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1. Kapitel

Der erste Gedanke, den ich hatte, als mein Stiefbruder mit seiner Mutter in die Familie kam, war nicht etwa Wieso zur Hölle muss er hier sein? , sondern eher Wieso muss er so heiß sein?! Ich musste zugeben, dass mir sein Körper unglaublich gefiel.

Einen Hehl hatte ich aus meiner Homosexualität nie gemacht. Es war mir fast schon seit der fünften Klasse klar, dass ich definitiv nicht auf Frauen stand. Meine ganze Familie wusste es, wollte es zwar nicht offen hören, doch sie wussten es wenigstens und akzeptierten es mehr oder weniger.

Erst hatte ich Angst, als der Kerl mit den breiten Schultern, dem trainierten Bauch und den eisblauen Augen neben seiner Mutter in der Tür stand. Er hatte nur einen Blick auf mich geworfen und ich war fast in Ohnmacht gefallen.

Jetzt lag er da in nicht mehr als einem engeren Shirt und einer Boxershorts auf dem Bett, was zusätzlich in mein winziges Zimmer gesteckt worden war. Dort, wo das stand, stand früher mein großes Bücherregal, doch das wurde nun in den Flur verbannt. Es war ohnehin für alle da und nicht nur für mich – wobei die meisten Bücher dort drin wohl meine waren, auch wenn das niemand zugeben wollte in dieser Familie. Ein schwuler Bücherwurm? Noch eine größere Schande, als das Schwulsein an sich schon.

Die Augen des Jungen flogen schon förmlich über die gedruckten Wörter. Ich konnte meinen Blick nicht einfach von ihm nehmen, wobei dieser auch eher auf seinem Hintern ruhte, als sonst irgendwo.

Er schien das zu bemerken, sah kühl auf und durchbohrte mich mit den Seelenspiegeln. Ich erschauderte, während er nur fragend eine Braue erhob. „Nichts.“, antwortete ich auf die nicht gestellte Frage und sah wieder auf meine Finger runter. Das hielt allerdings nicht lange, da er mich noch immer nicht aus den Augen ließ. Es war mir unangenehm so von seinem Blick gelöchert zu werden. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit und ich widerstand dem Drang, meine Arme um meinen Körper zu schlingen. Ich wusste genau, dass ich nicht so trainiert, nicht so gutaussehend und nicht so unnahbar war, wie er es zu sein schien. War ich noch nie gewesen.

Ich war schon immer der nette Junge von Nebenan, der ab und an mal beachtet wurde, wenn jemand anderes die Hausaufgaben in irgendeinem Fach brauchte. Wieso denn auch nicht? Ich war gut in Dingen, wie Mathe, Chemie und Physik. Das wusste jeder und das versteckte ich auch nicht. Wenn man mich brauchte, war ich da. Nur brauchte man jemanden wie mich halt einfach nicht.

So in meine Gedanken vertieft, merkte ich nicht einmal, wie er näher kam. Nicht körperlich, sondern seelisch. Das hörte sich vielleicht seltsam an, doch hatte ich das Gefühl, nackt vor ihm zu stehen, obwohl ich voll bekleidet war. Er durchschaute mich, mit nur einem kalten Blick seinerseits. Es faszinierte mich unheimlich.

Peinlich berührt schob ich die Brille auf meiner Nase zurecht und betrachtete ihn für eine Weile nur. Er war blass – wie ein Vampir – was durch die schwarzen Haare, die sein Gesicht einrahmten, nur noch deutlicher wurde. Seine ganze Familie war so. Groß und schön. Dagegen wirkte ich fast schon wie ein hässliches Entlein. War ich wohl auch, mit der zu großen Nerd-Brille und den braunen, langweiligen Haaren.

„Hast du noch lange vor, mich anzustarren?“, fragte er dann aus heiterem Himmel und ich zuckte fast zusammen, als seine Stimme erklang. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Einmal in Gedanken und dann riss er mich so unsanft da hinaus. „Ich starre dich nicht an.“, erwiderte meine Wenigkeit trocken. Mehr wollte ich darauf nicht sagen. Mehr war darauf auch nicht zu sagen. Ich starrte ihn nicht an. Ich ergötzte mich lediglich an seiner Schönheit, die den ganzen, lieben langen Tag auf diesem Bett dort lag und nur so darauf bedacht war, angesehen und wertgeschätzt zu werden. Doch wenn er das Starren nennen wollte, bitte.

Es gab Tage, an denen verstanden wir uns nicht so gut. An denen lief er allerdings auch mit rot unterlaufenen Augen und seltsamen Menschen durch die Gegend. Als ich vor einer Woche seine Mutter darauf angesprochen hatte, hatte sie nur die Achseln gezuckt und gemeint, dass das mit ihm so schon seit Jahren ging, also wozu versuchen, etwas zu ändern?
Auf diese Reaktion hin schnaubte ich immer wieder nur. Wie konnte man als Mutter nur so denken? Es war fast so, als sei er ihr egal.

So versunken merkte ich nicht einmal, wie meine Schwester das Zimmer betrat. Sie hüpfte auf mich zu und erst, als sie sich in meine Arme warf, realisierte ich, dass sie überhaupt da war.

Belustigt über mich, fing mein Stiefbruder das Lachen an, während die Kleine mich mit großen Augen ansah. „Du, Papa hat gesagt, du machst heut das Frühstück.“, säuselte sie. Ich wusste genau, was sie damit erreichen wollte. Immer, wenn ich das Frühstück machte, staubte sie etwas ab, was sie sonst eher nicht bekommen würde, wie ein Croissant oder etwas dergleichen. Nie gönnte unser Vater ihr das, weswegen ich ihr einziger Ausweg dementsprechend war.

Ich nickte leicht und hauchte ihr einen Kuss auf den Kopf, während sie den Jungen neben mir begutachtete. „Du sollst auch runter kommen, Jas.“, sagte sie mit einem für sie ungewöhnlich nachdenklichem Ausdruck.
Sie ließ mich los und hüpfte aus dem Zimmer raus, wie sie herein gehüpft war. Mein Stiefbruder sah mich mit erhobenen Brauen an, was ich nur mehr mit einem Kopfschütteln quittierte. Das ging ihn wohl sicher nichts an!

Tief atmete ich ein, während ich mich auf den Weg zur Tür machte. Ein sehr kurzer Weg, wie ich fand, da mein Zimmer nun doch nicht sonderlich mehr als eine Abstellkammer war, die umfunktioniert worden war.

Mit dem Fuß stieß Jas die Tür zu und blockierte sie, ehe ich aus dieser hinaus treten konnte. Sein Blick war noch immer so bohrend, wie vorher. „Hör zu, Süßer, hör auf, mich anzustarren, sonst vergesse ich mich vielleicht noch und dann...wirst du das deinerseits sicherlich bereuen.“, meinte er ruhig, während er mir ungeniert in den Schritt griff. Ich verkniff mir ein Aufkeuchen, was er nur belächelte. Er wusste genau, was er in mir auslöste und benutzte es eiskalt gegen mich. Arschloch , rief etwas ganz laut in meinem Kopf.

Der Kerl entfernte sich von mir, stieß mich zur Seite und verschwand aus der Tür in den Flur hinaus. Ich ließ die Tür hinter mir wieder ins Schloss fallen, rutschte mit dem Rücken an dieser Hinunter und verkniff mir einige Tränen. Das durfte doch nicht wahr sein, dass dieser Kerl mich doch tatsächlich zum Heulen brachte! Das durfte einfach nicht wahr sein.

Mit einer wirren Handbewegung wischte ich das heiße Nass unter meinen Augen weg und blieb noch eine Weile so sitzen, bis jemand versuchte, die Tür aufzuschieben. Was natürlich nicht ging. Ich saß ja da.

„Jetzt geh schon von der Tür weg!“, knurrte eine mir bekannte Stimme. Jason, wer denn sonst? Ich rappelte mich auf und ließ ihn rein. Er funkelte mich an, doch das ignorierte ich. Mit schnellen Schritten war ich an ihm vorbei gegangen und die Treppe hinunter zur Küche. Dort saß meine kleine Schwester auf der Ablage und mampfte etwas undefinierbares vor sich hin. Etwas besorgt runzelte ich die Stirn, bis ich erkannte, dass sie einen Toast aß. Ihr Blick strafte mich unausweichlich. Ihr langersehntes, gutes Frühstück war ausgeblieben und das nur, weil ihr Bruder eine jämmerliche Memme war. Mein Stiefbruder hatte recht. Ich war zu nichts von Nutzen. Nicht einmal meiner Schwester konnte ich eine Freude machen.

Tiefer einatmend schmuggelte ich ihr etwas leckeres unter das Essen, was mein Vater ihr für die Pause in der Schule eingepackt hatte und zwinkerte ihr zu. Das leichte, zögerliche Lächeln, war wirklich zu süß. Ich konnte es nicht ertragen, wenn die Jüngste sauer auf mich war.

Sie war die einzige, die nicht auf mich wütend sein durfte. Der Rest war mir egal, doch die Enttäuschung in ihren Augen zu sehen, konnte ich noch nie ertragen. Tiefer einatmend machte ich mir selbst etwas und ignorierte den furchtbar löchernden Blick meines Stiefbruders. Erst motzen und dann starren oder wie durfte ich das nennen?
Nach einer Weile fühlte ich mich sehr unwohl, so, wie ich beobachtet wurde und drehte mich um. Doch die Person, die dort stand, war nicht wie erwartet Jason, sondern mein Vater. Seine Augen waren es, die sich durch meinen Rücken gebohrt hatten – und in ihnen lag etwas..trauriges. Etwas..enttäuschtes.

Ich seufzte und überlegte jetzt schon, was ich angestellt haben könnte, als mein Erzeuger den Kopf schüttelte, sich im Nacken kratzte und verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Ihn beschäftigte deutlich etwas, doch konnte er es nicht aussprechen. „Sprich.“, forderte ich ihn nur müde auf und versuchte in der Zeit, mein Essen noch fertig zu bekommen. Wieder drehte ich ihm die Kehrseite zu, um ihm nicht ins Gesicht zu sehen. Ein Ritual, was zwischen uns leider schon viel zu lange bestand. Nie war er sonderliche erpicht darauf gewesen, mir in die Augen zu sehen, wenn er etwas mitteilen musste, was er nicht sagen und ich nicht hören wollte.
„Du..es wird so langsam viel zu klein in dem Haus und da dachte ich..da du bald auf's College gehst, dass..-“, setzte er an, doch ich unterbrach ihn mit einem simplen Handheben. „Dass ich ausziehe, so bald ich meinen Abschluss habe, damit du und deine Neue wieder Platz habt, Jas nicht mit mir im Kabuff wohnen muss und die Kleine ihr langersehntes, größeres Zimmer bekommt?“, vollendete seinen Satz und brauchte mich noch nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass er nickte.

Dads Frau hatte ihn damals verlassen, da er eine Affäre mit meiner Erzeugerin hatte. Er schwor sogar noch bis heute, dass es nur Sex und nichts weiter war – das glaubte ihm nur niemand. Binnen weniger Monate hatte er dann zwei Familien, von denen nur eine von der Existenz der anderen wusste. Eine Zeit lang, da war ich noch sehr klein, hatte die eigentliche Frau meines Vaters, versucht, sich damit abzufinden. Versucht, mir etwas Liebe entgegen zu bringen. Doch das hatte sie nie. Ein Schlag ins Gesicht für einen Vierjährigen, dessen leibliche Mutter an Drogen verreckt war und die einzige Frau, zu der er einen Bezug hätte haben können, ihn nicht lieben konnte, weil er von einer anderen Frau war. Aber wer konnte das schon? Ein uneheliches Kind, einen Bastard, lieben? Niemand, genau.

Ruhig drehte ich mich um. Obwohl in meinem Innern so viel umeinander schrie und hinaus wollte, zeigte ich nach Außen hin keinerlei Regung. Es ging ihn nichts an. Er hatte mich nur an der Backe, weil sie tot war und mich ihre Familie nicht haben wollte. Also war nur noch er übrig. Er hatte immer versucht, mir das Beste zu bieten – ab und an gelang ihm das, allerdings schlug er meistens fehl.

Mehr als nur ein Nicken brachte ich nicht zustande. Hätte ich den Mund geöffnet, wären wieder die Tränen geflossen und darauf konnte ich doch irgendwo verzichten. Mit einer Hand fuhr ich mir über das Gesicht, packte mein Mittagessen ein, schulterte meine Tasche und stiefelte zur Tür.

Hinter mir hörte ich Jas rufen, ich solle auf ihn warten, doch hatte ich keine Lust. Schnell schlüpfte ich in meine Sneaker, machte mir allerdings nicht die Mühe, diese richtig zuzubinden. Weshalb auch?

Ich verließ das Haus und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen, ungeachtet dessen, dass in dem Haus noch immer mein Name gerufen worden war.

 

Auf dem Weg zur Schule hörte ich laut Musik. In den Kopfhörern dröhnte es, während ich die altbekannte Straße den Bach entlang zur Haltestelle lief, an der die „coolen Kids“ sich aufhielten. Immer, wenn er dort vorbei kam, gab es sowohl einen, der mich anbaggerte, als auch einen, der mich als jämmerliche Schwuchtel bezeichnete. Meistens ließ ich das alles an mir abprallen. Die Zeit war zu kurz, um sie mit solchen Gedanken zu verschwenden.

Wie immer riefen sie, stichelten und versuchten, mich aus dem Konzept zu bringen, doch ich ging einfach weiter. Ignorierte jedes Wort. Durch die Musik verstand ich das Meiste so wieso nicht, was es einfacher machte, die bissigen Kommentare nicht wahrzunehmen.

In meinem Kopf spielte sich noch einmal das Szenario von heute früh ab. Die Situation im Zimmer und dann die mit meinem Dad in der Küche. Etwas schien ihn zu beschäftigen. Scheinbar wollte er kein größeres Haus kaufen, weil es sich nicht lohnte, wenn Jas und ich eh bald ausziehen würden. Doch wenn ich studieren wollte, wollte ich nicht Kilometer weit weg wohnen. Ich brauchte wenigstens einen Rückzugsort und dieser war mir mit der Hochzeit eiskalt genommen worden. Vorher waren es nur meine kleine Schwester, mein Dad und ich. Jetzt sind wir eine „Familie“ auf die niemand wirklich Bock hatte. Wieso denn auch? Unsere Familie war anders gestrickt, als die normalen.

Völlig in Gedanken merkte ich nicht, wie mein vermeintlicher Bruder mich eingeholt hatte. Seine Beine waren weitaus länger, als die meinen, das musste ich zugeben. Doch mit 1,73 Metern an Körpergröße, war ich kein sonderlich großer Maßstab, den es zu schlagen galt. Meine Hände in den Jackentaschen vergraben und mit Alwonations 'Sail' im Ohr, folgte ich meinem Weg weiter.

Eine Hand berührte mich am Arm und ich erschrak. Mein Blick ging zu der Person und erkannte das dreckige, wissende Grinsen des Hausarschloches. Nach dem ich mich wieder gefangen hatte, hob ich unbeeindruckt eine Braue, fuhr mir durch die Haare, rückte die Brille auf der Nase zurecht und schritt durch das hiesige Tor der Schule.

Die Schule war ein großer, grauer Kasten, der mehr nach einer Psychiatrie oder dergleichen wirkte, als einer Highschool. Es gab bei uns selten schöne Tage und wenn es sie gab, wirkte der Schulhof trostloser, als er so schon war. Meistens waren die Schüler dann in den Räumen, da es zu hell für den Geschmack der Bevölkerung war.

Meine Schritte knirschten im Kies, doch hörte ich das nicht, denn mittlerweile hatte das Lied gewechselt und es dröhnte ein Lied der 'Guns N' Roses' in meinen Ohren. Die Lehrer umging ich, sonst hätte ich mein Handy samt Kopfhörer glatt abgeben können.

Da ich allerdings die Schleichwege kannte und benutzte, blieb ich jedes Mal unbemerkt. Bis auf heute.

Wieder legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter und ich verkniff mir ein genervtes Seufzen, als ich mich umdrehte und in die eisblauen Augen von dem Kerl starrte, der mein Herz mit seiner bloßen Anwesenheit schon zum Schlagen brachte. Sein Blick war unergründlich. Etwas ging in ihm vor und ich konnte nicht ausmachen, was das war. Fragend hob ich eine Braue, weswegen meine Brille runter rutschte.

Leicht hob er einen Mundwinkel, als er das Gestell auf seinen Platz zurück rückte, mir auf die Nase tippte und dann an mir vorbei ging. Gott, der Kerl machte mich unheimlich aggressiv! So konnte man doch den Tag nicht in Ruhe scheiße finden!

Genervt von allem, ließ ich mich in Englisch auf meinen Stuhl fallen und den Rucksack vor mir. Während ich meine Kopfhörer zusammen rollte und wegpackte, kam mein Lehrer rein und musterte uns alle etwas skeptisch. So, als ob er irgendetwas erwarten würde. In seinen Augen lag etwas suchendes. War der Mann nun endgültig verrückt geworden? Wäre er es wirklich, würde er zumindest gut aus. Aus der hintersten Ecke des Raumes kam dann die Frage, was der Mann da vorne suche. Als er meinen Namen erwähnte, knurrte ich leise und machte mich somit in der ganzen Klasse bemerkbar. Der Alte nickte nur leicht nachdenklich, ließ sich dann auf seinen Stuhl fallen und erklärte somit das freie Arbeiten für eröffnet. So war es immer, wenn der Kerl nicht wusste, was er machen sollte. Ließ er halt die Schüler machen, was sie wollte.

Müde bettete ich meinen Kopf auf meiner Tasche, schloss die Augen und verfiel in eine Art kurzen Schlaf, als mich eine Hand am Oberschenkel streifte. Die Hand fuhr weiter hoch und blieb an meinem Schritt hängen. Für einen Augenblick dachte ich, ich würde meinen Freund sehen, wie dieser sich an meiner Hose zu schaffen machte, doch war es mein Bruder. Er hatte es sich unter dem Tisch gemütlich gemacht und wollte mich scheinbar ernsthaft ärgern.
Ohne es wirklich zu realisieren, holte ich mit dem Fuß aus und traf ihn mitten im Bauch. Er röchelte leise, das war aber auch das einzige Geräusch, was er von sich gab, neben dem gezischten „Das wirst du noch bereuen.“ Ich war mir sicher. Ich würde das noch bereuen. Was soll's?
Der Unterricht verging im Grunde wie im Flug. Sei es Englisch, Geschichte oder Biologie. Es hatte so schnell aufgehört, wie es angefangen hatte. Einerseits war ich froh,, dass der Tag so langsam verging. Andererseits nervte es mich allerdings auch, da ich so schneller zu Hause sein musste.
Langsam schlenderte ich den altbekannten Weg wieder zurück, den ich auch hergekommen war. Gerade wollte ich mir die Kopfhörer in die Ohren stecken, als sich jemand bei mir unter hakte und ein Stück neben mir her ging. „Sorry, ich wollt dich vorher nicht treten.“, kam es dann als erstes von mir. Es war die Wahrheit. Ich wollte Jas wirklich nicht weh tun. Um nichts auf der Welt. Selbst wenn er das größte Arschloch war, das mir untergekommen war!

2. Kapitel

 

Gefühlte Stunden waren vergangen. Ich war heim gekommen, war duschen gewesen und hatte mich kurz darauf in mein Bett gelegt. In meinem Kopf herrschte pures Chaos. Ich dachte an alles und nichts. An meine Geschwister, meine Familie und vor allem an Jas. Er schwirrte am Meisten in meinem Kopf herum. Seine Augen hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt. Sie verfolgten mich bis jetzt noch in den Träumen.

Ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich nicht hörte, wie die Tür auf geschwungen wurde und mein Stiefbruder herein gestapft war. Meine Beine waren an der Wand hochgelegt und meine Hände legte ich auf meinem Bauch ab. „Meine Fresse, muss man dir erst eine rein hauen, dass du mich hörst?“, knurrte der andere dann dermaßen laut, dass ich mich erschrak. Wann war er bitte reingekommen? Über seinen Gesichtsausdruck musste ich die Stirn besorgt runzeln. Er sah verheult aus.
Recht schnell setzte ich mich auf und betrachtete ihn für einen kurzen Moment, ehe ich peinlich berührt den Blick von ihm abwenden musste. Dass er die Augen verdrehte, konnte ich schon glatt heraus hören. Das tat er immer, wenn ich aufhörte, ihn direkt anzusehen. Man könnte es schon fast als kleines Ritual zwischen uns bezeichnen. „Was ist los?“, kam es aus meinem Mund und ich erkannte meine eigene Stimme nicht mehr. Meine Stimme klang belegt und...wesentlich tiefer, als sie eigentlich war. Oder kam mir das nur so vor?

Die Brille war mir etwas von der Nase gerutscht, was ich gänzlich ignorierte. Mein Blick lag immer noch auf dem Arschloch vor mir. Er wischte sich unter dem Auge her und sah mich etwas unberührt an. Doch in seinen Augen. Dort sah man, wie sehr er damit kämpfte, mich in sein Gedankengut einzuweihen oder nicht. Er kämpfte sichtlich damit. Sein Blick flackerte und ich wusste nicht, wie ich ihm die Last von den Schultern nehmen konnte, ohne, dass er mir sagte, was ihn zu bewegen schien. „Verdammt, Jason, entweder du machst deinen Mund auf oder ich gehe. Auf dieses Angestarre verzichte ich!“, knurrte ich ungewollt etwas harsch und da passierte es. Nie hätte ich gedacht, dass ich das noch miterleben durfte. Er weinte. Er weinte doch tatsächlich vor mir.

Ich schluckte und stammelte eine Entschuldigung vor mich hin, doch alles, was er tat, war, den Kopf zu schütteln. Mehr nicht.

Die Haare ließ er sich vor die Augen hängen, während er zu Boden sah. Er zerbrach gerade vor mir und es war ihm sichtlich peinlich. Der Mistkerl hatte wohl doch eine Seele. Eine, auf der viel Schmerz lastete.

Ich wollte meine Hand nach ihm ausstrecken. Ihn berühren. Ihm zeigen, dass ich da war. Doch er wich zurück. Er wollte nicht angefasst werden. Wollte kein Mitleid. Keinen Beistand. Er wollte einfach nur jemanden, der ihn nicht verurteilte, obwohl die Tränen flossen. Tiefer einatmend wartete ich auf eine Erklärung seinerseits. „Sie..sie liegt im Krankenhaus. Schon wieder.“, begann er dann mit rauer Stimme zu erklären und vermied es, mich direkt anzusehen. Er wusste, dass mir klar war, wen er meinte. Seine ältere Schwester, Alina, war öfter im Krankenhaus. Sie war sehr gebrechlich. Jahrelang war sie krank gewesen, doch wusste ich nicht was. Krebs war es nicht gewesen, soweit ich wusste. Wir sprachen nur selten über sie, denn man sah es Jason immer an, dass es ihm im Herzen weh tat, über sie zu reden. „Diesmal ist sie aber..sie hatte einen Unfall..mit Fahrerflucht.“, schluchzte er und brach wieder ab.

Ich biss mir auf die Unterlippe und wog meinen Kopf überlegend hin und her. War das wirklich eine gute Idee?
Ohne weiter darüber nachzudenken ergriff ich sein Handgelenk und zog ihn mit sich. Einer von uns musste jetzt der Stärkere sein und da Jas eindeutig verhindert war, musste ich diesen Part jetzt wohl gezwungener Maßen übernehmen. Energisch schob ich mit der freien Hand meine Brille auf der Nase nach oben und verließ das Haus in Socken.

Es war eigentlich schon zu kalt, um auf Socken rumzulaufen, doch das war mir egal. Er stolperte mir hinterher und wollte sich los reißen, doch mein Griff war dafür zu fest. In schnellem Schritt ging ich zum Krankenhaus. „Du trägst nicht mal Schuhe.“, zischte er. Da war er wieder. Der undankbare Arsch von heute morgen. Der war mir lieber. Das gebrochene Wesen von vorhin war mir zu unbekannt. Das Terrain war noch unerforscht. Und ich hoffte, so etwas nie wieder mitmachen zu müssen! Einfach nie wieder!
Ich kaute auf meiner Unterlippe und fragte in dem riesigen, nach Desinfektionsmittel stinkendem Gebäude an der Rezeption gleich nach Alina. Die Schwester runzelte besorgt die Stirn, als sie meinen Aufzug und dann Jas' Gesicht betrachtete, ehe sie uns Auskunft gab. Erst dachte sie, wir seien nur Freunde von ihr, diese durften nämlich noch nicht hin. Nur Familienangehörige. Als wir ihr die Umstände erklärten, führte sie uns auf die Intensivstation und reichte mir ein paar alte Turnschuhe, die zufälligerweise in meiner Größe waren. Sie meinte, die würden hier schon länger liegen und wären mittlerweile eingefleischte Besucherschuhe geworden. Ich konnte kaum glauben, dass es mehr Idioten wie mich gab, die ohne Schuhe einfach zum Krankenhaus spazierten. Wer weiß, was die Leute hier noch so alles mitbekamen?

Aus Respekt blieb ich dem Zimmer fern. Mein Stiefbruder war fast sofort zur Türklinke gerannt, hatte diese runter gedrückt und wollte fast sofort hinein stürmen. Er merkte nur leider nicht, wie er die falsche Tür erwischte. Etwas belustigt über seine Orientierungslosigkeit, setzte ich mich auf einen Besucherstuhl und hielt das Glas des Fensters fest im Auge. Würden die Vorhänge dort zugezogen werden, wenn ihr etwas passierte? Würde man Jason aus dem Zimmer schieben? Würden die Ärzte scharenweise zum Zimmer rennen, um Alina zu reanimieren?

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht merkte, wie mein Erzeuger und seine neue Frau ebenfalls im Krankenhaus angekommen waren. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und ich schreckte hoch. Fast fiel die Brille runter, doch das stoppte ich rechtzeitig.
Mein Blick blieb an der Scheibe geheftet, von der Jas aus sehr gut sichtbar war. Er stand an dem Bett, mehr war allerdings nicht zu sehen.
Langsam wurde mir der Geruch zuwider und das Parfum von Jasons Mutter trug nicht sonderlich dazu bei, dass es besser wurde. Wieso denn auch? Normale Menschen benutzten den Duft ja auch nicht, um darin zu baden.

Den beiden keinerlei Blickes würdigend, winkte mein Stiefbruder mich zu sich. Erst dachte ich, er würde unsere Eltern meinen. Als er allerdings die Augen verdrehte – und ich mir ein breites Grinsen verkniff – verstand ich und schlenderte zu ihm rüber.

Mein Blick fiel auf das Mädchen. Sie lag einfach nur da. Verbände hier und da. Die Haare über die Schultern gelegt und die Haut so blass, als sei sie bereits nicht mehr am Leben.

Die Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Mistkerl neben mir war verblüffend. Auf den Fotos fiel das nie so sonderlich auf, doch jetzt sah ich es. Sie hatten eine ähnliche Statur, die gleichen, dunklen Haare und die gleiche, blasse Haut.

In mir zog sich etwas zusammen und nun kamen auch mir die Tränen. Einmal hatte ich mit ihr gesprochen. Sie war so nett gewesen. Hatte mich nicht verurteilt. Wollte mich sogar näher kennenlernen. Und jetzt? Jetzt lag sie einfach nur da und konnte nicht einmal mehr selbstständig atmen. Sie lag nur noch da. Als wäre schon jegliches Leben aus ihr gewichen.

Die Arme verschränkte ich locker vor der Brust und die Zähne gruben sich so fest in meine Unterlippe, dass diese zu bluten begann. Ich würde jetzt sicherlich nicht heulen. Dieser Kerl würde mich nicht weinend sehen. Nicht hier und ganz bestimmt auch nicht jetzt.

„Der Arzt sagt, dass sie angefahren wurde und das mit einer Geschwindigkeit, dass es sogar noch ein Wunder ist, dass sie noch lebt und stabil ist.“, sprach mein Bruder dann monoton. In seiner Stimme lag keinerlei Emotion mehr. Es war, als sei mit ihrem Leben, auch sein Ausdruck gewichen. Leicht nickte ich und schaffte es, die Tränen wegzublinzeln. „Dann..hatten wir in gewisser Weise sogar noch Glück, oder?“, warf ich dann ein und bemerkte nicht einmal, wie meine eigene Stimme zitterte und gegen Ende sogar zu brechen drohte. Ich musste hier raus. Krankenhäuser waren noch nie die Location gewesen, in der ich gern war. Es führte alles zu Krankenhäusern.

 

Wir blieben nicht mehr lange dort. Unsere Eltern schickten uns nach Hause, auch wenn Jason das nicht unbedingt wollte. Am liebsten wäre er wohl bei seiner Schwester geblieben. Allerdings war die Besuchszeit so wieso bald um und mehr blieb uns leider nicht übrig.

Es war mittlerweile Nacht, das einzige, was die dunklen Landstraßen erleuchteten, waren die Scheinwerfer der vereinzelt vorbeikommenden Autos, die Sterne und der Vollmond.

Früher hatte ich immer gedacht, dass an Vollmond etwas schreckliches passieren musste, da ich nicht schlafen konnte. In solchen Nächten kroch ich immer in das Bett zu meinen Eltern, bis ich dort nach Stunden endlich einschlief.

Die Turnschuhe aus dem Trakt durfte ich behalten, um nicht in Socken bei der Kälte der Nacht nach Hause zu laufen. Den Kopf hatte ich in den Nacken gelegt und achtete nicht einmal mehr darauf, ob ich mitten auf der Straße lief oder am Rand. Immer mal wieder zog mich Jason zurück, wenn ein Auto kam, ansonsten ließ er mich laufen.

Eine ganze Weile schwiegen wir einfach nur, ehe er die Luft ausstieß, mich ansah und dann den Mund öffnete, ehe er diesen wieder schloss. Irgendetwas wollte er sagen, er wusste nur nicht wie. „Wenn du's nicht sagen kannst, dann lass es einfach. Das wäre wesentlich einfacher.“, sprach ich dann, ehe er zu Wort kommen konnte. Er seufzte und wieder breitete sich die Stille der Nacht aus. Wir betrachteten beide die Sterne. Sie schienen so nah und doch so fern. So auch schienen wir uns zu sein. Mit jedem Tag kamen wir uns näher und entfernten uns wieder um hunderte Meilen. Immer, wenn ich einen Schritt auf ihn zu machte, so tat er einen zurück. Es war seltsam zwischen uns. Mal kam er auf mich zu und an einem anderen mal kam ich auf ihn zu. Doch kamen wir uns nie näher.

Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, blieb stehen und streckte die Arme links und rechts von meinem Körper weg und atmete einige Sekunden einfach nur tief ein und aus. So, als ob es nichts anderes geben würde. Kein Tod, keine Angst, keine Straße. Nur noch die Nacht, der Himmel und mich. Nicht einmal mehr Jason existierte in meiner Erinnerung.

Ihn nahm ich erst wieder war, als warme Lippen die meinen berührten. Wäre ich nicht so abwesend gewesen, hätte ich wohl geschockt die Augen geöffnet, doch das wollte ich nicht. Ich wollte diesen Kuss. Diese Zuneigung. Wollte ihm nah sein. Zu selten passierte es, dass er kein Mistkerl war, wenn ich ihm näher kommen wollte. Und jetzt? Jetzt waren wir nicht mehr Meilen voneinander entfernt. Wir waren Marc und Jas und sonst war nichts mehr zwischen uns.

Er löste sich von mir, ohne ein Wort zu sprechen und ging die Straße hinab, zu unserem Haus. Kein Licht brannte. Keine Stimmen von außen waren zu hören. Es herrschte totenstille. Welch Ironie.

Mit langsamen Schritten folgte ich meinem Stiefbruder und versank immer wieder in den düstersten Gedanken, die ich abschütteln musste. Das durfte doch wohl nicht wahr sein.

Als ich ihn eingeholt hatte, war er bereits im Haus drin und war hoch in unserem Zimmer verschwunden. Die Tür schloss ich hinter mir, entledigte mich der Turnschuhe und ging ebenso hoch.
Im Raum sah ich, wie er gerade unter die Decke kroch und obwohl ich sein Schluchzen vernahm, sagte ich nichts. Er wusste, dass ich da war. Mehr brauchte es manchmal nicht. Mehr wollte er auch nicht.

Ruhig zog ich mich aus und legte mich dann auch in mein Bett. Die Bettwäsche roch etwas nach ihm. Scheinbar hatte er sich vorher ins falsche Bett gelegt. Er war orientierungslos. So, als hätte er sein Ziel verloren, was er jahrelang vor Augen gehabt hatte.

Ehe ich es mir versah, holte mich eine Welle des Schlafes ein. Traumlos wälzte ich mich im Bett hin und her und als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich alleine im Zimmer.

Der andere war scheinbar schon länger wach. Mein Blick ging auf die Uhr. 7:36 Uhr. Zu früh, für einen Samstagmorgen. Im ganzen Haus herrschte Stille und bevor ich mich hätte wundern können, wo Jason ist, betrat er das Zimmer wieder.
Schnell schloss ich die Augen und tat so, als würde ich schlafen. Er durchschaute mich allerdings sofort. Das spürte ich.

„Weißt du, Marc..wegen gestern. Dem Kuss.“, setzte er an und ich hörte aus seiner Stimme, wie betreten er war. Etwas war anders. „Das war ein Fehler. Ein Fehler, von dem niemand etwas erfährt und ein Fehler, der absolut nicht mehr passiert, okay?“, vollendete er seinen Satz. Mit wenigen Worten hatte er es geschafft, mein Herz zu brechen. Ich spürte, wie sich alles in mir schmerzlich zusammen zog. Tränen sammelten sich in meinen Augen und kullerten, ehe ich etwas dagegen hätte tun können, auch schon über meine Wangen. Das Schweigen zwischen uns wurde unglaublich laut. Unbewusst presste ich mir die Hände auf die Ohren. Die Stille schien mich schier zu ersticken.
Jas war gegangen und ließ mich mit meinen Gedanken und meinen Tränen vollends allein.

3. Kapitel

 

Ich brauchte fast zwei Wochen, ehe ich mich wieder gefangen hatte. Jas war in der Zeit so oft nicht zu Hause gewesen nachts, obwohl ich mir seine Anwesenheit mehr als alles andere gewünscht hätte. Er wäre das gewesen, was ich gebraucht hätte, doch er war nicht da. Vorwerfen konnte ich es ihm eigentlich nicht, ich würde es genauso tun, doch war das das gewesen, was mir wohl am Meisten Schmerzen bereitete.

Seine Schwester war entlassen worden. Sie hatte den Unfall überlebt und war noch immer so unheimlich angeschlagen, dass auch sie nun bei uns wohnte, da ihr Vater sie nicht aufnehmen wollte. Ihr Erzeuger war schlimmer als meiner – und das sollte schon was heißen, nicht wahr?

Die Sonne versuchte durch die zugezogenen Vorhänge hinein zu dringen, was ihr nicht sonderlich gelingen wollte. Die Decke hing mir bis zum Kinn. Fast zwei Tage lang lag ich dauerhaft in dem Bett, es sei denn, ich musste mal zur Toilette oder Nahrung etc. aufnehmen.

Gerade wollte ich eine weitere Folge meiner Lieblingsserie beginnen, als die Tür aufschwang und im Rahmen der Kerl stand, den ich wohl am meisten vermisst hatte. Jas' dicke Augenringe waren kaum zu übersehen, auch wenn er versucht hatte, diese zu überschminken. Es gelang ihm nicht sonderlich und ich musste zugeben, dass er trotz dessen wirklich unheimlich gut in meinen Augen aussah. „Was gedenkst du dort zu tun?“, fragte er dann, die Arme locker vor der Brust verschränkt.

Ich schluckte etwas und setzte mich auf. Meine Haare waren ungekämmt, fettig und standen in alle Richtungen ab. Eine wirkliche Augenweide, wie ich fand. Meine Wangen zierten kleine Bartstoppeln, die normal die so schnell kamen. Was hatte er bloß mit mir gemacht?
Meine Augen durchbohrten ihn und seine durchbohrten mich. Wir schwiegen uns konsequent an. Er wartete auf eine Antwort meinerseits, doch die würde er nicht kriegen. Er würde sicherlich keine Aussage aus mir herausbringen. Das schaffte er nicht und doch spürte ich bereits, wie ich schwach wurde, ihm glatt antworten wollte. Ich musste mich zusammenreißen! Er hatte es verdient, ignoriert zu werden!
Kurz zuckte ich die Achseln, stand auf und ging an ihm vorbei. „Was glaubst du denn, was ich tu?“, stellte ich die Gegenfrage und tappste zum Bad hinüber, was sich ebenfalls auf unserer Etage befand. Ich betrachtete mich im Spiegel und entschied mich dafür, dass ich scheiße aussah und was dagegen tun musste. Doch ehe ich etwas hätte beginnen können, pinnten mich zwei starke Arme gegen die Wand neben dem Waschtisch. Kurz kniff ich die Augen zusammen, ehe ich in das Gesicht meines Stiefbruders sah. Sein Ausdruck war unbeschreiblich. In ihm tat sich gerade etwas und ich konnte noch nicht einmal wirklich ausmachen, was das wirklich war. Gerne hätte ich es definiert. Seine Augen funkelten und das weder bösartig, noch belustigt. Er machte mir Angst. So war er noch nie gewesen.

Ich spürte schon wieder, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, als meine Faust schon seine trainierte Brust traf. Meine Brille trug ich schon seit Wochen nicht mehr. Weshalb? Es gab ja nichts, was sich zu sehen gelohnt hätte!

Immer wieder schlug ich mit der Faust fest gegen seinen Brustkorb, doch es machte ihm nichts aus, er blieb stehen, wie er war. Mittlerweile kullerten sämtliche Tränen über meine Wangen hinunter, doch dessen schenkte ich keinerlei Beachtung. Sollte er mich doch heulend sehen! Er hatte das angerichtet! ER! Nicht ich!
Wieder und wieder vielen mir Worte ein, die ich ihm an den Kopf schleudern wollte, doch brachte ich kein einziges hinaus und wenn, dann versank es in meinen markerschütternden Schluchzern.

Sein Ausdruck wurde sanfter, fast schon verletzlich. Er zog mich in seine Arme und mein Gesicht traf fast direkt auf seine Brust. Sein Herzschlag war so schnell, ich konnte nicht mehr mitzählen. In der Umarmung lag so viel, was ich nicht hatte benennen können. Schuldgefühl? Fast hätte ich gezischt, dass er mich mal könne, doch ich brachte nichts raus. Nichts, bis auf die unterdrückten Laute meiner Heulerei.
Ich hätte mich glatt selbst ohrfeigen können. Ich heulte hier dumm rum und er? Er stand da und nahm mich auch noch in den Arm. Und wieder fiel mir ein, weshalb ich überhaupt das Weinen begonnen hatte. Wegen ihm. Weswegen denn auch sonst?
Kurz atmete ich tiefer ein und versuchte mich zu sammeln. Sein Ärmel unter meinen Augen ließ mich ein ersticktes Geräusch von mir geben. „Jetzt hör endlich mit dem Heulen auf, Kleiner.“, erwiderte er dann so sanft, dass die Tränen wieder zu laufen begannen. „Wie denn bitte?!“, schrie ich ihn an und merkte, wie sich seine Züge verhärteten. Nicht nur sein Gesicht schien härter, sondern seine Muskeln auch angespannter. Nein! Verdammt! Das war das Letzte, was ich wollte. Ich wollte nicht, dass er sich zurück zog. Eigentlich wollte ich doch nur weiter in seinen Armen sein und so gewogen werden, wie er es gerade noch getan hatte.

Seine Arme wollten sich zurück ziehen, doch das verhinderte ich. Ich presste mich an ihn, vergrub das Gesicht in seiner Halsbeuge und sagte einfach gar nichts mehr. Es war egal. Hätte ich etwas gesagt, hätte ich es wahrscheinlich sowieso wieder versaut und das wollte ich bei bestem Willen nicht. Er drückte mich ein wenig an sich, jedoch zaghafter, als vorher.
Kurz darauf löste ich mich allerdings von ihm, fuhr mir durch die fettigen Haare und wischte mir diese dann an der Jogginghose ab, die ich seit zwei Wochen kontinuierlich vor mich hin trug und die eigentlich in die Wäsche gehörte, so entzückend, wie sie roch. Dass man das noch nicht Gestank nannte, war aber auch schon alles.
In einer gleitenden Bewegung zog ich mir das Shirt über den Kopf und ließ es zu Boden gehen. Seine Augen ruhten noch immer auf meinem Körper. Ein Kribbeln durchfuhr mich und fuhr mir direkt in die Lenden. Es machte mich doch tatsächlich scharf, wie er mich ansah und gleichzeitig wollte ich nicht, dass er mich nackt sah. Ich war da eindeutig nicht..gut genug für?
Über mich selbst seufzend drehte ich mich zu ihm um und forderte ihn wortlos und mit erhobenen Brauen auf, das Bad zu verlassen. Stumm ging er meiner Bitte nach. Vorher jedoch kam er zu mir, legte die Lippen ganz sacht auf meine Wange und schloss dann die Tür hinter sich. In sekundenschnelle versperrte ich diese dann auch, entledigte mich der restlichen Kleider und stellte mich unter die Dusche. Lange überfällige Prozedur, wie ich fand.

Das Wasser rauschte mir eine Weile nur über den Kopf. Das Gefühl der Zeit war komplett verloren, einfach verschwunden, wie man es sagen würde. Es klopfte an der Tür, aber das hörte ich nicht. Immer und immer wieder und auch mein Vater schrie schon durch das Holz, doch ich hörte nichts. Kein einziges Wort drang zu mir, während mir das Wasser weiter über den Kopf lief.

Wie in Trance stand ich da. Die Arme vom Körper runter hängend und die Augen leer ins Nichts starrend. Was war aus mir geworden? Immer hatte ich nur gute Noten, gehörte zu den Besten. War mir meiner selbst bewusster, als andere es dachten. Zählte zu den kleinen Einzelgängern, aber das war gut so. Und er? Er veränderte alles. Mit einem Mal? Ja, da hatte ich Freunde. Freunde und..Familie. Eine Familie, die ich mir vor Jahren wohl mehr als alles andere wünschte und jetzt nicht mehr brauchte. Ich brauchte weder meinen Erzeuger, noch seine neue Frau. Niemanden. Die einzige Person, die ich brauchte, brauchte mich nicht und das tat noch immer so unheimlich weh.

Von einem Moment auf den Nächsten war es so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Meine eigene Welt holte mich ein und binnen weniger Minuten hatte ich mich dann gewaschen, abgetrocknet, rasiert, mit Deo eingesprüht und angezogen. Die Zähne durften natürlich auch nicht fehlen. Ich hatte mich fertig gemacht und sah auf einmal wieder wie ich aus. Fehlte nur noch meine Brille.

Langsam ging ich zur Tür rüber und öffnete diese auch sogleich. Vor mir stand ein Haufen wütender Mitmenschen. Ich hob nur eine Braue darüber, machte mir da aber auch nichts weiter draus. Ungeschickt drängte ich mich zwischen die Leute und bekam meine Brille in die Hand gedrückt, konnte nur leider nicht ausmachen, von wem.

Auf meiner Unterlippe rumkauend ging ich in mein Zimmer zurück und zog mir frische Kleidung an. Der Spiegel in der kleinen Kammer erinnerte mich daran, dass ich doch nicht ganz so blöd aussah, wenn ich mich nicht so anstellte. Eine Weile lang betrachtete ich mich nur, ehe ich in eine schwarze Jeans schlüpfte und ein passendes Hemd überzog. Weiß und Schwarz. Passte doch wie die Faust aufs Auge.

Einen Mundwinkel hob ich leicht in die Höhe, während mein Blick wieder zu meinem Spiegelbild glich und dort sah ich in kühle Augen. Er stand hinter mir und das wahrscheinlich schon die ganze Zeit. Leicht schluckte ich und sah ihn nur durch das Bild an. So traute ich mich doch nicht, mich umzudrehen. Das brauchte ich auch gar nicht, denn er legte seine Hände auf meine Hüfte und drehte mich mit einem Male ruckartig herum. Wieder sammelten sich Tränen in meinen Augen, doch ich schluckte diese runter. Es brachte rein gar nichts, wenn ich jetzt weinen würde, also atmete ich tiefer ein und bedachte ihn mit dem gleichen Ausdruck, wie heute morgen schon. Vollkommene Gleichgültigkeit. „Was willst du?“, fragte ich ihn und versuchte meinen Kopf ein wenig zu neigen, was aber einen stechenden Schmerz verursachte. War wohl falsch gelegen in den letzten Tagen. Er zuckte die Achseln, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen. Er schien nach etwas zu suchen. Etwas, das meine Fassade bröckeln ließ, aber da war nichts. Nichts würde mich jetzt noch brechen können, denn das war ich schon. Gebrochen.

Seine Hände ließen mich langsam los, doch sein Blick hielt mich noch immer gefangen. Ich verengte die Augen ein wenig und verschränkte die Arme locker vor der Brust. Es klopfte an der Tür und bevor einer von uns etwas hätte sagen können, steckte mein Erzeuger den Kopf hinein. Er sah von einem zum andern und wusste wohl nicht recht, was er sagen sollte, denn er öffnete den Mund und schloss ihn kurz darauf auch schon wieder. „Keine Sorge, die Orgie findet wann anders statt.“, beruhigte ich ihn sarkastisch. Jas und ich waren uns noch immer sehr nah, auch wenn er mich bereits losgelassen hatte. Das Gesicht meines Vaters verfärbte sich binnen weniger Sekunden puterrot, was mich doch sehr amüsierte. Er setzte dazu an, mich anzuschreien, was mir denn einfiele, doch bevor er überhaupt ein Wort hatte rausbringen können, drückte ich mich an ihm vorbei, tätschelte seine Wange und ging runter, um meine Tasche und meine Schuhe zu holen. „Marcus! Du bewegst deinen Arsch jetzt gefälligst hier her!“, schnaubte der Mann, doch ich ignorierte ihn. Seine schwere Hand auf meiner Schulter holte mich zurück ins Hier und Jetzt, denn mit den Gedanken war ich schon wieder woanders. In einer Welt, in der ich allem entfliehen konnte und doch war ich noch immer hier. Er drehte mich mit so einer Wucht herum, dass ich aus dem Gleichgewicht kam und etwas strauchelte, was ihn allerdings nicht interessierte.

Mit einer schnellen Bewegung hatte ich mich dem Griff entzogen, es brachte nur wenig, da er auch schon wieder zugriff. „Was hast du da vorhin gesagt?“, knurrte er und in seinen Augen funkelte etwas bedrohliches, was ich noch nie gesehen hatte. Das erste Mal seit langem hatte ich wirklich Angst vor ihm. Das waren allerdings Dinge, die ich mir nicht erlaubte, sie zu zeigen. „Ich muss los, Dad. Sonst komm ich zu spät und noch ein Telefonat wolltest du doch vermeiden.“, schnitt ich ihm hingegen das Wort ab, traute mich allerdings nicht, ihn dabei anzusehen. Er ließ mich los und beschämt ging ich in die Knie, da meine Beine sonst nachzugeben drohten. Jas ging neben mir in die Knie, legte eine Hand auf meine Schulter, doch ich schüttelte sie ab. „Nicht..“, murmelte ich nur, band meine Schuhe fertig und verließ dann recht schnell das Haus.

 

Drei Tage vergingen. Drei ganze Tage und mein Erzeuger hatte kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt. Er schwieg mich an, wie ein Kind, das man für seine Taten bestrafen musste. Ich war kein Kind mehr! Jedenfalls nicht mehr in dem Alter, in dem das funktioniert hätte. Es tat weh, ja, mehr, als ich es mir eingestand, ich erlaubte mir nur nicht, es zu zeigen. Erlaubte mir nicht erkenntlich zu machen, wie schmerzhaft es war, vom Elternteil ignoriert zu werden. Was hatte ich eigentlich erwartet? Es hätte so kommen müssen.

Ich zögerte den Weg nach Hause absichtlich hinaus. Es würde sowieso niemand da sein. Zumindest niemand, den mein längeres Wegbleiben wohl interessieren würde. Nein, das war eindeutig nicht der Fall. In meinen Ohren dröhnte die Musik laut und doch konnte ich nicht ausmachen, welches Lied ich zum wievielten Male hörte. Den Text leierte ich im Kopf mit runter, das war's dann aber auch schon. Nichts blieb hängen. Keine Band und keine erkannte Stimme. Nichts. Nur der selbe, eintönig wirkende Text.

Meine Hände hatte ich in den Jackentaschen vergraben. Es war schon unglaublich kalt draußen, was für einen späten Oktober doch etwas unwahrscheinlich war. Meist setzte die Kälte erst Mitte November ein. Aber wer war ich schon, um über das Wetter zu urteilen?

Fast schon kriechend zog ich die Füße über den Asphalt, um zum Haus hinauf zu kommen und die Einfahrt zur Tür hinter mir zu lassen. Mir taten die Füße weh und das unheimlich. Sie schmerzten schon die ganze Zeit. Lag das daran, dass ich kaum lief? Nein, wohl eher nicht. Die Tür ließ sich nur schwer aufsperren und als ich diese öffnete und in den Flur sah, sprangen mir Umzugskartons in die Augen. Erschrocken ließ ich fast mein Handy fallen. Was war denn hier bitte los?!

Schnell schlüpfte ich aus den Schuhen und sprintete hoch in mein Zimmer. Auch dort waren bereits Kartons. Meine Sachen waren allerdings unangerührt und lagen noch immer so ordentlich zusammen gelegt, wie ich sie heute morgen hinterlassen hatte. Selten, dass ich mein Chaos mal sortierte, aber wenn ich es tat, dann richtig. Jas saß zwischen der Pappe auf dem Boden und sortierte gerade seine Unterwäsche von seinen Socken. Ich hob eine Braue und sah ihn einfach nur skeptisch an. „Was tust du da?“, war das einzige, was ich raus brachte. Mein Handy pfefferte ich auf mein Bett und ignorierte, das die Musik noch immer ihre Töne spielte und das nicht gerade leise.

Fast schon fiel ich ihm vor die Füße und hinderte ihn daran, Sachen einzupacken, in dem ich seine Handgelenke festhielt. Sein Blick hob sich zu mir und er neigte den Kopf. „Ich dachte, sie hätten dir das gesagt. Wir ziehen um. Also, das heißt, nur wir beide. Die anderen bleiben hier wohnen. Wir kriegen unsere eigene Wohnung, auch wenn die nicht sonderlich groß ist.“, klärte mich mein Stiefbruder dann auf. Wir würden was? Wutentbrannt sprang ich auf die Füße und stampfte zum Schlafzimmer meines Vaters. Ohne zu klopfen schwang ich die Tür auf und ignorierte das zurecht verstörende Bild, was sich mir gab. Mein Erzeuger lag ziemlich verrenkt auf seiner Frau und das zu meinem Leidwesen auch noch nackt. „Was heißt hier bitte, Jas und ich ziehen um?“, keifte ich gleich drauf los und es war mir egal, wie doof ich mich dabei anstellte. Die Brille war mir bis zur Nasenspitze herunter gerutscht, aber wen sollte das schon interessieren? Niemanden. Richtig.

Langsam drehte Mein Dad den Kopf zu mir und durchbohrte mich mit einem bitterbösen Blick. Doch es war mir egal. Sollte er mich ansehen, wie er wollte. Was war schon, was er tun konnte, außer mich noch hier und heute rauszuschmeißen? Er hätte mir ja noch nicht einmal gesagt, dass wir umziehen würden. Ich knurrte leise, verschränkte die Arme und wartete auf die Antwort meines Erzeugers. „Raus.“, waren die einzigen Worte, die ich zu hören bekam. War das sein verdammter Ernst? Ich atmete tiefer ein und blieb weiterhin unberührt stehen, auch wenn mich der Anblick doch sehr anekelte. Mein Vater kam allerdings auch nicht auf die Idee, damit aufzuhören, was er gerade tat, sondern sah mich weiter hin einfach nur sauer an. Was konnte ich denn dafür, wenn er die Tür nicht abschließen konnte, wenn er mitten im Geschehen war?
Ich seufzte leise und wartete weiter auf eine mehr oder weniger passable Antwort. „Herrgott, George, jetzt erklär ihm das doch endlich, bevor du weiter so in mir stecken bleibst!“, zischte seine Frau und mein Vater machte sich endlich die Mühe, sich dem Weibsbild zu entziehen, etwas um die Hüfte zu schlingen, was wie ein Handtuch aussah und an mir vorbei aus dem Raum raus deutete.

Widerwillig verließ ich das Zimmer und ich hörte nur, wie mein Vater die Tür zu knallte. Jas stand am Treppenabsatz mit erhobenen Brauen. „Du hast ein tolles Timing, wusstest du das?“, versuchte er die Situation etwas aufzulockern, doch das einzige, was er bekam, war ein Killerblick, der ihn zusammen zucken ließ. Ich war stinkig und da konnte er mir mit seinen sarkastischen Bemerkungen gestohlen bleiben.

Stampfend ging ich zurück in mein Zimmer und fing dann auch an, meine Sachen in Kartons zu verstauen, die bereits für mich beschriftet worden waren. Wirklich sehr umsichtig von meinem Stiefbruder. Seine Sachen hatte er bereits irgendwo verstaut, in der Zeit, in der ich versuchte, meinem Erzeuger irgendeine Antwort zu entlocken.

Fast eine Stunde verbrachte ich damit, Klamotten zusammen zu knüllen und in Säcke und Kartons zu stopfen, so dass sie mehr oder minder hinein passten. „Willst du jetzt die ganze Zeit einen auf „Ich bin böse, fürchtet mich alle“ machen? Ehrlich mal, Marc, reiß dich zusammen. Wenn wir hier raus sind, kann uns der Kerl und vor allem SIE uns nichts mehr haben, schon mal daran gedacht?“, hörte ich meinen Bruder dann seufzend meinen, während er sich dann doch erbarmte und mir half, die restlichen Bücher, Kleidungsstücke und die wenigen Habseligkeiten, die ich besaß, einzupacken. Wir waren zu zweit recht schnell fertig, so dass wir die Kisten und Säcke auch gleich runter zu einem Transporter brachten, der schon Abfahrbereit auf uns wartete. Von unseren Erzeugern jeweils keine Spur. Meine kleine Schwester stand traurig in der Tür. Ich drehte mich zu ihr um und nahm sie noch einmal fest in den Arm. Ich musste ihr versprechen, zumindest an den Wochenenden nur wegen ihr anzurufen und dann ganz lange nur mit ihr zu reden. Sie würde ich wohl mit am Meisten vermissen. Korrektur: Sie würde ich wohl als einziges hier vermissen.

 

Minuten. Stunden. Tage. Wochen. Alles verging wie im Flug. Jason hatte recht. Die Wohnung war nicht sonderlich groß, aber für uns zwei reichte sie allemal und dazu mussten wir sie auch nicht bezahlen. Wir lebten uns recht schnell dort ein, wenn auch distanziert voneinander. Es war alles einfacher, wenn wir uns aus dem Weg gingen. Doch sobald wir drohten, Stunden alleine zusammen zu verbringen, überlegte sich jeder von uns eine Ausrede, um nicht zu Hause sein zu müssen, auch wenn es nur ein sinnloser, stundenlanger Spaziergang gewesen war.

Mittlerweile wurde es Winter. Draußen fror schon alles und in den Nachrichten versprachen sie uns Schnee. Ich kam gerade vom Einkaufen zurück, als es zu schneien begann. Begeistert blieb ich in der Einfahrt des Mehrfamilienhauses stehen und streckte mein Gesicht gen Himmel. Einen schöneren Anblick hatte ich nie gesehen. Es war wundervoll. Das kalte, gefrorene Wasser fühlte sich wundervoll auf meiner Haut an. Wie kleine Kinder streckte ich meine Zunge raus und fing somit einige vereinzelte Flocken. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Mund aus. Doch ehe ich es mich versah, wurden die Flocken immer größer und fielen immer schneller vom Himmel herab, so dass binnen weniger Minuten schon alles voll Schnee zu sein schien.

Schnell machte ich mich auf den Weg in die Wohnung hoch und stellte im Flur die zwei vollen Tüten des Einkaufes ab. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und sah mich etwas um. Jas war schon zu Hause. Er war doch nie um diese Uhrzeit zu Hause. Leise seufzte ich und betrat die Wohnung richtig. Meinen Stiefbruder fand ich auf der Couch liegend. Mit geschlossenen Augen und laufendem Fernseher. Er war wohl eingeschlafen und lag auch schon länger hier. Wie lange war ich denn weg?
Ich schaltete das Gerät ab und räumte die Einkäufe sorgsam weg. Gerade verstaute ich das Brot im Schrank, als ich starke Arme um meinen Körper spürte und diese feste Brust an meinem Rücken. Ich atmete tiefer ein, ehe ich nachgab und meinen Kopf nach hinten anlehnte. Sein Geruch war mir mittlerweile so unheimlich vertraut und er war so nah, dass es mich fast schon erschreckte. Leicht drückte er mich an sich und ich konnte nicht anders, als meine Hände auf seine Arme zu legen, nur um seine Haut irgendwie auf der meinen zu spüren. Aus dem Fenster konnte man sehen, wie stürmisch es in dem Moment war und wie grau der Himmel doch sein musste, wegen des Schnees. Man sah nichts, außer die dicken Flocken, wie sie in einer hohen Geschwindigkeit den Boden ansteuerten. Ich schloss die Augen und genoss den Moment. Einen Moment, nach dem ich mich so lange sehnte und nie bekommen durfte. Nie war es mir erlaubt worden, so in seinen Armen zu stehen und es nicht zu bereuen. Ohne Tränen in den Augen. Ohne das Bedürfnis, weinen zu müssen. Ohne, dass er denkt, er würde mich sonst im Stich lassen. Hier standen wir einfach nur. Nur er und ich und ich wollte in diesem Moment nichts lieber, als genau das. Seine Arme um mich. Das Gefühl, beschützt zu sein. Und das tat er. Er beschützte mich und das auf so eine Art und Weise, wie ich es mir schon immer wünschte. Er war für mich da. Wortlos. Immer.

Diesmal wollte ich ihm nicht aus dem Weg gehen. Es war nicht nötig. Ich fühlte mich geborgen und das warme Gefühl um mein Herz herum schwoll an und drohte, mich zu erdrückten. „Es tut mir leid.“, war das einzige, was er murmelte. Ich schüttelte den Kopf. „Mir tut es leid.“, antwortete ich ebenso leise, wie er zu sprechen vermochte. Und da war er wieder. Der Kerl, in den ich mich verliebt hatte. Der Kerl, den ich am liebsten jede Nacht neben mir hätte, aber nicht habe. Er war da und nicht verschwunden unter dem Ego, das ihm wohl selbst auch ziemlich im Weg stand. Es tat gut, dass er einfach nur bei mir war und nirgendwo anders. Mit dem Kopf einfach nur hier und nicht bei seiner Schwester oder sonst irgendwem. Es zählte nur noch ich und auf eine gewisse Art und Weise..ja, machte mich das auch sehr glücklich.
Seine Hände machten sich selbstständig. Fuhren über meinen Oberkörper, langsam runter zu meinen Hüften und dort meine Seiten wieder rauf, während seine Lippen meine Halsbeuge trafen. Ich schloss die Augen, neigte den Kopf ein wenig zur Seite, um ihm mehr Platz zu bieten und ließ mich einfach nur fallen.

Lauter Stromstöße durchfuhren meinen Körper und erregten mich bis ins letzte und das bei der bloßen Berührung seiner Fingerspitzen auf meiner blanken Haut.
Schnell hatte er mir das Shirt abgestreift und es zu Boden gleiten lassen. Wir befanden uns wie in einer anderen Welt. Bald fuhren nicht nur seine Lippen bloß über meine Haut, sondern auch seine Zunge und die Zähne. Seine Finger fanden ihren Weg zu meinen Brustwarzen, umspielten diese, liebkosten sie. Es machte mich wahnsinnig. Ich wollte aufstöhnen, doch brachte ich keinen Ton heraus. Die Augen noch immer geschlossen und mich ihm voll hingebend, wog ich den Kopf hin und her.
Langsam glitt seine Hand von meiner Brust runter zu meinem Schritt, öffnete den Hosenknopf und zog den Reißverschluss betont langsam herunter. Er zog den Stoff etwas herunter und entblößte damit meine peinlichen, alten Boxershorts. Er schien sich da nicht dran zu stören. Seine Hände fuhren weiter, verwöhnten mich und ich konnte nicht anders. Musste stöhnen. Es klang anders. Meine Stimme klang so tief. So...ungewohnt sexy.

Wir hatten Sex. In der Küche und fuck, es war verdammt heiß. Es war mein erstes Mal und ich war mir schon in diesem Moment sicher, dass das wohl der beste Sex war, den ich je hätte haben können.

Noch immer etwas keuchend schmiegte ich meinen Rücken an seine Brust und spürte so seinen noch immer schnell gehenden Atem. Es hatte irgendwie etwas beruhigendes an sich, ihn so bei mir zu haben.
Vorsichtig und darauf bedacht, mir nicht weh zu tun, hob er mich hoch und brachte mich in das Schlafzimmer, was ich normal mein Zimmer schimpfte. Es war nicht sonderlich schön eingerichtet und noch sehr kahl, aber etwas sagte mir, dass sich das doch recht schnell ändern würde.

Jas legte mich auf dem Bett ab, sich neben mich und zog die Decke auch über uns beide. Sein Arm schlang sich um mich und er zog mich so dicht an sich, dass mein Hintern gegen sein Becken drückte und es fühlte sich einfach nur noch alles wundervoll an.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An alle die einfach nicht genug von yaoi und BL kriegen ^^

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