt fehlt noch eine bimmelnde Kirchenglocke und wir haben eine schöne Horrorfilmstimmung, dachte Stian und zitterte am ganzen Körper. Wie auf Knopfdruck setzte das Glockenbimmeln ein. Nein, das passiert nicht wirklich! Das passiert in meinem Kopf! Ich hab an eine Kirchenglocke gedacht und die setzt nun ein! Das ist eine logische Abfolge, eine logische Abfolge, eine logische Abfolge!
Schritte waren zu hören. Schritte und ein galoppierendes Pferd, das durch den Wald rannte, direkt in Stians Richtung.
Das sind deine eigenen Schritte, Stian, du Hornochse! Und es gibt keine Pferde im Wald, das bildest du dir alles ein! Einbildung! Wach auf, Stian, wach auf!
Doch Stian wachte nicht auf, denn das Pferd hatte die Gebüsche vor ihm durchbrochen und rannte direkt auf ihn zu. Ein gewaltiger Hengst mit dürren Beinen und einer unendlich langen Mähne, schwarz wie der tiefste Punkt des Meeres. Stian wich aus, als das Pferd ihn über den Haufen galoppieren wollte. Der Hengst bremste ab und drehte den Körper in die Richtung des Jungen; seine Muskeln arbeiteten perfekt im Einklang. Stian rannte davon, kam jedoch nicht weit, denn er blieb mit dem Fuss am gespannten Seil des Zeltes hängen und stürzte. Der Hengst stiess seine Hufe in den trockenen Waldboden direkt neben Stians Gesicht. Sein Kopf war nun auf Augenhöhe des jungen Mannes, die gewaltige Mähne hing auf den Waldboden und der Luftstoss, den der Hengst durch seine Nüstern ausspie, liess Stians Haare aufwirbeln. Der Hengst war echt, daran bestand kein Zweifel mehr.
„Was willst du?“, fragte Stian heiser, denn der Hengst verharrte und seine leeren Augen starrten ihn fragend an. Das Pferd drehte den Kopf zur Seite und Stian erkannte tiefe, verkrustete Striemen. Auch der ganze Rücken des Pferdes war übersät mit Wunden und ein Teil der hinteren Hufe fehlten ihm. Bevor sich Stian weitere Gedanken über das Gesehene machen konnte, flog eine Gruppe Krähen aus dem Wald und stürzten sich auf den Hengst. Sie pickten, kratzten und schnappten nach seinen Augen und das Pferd schlug in alle Richtungen aus. Hie und da erwischte es einen Vogel und zerschmetterte ihn mit seinen übrigen Hufen. Doch die Krähen wurden immer zahlreicher und schliesslich floh der Hengst in die Tiefen des Waldes, verfolgt von einigen Krähen. Die anderen waren geblieben und flogen auf Stian zu. Schon bald sassen 20 bis 30 Vögel auf seinem Rücken und pickten auf seinen Pullover ein. Stian schlug mit den Armen um sich und schrie und zappelte, was das Zeug hielt. Warum nur hörten seine Freunde ihn nicht? Wie konnten Anja und Leander so tief schlafen, dass sie nichts von dem mitbekamen, was hier geschah? Er begann zu weinen, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte und er schämte sich dafür. Doch er zappelte weiter und traf schliesslich eine Krähe mitten ins Gesicht.
„Aua! Junger Mann, hören Sie sofort auf, so um sich zu treten!“
Licht, so viel Licht, so viele Stimmen, so viele Geräusche.
„Stian?“
Der Kopf brummte, die Geräusche ein Gesause und Gewirbel. Alles dreht sich.
„Stian? Alter, mach keinen Scheiss!“
Verschwommen. Gesichter? Warmes Wasser, welches im übers Gesicht läuft. Ein Tuch vor seinen Augen.
„Warten Sie, ich wisch Ihnen erst einmal die Tränen weg. Sie können ja gar nichts sehen.“
Ein Mann, mittleren Alters. Daneben Leander, besorgt und zerknittert und Anja, etwas weinerlich, aber lächelnd.
„Stian, du hast uns solche Angst gemacht!“
„Wo bin ich?“ Diese simplen Worte schienen bereits eine Riesenanstrengung zu sein und Stian liess sich erschöpft, wie nach einem Boxkampf, in die Kissen sinken.
„Sie sind im Krankenhaus, junger Mann. Ihre Kollegen haben einen Krankenwagen gerufen, nachdem Sie mehrere Minuten lang schreiend und um sich tretend auf dem Waldboden gelegen haben und irgendwelche unsichtbaren Tiere hinterhergeschrien haben. Sie hatten sehr wahrscheinlich eine Panikattacke.“
„Das hatte ich nicht!“
„Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin nicht der Typ für Panikattacken!“, sagte Stian und sah, wie der Arzt einen besorgten Blick mit Leander tauschte. Anja nahm Stians Hand in die ihre und sagte leise: „Du hast irgendwas gefaselt von Krähen und einem Hengst und hast geschrien. Es war echt gruselig. Wir haben dich versucht zu wecken. Wir haben dich geschüttelt und dir eine Ohrfeige gegeben, aber du wolltest einfach nicht aufwachen. Also haben wir einen Krankenwagen gerufen und die haben dich hierhergebracht. Nicht einmal, nachdem sie dir ein Beruhigungsmittel gegeben haben, hast du aufgehört mit Treten und Schlagen.“
Stian senkte den Blick. Das müssen die peinlichsten Stunden seines Lebens gewesen sein und er hatte sie nicht mal mitgekriegt. Darüber war er irgendwie froh.
„Was ist mit dem Hengst geschehen? Er war schwer verletzt. Die Krähen haben auch noch auf ihn eingehackt.“
„Es gibt keinen Hengst, Stian. Und auch keine Krähen. Du hast geträumt, fantasiert, hyperventiliert oder was auch immer, aber der Hengst war nicht real. Er war nicht real, hörst du?“
„Muss ich jetzt in die Klapse?“
„Oh nein!“, der Arzt lächelte und Stian hielt dies für ein gutes Zeichen. „Nein, so schnell schicken wir niemanden in die Psychiatrie. Sie schlafen ein paar Stunden hier und danach dürfen Sie gehen. Ihre Freunde werden in der Zwischenzeit zum Ort des Geschehens zurückkehren und euer Zelt abräumen. Sie sollten den Rest Ihrer Ferien vielleicht nicht in diesem Wald verbringen.“
„Wieso? Was hat es mit diesem Wald auf sich? Was ist dort geschehen?“
Der Arzt erhob sich und drückte Stians Schultern zum Abschied. Er schien seine Frage nicht gehört zu haben oder ignorierte sie bewusst.
„Ich werde Sie wieder nach diesem Wald fragen!“, rief Stian dem Arzt hinterher.
„Schlafen Sie jetzt!“
„Ist schon seltsam. Ich meine, irgendwie hat man’s kommen sehen, dass der alte Stian die Kurve nicht mehr kriegt!“, sagte Leander und drehte an einem fetten Ring, der an seinem Ringfinger festgeschweisst schien. Auf dem Ring prangten die Buchstaben PLH.
„Was heisst eigentlich PLH? Pinguin liebt Huhn? Oder Prahlhans Leander haust hier?“
„Nein. Es heisst Peace, Love and Happiness.“
„Ach was. Ich dachte du lebst nach dem Motto Sex, Drugs and Rock’n Roll.“
Leander stiess einen Stossseufzer aus, so als wäre ihm eben erst seine wahre Bestimmung eingefallen. „Ja, weisst du, wer so lange nach diesem Motto lebt, wie ich, der braucht danach zur Therapie etwas Peace, sehr viel Love und die Happiness kommt dann von alleine.“
„Du hast einen echten Dachschaden, Leander“, sagte Anja und zog mehrere Heringe aus dem Boden. „Hilfst du mir mal mit dem Zelt?“
„Klaro!“
Leander und Anja arbeiteten sorgfältig und in einer kleinen Ewigkeit, so schien es den beiden, hatten sie das Zelt zerlegt und in ihr Auto verfrachtet.
„Dieser Wald hat uns nicht sehr viel Glück gebracht was? Schade eigentlich, ist wirklich ein hübsches Fleckchen Erde!“, seufzte Anja, was Leander die Augen verdrehen liess.
„Ach komm schon. Wald ist doch Wald! Ich wär soweit, wir könnten von hier verduften.“
„Ja, gut. Gehen wir.“
Anja setzte sich ans Steuer des kleinen Fiat und Leander klatschte in die Hände: „Tritt auf’s Gas, Baby! Mach der Karre, Feuer unterm A…“
„Feuer, du sagst es.“, rief Anja und knallte ihre Handfläche mit voller Wucht gegen die Stirn. „Wir haben die Grillzange vergessen. Lauf, Leander!“
„Beifahrer ist ein echter Scheissjob! Es ist ja nicht so, als könnte man in jedem Laden eine Neue kaufen.“, grunzte Leander und verliess murrend den Wagen. Anja lächelte, doch ihre Stimmung wurde sogleich von Frust verdrängt, denn zu sehr hatte sie sich auf die Zeit mit ihren besten Freunden im Wald gefreut. Doch Stian musste wieder ganz gesund werden und dann konnten sie vielleicht am Ende der Woche noch etwas unternehmen. Bungeejumping vielleicht. Man sollte ja mit was Leichtem anfangen. Wo blieb denn Leander so lange?
„Leander? Was machst du denn? Du sollst bloss eine Grillzange holen und nicht ein verdammter Staudamm bauen!“
Leander kam mürrisch über die Wiese gestiefelt. In der Hand trug er einen Gegenstand, doch der war bedeutend grösser, als eine Grillzange.
„Was zur Hölle ist das denn…?“
Leander blickte durch die offene Beifahrertür.
„Hier hast du deine Grillzange!“
„Und was hast du in der anderen Hand? Leander?“
Er warf einen grossen, schwarzen Haufen auf den Beifahrersitz.
„Was ist das?“
„Eine Krähe!“
„Eine Krähe? Was soll ich mit einer Krähe?“, rief Anja entsetzt.
„Dreh sie um.“
Anja gehorchte, denn Leander sah nicht aus, als würde er ein Nein dulden. Sachte drehte sie die Krähe mithilfe der Grillzange um. Das Tier war tot, so viel stand fest, doch quer über den Bauch des Kadavers war der deutliche Abdruck eines Hufes zu erkennen.
1988…
Ich giesse Tee ein. Wir sitzen am harzigen Tisch, gefertigt aus einem umgedrehten Baumstrumpf und unterhalten uns über Gott und die Welt. Zumindest versuchen wir es, doch eine schwere Stimmung schwebt unter der Decke wie Weihrauch durch die Kirche. Der Tierschützer raucht am Tisch und der Förster befreit seine Fingernägel von Holzsplittern und eingetrockneter Erde und ihre sorgenschweren Blicke folgen mir, als ich die Teekanne zurück auf die Küchenanrichte stelle. Zwei Jahre sind vergangen, seit dem Tod der Walker-Zwillinge und ich fühle mich, als hätte ich in der Zwischenzeit mehr als 15 Lebensjahre dazubekommen. Das Leben ist für viele Menschen und für viele Tiere besser geworden, seit dem die beiden unter der Erde schmoren. Irgendwie scheint er mir gerecht, dass die leidgeplagten Würmer sich nun an ihrem Fleisch gütlich tun, wenn sie so verdorbenes Fleisch denn überhaupt anrühren. Es ist gekommen, wie wir es prophezeit hatten. Viele haben sich gefragt, was aus Colin und Evan geworden ist, doch keiner hat nachgehakt. Man hat es eben hingenommen, wie es ist und niemand beklagt sich darüber, denn nun können die Katzen wieder Mäuse quälen gehen und die Kaninchen können ihr Gemüse im Garten essen und die Kinder können im Dorf spielen, ohne dass Colin sie dazu verdonnert, Regenwürmer zu essen. Das Leben ist einfacher geworden; doch nicht für mich und meine beiden Freunde. Der Sack voller Sorgen, den wir nun schon viel zu lange herumschleppen wird jeden Tag schwerer und ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis einer von uns einbricht. Die Kreatur ist unzufrieden mit uns, und dass lässt sie uns nur allzu deutlich spüren. Seit dem die Walker-Zwillinge verschwunden sind – wir haben uns dies schon selbst eingeredet, um nichts von ihrem Tode auszuplaudern- sind die Leute lebensfroher geworden und stürmen mit ihren Familien in den Wald. Sie bauen Zelte auf, grillieren Würste, singen Lagerlieder oder Wandern in der Nacht mit den Fackeln durch das Gelände. Immer sind sie beobachtet von der Kreatur und deren Unmut wächst schneller als Unkraut und so kam es zu einem tragischen Zwischenfall. Eine Bande junger Knaben spielte in der Moorgegend des Waldes Piraten. Nie hatten sich die Leute so tief in den Wald hineingewagt, denn dieser Ort versprühte eine mysteriöse Stille und Beklommenheit. Doch die Jungen waren rotzfrech, spähten unter jede Wurzel, ritzen ihre Namen in die Rinde der Bäume und vergruben im Moor ihre Piratenschätze. Mit ihren unschuldigen Händen trugen sie die feuchte Erde weg und sie hielten erst inne, als unter dem Moor eine sanfte Vibration zu spüren war, so als würde ein Fötus der Mutter von innen an die Bauchdecke klopfen. Der Schrei, der darauf durch die Wälder hallte, liess selbst dem Dorfpfarrer die Haare zu Berge stehen, und dieser hatte eine Glatze. Eine halbe Stunde später wurde auch schon der Auslöser des Schreis an den Händen über den Waldboden gezogen. Der junge Quentin vom Binsenhof, war durch ein Tier schwer verletzt worden. Sein Gesicht war übel zerfetzt, so dass Hautlappen herunterhingen und seine Gesichtszüge deformierten. Die Arme waren zerkratzt und der Oberkörper aufgerissen und blutig. Quentin atmete lange genug, um erzählen zu können, er sei von einem Pferd urplötzlich angegriffen worden. Kurze Zeit später starb der Junge an Wundfieber. Die anderen Jungen wurden befragt, welches Tier Quentin derartige Verletzungen zugefügt hatte, doch die Berichter waren sich uneinig. Vom Maulesel bis hin zu einem ausgewachsenen Kamel und wieder zurück zu einem Bauernpony; an Auswahl an Tätern mangelte es nicht. Doch als man die Geschichte einige Tage ruhen liess und die Gemüter sich abgedampft hatten, waren sich die Jungen relativ einig, dass es sich um ein gewöhnliches Pferd gehandelt haben könnte. Die Väter des Dorfes bewaffneten sich mit Suppenkellen, Gewehren, Küchenmesser und Aalen und forderten den Tod des umherstreunenden Huftieres. Keiner fragte, wie es einem Pferd gelingen konnte, Risswunden zu reissen. Es interessierte keinen. Sie wollten einen Sündenbock und dies möglichst schnell. Also zogen sie in den Wald und wie sehr wir auch protestierten, sie liessen sich nicht umstimmen. Wir wussten seit langer Zeit, dass die Kreatur verantwortlich war, für Quentins Tod, schon als wir die Länge der Kratzverletzungen gesehen hatten. Wir fürchteten nicht um das Leben der Kreatur – nicht so wie damals, als Colin hinter ihr her war – wir fürchteten um das Leben der Männer und was geschehen würde, wenn so viele Familienväter nicht mehr nach Hause kamen. Doch wir blieben im Dorf bei den Frauen und Kindern und jenen Männern, die sich geweigert hatten, einer Tiermeuchelei beizuwohnen.
Stian lag im Krankenzimmer und atmete schwer ein und aus. Es war dunkel in dem kleinen Zimmer und jeder Atemzug schien dem Raum nicht nur sämtlichen Sauerstoff zu entziehen, sondern auch noch das Licht. Er konnte nicht glauben, dass so etwas Einfaches wie Atmen, so schwer sein konnte. Er musste seine Lunge richtig zwingen, den lebenserhaltenden Sauerstoff einzuziehen und an den Körperkreislauf abzugeben. Die Tür schwang mit einem hässlichen Knarzen auf und eine ältere, rundliche Schwester kam herein.
„Wie fühlen Sie sich, junger Mann?“, fragte sie freundlich und strich ihm das ungewaschene Haar aus dem Gesicht.
„Ich fühl mich, als würde mir permanent jemand ein Kissen auf den Mund drücken.“
„Können Sie das für mich in gut, es geht so oder schlecht übersetzen?“
„Es geht so schlecht, dass man es nicht als gut bezeichnen kann, was allerdings besser ist, als wenn es mir sehr schlecht ginge!“, sagte Stian und schniefte mit der Nase, die soeben zu bluten begonnen hatte.
„Ist Ihnen schwindelig?“
„Ja, denn ich kann nicht atmen und ich verliere Blut.“
„Wir haben Ihre Blutwerte heute früh überprüft, sie sehen gut aus. Sie bekommen genügend Sauerstoff. Der Schock sitzt Ihnen wohl noch auf dem Brustkorb.“
„Der Schock wiegt über eine Tonne!“
„Reden Sie nicht so viel, dann klappt das schon viel besser mit dem Atmen. War die Psychologin schon hier?“
Stian schüttelte den Kopf.
„Dann werde ich sie mal rufen. Fühlen Sie sich für ein Gespräch gerüstet?“
„Nein.“
„Gut, sie wird gleich da sein.“
Einfach daliegen. In der Stille. In der Dunkelheit. Nichts denken, aber das ist viel zu schwer. Mein Körper besteht nur noch aus meinem Gehirn, der Rest hat sich ausgeklinkt. Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich eine Hand bewegen soll, geschweige denn, wo sie sich befindet. Ich weiss nur, dass da irgendwo eine Hand sein muss. Ein Tropfen Blut rinnt meine Nasenhöhle herab, der Schwerkraft willenlos ausgeliefert und fällt auf meine Brust. Mein klägliches, weisses Nachthemd wird so etwas rot gemustert. Wieder geht die Tür auf. Krieg ich denn nie Ruhe? Eine Frau kommt herein. Sie trägt gestreifte Strümpfe und einen knielangen farblosen Rock, dazu eine Bluse und streng gekämmtes Haar. Knallroter Lippenstift in einem Gesicht, das weiss ist wie frisch gefallener Schnee. Sie holt einen Stuhl. Sie bewegt sich wie eine Gazelle. Jetzt setzt sie sich neben mich. Ihr Parfum ist viel zu aufdringlich. Ich wünschte, ich bekäme eine Sauerstoffmaske. Dieses Parfum wird sicher auch zum Anästhesieren eingesetzt. Was wenn sie mir das Gehirn aufschneiden? Oder mir einen Chip einpflanzen, damit sie meine Gedankengänge nachverfolgen können? Himmel, wär ich doch nur ans Meer gefahren!
„Sie sind Stian Nerhus, 20 Jahre alt und mit norwegischer Abstammung?“
Norwegische Abstammung? Abstammung? Seit wann zählen die Norweger zu den Indianern?
„Sprechen Sie überhaupt deutsch? Können Sie mich verstehen, Stian?“
Die Psychologin zwinkerte nervös mit ihren Wimpern, die sie von der Länge her problemlos als Scheibenwischer für ihre Brillengläser benutzen konnte. Sie hüstelte künstlich und liess Stian wissen, dass sie ihn nicht mochte.
„Ich bin Yvette Mannsheim und arbeite seit 5 Jahren als Psychologin in diesem Krankenhaus. Ich schlage vor, Sie erzählen mir Ihre Geschichte, was Sie erlebt haben und ich beurteile dann…“
„…ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Schon klar!“
„Sie sollten sich nicht aufregen! Ihre Nase wird nur noch stärker bluten!“
„Ich dachte Sie sollen meinen Geisteszustand untersuchen? Da dürfte Sie eine blutende Nase kaum interessieren.“Stian wusste, dass er zu weit gegangen war. Die Psychologin hasste ihn schon beinahe und er fragte sich, ob sie dennoch in der Lage war eine objektive Beurteilung seines Gemütszustandes abzubilden. Yvette Mannsheim begann ihm Fragen zu stellen. Stian antwortete, so gut er konnte, doch das Zimmer verschwamm immer wieder vor seinen Augen. Er war müde, sehnte sich nach Schlaf, doch die Psychologin rüttelte an seinen Schultern und holte ihn immer wieder ins Jetzt zurück.
„Hat der Hengst auf Sie real gewirkt? Haben Sie den Geruch des Pferdes wahrgenommen? Waren Sie ängstlich, als Sie zu Bett gingen? Haben Ihre Kollegen auch unruhig geschlafen? Haben Sie mitbekommen, dass Sie von einem Krankenwagen abgeholt wurden? Herrgott, kann sich jemand mal um seine blutende Nase kümmern. Hallo, Schwester…!“ Die Psychologin strauchelte mit ihren Absatzschuhen durch das Zimmer und Stian hörte ein nerviges Stakkato ihrer Füsse. Das Zimmer drehte sich, die rundliche Schwester von vorhin kam auf ihn zugeeilt, drückte ihm ein Tuch ins Gesicht, doch Stian verlor den Halt. Schlafen! Dunkelheit…!
Leander und Anja sassen auf dem Polizeiposten, nur wenige Meter vom Krankenhaus entfernt, wo Stian untergebracht war. Gleich würden sie denjenigen treffen, der verantwortlich war für den Fall Stian Nerhus. Leander klapperte mit den Zähnen und er hielt die tote Krähe, eingewickelt in ein Stofftuch, auf dem Schoss. Eine Feder hatte sich gelöst und war geräuschlos zwischen Leanders Füsse geglitten. Anja bemerkte dies und bückte sich, was dazu führte, dass Leander erschrocken zusammenfuhr.
„Da liegt eine Feder! Ich heb sie auf.“
Eine Frau, die gerade mit ihrem Hund samt Maulkorb die Polizeiwache betreten hatte, starrte Anja entgeistert an.
„Was denn“, flüsterte sie Leander zu. „Hab ich eine Tarantel auf dem Kopf?“
„Sind Sie Anja Tunesi und Leander Leonell? Schön, ich bin Frederik Klee und bin mit der Geschichte im Wald betraut. Folgen Sie mir doch bitte in mein Büro!“ Anja und Leander folgten dem sympathisch aussehenden Polizisten in seine Zelle, die Blicke der Hundefrau folgten den beiden noch immer. Polizist Klee bat die beiden Platz zu nehmen und setzte sich ihnen gegenüber hinter seinen Schreibtisch.
„Sind Sie ein echter Sheriff?“, platze Leander heraus.
„Nun, Sheriff ist, denke ich, nicht die korrekte Berufsbezeichnung, wir leben hier schliesslich nicht im wilden Westen. Ich bin ganz einfach Polizeibeamter und leite den Laden hier. Das ist nicht weiter schwer, denn wir haben hier nur 3 Polizeibeamte. Wir sind eine Aussenstelle, könnte man sagen.“ Frederik Klee lächelte und Anja bezweifelte, dass er hart genug war, um die wirklich wilden Verbrecher dingfest zu machen. Er hatte etwas Väterliches an sich. Ein grauer Schopf, ein dichter Schnurrbart und komplett schwarz gebliebene Augenbrauen.
„Nun denn. Was habt ihr beiden für mich?“, fragte er erwartungsvoll und verschränkte die Arme vor seinem Bauch, was auf Leander wirkte, als wäre er bei einer Eheberatung.
„Sie kennen die Geschichte mit dem Hengst und den Krähen, ja? Sie sind vertraut mit allem was sich in dieser Nacht abgespielt hat?“, fragte Anja und beugte sich leicht vor.
„Ja, ich denke schon, dass ich mit allem vertraut bin, was sich in jener Nacht abgespielt haben soll…“
„Haben soll? Sie glauben Stian lügt?“
„Das habe ich nicht gesagt, junge Dame. Ich habe nur Stian Nerhus‘ Version der Geschichte, und dies auch nur aus zweiter Hand und eine andere gibt es offenbar nicht. Sie beide waren vor Ort, haben aber nichts mitgekriegt. Ich gebe zu, ich bin kein überragender Polizist, mir fehlt die Routine in so einem kleinen Dorf. Wir verteilen hier vor allem Parkbussen und führen Alkoholtests durch und ehrlich gesagt, sehe ich keinen Grund, warum die Polizei weiterhin in diesem Fall ermitteln sollte. Das wäre dann eher ein Falls fürs Veterinäramt. Ich wage allerdings nicht die Geschichte anzuzweifeln, noch bezichtige ich ihren Freund der Lüge. Ich habe nur eine einzige Frage. Wenn dort draussen wirklich ein verletztes Pferd von Krähen verfolgt, durch den Wald gejagt wurde und ihr Kollege das alles mit angesehen hat, warum in Herrgotts Namen seid ihr beide dann nicht aufgewacht? Wie kann man so einen Radau verschlafen?“
„Tja, Sheriff, diese Frage haben wir uns auch schon ein paar Mal gestellt!“, sagte Leander und klopfte mit dem Zeigefinger in regelmässigem Rhythmus auf die Tischkante.
„Da ist noch etwas, was wir uns nicht ganz erklären können. Wir haben einen Beweis, dass Stians Geschichte stimmen muss und wir sehen nicht ein, warum ihre Leute dieses Beweisstück nicht gesehen haben. Also wenn ihre Leute nicht blind sind, dann kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass man dies nicht gesehen hat. Leander, zeig ihm das gute Stück.“
Leander liess das Päckchen vorsichtig auf die Tischplatte des Polizeibeamten sinken.
„Halten Sie sich lieber irgendwo fest, das wird Sie aus den Socken hauen!“
„Was ist das, wenn ich fragen darf?“
„Das ist eine tote Krähe und sie weist deutliche, unübersehbare Spuren eines Hufabdruckes auf.“, sagte Anja, viel dramatischer als geplant und schob das Päckchen Frederik Klee zu.
„Ihr wollt mich auf den Arm nehmen oder? Meine Leute und ich selbst, haben das ganze Gebiet abgegrast, da war nichts von einer toten Krähe zu sehen!“
„Dann wart ihr eben nicht gründlich genug. Game over, würde es in meinem Computerspiel wohl heissen. Sie haben noch zwei Leben.“
Frederik Klee erhob sich und wickelte das Stofftuch ab. Er tat dies sehr sorgfältig, als würde er einem frischgeborenen Kätzchen die Milch einflösen. Dann blickte er verdattert in die Augen der beiden unschuldig wirkenden Teenager, die seinen Blick mit todernsten Mienen und glänzigen Augäpfeln erwiderten. Der Polizeibeamte sah noch einmal auf den Gegenstand, den das Tuch gekonnt verbarg. Was zur Hölle ging hier bloss vor sich?
„Autsch, wir sind nicht auf Drogen und gesüffelt haben wir auch nix.“, rief Leander empört, als ein Polizist ihm eine Blutprobe entnahm und ihn aufforderte, in ein Röhrchen zu blasen. Anja liess alles widerstandslos über sich ergehen. Irgendetwas war gewaltig schief gegangen. Frederik Klee hatte sie mit mitleidigem Blick in einen anderen Raum geführt, die Krähe ins Tuch eingewickelt unter dem Arm. Dort begannen Assistenzpolizisten oder sonstige Freiwillige auf ihre Arme einzustechen, in ihren Futterschleusen herumzuwühlen, was sie als Speichelprobe deklarierten und schliesslich zupften sie ihnen ein Haarbüschel vom Schädel.
„Wenn ihr wüsstet, wie viel mein Haar wert ist.“, drohte Leander und spielte dabei mit seinen nicht vorhandenen Oberarmmuskeln. „Wollt ihr auch die Adresse meines Friseurs?“
„Das sind bloss Standarttests.“, beruhigte der junge Beamte und Leander prustete laut und ungehalten.
„Was ist an einer toten Krähe so unglaublich?“, fragte Anja und wandte sich direkt an Polizeibeamte Klee.
„Ich werde es euch gleich zeigen. Sobald die Tests abgeschlossen sind.“
Eine junge Laborantin betrat den Raum und redete fliessend auf den Oberpolizisten ein. Sie gab sich Mühe, leise und unverständlich zu reden, doch Anja beherrschte das Lippenlesen ausgezeichnet und so schnappte sie die wichtigsten Dinge auf. Blutwerte…nicht ausserhalb der Norm…keine Auffälligkeiten…psychische Nachbehandlung…Krankenhaus…! Die Laborantin verschwand und Anja konnte nicht länger an sich halten: „Sie halten uns also für komplett bescheuert oder? Denken Sie etwa, wir hätten die Krähe selber in diesen Zustand gebracht? Denken Sie, wir würden Tiere quälen, um unseren Freund zu schützen?“
„Davon würde ich Ihnen abraten, Kumpel!“, rief Leander und stiess eine Schale mit blutigen Wattepatts um. „Ich quäle Krähen nur am Computer.“
„Halt den Schnabel, du Idiot!“, fauchte Anja.
„Ihr seid vollkommen von der Echtheit dieser Krähe überzeugt. Das macht mir ehrlich gesagt etwas Sorgen. Deswegen lasse ich eure Blutwerte überprüfen! Ich denke, die Geschichte im Wald, hat auch bei euch Spuren hinterlassen, was immer dort vorgefallen ist.“
„Was soll das heissen, wir sind von der Echtheit der Krähe überzeugt? Wollen Sie uns weissmachen, dass das etwa eine Gummikrähe ist?“, rief Leander und riss Klee das Päckchen unter dem Arm hervor. Das Tuch samt Inhalt fiel zu Boden und enthüllte dessen Wahrheit.
„Eure verdammte Krähe ist nichts weiter als ein Stück Schwemmholz!“
„Ein Wunder, dass er uns hat laufenlassen.“
„Ja, er muss uns für komplett meschugge gehalten haben!“
„Moment Leute!“, rief Stian verwirrt und fuchtelte mit den Händen, um sich Gehör zu verschaffen. „Die Krähe, die ihr gefunden habt, war also plötzlich keine Krähe mehr? Wurde sie vielleicht geklaut?“
„Wer klaut denn tote Tiere, Alter?“
„Es ist nicht möglich, Stian. Wir hatten den Tierkadaver immer dabei. Leander hat sogar noch eine Feder verloren im Wartesaal, die ich aufgehoben habe.“ Anja griff sich an die Stirn, als hätte sie hohes Fieber. Sie schüttelte immer wieder den Kopf und Stian beobachtete sie für eine Weile. Er hatte niemals zwei Menschen gesehen, die weniger verrückt wirkten, doch was hiess das schon, wenn man im Krankenhaus auch an seinem Verstand zweifelte.
„Wo hast du die Feder denn hingetan?“, fragte Stian neugierig.
„Ich habe sie in meine Hosentasche gesteckt, aber bevor du fragst, ich habe die Hosentasche bis in die hintersten Winkel durchfilzt, die Feder ist nicht da. Wahrscheinlich weil es gar nie eine Feder war. Deswegen hat uns die Frau mit dem Hund auf dem Posten auch so komisch angestarrt. Ich hab vermutlich ein Kaugummipapier aufgegraben.“
„Und warum genau hat euch der Polizist nun laufenlassen? Ich meine, ihr musstet euch nicht mal bei einem Psychologen melden?“
„Nöö, wahrscheinlich haben sie uns irgendwelche GPS-Sender untergejubelt und jeder unserer Schritte wird verfolgt. Ha, von wegen kleine Dorfpolizei. Die haben’s faustdick hinter den Ohren!“, grummelte Leander und steigerte sich in eine seiner Verfolgungswahntheorien. Anja drehte sich Stian zu und lächelte verschmilzt: „Wir haben die Notbremse gezogen, könnte man sagen. Wir haben Polizist Klee eine Geschichte aufgetischt, von wegen völlig übermüdet und in Sorge um unseren Kumpel. Ich weiss nicht ob er es geschluckt hat, aber wahrscheinlich hat er uns gehen lassen, damit es für alle Beteiligten am Günstigsten wird. Stell dir vor, was das kosten würde, wenn da noch zwei Jugendliche im Krankenhaus auf Niere und Leber überprüft werden müssten. Und was dabei rauskommen würde, wissen wir beide. Genau nichts. Ausser bei Leander, da bin ich mir nicht mehr so sicher, ob man da nicht doch was finden würde.“
Leander unterbrach seinen Eigenmonolog, um Anja die Zunge rauszustrecken und murmelte dann wieder vor sich hin.
„Die Besuchszeit ist nächstens zu Ende. Ich will euch ja nicht loswerden, aber…ich denke, sie lassen mich morgen gehen, aber ich melde mich noch bei euch!“
Anja erhob sich und kniff Leander in die Wange, um ihn aus seinem Wachschlaf zu wecken. Anja küsste Stian auf die Wange und Leander gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Kopf, dann gingen die beiden lächelnd aus dem Krankenzimmer. Leander schloss die Tür lauter als beabsichtigt, dann packte er Anja am Oberarm und schüttelte sie.
„Anja, wir müssen hier raus, sonst buchten sie uns auch noch ein.“
„Na, bei dir hätten sie immerhin einen Grund!“
„Danke, ich hab dich auch lieb!“, flötete Leander und spurtete den Gang entlang.
Im Fiat angekommen, schwiegen Anja und Leander eine Weile, tief in Gedanken.
„Genug der Schweigeminuten!“, rief Leander und klopfte sich auf die Oberschenkel. „Fahren wir nach Hause?“
Anja nickte und griff nach dem Zündschlüssel. Das Schloss war leer.
„Wo hab ich denn den verdammten Zündschlüssel hingesteckt?“
„Wo ein Zündschlüssel halt so hingehört. In die Hosentasche zum Beispiel?“
„Richtig. Wenn ich dich nicht hätte!“ Anja griff in ihre Hosentasche, schrie auf und knallte mit dem Schädel gegen das Dachpolster des Autos.
„Hat er dich gebissen, der böse Zündschlüssel?“, fragte Leander und kratzte einen alten Kaugummi vom Armaturenbrett. Anja streckte ihm die Faust hin und funkelte ihn böse an. Leander guckte wie ein Fragezeichen, worauf Anja die Hand öffnete. Auf ihrer kleinen Handfläche lag der Zündschlüssel. Und gleich daneben die verschollene Krähenfeder!
Stian lag im Bett und zur Abwechslung war es sein eigenes. Die Ärzte hatten ihn gehen lassen, bestanden jedoch darauf, dass sich sein Tagesprogramm auf Sofaliegen und Gehirnjogging beschränkte. Doch nach nur 3 Stunden des hochanstrengenden Programms war Stian völlig übermüdet eingeschlafen; seine Hand war mitsamt einer ehemals gefüllten Popcornschale von der Bettkante geplumpst und zwischen ungewaschenen Socken und einer Krabbelspinne liegen geblieben. Dunkelheit kroch Stian über die Netzhäute und legte sich über sein gesamtes Gehirn, wie eine Feuerdecke über eine entzündete Kochstelle. Aus der Dunkelheit kam ein hellhäutiger Junge auf ihn zu.
„Was glotzt du so?“, fragte er und Stian wich im Traum vor ihm zurück. Der Junge hatte eine Haut wie Porzellan; er hätte gut eine männliche Version von Schneewittchen spielen können, doch in seinen Augen loderten Hass und unbändige Wut.
„Du bist so hässlich!“, sagte der Junge zu Stian und dieser wollte ihm beleidigt etwas entgegensetzten, doch sein Mund gehorchte ihm nicht. Überhaupt schien er in diesem Traum nur eine Statistenrolle zu spielen und das passte ihm überhaupt nicht. Normalerweise träumte er, ein Superheld zu sein, oder ein absoluter Frauenschwarm oder wenn er bescheidenere Tage hatte, träumte er auch mal eine erfolgreiche Ladenkette zu führen. Doch seit etwa drei Jahren plagten Stian seltsame Träume. Träume, die er nicht steuern, nicht lenken konnte und die selten einen Sinn ergaben. Ein Seelenklempner hätte ihm sicher tausend Dinge draus lesen können, doch Stian fürchtete, sie würden seinen Geisteszustand anzweifeln und deswegen behielt er seine seltsamen Träume für sich.
„Ich hab die Katze vom alten Zehnder geschlissen. Aus ihrem Fell bastle ich mir einen flauschigen Klorollenhalter.“ Der Junge lachte, als wäre es eine tolle Leistung eine Katze zu killen. Stian überkam Wut und der dringende Wunsch, seine steinharte Faust im Gesicht des Jungen zu platzieren, doch sofort fragte er sich, woher solche Emotionen kamen. Stian war ein friedliebender Mensch und neigte überhaupt nicht zu Gewalt. Das Gefühl andere verprügeln zu wollen, war völlig neu für ihn, befremdlich, und erfüllte ihn gleichzeitig auch mit Adrenalin.
„Morgen könnte ich mir das Aquarium unseres Biologielehrers vornehmen. Ich kippe Seife rein und schaue was passiert. Und übermorgen jage ich den alten Hengst vom Binsenhof mit einer Fackel durchs Dorf.“ Stian flippte aus, so schnell, wie es nur in Träumen möglich war und er stürzte sich auf den Jungen und versuchte ihn zu erdrosseln. Er war schockiert über sein Traum-Ich, war jedoch machtlos, etwas entgegenzusetzen. Es war allerdings auch nicht nötig, denn der hellhäutige Junge war ihm masslos überlegen. Stian bekam einen Fusstritt in die Magengegend und ehe er sich versah, sass der Junge rittlings auf ihm und drosch auf sein Gesicht ein. Stian spürte den Schmerz schon fast körperlich und er zappelte in seinem Bett herum, wachte jedoch nicht auf. Zähne lösten sich aus ihrem vorbestimmten Platz und schwammen in einem See aus Blut durch seine Mundhöhle. Die Augenbraue bekam einen Riss und Lebenssaft floss ihm aus allen Ecken und Winkeln übers Gesicht. Er stöhnte und der Junge liess von ihm ab. Er blickte arrogant auf das herunter, was er angerichtet hatte und spie Stian ein „Du solltest mir dankbar sein. Jetzt kann man wenigstens nicht mehr sehen, wie hässlich du bist.“ entgegen. Der Junge zog den Mund zusammen, als hätte er einen bitteren Geschmack auf der Zunge und schon hing ein dicker Speichelklumpen an seiner Unterlippe. Der Speichelklumpen schien an seinem Mund zu kleben wie Fischkleister, doch dann verlor er den Kampf gegen die mächtige Schwerkraft und flog immer schneller und schneller Stians zerschlagenem Gesicht entgegen.
Stian Nerhus schnallte mit einem heftigen Ruck aus seinem Traum hoch, rannte aus dem Bett, was dem Arzt bestimmt sehr missfallen wäre und überprüfte sein Gesicht im Spiegel. Aus der Spiegelscheibe blickte ihm ein schlaksiger, bleicher Junge entgegen, dessen blonde Haare verklebt über die Stirn fielen. Ansonsten war sein Gesicht heil und gesund wie immer. Stian legte sich wieder hin, zog die Knie eng an den Körper und hoffte, nie wieder in diesen Traum zurückkehren zu müssen.
3 Tage später…
„Hast du die Badehose mit?“
„Ich kann’s einfach nicht fassen, dass ihr mitten im Herbst in einem Fluss baden wollt. Ich seid doch komplett hinüber!“
„Hast du eine bessere Idee, Anja?“
„Wir könnten ins Kino gehen!“, rief Anja begeistert. Stian und Leander gähnten herzhaft, wie immer, wenn sie ihre Vorschläge ablehnten.
„Ein einfaches Nein würde mir genügen!“, murrte Anja und stopfte ihren Badeanzug in den Kofferraum, „den Herren ist schon klar, dass wir an DEM Wald vorbeimüssen, um zur Badestelle zu gelangen oder?“
„Gibt es denn keinen anderen Weg?“, fragte Stian und konnte die Angst nicht gänzlich aus seiner Stimme verbannen. Leander sah aufmerksam zwischen seinen Kollegen hin und her. Er schwieg, was ziemlich aussergewöhnlich war, kommentierte er doch sonst so gerne alle Einfachheiten und sei es nur die Landung einer Fliege auf dem Brotrand.
„Und noch was, Jungs! Ich will kein Wort mehr von diesen verdammten Krähen hören, kapiert?“
Eine Stunde später hatten sie auch schon ihre Campingstelle vom letzten Mal passiert. Stian hatte beide Hände über die Ohren gehalten und war unter seiner Windjacke abgetaucht, wodurch sich Anja und Leander fragend angesehen hatten. Nun jedoch kletterten sie in Badesachen über die steinige Wüste eines gut bewässerten Bachbeets.
„Das ist doch die Hölle, hier kann doch keine Sau baden!“, rief Anja entgeistert.
„Hey, das ist mein Jargon. Gebrauch gefälligst eigene Kraftausdrücke!“, brüllte Leander gegen eine Windböe in Anjas Richtung.
Kälte! Literweise eiskaltes Wasser, welches hier pro Sekunde die schlangenhaften Linien des Flusses hinunterströhmt. Die Kraft der Natur. Wir sind Fremdlinge hier, sollten nicht hier sein. Hat Stian ähnliches gefühlt, in dem Wald, was ich nun hier fühle? Wurde sein Herz auch von dieser namenlosen Starre gefangen gehalten? Aber im Prinzip ist es egoistisch von mir, von hier weg zu wollen. Stian fühlt sich wohl hier, das sieht man. Dennoch kriecht mir die Gänsehaut langsam die Knochen hoch und ich fühle mich, als würde ich unter einer Eisdecke schwimmen und finde den Ausgang nicht. Beklommenheit!
„Anja ist total verklemmt! Was fehlt ihr denn jetzt wieder?“
„Ist wohl so eine emotionale Sache.“
„Was ist denn am Baden bitte emotional?“
„Wir baden ja nicht, wir hüpfen bloss über Steine und versuchen nicht nass zu werden!“
Leander und Stian fühlten sich sauwohl und hatten überhaupt keine Lust, sich von Anjas Laune anstecken zu lassen.
„Ist saucool, dass du wieder da bist, Alter! Wollte ich nur mal sagen!“
Stian grinste und erwiderte: „Du mit deinen Kraftausdrücken! Trägst du deswegen auch immer dein bescheuertes Indianertuch?“
Leander wirkte tief betroffen als er sagte: „Das ist mein Heiligtum, Stian, also wag es nicht, mein Heiligtum in Frage zu stellen. Andere verehren Dinge wie einen ferngesteuerten Helikopter oder ein Sparschwein mit digitaler Zählanlage oder ein Poster von Michael Jackson. Aber ich, ich brauche mein Tuch im Haar, sonst fühle ich mich nackt. Ausserdem verdeckt es eine kahle Stelle in meinem Haar, wo ich mir im Hosenscheisseralter eine Narbe angeschafft habe.“ Leander rückte sein Indianertuch zurecht. Es stand ihm ausserordentlich gut.
„Was hast du denn angestellt?“, fragte Stian gespannt. „Nein, lass mich raten. Du hast deiner Mutter einen Legostein angeworfen, worauf sie dir mit der Bratpfanne eins übergezogen hat? Oder hast du deinem Vater während der wichtigsten Fussballentscheidung in den Popcornkübel gekotzt und er hat die quer durch die Stube geworfen?“
„Alter, ich leb nicht unter Kinderschändern. Aber es war trotzdem ziemlich wenn nicht sogar abartig schräg. Also, ich hab Cowboy gespielt und der Staubsauger war mein Pferd…“
Genau in dieser Sekunde hallte Anja Tunesis markerschütternder Schrei durch das Flusstal.
Stian und Leander rannten, als ginge es um ihr Leben. Vielleicht tat es dies auch, je nach dem was Anja gesehen hatte. Schon von Weitem sahen die beiden Jungen, dass etwas nicht in Ordnung war. Ihre Freundin stand steif wie ein Totempfahl am Ufer und starrte auf etwas direkt vor ihr.
„Anja!“, rief Stian, doch der Totempfahl reagiert nicht. Leander, der viel schneller im Laufen war, als Stian, hatte Anja bereits eingeholt. Er fasste sie bei beiden Schultern und folgte ihrem Blick gen Boden. Seine Gesichtsausdrücke wechselten von purer Neugier zu tiefer Irritation und endeten mit blankem Entsetzen.
„Ach, du heilige Weihwasserschüssel! Das darf doch nicht wahr sein.“
„Was denn? Lasst mich sehen!“
Leander und Anja traten beiseite und Stian erblickte etwas, was er im ersten Moment für eine gefrorene Schaufensterpuppe hielt. Doch dann kroch ein übler, fauliger Geruch seine Nasengänge hoch und löste ein Alarmsignal in seinem Gehirn aus. Was sie vor sich hatten, war nichts anderes, als eine wiederaufgetaute Gletschermumie.
Knochen. Nichts als faulige Knochen und verfaultes Fleisch. Und dieser penetrante Gestank. Da wünschte man sich, man könnte die Nasenlöscher mit Beton zukleistern. Es gibt keinen Zweifel, dass du einmal ein Mensch gewesen bist und trotzdem erinnert mich dieser Haufen Knochen eher an ein abgestürztes Alien. Diese Hautfarbe. Eigentlich braun wie ein Pferd, doch einige Stellen sind tiefschwarz und andere sehen aus, als wäre es die natürliche Hautfarbe. Wie lange du wohl schon tot bist? Was musstest du mitmachen, bis es soweit war? Bist du beim Klettern abgestürzt oder wurdest du von einer Flutwelle mitgerissen? Und warum hast du uns ausgesucht, um dich zu finden? Wir wollten doch nur einen Badenachmittag hier verbringen oder wenigsten einige friedliche Stunden zu dritt! Die Kälte ist noch immer da. Sie kribbelt in meinem Nacken, als würden wir observiert. Dich wird man auch betrachten, Gletschermumie. Sie werden dich untersuchen und waschen und beleuchten und scannen und aufschneiden und vielleicht sogar fürs Museum präparieren. Doch das alles stört dich nicht mehr oder? Du fühlst die Kälte nicht…
„Wir müssen die Polizei rufen!“, rief Stian und wollte losrennen, doch Leander hielt ihn an der Badehose fest.
„Bist du irre? Sorry, ich meine, das ist keine gute Idee! Die würden uns doch gleich verhaften, wenn wir mit sowas aufkreuzen. Was? Die Kids mit der toten Krähe haben nun eine Gletschermumie gefunden? Ich meine, können wir sicher sein, dass sie diesmal echt ist?“
„Das ist eine gute Frage, finde ich.“, sagte Anja, die erstmals wieder Worte aussprechen konnte, obwohl es sie grosse Mühe kostete. Ihr klapperten die Zähne und sie schien den Tränen nahe.
„Sie sieht verdammt echt aus“, sagte Stian. „Und sie riecht auch dementsprechend.“
Anja rümpfte die Nase, als wäre ihr erst jetzt der Geruch aufgefallen, den die Mumie ausströmte.
„Wie alt die wohl ist?“
„Nicht so alt wie Ötzi! Und auch nicht so gefroren.“
„Männlein oder Weiblein.“
„Keine Ahnung, ich denke, dass es ein Alien ist.“
Anja wandte sich von den Jungs ab. Die Kälte drohte sie umzuwerfen. Ein Bild tauchte vor ihren Augen auf. Ein Bild, von einem jungen Mann mit Schneejacke. Ein Sturm umgab ihn, der Wind pfiff durch seine Kleider und er humpelte. Anja zwang sich zurück in die Wirklichkeit, sie wollte nicht sehen, was dem jungen Mann passiert war, denn sie war sicher, dass es sich um diese seltsame Gletscherleiche handelte. Woher sie diese Sicherheit nahm, war ihr schleierhaft. Der Mann versuchte eine Brücke zu überqueren, der Schneesturm hielt an, liess die Brücke samt ihren Trageseilen erzittern. Er wankte zur Mitte der Seilbrücke und wurde von einer heftigen Windböe auf die Bretter geweht. Er verharrte und der Schnee deckte ihn zu. Langsam und endgültig.
„ICH WILL DAS NICHT SEHEN!“, schrie Anja und bemerkte, dass sie im Wasser sass. Sie musste hingefallen sein, als der Mann auf die Brücke fiel. Stian und Leander kauerten neben ihr und blickten sie besorgt an.
„Alles in Ordnung? Du sahst aus als hättest du Alpträume im wachen Zustand!“
Und es ist noch nicht zu Ende, dachte Anja und spürte wie der Film sich wieder in ihr Bewusstsein drückte, als würde ihr jemand Farblinsen auf die Augen zwingen. Die Kälte floss durch ihre Ohren und drückte ihr Gehirn so stark zusammen, dass sie glaubte, ihr Kopf müsse explodieren. Sie ergab sich dem Bilderstrom, denn sich weiter zu wehren, würde nur viel Kraft kosten. Kraft, die sie vielleicht noch brauchen würde. Die Seilbrücke war über und über beladen mit Schnee, was dazu führte, dass sie dem Wind mehr Widerstand bieten konnte und nicht mehr so erbärmlich rumflatterte. Der Mann erhob sich. Einige Eiszapfen fielen ihm vom Gesicht und er verliess die Brücke, um weiter am Ufer entlang zu wandern. Eine weitere steife Brise schleuderte ihn gegen einen Baum. Er stöhnte, setzte seine Reise jedoch unbeirrt fort. Was blieb ihm auch Stian übrig? Bei diesem Wetter würde er bestimmt nicht auf eine Reisegruppe treffen, die ihn aufnahmen! Nicht mal die Japaner mit ihren Turnschuhen, würden sich bei dem Wetter nach draussen wagen. Der Himmel war dunkel wie die Hölle und versprach noch mehr von diesem Wintersturm. Der Wanderer rutschte aus, landete auf einer Eisdecke, die sogleich unter seinen Beinen einbrach. Er schrie vor Schmerzen auf. Ein Schrei der komplett vom Tosen des Windes geschluckt wurde. Ein Schrei für die Ewigkeit und doch würde ihn nie jemand hören. Er versuchte die Beine aus dem Eis zu ziehen. Das eiskalte Wasser darunter hatte seine Muskeln bereits einfrieren lassen, was ihm sein Vorhaben erheblich erschwerte. Er kämpfte, ums nackte Überleben, doch je mehr er an seinen Beinen zerrte, desto tiefer rutschte er unters Eis. Die Knie waren nun blau angelaufen und er spürte seine Füsse schon eine ganze Weile nicht mehr. Die ersten Zehen mussten wohl schon abgefallen sein und schwammen vermutlich bachabwärts. Er wollte nicht als gefrorenes Fischstäbchen enden, deswegen zückte er ein Springmesser aus seinem Taschenbeutel.
„NEIIIIINNNN!“, schrie Anja, als könnte sie den Mann davon abhalten, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er setzte die Klinge unterhalb des Knies an. Wie lange konnte man überleben, wenn einem ein Bein fehlte? Würde die Kälte den Blutverlust verlangsamen? Oder würde es den Tod schneller herbeiführen? Beides wäre ihm recht. Handelte er überhaupt noch rational? Hatte ihm die Kälte bereits den Verstand geraubt? Wenn er nichts unternahm würde er erfrieren, das war klar wie ein Bergkristall. Noch während er das Für und das Wieder abwog, landete auf der anderen Seite des Flusses ein Vogel mit elfenartigem Gesicht. Eine Schleiereule. Ihr Antlitz war sanft wie ein Engel, doch das Vieh war der Teufel in Person. Er stach die Klinge blitzschnell in seinen Hals und sofort spürte er die Wärme. Wie wunderbar, dass Blut niemals erkaltete, solange ein intakter Kreislauf vorhanden war. Das macht er sich Zunutze. Er liess den Kopf aufs Eis sinken und genoss die Wärme, die sich von seinem Hals über seine Brust ausbreitete. Schmerzen hatte er keine. Was für eine schöne Art zu sterben. Die Eule tobte, spie und kreischte. Das Blut des Wanderers erkaltete und es war nicht mehr genügend frischer Körpersaft da, um die Wärme zurückzubringen. Das Atmen wurde schwer, die Muskeln schrien nach Sauerstoff, die Organe ächzten unter ihrer Aufgabe, den Mechanismus aufrecht zu erhalten. Die Leber klappte zusammen, die Nieren taten es ihr gleich, genau wie Bauchspeicheldrüse, Blase, Darmtrakt und Magen. Das Gehirn schrie weiter Befehle in den ganzen Körper hinaus. Befehle, die nicht mehr befolgt und auch nicht mehr gehört wurden. Jeder schien seinen Posten verlassen zu haben. Das letzte was der Mann im Eis wahrnahm, war dass er niemals so ein schwarzes Schwarz vor Augen gehabt hatte. Sein Körper versank langsam im Wasser.
„Mann, Anja, was immer du träumst, ich glaube das tut dir echt nicht gut.“, rief Leander von weither. Anjas Nebel lichtet sich und sie sah den Himmel. Sie lag mitten im Bachbett, ihr Badekleid war durchnässt und ihre Kumpels betrachteten sie besorgt von oben herab. Anja setzte sich auf. Ihr Rücken schmerzte und die Kälte des Wassers war da auch nicht gerade hilfreich. Sie blickte starr ans Ufer, als würde sie erwarten, dass die rätselhafte Eule noch dort sass.
„Anja, bist du okay? Was hast du gesehen?“
„Ich glaube ich habe unseren Freund hier gesehen und wie er zu Tode gekommen ist. Aber die Gegend sah Stian aus, vermutlich wurde er vom Wasser im Laufe der Zeit hierhergetragen.“
„Willst du uns erzählen, du hattest eine Vision?“, fragte Leander und man konnte ihm ansehen, dass er gerne mit Anja getauscht hätte.
„Nein, Visionen sind doch Blicke in die Zukunft oder? Ich hab hier eher eine Vergangenheitsreise gemacht. Wenn das überhaupt alles stimmt. Es sah sehr real aus, doch es könnte ebenso gut eine Halluzination gewesen sein.“
„Jetzt mal im Ernst Leute, was machen wir denn jetzt mit diesem Gletschertypen! Ich meine, braucht die Welt einen zweiten Ötzi?“, fragte Stian und betrachtete die Leiche von Weitem. Er sah im Prinzip schon fast zu künstlich aus, um echt zu sein. Die Andern schienen gruselig durch die ledrige Haut durch und liessen ihn wie ein Monster aus seinem schlechten Gruselfilm aussehen. Augen hatte der dürre Schädel keine mehr, doch das war auch gut so. Die geschlossenen, straffen Augenlider waren schlimm genug zum Ansehen. Die Ohren waren seltsam geschrumpelt oder aber sie waren schon vor seinem Tod so gewesen. In seinem Hals klaffte eine grosse Wunde, die rabenschwarz schimmerte. Die Beine hingegen bestanden quasi nur noch aus Knochen und Haut, so als hätten Piranhas das überschüssige Fleisch abgefressen.
„Ich denke…“, sagte Leander, mit einer riesengrossen Kunstpause, damit er die volle Aufmerksamkeit seiner Kollegen erreichte. „Ich denke wir sollte morgen noch einmal herkommen und wenn der Kerl noch da ist, dann rufen wir die Polizei!“
„Und wenn uns jetzt jemand gesehen hat mit der Leiche, du Hirni? Dann wird uns die Polizei fragen, weshalb wir den Fund nicht gleich gemeldet haben.“
„Dann sagen wir, wir wären vom Totengas zu benebelt gewesen, um zu reagieren oder so was in der Art. Die Polizei hier ist ja bekanntlich nicht die hellste Truppe. Ausserdem haben wir uns ja nichts vorzuwerfen. Wir haben den Kerl ja nicht getötet und angefasst haben wir ihn auch nicht. Ich hab einfach ein bisschen schiss, dass er nicht echt ist, verstehst du? Das wir vielleicht mit einem verfaulten Baumstamm reden und es noch nicht mal merken.“
„Wir könnten es einer externen Polizeistelle melden. Eine, die nicht von hier ist. Die wissen ja dann nichts von der Geschichte mit den Krähen.“
„Jaaa, sehr klug, Stian.“, grummelte Leander sarkastisch und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. „Die Polizeistellen haben doch sicher eine nationale Datenbank, wo alle Personen verzeichnet sind und wo man sehen kann, wie viel Dreck am Stecken man schon hat.“
„Wir haben aber keinen Dreck am Stecken. Ich zumindest nicht.“
„Möglich. Aber wir werden wohl als labil verzeichnet.“
„Jungs…“
„Man wird doch nicht gleich als labil bezeichnet, nur weil man mal einen Nervenzusammenbruch hatte…“
„Stian, du bist ein wandelnder Nervenzusammenbruch, denke ich…“
„Jungs…“
„Ein besoffener Partygänger, der in der Ausnüchterungszelle geschlafen hat, wir sicher auch nicht gleich als Alkoholiker verzeichnet, oder?“
„JUNGS…“
„Herrgott Frau, was schreist du denn so?“
„Die Mumie.“
Leander öffnete den Mund, um Anja einen kecken Spruch ins Gesicht zu feuern, doch als er ihre Miene sah, blieb ihm der Spass irgendwo unter den Stimmbändern stecken. Sie starrte entsetzt auf die Stelle, wo die drei die Mumie zurückgelassen hatten, doch da war nur noch plätscherndes Wasser. Die Gletschermumie war verschwunden.
Wir sitzen im Auto. Keiner wagt es, sich ans Steuer zu setzten. Wir haben in den letzten 48 Stunden zu viele Dinge erlebt, die keinen Sinn ergeben. Es ist, wie ein Alptraum, nur weiss keiner von uns, wie man daraus erwachen kann und wer von uns ihn eigentlich träumt. Wie konnte die Mumie verschwinden? Hat das Wasser sie weiter bachab getragen, ohne dass wir es gemerkt haben? Himmel, seht euch Stian an. Er zittert am ganzen Körper und seine Nase blutet wieder. Und Leander ist still. Das ist kein gutes Zeichen. Wenn Leander aufhört Sprüche zu klopfen, ist der Weltuntergang nicht mehr fern.
„Ich verstehe es nicht, ich verstehe es einfach nicht! Es muss doch eine rational erklärbare Ursache dafür geben.“, murmelte Anja und versuchte ihre geschockten Kollegen in ein Gespräch zu verwickeln. Stian sah aus, als hätte er sein Gesicht kopfüber in Mamas Tomatensauce getaucht. Sein ganzes Gesicht war blutüberströmt und keiner machte sich die Mühe, ihm ein Taschentuch zu reichen. Zu sehr waren sie alle beschäftigt, mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen. Leander hatte eine Gesichtsfarbe, wie ein Käse, der drei Tage an der Sonne gestanden hatte, doch er wirkte dankbar, dass Anja ein Gespräch angezettelt hatte.
„Rational zu denken, ist nicht meine Stärke, aber ich schätze wir hätten es gemerkt, wenn die Mumie vom Wasser weitergetragen worden wäre. Das hätte doch ein irres Geräusch gegeben.“
„Wahrscheinlich sind wir wirklich verrückt. Die Mumie hat es gar nie gegeben. Sie war eine Einbildung unserer Fantasie. Wir haben seit dem Morgen nichts mehr getrunken und sind in Badesachen an der kalten Luft herumgelaufen. Es muss eine Fata Morgana gewesen sein…“
„Aber der Gestank…“
„Einbildung…“
„Ich rieche ihn immer noch. An meiner Haut.“, sagte Leander und schnüffelte an seinem Ellbogen.
„Du hast die Mumie doch gar nicht berührt.“, flüsterte Anja und blickte Leander erstaunt an.
„Ich weiss!“
„Stian! Sag doch auch mal was dazu. Was denkst du? Sind wir am fantasieren? Stian, sag was.“, verlangte Anja und schüttelte Stian, wodurch das Blut auf seine Badehose und den Autositz tropfte und dort im Polster versank.
„Mir ist schwindlig.“
„OOOHH MEIN GOTT…“, schrie Leander.
„Nein, das ist ziemlich normal, wenn man so viel Nasenbluten hat.“ Eine Hand landete auf Anjas Haarschopf und ihr Kopf wurde brutal Richtung Frontscheibe gedreht. Sie holte Luft, um einen erlösenden Schrei auszustossen, doch der Atem ging auf dem Weg zu den Lungenbläschen verloren. Draussen, auf der Wagenhaube ihres geliebten Fiats, hockte die Gletschermumie und starrte durch die Windschutzscheibe.
Leander reagiert am Schnellsten und gegen alle Vernunft. Er schloss alle Türen ab und rutschte mühsam auf den Fahrersitz. Der Schlüssel steckte und mit einem grossen Ruck setzte er den Wagen in Gang. Die Mumie rutschte gegen die Frontscheibe. Ihre knochigen, mit fauliger Haut überzogenen Hände, pressten gegen das Glas. Die leeren Augenhöhlen starrten suchend durch die Scheibe. Anja drückte ihren Rücken so fest gegen das Polster, wie es nur irgendwie ging, als hoffte sie, sie könnte zwischen den Sitzen verschwinden. Leander gab Gas und die Mumie rutschte über die Scheibe und hielt sich am Wagendach fest. Ihr Kopf tauchte am hinteren Seitenfenster auf und fixierte Anja.
„Stian, mach ein Foto!“, brüllte Leander und fuhr in Schlangenlinien über die abgelegene Strasse, um die Mumie abzuschütteln.
„Woher soll ich denn jetzt einen Fotoapparat nehmen, hä?“
„DEIN HANDY, DU VOLLPFOSTEN! Diesmal brauchen wir einen echten Beweis, bevor wir zu Polizei gehen. Das hätte mir längst einfallen müssen.“
Stian grub in den Taschen nach seinem Handy und als er es gefunden hatte, richtete er die Kamera auf das Gesicht der Mumie. Doch gerade als er abdrücken wollte, schoss die Knochenhand vor und die Seitenscheibe ging zu Bruch. Stian spürte, wie ihm das Handy aus der Hand gerissen wurde und der faulige Gestank der Mumie wehte durch das Fenster.
„Oh Gott, ich glaub ich muss mich gleich übergeben!“, keuchte Anja und hielt sich Nase und Mund zu. Das Greiforgan des Bergtoten schwebte wieder ins Wageninnere und griff sich Anjas Hals. Er drehte ihren Kopf, so dass sie ihm ins Gesicht sehen musste und sagte, so dass es alle hören konnten: „Erhebt die Armee. Findet die fehlenden Krieger.“
Es waren keine menschlichen Worte, eher als würde der Wind durchs Fenster wispern und trotzdem verstanden sie das Gesagte.
„Was denn für eine Armee, Klugscheisser?“, wagte Leander zu fragen und vergass dabei zu lenken. Der Wagen sauste kerzengerade einen Abhang hinunter. Alle wurden knochenbrechend durchgerüttelt und schliesslich knallte der Fiat in eine gigantische Tanne und blieb rauchend und ächzend stehen.
Anja setzte sich auf. Ihre Rippen schmerzten höllisch und sie spürte ein Blutrinnsal an ihrem Gesicht herunter sickern. Leander lag bewusstlos mit dem Kopf auf dem Lenkrad, der Airbag hatte nicht ausgelöst. Stian stöhnte auf dem Sitz neben ihr und als sie sich zu ihm umdrehte, zog er gerade eine lange Scherbe aus seinem Unterarm. Anja lugte vorsichtig aus dem zerbrochenen Seitenfenster und sah die Mumie regungslos am Boden liegen. Ein heransausender Tannenast hatte ihr den Schädel zertrümmert.
„Ist er tot?“, fragte sie nervös und Blut tropfte ihr in den Mund.
„Du meinst, noch toter als er vorhin schon war?“
„Was hat er denn nur gemeint, was wir für eine Armee aufstellen sollen?“
„Psst, da kommt wer!“
Schritte waren zu hören. Eilende Schritte, so als würden mehrere Personen über eine Kunstrasenwiese rennen.
„Hallo?“, rief eine Stimme.
„Warum schreien die Leute nur immer Hallo. Lasst euch doch mal was Neues einfallen!“
„Leander, du bist wach!“
Leander hob den Kopf und er sah übel mitgenommen aus. Das Blut quoll aus Nase und Mund und seine Stirn war aufgeschlagen. Die dick geschwollene Lippe liess seinen Mund fremd und mürrisch aussehen. Aber er schien im Gross und Ganzen okay zu sein. Die Stimmen kamen näher. Es war ein grosses Gebrabbel und Leander taten die Ohren davon weh.
„Himmels Willen, da ist ja das Auto.“
„Schauen wir, ob es Verletzte gibt.“
Eine alte Frau kam auf die drei zugeeilt. Sie trug flauschige Hausschuhe und eine von Mehl bedeckte Küchenschürze. Ihr voran schritt ein Polizist. Das ging ja schnell!
„Ist alles okay?“, rief der Polizist und Leander und Anja tauschten einen besorgten Blick, denn sie erkannten die Stimme, als jene, von Polizist Frederik Klee. Der Oberbeamte blickte durchs Fahrerfenster und als er sie erkannte, bekam sein Gesicht einen säuerlichen Ausdruck, als wäre ihm ein altes Joghurt unter die Nase gerieben worden.
„Nicht schon wieder! Euch kenn ich doch, verdammt noch mal. Zumindest euch zwei. Was habt ihr dieses Mal wieder ausgefressen?“
„Wir haben eine Mumie totgefa…“
„Wir hatten einen Autounfall!“, sagte Anja laut und deutlich.
„Das ist mir klar. Die gute Frau Sadenka hier hat euch gesehen. Sie sagt, ihr wärt mit einem Höllentempo unterwegs gewesen.“
„Waren wir nicht.“
„Würdest du mich bitte mal anhauchen, junger Mann? Auch das siezen verzichte ich jetzt mal, okay?“
„Gerne!“
Leander pustete dem Polizisten mit voller Fahrt ins Gesicht, so dass dieser angeekelt zurückwich und sich den Kopf am Fensterrahmen stiess.
„Ich rieche vieles, aber kein Alkohol! Aber was zur Hölle mieft hier so unglaublich.“
„Das ist die Mumie!“, sagte Leander, bevor Anja ihn aufhalten konnte.
„Die Mumie, ach so. Klar, hätt ich auch selber draufkommen können. Nach der Krähe sind wir nun also einer Mumie begegnet.“
„Wir können’s beweisen, Herr Oberkommissar! Stian hat ein Foto gemacht. Stian zeig ihm doch das Foto!“
„Ich konnte nicht abdrücken!“, schniefte Stian. „Die Mumie hat mir das Handy entrissen.“
„Ja, gut! Mumien mögen es aber auch nicht, wenn man sie fotografiert.“, alberte Frederik Klee und wandte sich an Anja. „Und was möchtest du zu der Sache noch beisteuern?“ Anja schwieg betreten und Polizist Klee umrundete das Auto. Er wollte gerade die Autotür öffnen, doch da stutzte er. Es lag bereits eine Hand auf dem Türgriff und die war nicht mehr ganz jüngeren Datums.
„Was zur Hölle ist das?“, fragte Frederik Klee. Anja kletterte über Stians Beine und verliess den Wagen.
„Heisst das, Sie können die Mumie auch sehen, Herr Kommissar?“, fragte sie aufgedreht. Klee bejahte und schon wurde er von Anja herzhaft umarmt. Tränen liefen über ihre blutverschmierten Wangen und sie schluchzte aus tiefster Seele.
„Danke, oh ich danke Ihnen!“
Drei 20-jährige, junge Menschen und eine tote Gletschermumie. Was ich auf meine alten Diensttage noch alles erlebe! Aber woher kommt dieses Skelett? Leander hat gesagt, sie sei plötzlich aus einer Tanne gefallen, weswegen er erschrocken sei, das Steuer herumgerissen habe und den Abhang runtergefahren wäre. Aber seit wann fallen Mumien aus den Bäumen? Und wieso ist der Schädel so zertrümmert? Fragen über Fragen, doch können diese drei verdatterten Teenies mir wirklich weiterhelfen? Jetzt muss ich sie erst einmal ins Krankenhaus bringen, wo man sie wieder untersuchen kann. Doch diesmal liegt wohl eher ein körperlicher Schaden vor! Oder habe ich mich von ihrem Wahnsinn anstecken lassen?
Anja sass im leeren Warteraum des Behandlungszimmers. Frederik Klee stellte eine dampfende Tasse heisser Schokolade auf ein Beistelltischchen und nickte ihr zu. Stian und Leander wurden noch untersucht. Die Ärzte waren ziemlich erschrocken umhergedackelt, als sie die blutüberströmten Teenies sahen.
„Wie fühlst du dich?“, fragte der Polizeiverantwortliche und sah, dass Anja zitterte.
„Ich sorge mich, um meine Freunde!“
„Das musst du nicht. Sie sind hier in guten Händen. Es wird für sie gesorgt, das verspreche ich dir.“
„Ich würde Ihnen gerne glauben!“, sagte Anja und Tränen stiegen ihr in die rehbraunen Augen. „Aber ich weiss nicht, ob Pillen und Spritzen ausreichen, um das Loch zu füllen, welches in ihren Seelen entstanden ist.“
Frederik Klee drehte einen Kugelschreiber durch seine Finger und schwieg eine Weile. Er wusste nicht, ob er das Thema auf den Tisch bringen durfte, was ihn so brennend interessierte. Doch er musste es herausfinden, koste es, was es wolle.
„Anja, eure Geschichte mit der Mumie. Nun, du musst zugeben, dass das alles ziemlich haarsträubend ist, was Leander behauptet hat. Eine Mumie die vom Baum fällt, gerade als ihr ihn passiert. Wie soll denn die Mumie auf den Baum gekommen sein? Etwa vom Wind? Und wenn es Verbrecher gewesen wären, dann hätten sie den Toten sicherlich am Baum festgebunden. Sie hätten alles unternommen, dass der Körper nicht gefunden wird. Was hat sich wirklich abgespielt, Anja? Sag es mir!“
Anjas Tränen rannen nun heiss und unaufhaltsam über ihre rundlichen Wangen. Wie gerne würde sie sich dem Polizisten anvertrauen, der ein so freundliches, offenes Gesicht hatte. Wie gerne würde sie all ihre Sorgen, die sie die letzten Stunden mit sich herumgeschleppt hatte, dem Polizisten abgeben. Konnte sie es wagen? Frederik Klee hatte die Mumie auch gesehen, es war also keine Einbildung. Aber würde er ihr glauben, wenn sie sagen würde, dass der Gletschertote auf ihrem Autodach herumgekrabbelt ist? Sie blickte Kommissar Klee ins Gesicht, der gespannt und voller Neugier gewartet hatte.
„Sie würden mir kein Wort glauben, von dem, was ich Ihnen erzählen würde!“
„Ich könnte es versuchen!“
„Das sagen Sie nur, damit Sie hören können, was ich zu sagen habe. Aber glauben würden Sie uns nicht, denn ich glaube es ja selbst kaum.“
Frederik Klee hob die Augenbrauen, schwieg jedoch.
Anja nahm die Schokotasse in die Hand und drückte so stark zu, als möchte sie das Gefäss zum Explodieren bringen.
„Anja, wenn ich verspreche, dass euch nichts geschehen wird, dass ihr nirgendswohin müsst, egal was du mir preisgibst, würdest du mir dann verraten, was ihr erlebt habt?“
„Ich würde Ihnen einen kleinen Finger geben, nicht die ganze Hand!“
„Ich bin bereit, alles zu glauben, war mir etwas Licht in der ganzen Sache verschafft. Also, Anja, was für einen Strohhalm kannst du mir geben?“
„Die Mumie!“, sagte Anja und stelle die Schokotasse unangetastet auf den Beistelltisch. „Die Mumie lebt noch!“
Die drei arg ramponierten jungen Erwachsenen verliessen gemeinsam mit Frederik Klee das Krankenhaus. Sie hatten sich Schnittwunden, Prellungen, Quetschungen, Blutergüsse und Stauchungen zugezogen, aber zum Glück keine Brüche.
„Ich würde euch gerne auf einen Kaffee oder ein Getränk einladen!“, sagte Polizist Klee und steuerte eine kleine Beiz an, gleich gegenüber vom Krankenhaus.
„Ist Kaffee denn kein Getränk?“, wollte Leander wissen, wurde jedoch von einem Fusstritt Anjas zum Schweigen gebracht. Die drei folgten dem Gesetzeshüter und als sie das Restaurant betraten, blickten sich die Gäste erstaunt nach den drei Verletzten um. Vor allem Leander musste einen Anblick abgeben, als hätte er sich freiwillig als Wrestling-Anfänger für eine Vorführung gemeldet. Das Restaurant roch muffig, als würde gerade der Kohl von letzter Woche für die Suppe zurechtgemacht. Personal wie auch die Gäste machten einen ziemlich verschlafenen Eindruck und Stian vermutete, dass hier Valium ins Essen und Trinken gekippt wurde. Die Bedienung kam zwei Sekunden nachdem sie sich gesetzt hatten. Bei ihr musste wohl Ritalin ins Getränk gemischt worden sein. Welch fatale Verwechslung. Bei der Aufnahme der Bestellung achtete sie peinlich genau darauf, nur Frederik Klee anzusehen. Stian, Leander und Anja wechselten Blicke unter sich, doch Polizist Klee ergriff das Wort erst, als die Bedienung die Getränke auf den Tisch geknallt hatte und ausser Hörweite verschwunden war. Stian blickte seine heisse Schokolade argwöhnisch an. Er liess die Geschmacksknospen seiner Nase entscheiden, ob das Getränk vertrauenswürdig war oder nicht. Er schob die Tasse von sich.
„Der Grund, warum ich euch hierher eingeladen habe, ist der, dass ich gerne noch einmal mit allen von euch über das Geschehene reden möchte.“
„Dann hätten Sie uns doch auch auf den Polizeiposten einladen können? Das wäre günstiger für Sie geworden!“, stellte Leander fest.
„Ja, aber auf dem Polizeiposten muss ich ein Protokoll führen, über unser Gespräch und vielleicht würde ich gerne noch über Dinge reden, die man nicht in einem Protokoll finden sollte.“
„Ist das denn legal?“, fragte Anja erstaunt und rührte nun die 100. Runde in ihrem Kaffee an. Auch sie schien der Bedienung nicht zu trauen und rührte den Kaffee, bis er sich wohl verdampft hatte.
„Ich bin nur als Frederik Klee hier. Ich habe meine Marke, sowie mein Uniformskittel im Auto gelassen, also ist das ein ganz privates Gespräch unter fernen Bekannten, könnte man sagen. Ich habe inzwischen auch noch einige Infos über die Mumie, die ihr vielleicht gerne erfahren würdet.“
„Dürfen wir das denn?“, fragte Leander und biss sich sogleich auf die Zunge. „ Ich meine, ja, rück rüber mit den Infos.“
Polizist Klee musste über Leanders Ausdrucksweise schmunzeln.
„Die Mumie ist seit etwa 20 Jahren tot. Sie weist Spuren auf, die belegen, dass sie einige Zeit im Eis und im Wasser gelegen hat und dies wiederlegt eure Tannengeschichte eindeutig. Ich frage euch also nochmal, woher kommt die Mumie wirklich?“ Frederik Klee blickte Stian bewusst ins Gesicht, denn er wusste, dass der junge Mann am wenigsten standhaft war.
„Wir haben sie in einem Bachbett gefunden. Wir wollten da schwimmen gehen.“
„Bei diesen Temperaturen?“
„Ja, wir wollten uns den Kopf abkühlen und da haben wir sie entdeckt. Wir wussten nicht, was wir mit ihr tun sollten und dann haben wir uns gezankt und plötzlich war sie weg.“
„Stian!“, rief Leander empört.
„Nein, ist schon okay.“, unterbrach ihn Anja. „Ich habe bereits erwähnt, dass die Mumie noch lebt.“
„Aber was heisst denn, die Mumie lebt noch? Wollt ihr mir allen Ernstes weissmachen, dass die Mumie selber auf euer Auto gekrochen ist?“
„Ja, was glauben Sie denn? Glauben Sie wir würden eine tote Bergleiche durch die Gegend chauffieren? Mein Auto wurde neu generalüberholt, da setzt ich doch keine Mumie auf den Rücksitz.“, rief Leander empört und haute die Faust auf den Tisch, so dass die Tassen klirrten und die Servierdüse nervös die Kaffeemaschine zu polieren begann. Stian dachte betreten auf die Bluttropfen, die er auf Leanders neues Auto hinterlassen hatte. Er würde ihm dafür ein goldenes Indianertuch für seine Mähne kaufen.
„Ist ja auch egal.“, sagte Anja betroffen. „Was geschieht denn nun mit diesem Toten und weiss man schon, wer er ist?“
„Nein, wir gehen noch die Vermisstenliste durch, aber bisher haben wir noch keinen Treffer. Wir haben die Untersuchungen abgeschlossen und er wird zurzeit im Kühlungsraum des Privatmuseum von Hannes Lenk aufbewahrt. Er ist ganz vernarrt auf alte Dinge.“
„Wollt ihr ihn etwa ausstellen? Wissen Sie wie der stinkt?“
„Nun, Leander, es gibt Verfahren, womit man den Verwesungsgeruch eindämmen kann. Aber wir wissen noch nicht, was mit der Mumie geschehen soll. Wenn sie tatsächlich am Leben ist, was biologisch gesehen rein unmöglich ist, dann hat sie sich sehr gut tot gestellt, auf dem Weg ins Museum.“ Frederik Klee konnte wiederum ein Lächeln nicht verbergen, doch die drei Verunfallten blickten ihn aus steinernen Mienen an. Keiner sagte ein Wort und als ein lautes Affengeschrei erklang, ging ein erschrockenes Zucken durch die Runde.
„Das ist wohl mein Handy, entschuldigt, mein Neffe findet solche Spässe wohl komisch. Ja? Polizist Klee am Apparat! Was sagen Sie da? Nein, das ist unmöglich. Okay, wir kommen sofort.“
„Wir?“, fragte Anja, nachdem Klee sein Handy in den Tiefen seiner Hosentasche hatte verschwinden lassen. Sein Gesicht war seit dem Anruf um 10 Jahre gealtert. Er blätterte ein paar Scheine auf den Tisch und sagte: „Kommt, wir müssen gehen!“
„Aber wohin denn?“
„Ins Museum! Die Mumie ist weg!“
„Etwas Besseres hätte uns gar nicht passieren können, Leute!“, flüsterte Stian auf dem Rücksitz des Polizeiwagens. Frederik Klee war mit mehreren Parteien gleichzeitig am Telefonieren und beachtete niemanden.
„Wie soll ich das verstehen?“, fragte Anja.
„Nun ja, die Gletscherleiche ist weg. Sie war im Kühlungsraum des Museums und von dort wird sie wohl nicht so leicht geklaut werden können. Also hat sie sich selbst aus dem Staub gemacht.“
„Aber Stian, sie sah wirklich ziemlich schrottig aus, nach unserer Talfahrt.“, brabbelte Leander und zerquetschte in seiner Faust einen imaginären Apfel, um seine Worte zu untermauern.
„So richtig frisch war sie auch nicht mehr, als wir sie aus dem Bach gefischt haben.“
Die Tür ging auf und Frederik Klee lächelte hinein. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass der Wagen angehalten hatte. Wie lange er schon dastand und lauschte?
„Kommt, ihr Abenteurer! Wir haben es mit einer gestohlenen Mumie zu tun.“
„Gestohlen, wer’s glaubt, wird selig.“, murmelte Stian, doch der Polizeibeamte hatte ihn genau gehört.
„Als ich gemerkt habe, dass die Mumie fehlt, habe ich das Museum sofort abriegeln lassen. Wir haben zurzeit keine Besucher, da wir unsere Dauerausstellung erneuern und dazu Umbauarbeiten angefallen sind. Der Dieb ist also vielleicht noch im Museum.“
„Oder schon über alle Berge. Das sind übrigens die drei Finder der Gletscherleiche, Anja Tunesi, Leander Leonell und Stian Nerhus. Darf ich vorstellen, das ist Hannes Lenk, der Museumsverantwortliche. Ihm gehört der Laden hier und es scheint ein Fulltimejob zu sein. Er ist verantwortlich für die korrekte Lagerung der Museumsgegenstände, die nicht in Ausstellungen zu sehen sind. Ausserdem stellt er die Ausstellungen zusammen, führt Klassen durch die Säle und gestaltet Flyer. Ausserdem bist du auch der Hausmeister und der Ticketverkäufer, richtig Hannes?“
„Richtig. Ich bin zuständig für eigentlich alles. Wenn mir die Arbeit über den Berg wächst, dann stelle ich zwischendurch Entlastungsleute ein, aber das war schon länger nicht mehr nötig. Ich bin übrigens auch zuständig für die Sammlungsstücke, die in den Vitrinen zu sehen sind.“
„Woher kommen ihre Exponate?“, fragte Leander und Anja verdrehte die Augen, bei Leanders Anfall von gesitteter Ausdrucksweise.
„Oh, von überall her. Einige Dinge waren schon hier, denn es ist eigentlich das Landhaus eines britischen Archäologen. Seine Frau bekam Multiple Sklerose und sie konnten das Haus nicht mehr länger in Schuss halten. Die Kinder waren zu verwöhnt und zu jung, um den Laden zu übernehmen und so kaufte ich das Haus, weil ich wusste, dass hier einiges archäologisch wertvolles Material herumsteht. Er hatte zum Beispiel eine ganz eigenartige Sammlung von Tierfiguren aus Elfenbein. Nur leider habe ich diese Figuren nie gefunden. Ich besitze nur noch Fotos davon.“
Leander blickte bei den letzten Worten drein, als würde Lenk ihm den Wetterbericht von Madagaskars tiefster Seehöhle vorlesen.
„Einige Dinge habe ich auch schon selber besessen. Ich habe an diversen Ausgrabungen mitgearbeitet, obwohl ich nur Hobbyarchäologe bin. Aber das meiste stammt aus Schenkungen oder Leihgaben.“
Frederik Klee drehte sich um und flüsterte Stian, Anja und Leander zu: „Er hält sich für den besten Museumskurator, den die Welt gesehen hat, wenn ihr also wollt, dass er kooperativ bleibt, müsst ihr ihn nur genügend loben, der Rest ergibt sich von alleine.“ Hannes Lenk schien ein netter, alter Kerl zu sein. Er war jedoch altmodisch gekleidet, hatte eine Lesebrille um den Hals hängen und sah aus, als würde er sogar nachts im Archiv schlafen. Ansonsten machte sein weiches, gummiartiges Gesicht einen freundlichen Eindruck.
„Gut, wir sind etwas vom Ziel abgekommen, schätze ich. Ich schlage vor, dass wir uns aufteilen und in den verschiedenen Ecken des Museums suchen. Ich denke der Dieb dürfte ohne die Mumie geflüchtet sein. Es ist zwar nur ein Haufen Knochen, aber auch die haben es gewichtmässig in sich. Mädchen, du gehst mit diesem weissgesichtigen Indianer da und der Rest geht mit mir ja? Irgendwelche Einwände? Nicht? Dann los, gehen wir auf Schatzsuche.“ Die Tatsache, dass seine kurz zuvor erworbene Mumie bereits wieder verschwunden war, schien dem alten Mann einen Mordsspass zu bereiten und er eilte seiner Gruppe wie ein junges Reh hüpfend voraus.
Stian und der Polizist folgten ihm treppaufwärts und Leander spuckte ihnen ein beleidigtes „Ich bin kein Indianer“ hinterher.
Anja öffnete die nächstbeste Tür und dahinter verbarg sich der grösste Saal des Museums. Hier lagerten ausgestopfte Tiere und Fossilien. Kisten standen herum, Holzbalken wurden auf dem Boden gestapelt, verstreute Nägel lagen herum und überall roch es nach frischem Leim. Einige Vitrinen waren geöffnet und einige Ausstellungsstücke lagen sogar verstreut auf dem Boden. Der Archivar in ihm war offensichtlich am schwächsten entwickelt von allen Rollen, die er zu spielen hatte, oder aber die Bauarbeiter hatten keinen blassen Schimmer vom Wert der Materialien.
„Komm, wir suchen die Mumie.“, rief Anja halbherzig und öffnete mal hier und mal da eine Kiste. Leander blickte einem Strauss unter die geöffneten Flügel und murmelte: „Komisch, hier ist sie auch nicht.“
„Wir sind hier nun in der regionalen Abteilung. Hier lagern historische Gegenstände, die in unserem Kanton gefunden wurden. Da drüben zum Beispiel, seht ihr eine alte Kanone aus dem 1. Weltkrieg, die wir auf Grund eines Sees gefunden haben.“
„Hannes, wir sollten nach einem Einbrecher suchen und keine Museumsführung unternehmen oder? Ich möchte die Zeit unserer drei Schatzsucher nicht unbedingt länger als notwendig in Anspruch nehmen.“
„Ist schon in Ordnung. Wir haben eh Ferien und was passiert, wenn wir campen gehen oder baden, das haben wir ja gesehen.“, sagte Stian und der Museumsguru blickte ihn als, als hätte er gesagt, dass es auf dem Mond Toiletten mit Seifenspülung gäbe. Stian lächelte schwach und wanderte durch den Raum. Frederik Klee zog Lenk zur Seite und sagte energisch: „Wo warst du denn, als die Mumie geklaut wurde? Ich dachte, sie wäre im Kühlraum unter Verschluss.“
„Das war sie auch, Fred, das war sie auch. Aber jemand hat mit grosser Gewalt das Kühlfach eingetreten und jetzt ist sie weg. Einfach weg.“, seufzte Hannes Lenk dramatisch.
„Du verheimlichst mir etwas, Hannes, das spür ich genau.“
„Nicht doch.“
„Du warst schon immer Spitze im Bewahren von Geheimnissen, aber in deinem Beruf als Archivar bist du unübertroffen. Ich habe selten einen Mann gesehen, der sich so fürs Archiv und für die Archäologie aufopfert wie du.“
„Du alter Schmeichler, Fred. Na gut, ich verheimliche dir tatsächlich was. Aber du wirst mich für senil halten, wenn ich es dir sage. Aber nun gut, ich bin einfach so eine ehrliche Haut.“
Klee wartete ab, doch Hannes zupfte nur mit den Fingern an seinem altmodischen Strickjackengilet. Im Hintergrund trommelte der Sekundenzeiger einer Uhr laut und nervtötend.
„Und? Was verheimlichst du? Spuck’s schon aus!“
„Das Kühlfach, das eingetreten wurde!“
„Was ist damit?“
„Es wurde von Innen eingetreten!“
„Das ist doch nicht möglich, Hannes.“
„Doch, wenn ich es dir sage. Ich schwöre es, bei den Gebeinen eines versteinerten Velociraptors.“
„Dann hast du den Verbrecher zusammen mit der Mumie ins Kühlfach eingeschlossen.“
„Die Tür ist massiver Stahl. Die tritt kein Mensch einfach so ein.“
„Dann hat er das Bein der Mumie genommen, oder so.“
„Der Knochen würde zerbröseln wie Staub, aber die Tür würde keinen Millimeter nachgeben, Frederik.
Irgendwo rumpelte es, als wäre eine Vase zu Boden gefallen.
„Oh, ihre beiden Kollegen sollten doch eine Mumie suchen und nicht das Museum auseinandernehmen! Wobei, der Tiersalon hätte durchaus eine Überarbeitung nötig.“, gluckste Lenk.
Leander und Anja kamen gerade durch die grosse Saaltür.
„Wir haben die ganze Tierabteilung abgesucht und da ist nirgends eine Bergmumie! Ich denke wir sollten die Gruppen tauschen. Leander scheint nicht mit Herzblut bei der Sache zu sein.“
„Kunststück! Wegen dieser Mumie hätten wir beinahe als zerschnippeltes Kochgemüse geendet und da soll ich mich freudig an einer Suchaktion betätigen, du machst wohl Witze!“ Leander bleckte die Zähne und Anja fragte sich einmal mehr, ob Leander vielleicht in irgendeiner Linie verwandt mit den Tigern war.
Knall!
„Wer ist denn das nun schon wieder!“
„Das kam von unten!“, rief Frederik Klee, kramte seine Dienstwaffe hervor und eilte die Treppe herunter, gefolgt von Stian, Anja, Leander und dem Archivaren.
„Das muss aus der Spezialausstellungshalle gekommen sein. Wir haben gerade das Thema Pharao.“
Sie spurteten durch die Tierhalle und kaum waren sie in der Spezialhalle angelangt, sahen sie auch schon den Auslöser, des gewaltigen Knalls. Ein ägyptischer Sarkophag lag mit zerbrochener Tür auf dem Marmorboden.
„Der muss irgendwie umgefallen sein! Wahrscheinlich stand er unstabil.“, sagte Klee und liess die Dienstwaffe wieder im Gürtel verschwinden.
„Der stand überhaupt nicht unstabil, Fred. Und weisst du, was so ein Sarkophag wiegt? Das war diese verflixte Mumie.“
„Mumie schmeissen aber keine Sarkophage um.“
„MUMIEN BRECHEN ABER AUCH NICHT AUS KÜHLFÄCHERN AUS.“, schrie Hannes Lenk und zum ersten Mal an diesem Tag, hatte auch Leander keine passende Paradeantwort.
Die Sonne versank hinter dem Horizont und liess einen blutenden Himmel zurück. Die Suche nach der Mumie war ergebnislos verlaufen und Hannes Lenk schien kurz vor dem Durchdrehen zu sein. Der Polizist Frederik Klee schien sich immer noch nicht mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass hier eine lebendige Mumie umherschlenderte. Er ging auf und ab und murmelte irgendwelche Szenarios vor sich hin. Leander nahm den Polizisten ins Gebet.
„Sie haben doch sicher den Film Nachts im Museum gesehen oder?“
Der Wachmeister schüttelte den Kopf.
„Da werden alle Ausstellungsstücke nach Sonnenuntergang wach und wackeln durchs Museum. Ich will nicht hier sein, wenn das passiert.“
„Das ist nur ein Film, Leander. Das passiert hier schon nicht.“, sagte Stian. „Und ausserdem ist die Sonne schon gesunken und es hat sich hier noch keiner gerührt.“
„Die stellen sich alle tot, dabei beobachten sie uns. Sie werden uns angreifen, sobald wir uns umdrehen. Siehst du den Kapuzineraffen da? Er hat gezwinkert, ich schwör‘s.“
„Ich muss mal aufs Klo.“, sagte Stian und konnte ein herzhaftes Gähnen nicht unterdrücken.
„Bringst du mir ein Schwert mit, Stian? Damit ich mich verteidigen kann. Oder eine Kanone wäre noch besser, aber schau, dass sie geladen ist, ja?“
Stian liess seinen nervös zappelnden Kumpel zurück und schlurfte die Museumstreppe hoch. Als er am Regionalraum vorbeikam, war er einen Blick auf die Weltkriegs-Kanone und stellte sich vor, wie Leander versuchte einen lebendig gewordenen Kapuzineraffen damit zu beschiessen. Stian grinste und stiess die Tür zur Toilette auf. 4 Kabinen und eine davon war besetzt. Vermutlich suchte jemand nach dem Eingang zur Kammer des Schreckens. Er entleerte seine Blase und musste noch immer über Leander schmunzeln, als er sich die Hände wusch. Stian rieb sich die Finger an einem Handtuch trocken, als ihm die besetzte Kabine wieder in die Augen fiel. Vielleicht war die Toilette ja auch ausser Betrieb? Kein Grund zur Sorge! Mumien gehen schliesslich nicht aufs Klo! Mit einem unguten Gefühl trat er vor die Kabine und klopfte sachte gegen die Holztür. Nichts.
„Hallo?“
Wieder nichts. Stian ging auf die Knie und lugte unter der Kabinentür hindurch, obwohl er wusste, dass man dies eigentlich nicht tat. Er hatte irgendwie zwei Mumienfüsse erwartet, doch die Toilette war leer. Erleichtert stand er auf, klopfte sich die Kleider ab und verliess den Toilettenraum. Draussen stand die Bergleiche und richtete einen Speer auf sein Kinn.
Vorwärts! Das Wort war kurz und prägnant und wurde direkt ins Stians Stammhirn geschossen. Sie stiess ihm die Speerspitze sachte in den Rücken und er setzte sich in Bewegung.
„Wohin denn?“, fragte Stian und ihm war einmal mehr nicht klar, ob er träumte oder nicht. Warum hatte er die Mumie nicht gerochen? Sie stank dermassen abartig, dass er sie doch auch durch die Toilettentür hätte riechen müssen. Fahrstuhl, war der nächste Befehl. Stian liess sich von dem Speer den Weg weisen und hielt schliesslich vor einer Liftkabine, die wie ein metallener Sarg aussah. Während er auf den Fahrstuhl wartete, beobachtete ihn die Mumie, das konnte er fühlen. Herrgott , die hat doch nicht mal Augen, dachte Stian und war im Prinzip froh darüber. Eine Mumie mit Augen wär noch einmal ein ganzes Stück schlimmer. Ihre Hand landete auf Stians Schulter und er dachte gleich in Ohnmacht zu fallen, von diesem fauligen Gestank. Fahrstuhlfahren mit einer Mumie, das war es, was er sich immer gewünscht hatte. Die Mumie drückte den Knopf für den Keller und liess vertrocknete Haut auf den Fahrstuhlboden regnen. Sie war überhaupt nicht mehr glitschig und feucht, sondern vertrocknet und jede Bewegung zog ein hässliches Knirschen nach sich. Stian presste sich gegen die Wand, um möglichst viel Luft zwischen sich und die Kreatur zu bringen. Im Keller angelangt schob sie ihn unaufhaltsam vorwärts, bis sie vor einer verschlossenen Tür standen. Die Tür sah aus, als könnte ihr selbst eine Atombombe nichts anhaben. Die Kombination, sagte die Kreatur und deutete auf ein schmales, elektrisches Gerät, gleich neben der Tür.
„Ich weiss es doch nicht!“, sagte Stian. Die Mumie hob ihn hoch und quetschte ihn gegen die Safetür. Stian blieb die Luft weg, was gut so war, denn sonst wäre er an den Ausdünstungen der Mumie erstickt.
Versuch es!
Stian landete unsanft auf dem Boden. Er stand auf und drückte eine beliebige Zahl ins Tastenfeld. Ein Summen erklang, doch die Tür blieb geschlossen. Der Archivar schien sich für Kriege zu interessieren, also versuchte er es mit 1914, 1918, 1939 und 1945. Die Anlage summte was das Zeug hielt und die Mumie begann ungeduldig mit dem Fuss zu tappen. Stian durchforschte sein Gehirn nach weiteren geschichtlich relevanten Zahlen und hämmerte sie fortwährend auf die Tastatur. Doch wieder summte die Anlage und die Kreatur verpasste Stian einen derart heftigen Schlag auf den Kopf, dass er zusammenbrach.
„Wie kann man nur so lange brauchen auf dem Klo!“, sagte Anja und setzte sich neben Leander, der gerade ein Kriegergame auf seinem Handy zockte.
„Das fragst du mich? Du bist doch die Frau von uns beiden!“
„Oh, entschuldige, ich meinte, wie kann ein Mann bloss nur so lange auf dem Klo brauchen?“
„Er besorgt mir ein Schwert!“
„Was?“
„Ein Schwert! Wenn Gorilla aufwacht, will ich gewappnet sein, klar?“
„Du siehst zu viel Fernsehen, Leander, echt.“
Klee kam herüber und setzte sich auf den Boden, direkt vor den Teenagern. Anja schnappte sich Leanders Handy und begrub es in ihrer Hosentasche.
„Was soll das? Wird man hier verknackt, nur weil man ein Handygame spielt?“
„Ich würde schon gerne jemanden verknacken, aber nur wenn du schon 20 Jahre tot bist und wie ein faules Ei stinkst.“
„Sie haben wohl noch nie einer Mumie Handschellen angelegt was? Aber immerhin haben Sie endlich kapiert, dass der Trottel wirklich lebendig geworden ist und hier rumspaziert.“ Leander ging vor Anja auf die Knie und bettelte um sein Handy.
„Gib mir dein Indianertuch, dann kriegst du das Handy!“
„Mein Indianertuch? Nie im Leben! Oder rückt der Papst sein Heiligtum einfach raus, nur weil man ihn darum bittet?“
„Was ist denn das Heiligtum des Papstes?“
„Was weiss denn ich. Man munkelt, er habe eine goldene Kloschüssel!“
„Eines ist mir einfach nicht klar!“, sagte Klee und tat so, als hätte er Anjas und Leanders Geplänkel gar nicht mitbekommen. „Wenn dieses Geschöpf so stark ist, dass es eine Stahltür eintreten kann und einen Sarkophag auf den Boden schmeisst, als wäre er eine Kartonschachtel, dann verstehe ich nicht, warum sie noch hier ist?“
„Ist sie das denn?“, frage Hannes Lenk, der sich mit einer Tasse Tee dazugesellt hatte.
„Ich nehme an. Du hast alle Türen verriegelt und die sind nur mit Gewalt aufzubringen. Da alle Türen und Fenster aber noch ganz sind, gehe ich davon aus, dass das Wesen noch hier ist. Wieso?“
Hannes Lenk nahm einen Schluck siedend heisser Tee und es schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis das Gewässer durch seine Kehle, die Speiseröhre hinunter zum Magen gegluckert war.
„Ich nehme an, sie braucht etwas, was wir haben!“
„Etwas was wir haben? Etwa einen Sarkophag oder was meinst du? Sie baut sich ihre eigene Grabkammer?“
„Nicht unbedingt. Ich habe da einen Verdacht. Ich denke eure Mumie kommt aus Ägypten.“
„Aus Ägypten?“, fragte Anja verblüfft und klang dabei so ungläubig, wie Klee sich fühlte. Leander klopfte dem Archivaren auf die Schulter und meinte: „Hören Sie mal, Sie Staubbrennessel, ich glaube Sie irren sich und zwar gewaltig. Sie haben doch selber gesagt, dass die Mumie im Wasser gelegen hat und zwar in dem Wasser, wo wir sie gefunden haben. Und Ägypten ist ja nicht gerade bekannt für sein übermässiges Wasseraufkommen.“
„Ja schon, du verstaubter Charmebolzen, aber sie lag keine 20 Jahre im Wasser. Ich denke eure Mumie ist aus dem Frachtraum eines Flugzeuges gefallen.“
„Da wäre sie doch zu Staub zerbröselt. Ausserdem haben unsere Pfadfinder keinen Behälter gefunden.“
„Ich muss dich korrigieren. Eine normale Mumie wäre zu Staub zerbröselt, durchaus. Aber was bitteschön ist an dieser Mumie normal? Und der Behälter ist auf jeden Fall zerschellt und kann im Laufe der Zeit fortgeschwemmt worden sein. Sag mir, Fred, eine lebendige Mumie, die von 3 wilden jungen Menschen umgefahren wird, stellt sich danach 3 Stunden lang tot, nur um in diesem Museum per Zufall wieder aufzuwachen? Ich sage dir, die Mumie wollte in dieses Museum.“
„Das ist doch Schwachsinn! Was soll sie denn in diesem Museum wollen? Einen ausgestopften Giraffen?“
„Ich würde dir zustimmen, wenn es tatsächlich eine Bergmumie ist. Denn dann würde ich nicht einsehen, was sie hier brauchen könnte. Doch wenn sie aus Ägypten kommt, dann habe ich, so glaube ich, etwas, was ihr Interesse durchaus erwecken könnte.“
„Und was soll das sein?“, fragte Anja, die allmählich glaubte, bei dem Gespräch den Faden zu verlieren.
„Sie ist im Tresor. Kommt mit, ich kann sie euch zeigen.“
„Was denn?“
„Eine ägyptische Totenmaske!“
Oh Gott, mich hat’s ja wiedermal voll erwischt. Himmel, mein Kopf dreht Runden, wie auf einem Karussell, nur nicht immer in die gleiche Richtung. Mein Arm scheint in einem Schraubstock festzustecken. Ich kann ihn nicht bewegen. Was mach ich jetzt? Ich krieg die Kombination doch nie raus! Wird sie mich dann töten? Wo ist sie überhaupt? Dem Gestank nach zu urteilen muss sie ganz in meiner Nähe sein. Sie wird doch nicht etwa…? Meine Fresse, ich glaub mir wird schlecht…
Die Mumie kniete neben Stian und hatte dessen Arm im Schraubziehergriff. Sie drehte sein Handgelenk sachte in die verkehrte Richtung, um ihm klarzumachen, dass sie es weiter drehen würde, wenn er den Code nicht herausfand.
„Okay, ich werde es versuchen. Ich versuche den verdammten Scheisscode zu knacken. WARUM ENTFÜHRST DU NICHT EINFACH DEN STAATSARCHIVAR HIER, DER KANN DIR DEN CODE IM SCHLAF VORSINGEN!“
Eine schwielige, alte Hand legte sich auf Stians Mund und alleine der Geruch brachte ihn zum Schweigen. Als die Kreatur die Hand wieder wegzog, hatte Stian einen salzigen Geschmack auf den Lippen. Er musste gleich würgen. Sie schubste den jungen Mann vor die Sicherheitsanlage, trat dann einen Schritt zurück und richtete ihren Speer zwischen Stians Pobacken.
„Das ist doch nicht nötig, oder?“ Stian begann wahllos auf das Tastenfeld einzuhauen, in der verzweifelten Hoffnung, irgendwann die richtige Kombination zu treffen. Vermutlich hatte sich die Anlage eh schon längst verabschiedet, nach einigen falschen Codes, doch Stian hackte weiter auf die Tastatur ein. Der Speer stach sachte in seinen Gesässmuskel.
„Ja, ich mach ja schon, aber wie du siehst, funktioniert es nicht, da hilft auch dein Stechen nix.“
Die Mumie verlor langsam die Geduld, doch je erpichter Stian die Kombination herausfinden wollte, desto lauter wurde der Atem der Kreatur. Schliesslich stiess sie in weg und begann mit gezielten Fusstritten auf die Tür einzuhämmern. Knochensplitter rasselten durch die Gegend und die Tür bekam einige Dellen, gab jedoch nicht nach. Schliesslich hämmerte sie mit den Fäusten gegen alles, was sie erreichen konnte. Die Tresortür blieb standhaft. Stian hoffte, dass sie weitertoben würde, denn den Krach konnten die anderen bestimmt nicht überhören. Doch kaum hatte er den Gedanken zu Ende geführt, da hielt die Mumie inne. Sie drehte den Kopf Richtung Treppenhaus neben dem Fahrstuhl und schnüffelte mit ihrem Nasenknochen. Der Bergtote schien etwas gewittert zu haben. Er hob den Speer und kam auf Stian zu.
„Nein, bitte nicht, ich hab es doch versucht, ich hab es versucht, glaub mir.“
Die Speerspitze fuhr hinunter und blieb in Stians linker Gesässhälfte stecken.
„Sie ist ganz entzückend, sag ich euch! Kommt hier lang, bitte, schön zusammenbleiben! Was war das? Hat hier jemand geschrien?“
„Stian…!“, rief Anja und wollte davoneilen, doch Frederik Klee hielt sie an ihrem Pulli zurück. Sie zog und zerrte, doch es war so zwecklos, als wollte sie ein Hochhaus mit blossem Niesen zum Einsturz bringen.
„Zusammenbleiben, hat Hannes gesagt und angesichts der Umstände, scheint mir das keine schlechte Idee zu sein.“
„Aber Stian, ich bin sicher, dass er geschrien hat!“
„So, nur noch um die Ecke und dann sind wir da! Huch! Ist das denn menschenmöglich?“, rief Hannes Lenk und er hörte sich beinahe entzückt an. Die Gletschermumie hielt ihm einen blutigen Speer unter die Nase. Die Kombination, aber dalli!
„Oh, du telepathierst deutsch? Wie entzückend. Ich dachte, du bist vielleicht aus Ägypten, aber wer so lange in Schweizer Gewässern liegt, lernt vielleicht auch die Sprache was? Wir sind wohl etwas ungeduldig, hä?“
Hannes Lenk blickte auf die verbeulte Tür, dann auf den Jungen, der darunterlag und mit einer Seelenruhe sagte er: „Der Code ist 0000!“
„0000? Also im Sinn von Null null null null?“, fragte Leander ungläubig.
„Klar. Welcher Einbrecher erwartet schon so einen dämlichen Code! Und wie du siehst, hat es funktioniert!“
„Ja, es hat funktioniert!“, sagte Klee erschüttert. „Aber zu welchem Preis, Hannes? Und ausserdem, was versteht eine Mumie schon von Zahlencodes.“ Offensichtlich sehr viel, denn sie tippte die Kombination behände ins Gerät ein und als sich die Tür mit einem leisen Wusch öffnete, verschwand sie sogleich im riesigen Tresor des Museums. Herr Lenk folgte der Mumie ins Innere, doch Leander, Anja und Polizist Klee beugten sich neben Stian, dessen Hose blutdurchtränkt war.
„Stian, kannst du mich hören? Kannst du nicken, wenn du mich hörst?“
Stian nickte, keuchte jedoch, als hätte er einen Flügel ganz alleine in den dritten Stock geschleppt.
„Ich bin zwar kein Arzt, aber ich muss mir das ansehen!“ Klee machte Anstalten dem Jungen die Hose auszuziehen.
„Nein…“, keuchte Stian und sein Blick glitt zu Leander und Anja.
„Wie soll ich diesen Blick deuten? Heisst es, deine Freunde sollen die Verletzung ansehen oder heisst es, ich soll sie wegschicken und mir das ansehen?“
„Wegschicken…“, schniefte Stian und sah seinen Freunden schuldbewusst in die Gesichter.
„Ist schon okay, Alter. Ich hab in meinem Leben eh schon genügend aufgespiesste Pobacken gesehen.“
Anja verpasste Leander einen Schlag auf den Rücken, als wäre erneut ein Sarkophag umgekippt, doch schliesslich zog sie ihn an den Haaren mit sich.
Frederik Klee schob den Stoff zur Seite, den Stians Verletzung verbarg. Dem Burschen flossen die Tränen in Sturzbächen am Gesicht herunter und er zitterte vor Scham, doch Polizist Klee durfte nicht nachgeben. Die Wunde war geschätzte fünf Zentimeter tief und blutete stark. Klee zog das verletzte Gewebe etwas auseinander, um zu sehen, ob noch ein Stück Speerspitze zu finden war. Wer weiss, wie alt der Speer war, den die Mumie verwendet hatte.
„Geht es mit den Schmerzen?“, fragte Klee, worauf Stian eine Antwort gluckste, doch es war nicht auszumachen, ob es ein ja oder ein nein gewesen war.
„Hm, was für ein komischer Haufen sich bewegender Knochen. Und dann noch diese stinkende Haut. Ich habe noch nie eine Mumie so stinken sehen. Dem hätte man das Hirn durch die Nase rausziehen sollen, dann käme er jetzt nicht auf so dumme Ideen. Der Bursche besitzt überhaupt keinen Charakter, sag ich dir, Fred. Der wühlt in meinem Tresor rum als wäre es ein Vergnügungspark. Oh, das solltest du auswaschen und verbinden, mein Freund, das sieht richtig übel aus.“
„Hast du einen Notfallkoffer?“
„Klar, du sitzt ja praktisch drauf. Er hängt unter dem untersten Tablar des Regales da. Ja, genau da.“
„Ein ungewöhnlicher Ort, für einen Notfallkoffer.“
„Warum denn? Verletzte liegen doch meistens am Boden, dann muss man nicht mal mehr aufstehen, um den Koffer zu holen. Hör mal, du gefrorenes Stück Hundeknochen, kannst du vielleicht etwas gesitteter mit meinen Archivalien umgehen?“
Ein riesiger Kristall war gerade durch die Tür geflogen und knallte gegen ein Bücherregal. Dann kam die Mumie auch schon wieder durch die Tresortür. Klee, der gerade Stians Stichwunde desinfiziert hatte, stockte der Atem, beim Anblick der Masse an lebenden Knochen. Die Bergleiche packte Stian am Fussgelenk und zog ihn von Klee weg. Stian schrie vor Schmerzen auf, doch das schien die Mumie keineswegs zu stören. Sie kochte vor Wut. Lenk und Klee waren erschrocken an die Seitenwand des Gebäudes zurückgewichen. Die Mumie vermochte keine Gesichtsmuskeln mehr ansteuern zu können, doch war auch so sehr deutlich zu sehen, dass sie stinksauer war. Was immer die Mumie im Tresor gesucht hatte, sie war nicht fündig geworden.
„Eine Schachtel Katzenauge-Edelsteine, vier handgeschriebene Dokumente von Bundesrat Soundso, eine Liebeserklärung von Marlene Dietrich, 5 Säbelzahntigerzähne…“ Hannes Lenk wühlte sich durch den Tresor und verstaute die umhergeworfenen Dinge wieder an ihrem rechtmässigen Platz und häkelte dabei auf einer Bestandesliste ab, ob alles noch vorhanden war und vor allem, in welchem Zustand es zurückgelassen wurde.
„Vielleicht kann ich den Schaden der Versicherung melden. Dann könnte ich mir einen neuen Spannteppich im Regionalsaal leisten. Das wär doch was.“
„Und was wirst du der Versicherung als Grund für den Schaden angeben? Eine herumtobende Mumie?“
Hannes Lenks herzliches Lächeln zerbrach in seinem Gesicht und scherbelte langsam auf den verbluteten Boden.
„Das du mir auch immer all meine Freude verderben musst!“
„Viel besser wäre es, wenn die Mumie tot wäre und du sie fein zurechtgeputzt in einer offenen Glasvitrine den Gaffern ausstellen könntest. Dann würdest du dir durch die Eintrittspreise einen neuen Spannteppich leisten können.“
„Bist du verrückt? Wenn so viele Leute in mein Museum kämen, hätte ich gar nicht mehr die Zeit, alle Jobs alleine auszuführen. Dann müsste ich ja Personal einstellen.“
Lenk schauderte, als hätte Klee ihm vorgeschlagen er solle bei -10 Grad über den Vierwaldstättersee schwimmen.
Als Hannes Lenk und Frederik Klee in den Tiersalon kamen, sass Stian auf einem zusammengefalteten Laken und stützte den Rücken gegen die Wand. Über ihm hing der Kopf eines Grizzlys und er sah aus, als würde er jeden, der ihm zu nahe kam, noch ganz andere Sachen als eine Pobacke, abbeissen wollen. Leander lehnte sich gegen ein totes Nashorn und er hatte den Kopf seiner besten Freundin auf den Schoss gebettet und streichelte gedankenverloren ihr rabenschwarzes Haar. Polizist Klee kniete sich sachte neben Stian auf den harten Boden und hob dessen Kinn leicht an, um ihm ins Gesicht zu schauen.
„Ich weiss, ich wiederhole mich, aber wie geht es dir?“
„Es geht schon!“, nuschelte Stian und Klee sah, dass sich das Laken unter ihm, bereits rot eingefärbt hatte.
„Du blutest ja immer noch.“
„Das geht vorbei.“
„Ja, klar, Alter!“, rief Leander und Anja schreckte aus seinem Schoss hoch. „Das hört doch erst auf, wenn du komplett ausgelaufen bist.“
„Herr Lenk?“, fragte Anja schüchtern. „Könnten Sie uns vielleicht noch erklären, warum Sie glaubten, dass die Mumie eine Totenmaske holen könnte?“
„Weisst du, was Totenmasken sind, Mädchen?“
„Ja, es sind Abbilder der Gesichter der Toten. Sie wurden angefertigt, damit sich die Familienmitglieder besser an ihre Verwandten erinnern konnten. Soviel ich weiss, wurde ihnen eine beliebig formbare Masse direkt auf das tote Gesicht gegossen, um es möglichst authentisch wirken zu lassen.“
Leander schauderte und sah drein, als hätte er es gar nicht so genau wissen wollen.
„Sehr richtig. Aber die ägyptischen Totenmasken sind da zum Teil etwas anders. Die Ägypter, wie zum Beispiel der Pharao Tutantchamun, sahen offenbar tot nicht so schön aus wie lebendig, weswegen die Künstler die Totenmasken nicht an den Gesichtern der Verstorbenen formten, sondern das ganze so gestalteten, wie sie es für schön hielten. Und über Schönheit lässt sich ja bekanntlich streiten! Ich habe im Tresor so eine Totenmaske und da wir bis heute nicht wissen, von wem sie stammt, dachte ich vielleicht, die Mumie wüsste es und sei nun hinter der Maske her, aber ich habe mich wohl getäuscht.“
„Weswegen?“
„Nun, die Maske ist noch da.“
„Warum war die Maske denn nicht in ihrer Pharao-Spezialaustellung?“
„Weil Totenmasken manchmal eine seltsame Ausstrahlung auf Menschen haben. Einige glauben, echte Schädelknochen würden darunter liegen und andere wiederum glauben, ein Teil der Seele des Verstorbenen würde in solchen Masken aufbewahrt, was totaler Humbug ist. Ausserdem weiss ich ja nicht, wem diese Maske gehört hat und wie wertvoll sie ist. Stell dir vor, es wäre die Maske von Ramses II und ich würde sie ausstellen wie eine gewöhnliche Nippesfigur!“
Darauf setzte erst einmal eine Weile Schweigen ein. Ein Schweigen, dass vor allem Leander zu schaffen machte, denn er war es gewohnt, immer eine gewisse Anzahl Dezibel um sich herum zu haben. Stille verwirrte ihn aufs Gröbste, deswegen sagte er: „Es zieht irgendwie!“
Hannes Lenk war mit einem Schlag hellwach: „Das dürfte es aber nicht. Der Raum hat keine Klimaanlage.“
„Dann steht irgendwo ein Fenster offen.“, sagte Frederik Klee, der Lenks Aufregung nicht verstehen konnte.
„Entweder das, oder die Mumie hat die Tür eingetreten!“
Hannes Lenk stand am Eingang des Museums und der Wind blies ihn beinahe rückwärts die Eingangstreppe hoch. Doch der alte Mann wehrte sich tapfer und brüllte in die luftige Brause: „Das nächste Mal, wenn du wieder in alten Tresoren rumwühlen willst, die dich nichts angehen, dann stell doch einfach einen offiziellen Antrag. Wir helfen dir gerne weiter, dazu sind Museen doch da! Du brauchst auch kein Eintrittsgeld zu zahlen, solange du meine verdammten Türen ganz lässt.“
Eine Frau, die gerade ein Taxi verlassen hatte und nun den Gehsteig vor dem Museum entlang schlenderte, zeigte dem Museumsmann den Vogel.
„Und Ihnen auch einen schönen Tag, Frau Was-weiss-ich!“, rief Lenk und zog einen nicht vorhandenen Hut. Die Eingangstür war nicht nur eingetreten worden, sie war ganz und gar aus den Angeln gesprungen und lag herrenlos auf der Wiese. Traurig blickte Lenk auf das zerstörte Stück Holz, er senkte einen Augenblick das Haupt und da lag etwas auf der Türmatte. Ein Schrumpfkopf.
„Was machst du denn hier Kleiner?“ Er nahm das Objekt vorsichtig zwischen die Finger und hob es auf Augenhöhe ins Licht. „Oh, du bist das Jazigo. Du gehörst doch in den dritten Stock, mein Lieber. Du holst dir ja noch einen Schnupfen hier draussen.“ Hannes Lenk warf einen letzten, traurigen Blick auf seine Eingangstür und wandte sich der Treppe zu, um sich auf den Weg zurück in den Tiersalon zu machen. Der Schrumpfkopf hing ihm dabei an seinem Handgelenk und tätschelte bei jedem Schritt gegen sein Bein.
„Da kommt ja unser Hobbyarchäologe wieder!“, rief Leander frech und sein Blick blieb sofort an Jazigo hängen. „Was ist denn das da an ihrem Handgelenk?“
„Das, mein Guter, ist ein Schrumpfkopf.“ Lenk lächelte und er streckte Leander das Artefakt hin. Dieser griff den Schrumpfkopf, als würde er eine grüne Mamba in die Finger gedrückt bekommen.
„Der ist ja ganz leicht. Ich dachte, so einer ist schwerer. Ist bestimmt kein echter Kopf, oder?“
„Gibst du ihn mir wieder?“
„Wieso?“
„Wenn ich dir die Frage beantwortet habe, lässt du ihn nämlich fallen und diese Stücke sind relativ selten. Jazigo war nämlich ein echter Inuit.“
Leander machte ein Käsegesicht und gab den Schrumpfkopf rasch dem Museumsarchivaren zurück. Anja war verwirrt: „Aber stammt das Schrumpfkopfverfahren nicht aus Südamerika? Wie kommt denn ein Inuit zu der Ehre?“
„Du hast natürlich vollkommen recht. Dieser hier war ursprünglich ein Inuit, doch er suchte sein Glück in Südamerika. Die Kälte in Grönland liess ihn starke Schmerzen erleiden, weswegen sie ihm empfohlen hatten, wärmere Gefilde aufzusuchen. Nun, Schmerzen hat er jetzt keine mehr, aber ansonsten wurde er wohl im Süden nicht viel glücklicher. Und nun ist er als Schrumpfkopf in diesem Museum anzutreffen, aber frag mich nicht, wie er in unsere Sammlung kam.“ Hannes Lenk hängte den Schrumpfkopf behutsam an das steife Ohr von Leanders Nashorn und musterte Anja für ein Weilchen.
„Interessiert du dich für Schrumpfköpfe?“
„Ich weiss nicht. Ich finde den Tod an sich abschreckend, aber irgendwie zieht es mich auch an. Gibt es auch Schrumpfköpfe von Tieren?“
„Darüber ist mir nichts bekannt. Ich weiss, dass zwar mit Ziegenhaut rumexperimentiert wurde, aber genaueres kann ich leider nicht dazu beisteuern.“
Leander schien erleichtert darüber. Was er noch mehr hasste, als Schweigen, war das Geplauder über tote, eklige, geschrumpfte Sachen, die seiner Meinung nach nicht in ein Museum gehörten, sondern in eine Verbrennungsanlage.
„Anja? Kann ich mein Handy wiederhaben?“, fragte Leander und klopfte dem Nashorn hart auf den Rücken, um es aufzufordern, ihn zu unterstützen. Anja streckte ihm das Handy unter die Nase und begann einen wilden Vortrag über Elektrosmog und Suchtpotenzial, wobei sie heftig gestikulierte und Leander gekonnt abtauchen musste, um nicht ihre Hand ins Gesicht geklatscht zu bekommen.
Frederik Klee und Hannes Lenk standen derweil etwas abseits und der Kurator schien zum ersten Mal richtig ernsthaft besorgt.
„Fred, du solltest deinen jungen Freund, der wie eine enthauptete Weihnachtsgans blutet, hinlegen. Er ist ziemlich blass im Gesicht und hat kein Wort gesagt, schon seit Minuten. Ich werde rasch zum Tresor gehen und aus dem Notfallkoffer etwas holen, dass ihm die Schmerzen lindert.“ Lenk wartete keine Antwort ab, drehte sich ab und schlurfte gemächlich Richtung Fahrstuhl. Dass er vor seinem sichergeglaubten Tresor, eine Begegnung mit einer lebhaften Mumie hatte, schien er bereits erfolgreich verdrängt zu haben.
Klee hingegen ging ruhig zu Stian herüber, legte ihm sanft eine Hand in den Nacken und drückte mit der anderen gegen sein Brustbein. Stian liess sich widerstandslos auf den Rücken legen und atmete schwer und in kurzen Abständen.
„Was denken Sie?“, fragte Stian und blickte an die Museumsdecke, als würden dort Planeten ihre Bahnen um die Sonne ziehen. „Wo ist die Mumie jetzt?“
„Das wüsste ich auch gerne! Ich hoffe sie fügt niemandem Schaden zu. Ich weiss auch nicht was passiert, wenn andere Leute sie zu Gesicht bekommen. Ich denke aber, meine Abteilung hätte mich informiert, wenn auf einmal mehrere Mumiensichtungen eingegangen wären. Ich verstehe einfach nicht, wie das möglich ist, dass sie noch lebt. Das sie wandelt und rumläuft, wie ein echter Mensch. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann würde ich es nicht glauben.“
Hannes Lenks Augen leuchteten wie ein Feuerwerkszündholz, als er vom Vorraum des Tresors zurückkehrte. Dies war das Aufregendste, was er in seinem ganzen Archivleben erlebt hatte. Immer hatte er geschworen, die Ruhe und die geheimnisvolle Einsamkeit des Archives zu lieben, denn Bücher und Exponate konnten keine grössere Enttäuschung sein, als Menschen. Immer suchte er die Nähe der Ausstellungsstücke und ergötzte sich an ihren Geschichten, nur um nicht unter Menschenmassen zu müssen. Dabei war er ein sehr umgänglicher Typ. Liebevoll und freundlich, nett und gutmütig, vielleicht der Traumgrossvater manch eines Kindes. Doch Hannes Lenk hatte sich dem Museum verschrieben, mit Haut und Haar. Daran gab es kein Zurück mehr, auch wenn die drei jungen Teenager und Polizist Frederik Klee ihm die aufregendsten Stunden seit Jahrzehnten verschafften. Eine Mumie. Eine echte Mumie und das in seinem Museum. Eine tote Mumie wäre schon eine riesige Sehenswürdigkeit und würde ihm einen Besucherstrom herbeiführen, als würde demnächst in der Nachbarschaft ein Disney Land eröffnet. Aber eine lebende Mumie; da würden die Leute sogar auf das lange Anstehen für das neueste I-Phone verzichten.
Lenk warf dem Polizisten eine undefinierbare, graue Schachtel zu und Klee las ungläubig deren Aufschrift vor: „Brennesseltee? Ich dachte, du wolltest etwas gegen Stians Schmerzen besorgen.“
Lenk zuckte mit den Achseln. „Was anderes hab ich nicht! Meine Notfallkoffer ist höchst ökologisch bestückt, die Grünen hätten ihre liebe Freude daran.“
Klee liess den Tee achtlos fallen.
„Hannes? Würde es dich arg stören, wenn wir die Nacht im Museum verbringen?“
„Nein, das stört mich überhaupt nicht. Denkst du, ich will alleine hier sein, wenn die verfluchte Mumie zurückkommt? Bleibt ihr alle mal schön hier. Ich hol uns noch was zu knabbern und dann werden wir ein geeignetes Schlafplätzchen finden. Ich finde, jemand von uns sollte Wache schieben. Wir können uns abwechseln.“
„Das ist doch nur ein Museum, Hannes.“
„Ja, aber eines, dass keine Eingangstür mehr besitzt.“
Seit dem frühen Abend goss es in Strömen und das Wasser hatte den trockenen Herbstboden aufweichen lassen. Die Abwasserschächte waren bereits vom gefallenen Herbstlaub verstopft und der Regen floss wie ein kleiner Amazonas über die Strassen. Psychologin Yvette Mannsheim hatte ihre perfekten Beine, die problemlos als Double für jene von Gwyneth Paltrow hätten hinhalten können, in weite Regenhosen gepackt und ihr Haar flatterte zersaust aus der Kapuze. Ihr Mann Guido folgte ihr durch den bachnassen Wald; beide trugen eine Taschenlampe. Die übrigen Blätter der Herbstbäume waren triefend nass und das Geräusch des Regens wurde durch die vielen Blätter, die die Regentropfen brachen, verstärkt.
„Wieso genau stöbern wir hier durch den Wald, zu Stunden wo manch ein anderer sich gemütlich eine Fussballderby vor der Glotze reinzieht?“, fragte Guido und er schüttelte seine Jackenärmel und spritzte dabei schlimmer als eine Duschbrause.
„Du hättest zuhause bleiben können…“
„Das beantwortet meine Frage nicht.“
„Ich hatte einen Patienten mit Hippophobie.“
„Was heisst das? Hatte er Angst vor Gummibärchen?“
„Vor Pferden. Er hatte eine Panikattacke, weil er ein schwarzes, verwundetes Pferd gesehen hat, dass von Krähen verfolgt wurde. Ich möchte mir die Gegend ansehen.“
„Vielleicht hatte er ja Angst vor den Krähen. Dafür gibt es sicher auch einen Namen. Aber wieso müssen wir dies nachts tun? Nachts tut man normalerweise andere Dinge.“
Yvette pustete genervt die Luft aus der Nase und klang dabei selber schon wie ein Pferd. Wie konnte ihr Mann jetzt bloss wieder an Essen denken? Dass er noch nicht rund wie eine Bowlingkugel war, verdankte er einzig seinen Genen.
„Wir tun es nachts, weil dann nicht so viele Leute rumspazieren und der Hengst sich vielleicht eher zeigt, wenn wir alleine sind.“
„Bei diesem Wetter würde sich auch bei Prime Time niemand im Wald aufhalten und dein Hengst ist ein Hirngespinst deines Patienten. Himmel, der Bursche muss ja wunderhübsch sein, wenn du bei diesem Taifun durch den Wald krabbelst.“
„Der Hengst wird sich gar nicht zeigen, wenn du rumbrabbelst wie ein Papagei.“
„Pah, der Hengst steht schon lange hinter dir und walzt sich durch die Moore.“, sagte Guido sarkastisch und Yvette fragte sich einmal mehr, warum er nicht einfach zu Hause geblieben war. Wahrscheinlich weil sie dann nicht auch da war, um seine Kommentare über den unfähigen Schiedsrichter oder die fehleingekauften Spieler dulden zu können.
Ein Knacken hallte durch den Wald und Yvette und Guido hielten inne.
„Ein Reh.“, flüsterte Guido und stocherte seiner Frau nervtötend die Taschenlampe in den Rücken. „Es ist bloss ein Reh.“
Doch Yvette achtete nicht auf ihn, denn 50 Meter vor ihnen war ein gewaltiges, schwarzes Pferd auf eine Lichtung getreten. Die Verletzungen am Rücken schimmerten durch die Nacht und seine Nüstern stoben Rauchwolken durch die Dunkelheit. Das Pferd kam auf die beiden Nachtwanderer zu, wobei seine Hufe tief im Matsch versanken und ein schmatzendes Geräusch hören liessen, als sie wieder aus dem Boden gezogen wurden.
„Lass uns verschwinden.“
„Wieso? Das ist doch nur ein Pferd.“
„Es ist ein Hirngespinst.“
„Dann würden wir es nicht beide sehen.“
Der schwarze Hengst blieb fünf Meter vor dem Pärchen stehen und stampfte mit den Vorderhufen auf den Boden, wobei er sein gewaltiges Haupt hin und her warf. Guido fragte sich, warum er nicht wegrannte, denn das Pferd jagte ihm einen stolzen Schrecken ein und gleichzeitig faszinierte ihn der perfekte Körperbau des Tieres. Dies wäre zweifelsfrei ein guter Zuchthengst gewesen und die Pferdenarren hätten gutes Geld für ein solches Tier bezahlt. Der Hengst drehte ihnen den Rücken zu, ging ein paar Schritte, blieb stehen und schwenkte sein stolzes Haupt den klatschnassen Wanderern zu.
„Er will, dass wir ihm folgen!“, sagte Yvette und der Strahl ihrer Taschenlampe war nutzlos auf den Boden zu ihren Füssen gerichtet.
„Also bei allem was recht ist!“, sagte Guido und verwarf empört die Hände. „Ich habe keine Zeit einem Pferd auf Wanderschaft durch den Wald zu folgen, nur um dann festzustellen, dass sein Heureservoir aufgebraucht ist. Vielleicht ist es ja auch ein dressiertes Pferd, das unschuldige Wanderer in die Falle lockt. So wie der ausschaut, mussten sie lange üben, bis er es kapiert hat. Mach was du willst Yvette, aber ich bleibe hier.“
Als Yvette schnurstraks die Verfolgung des Tieres aufnahm, verschränkte Guido die Arme und rief noch einmal: „Ich bleibe hier, ja?“
„Ja, ist gut, bis später.“, sagte Yvette und hauchte ihm eine Kusshand zu, wobei sie eine tüchtige Portion Regen in den Mund bekam und angewidert ausspuckte.
Geschlagene 10 Minuten stand Guido Mannsheim im Matsch und wusste weder vor noch zurück. Sollte er versuchen seine Frau und diesen verfluchten Gaul zu finden oder sollte er nach Hause gehen und so tun, als wären ihm nie Gedanken über mögliche Entführungen gekommen!? Guido trug einen gedanklich hochstehenden Kampf mit sich selbst aus, doch dann wurde seine Aufmerksamkeit jäh auf ein fremdes Geräusch gelenkt; ein Geräusch, welches er bei diesem Wetter schon gar nicht mehr erwartet hatte. Jemand rauschte durch den Wald und dieser Jemand war mit einem schnellen Schritt gesegnet. Guido spähte durch den stets zunehmenden Regen und erkannte eine Gestalt, ganz in der Nähe, zielstrebig durch die Bäume eilen. Die Äste, die ihr dabei ins Gesicht schlugen, wedelte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. Eine Angst packte Guido an den Fussgelenken und ein unangenehmes Kribbeln verteilte sich in jeden noch so kleinen Winkel seines Körpers. Der grosse, drahtige Leib der Gestalt verschwand im dunklen Wald und liess nur einen fliessenden Strom an Geräuschen hinter sich her schweben. Die Gestalt nahm die gleiche Richtung, die kurz zuvor Yvette eingeschlagen hatte.
Texte: Sana Kristen
Bildmaterialien: Sana Kristen
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2013
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