Impressum
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Traumverloren.
© Nadja Neufeldt, 2019
Lektorat: Michaela Stadelmann
www.textflash.de
Covergestaltung: VercoDesign, Unna
www.vercoPremadeBookCover.de
Kontakt: nadja.neufeldt@yahoo.com
Kapitel 1
Der Brief brannte ihr noch ein Loch in den Stoff des Kittels. Siini befühlte die Stelle, an der sie ihn verstaut hatte und hörte das Knistern des Papiers. Sie hatte ihn schon dreimal gelesen und würde es noch weitere Male tun, bevor der Tag endete. Die Worte kannte sie bereits vom ersten Lesen auswendig.
„Liebste,
ich schreibe diese Zeilen in großer Eile, denn ich will, dass der Brief noch mit der heutigen Postkutsche weggeht. Es ist alles geklärt! Awnye hat heute Morgen bei Vater und Mutter vorgesprochen und natürlich haben sie seinen Vorschlag mit Freuden angenommen. Wir können zu unserer Reise aufbrechen, sobald du zurück bist. Ich bin so aufgeregt, Liebste! Bald, bald müssen wir uns nicht mehr verstecken. Ich hoffe, meine Schwester macht dir das Leben nicht zu schwer. Aber falls doch (ich weiß, sie tut es), halte durch, es ist bald vorbei. Ich kann unser Wiedersehen kaum erwarten und träume sogar im Wachen von dir.
Auf ewig, L.“
Seit Siini den Brief gelesen hatte, war sie zittrig und unaufmerksam. Sie konnte ihre Pflichten nur mit großer Mühe erledigen. Alles fiel ihr aus der Hand. Sie ertappte sich immer wieder dabei, dass sie einfach innehielt bei dem, was sie gerade tat, und vor sich hinträumte. Wahrscheinlich grinste sie dabei wie eine Geistesgestörte. Die Reise! Siini malte sich die Landschaften aus, die sie würde sehen können, die Menschen, denen sie begegnen würde, die Speisen, die sie würde kosten dürfen. Alles wäre neu, und sie würde alles mit dem einen Menschen erleben, den sie am meisten auf der Welt liebte.
„Träumst du schon wieder?“, zischte Isla.
Siini schreckte aus ihren Gedanken hoch. „Nein, Fräulein Isla. Hier, ich habe Euch den Schlaftrunk gebracht.“
Als sie ihrer Herrin den Becher reichte, hörte sie trotz des Stimmengewirrs das kaum wahrnehmbare Knistern des Briefs. Dieses leise Geräusch ließ ihre Hand zucken, als wollte sie nach dem Papier in der Kitteltasche greifen. Der Becher schwankte und das Getränk schwappte über den Rand. Siini zog die Hand hastig zurück. Aber da Isla im gleichen Augenblick nach dem Henkel des Bechers griff, kippte sie sich den gesamten Inhalt auf das seidene Nachthemd.
Siini starrte mit großen Augen auf das Malheur und wartete auf das Geschrei. Und da war es auch schon:
„Ahhh!“
Isla ohrfeigte sie. Siini zuckte mit keiner Wimper, das hätte das Edelfräulein nur noch angestachelt. „Du dumme Kuh!“, kreischte Isla und zerrte am durchweichten Stoff des Nachtgewands, das auf ihrer Haut klebte. „Sieh dir das an!“
Alle Mädchen und ihre Zofen hatten mit dem aufgeregten Getratsche innegehalten und sahen zu ihnen herüber.
„Das Gewand ist ruiniert!“
Siini versuchte einzuwenden: „Es tut mir leid, Fräulein Isla, ich hole Euch sofort ein anderes aus dem Gepäck.“ Sie bekam prompt eine weitere Ohrfeige. Diesmal trat sie einen Schritt zurück und ballte die Fäuste. Zu gerne hätte sie diesem Miststück ihre Meinung kundgetan. Aber sie musste durchhalten. Es waren nur noch ein paar Tage.
„Nein!“, schrillte Isla. „Die Kerzen brennen schon, das siehst du doch! Es ist keine Zeit mehr! Geh mir aus den Augen, du nichtsnutziges Stück! Warte, bis wir zu Hause sind, dann erlebst du was!“
Siini wusste, sie sollte bleiben, ihre Herrin beruhigen und die nassen Flecken trockentupfen. Stattdessen ging sie hoch erhobenen Hauptes hinaus. Die Vorsteherin kam ihr entgegen und eilte, nach einem kurzen Blick auf Siini, mit einer Magd im Schlepptau zu Isla.
Siini hatte seit ihrer Ankunft die weitläufigen, prächtigen Räume bewundert, auch wenn manche von ihnen bereits Zeichen des Alters aufwiesen. Als sie durch die Gänge des Träume-Hauses eilte, hatte sie jedoch keinen Blick für die verblichene Pracht. Ohne ein einziges Mal falsch abzubiegen, kam sie in einem der hintersten Räume an, wo einige der älteren Frauen übernachteten. Es waren überwiegend Kammerfrauen wie sie. Bei den Übrigen handelte es sich um Begleiterinnen, Mütter, Tanten oder ältere Schwestern. Siini hatte sich früher am Tag bereits eine der Pritschen reserviert und ließ sich nun darauf sinken. Ihr taten die Füße weh, ihre Wangen brannten und die Ohren klingelten noch von Islas Gebrüll.
„Solltest du nicht bei den anderen schlafen, Kindchen?“, fragte die Kammerfrau Julena freundlich. Sie war stämmig, machte einen beängstigend kraftstrotzenden Eindruck und ihre gestärkten Röcke raschelten bei jeder Bewegung. Siini mochte sie. Julena hatte etwas Mütterliches, etwas, das Siini sehr vermisste, seit sie von zu Hause weggegangen war.
„Ich war schon einmal hier“, erwiderte Siini ausweichend. „Ich habe meine Herrin schon beim zweiten Neumond begleitet.“
Julena ließ ihrer Handarbeit in den Schoß sinken. „Deine Dienstherrin will es noch mal versuchen?“, fragte sie verwirrt.
„Nein, meine eigentliche Dienstherrin.“ Siini streckte sich auf der harten Matratze aus. „Edelfräulein Isla ist die jüngere Schwester meiner Herrin. Ich wurde mitgeschickt, weil ich schon einmal in der Stadt gewesen bin.“ Wie hübsch diese Lüge klang, fand Siini. Die Wahrheit war, dass man sie wenigstens vorübergehend aus dem Haus hatte haben wollen.
„Verstehe.“ Julena nahm die Stickerei wieder auf. „Sie hat ein ordentliches Gemüt, nicht wahr? Das Geschrei war bis hierher zu hören. Der Erbprinz hat es sicher auch gehört.“ Sie senkte verschwörerisch die Stimme. „Er ist bereits hier, viel früher als erwartet. Deshalb brennen die Schlafkerzen schon.“
„Mmmh“, machte Siini. Der Erbprinz interessierte sie nicht, der war eher Islas Passion.
„War sie das mit deiner Wange, Kind?“
Siini berührte ihr Gesicht und zuckte mit den Achseln, so gut sie das im Liegen konnte. „Hab ihr den Schlaftrunk übers ganze Nachthemd gekippt.“ Sie riecht jetzt wie ein Gewürzkuchen, fügte sie im Stillen hinzu. Wenn Isla die Träumende war, fand der Erbprinz sie durch den ganzen Gewürzduft hoffentlich nicht. Vielleicht habe ich dem Land einen Gefallen getan, überlegte Siini schadenfroh.
Der Kamin an der gegenüberliegenden Wand und die Wachskerzen spendeten wohlige Wärme. Siini schloss kurz die Augen. Sie war erschöpft, aber auch aufgeregt wegen des Briefes. Sie würde nicht einfach einschlafen. Der Brief. Sie zog ihn aus der Tasche und drückte ihn an die Brust. Sie wusste nicht, ob Julena oder eine der anderen Frauen sie beobachteten. Es war ihr egal. Wichtig war nur der Brief, der diesen kalten Frühwintertag zu einem wundervoll sonnigen gemacht hatte. Nicht einmal Islas Ohrfeigen hatten daran etwas ändern können. Isla hasste sie und war nicht glücklich darüber, dass Siini sie begleitete. Wie verschieden sie und ihre Schwester doch waren! Die Jüngere war laut, redete oft unbedacht und ließ sich nicht von ihrer einmal gefassten Meinung abbringen. Sie war ihren Brüdern in jeder Hinsicht ebenbürtig.
„Liv“, formte Siini mit den Lippen. Sie setzte sich auf und faltete den Brief auseinander. Sie nahm kaum wahr, dass es im Gebäude ruhiger wurde. Das aufgeregte Getratsche Hunderter Mädchen wich langsam einer andächtigen Stille.
„Liebste“, las sie und strich mit dem Daumen über das Wort aus schwarzer Tinte.
Als sie ihn wieder in die Tasche steckte, fiel ihr die Stille auf. Selbst die Kammerfrauen hier flüsterten miteinander. Gleich würde der Erbprinz sich auf den Weg durch die Schlafsäle und Gemächer machen, auf der Suche nach seiner Traumgefährtin. Die Traumgötter würden ihm den Weg weisen, indem sie dem Erbprinzen den einen besonderen Duft schickten. Er musste das Mädchen finden, dessen Träume diesen Duft hatten. Siini hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte, das war eher etwas für die Traumpriester. Sie selbst war nicht besonders religiös. Aber die meisten Menschen in ihrer Umgebung waren es. Sie suchten Trost und Lösungen in ihren Träumen. Viele reisten durch das halbe Land, um an Orten wie diesem Rat zu suchen und zu meditieren.
Vor sich hinträumend, ganz ohne irgendwelche Götter, legte Siini sich wieder hin. Sie würde auf eine große Reise gehen! Mit Liv. Leider auch mit Edelmann Awnye, aber das war nicht zu ändern. Awnye war jemand, der sich nur um sich selbst kümmerte. Er würde ihnen keine Schwierigkeiten machen.
Siini schlief ein und träumte.
Als sie wach wurde, saß ein junger Mann am Rand ihrer Pritsche und grinste sie breit an. Er neigte den Kopf und sagte erwartungsvoll: „Sei gegrüßt, Träumende.“
Kapitel 2
Noch träge vom Schlaf, brauchte sie einige Herzschläge, bis sie den Mann erkannte. Er sah seinem Vater, dessen Gesicht jede Münze zierte, sehr ähnlich. Es war Erbprinz Yl-Anor. Als Siini seine Anwesenheit an ihrem Bett und seine Anrede begriff, bekam sie unvermittelt keine Luft mehr.
„Euer Gnaden?“, hauchte sie. Bitte, Götter der Träume, lasst dies einen Traum sein! Dann dachte sie entsetzt: Liv! Die Reise!
Der Erbprinz grinste immer noch von einem Ohr zum anderen. Er sah sehr zufrieden mit sich aus, als hätte er eine überaus schwierige Aufgabe gelöst. Als er ihre Verwirrung sah, zwang er sich zu einem ernsthaften Gesichtsausdruck, aber es gelang ihm nicht ganz.
„Du heißt Siini, nicht wahr? Ich freue mich so sehr, dich endlich gefunden zu haben, Siini“, verkündete er.
In ihrem Kopf rauschte es. Sie verstand kaum, was er zu ihr sagte. LivLivLiv! Was soll ich tun?
„Euer Gnaden, seid Ihr sicher?“, fragte sie heiser und hielt den Atem an.
„Vollkommen!“, erwiderte er. Aus seiner Stimme sprach so viel Sicherheit, dass Siini gegen ihren Willen in Tränen ausbrach. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Es war ihr unsäglich peinlich, vor dem Erbprinzen so die Beherrschung zu verlieren, aber sie konnte nicht aufhören. Was würde geschehen, wenn sie ihn abwies? Er würde die Gründe wissen wollen, aber die konnte sie ihm nicht nennen. Wenn er doch irgendwie dahinter kam, was würde er dann mit Liv machen? Reuig sagte er: „Ich weiß, du bist überwältigt. Ich hätte dich nicht so aus dem Schlaf reißen sollen. Verzeih mir.“
Ungläubig ließ sie die Hände sinken, um den Erbprinzen anzusehen. „Über…wältigt“, brachte sie stockend hervor. „Ja, Euer Gnaden.“ Sie steckte die Hand in ihre Kitteltasche, um ein Taschentuch hervorzuholen, doch ihre Finger berührten den Brief. Sofort presste sie ihre andere Hand gegen den Mund, um einen weiteren Schluchzer zu ersticken.
Der Erbprinz erhob sich und zog ein blütenweißes Taschentuch aus seiner Brusttasche, das er ihr reichte.
„Vielen Dank, Euer Gnaden“, nuschelte Siini und tupfte sich das Gesicht ab. Sich mit diesem eleganten Stück Stoff die Nase zu putzen erschien ihr wie ein Sakrileg.
„Besser?“, fragte er. „Soll ich dir etwas bringen lassen? Möchtest du ein Glas Wasser?“
„Nein, vielen Dank, Euer Gnaden“, antwortete sie mit belegter Stimme.
„Fühlst du dich kräftig genug, um in den Palast aufzubrechen?“
„In den Palast?“, japste Siini. Ich will nach Hause!
„Natürlich“, sagte er erstaunt, „meine werten Eltern warten auf Nachricht und, sofern du nicht zu müde bist, können wir ihnen diese auch gleich persönlich überbringen.“
In ihrem Kopf rauschte es wieder. Was sie brauchte, war ein Aufschub, um nachdenken zu können. Sie ließ die Beine über den Pritschenrand gleiten, stand aber nicht auf, obwohl sie in Gesellschaft eines hochwohlgeborenen Edelmanns war. Sie fürchtete, ihre Knie würden einfach nachgeben.
„Euer Gnaden“, begann sie langsam, „vergebt mir, ich würde gerne fürs Erste hierbleiben.“
„Hier?“ Er sah sich zweifelnd um.
„Ich bin in der Tat sehr müde, Euer Gnaden.“ Sie brachte ein zittriges Gähnen zustande, woraufhin er eifrig nickte.
„Natürlich, natürlich, Träumende. Du warst sicher den ganzen Tag auf den Beinen.“
„Ja, Euer Gnaden. Meine Dienstherrin und ich sind erst am frühen Morgen angekommen. Wir sind die Nacht hindurch gereist. Es war eine anstrengende Reise, Euer Gnaden.“ Siini staunte über sich selbst, wie schnell sie diese Lüge erfinden konnte. Sie waren tatsächlich erst am Morgen ins Träume-Haus gekommen, aber bereits seit zwei Tagen in der Stadt. Die Reise war ein unerschöpflicher Quell neuer Eindrücke gewesen. Siini wollte keinen Augenblick davon missen.
Der Erbprinz hörte aufmerksam zu, aber ihr entging nicht, dass er verwirrt war und auch ein wenig misstrauisch. Sie verhielt sich nicht so, wie er es erwartet hatte. Sie jauchzte nicht vor Freude, die Gattin des Erbprinzen und später Königin zu werden. Im Gegenteil, sie schützte Müdigkeit vor, obwohl sie doch alles hätte tun sollen, um in den Palast zu kommen. Unzählige Mädchen würden einander die Augen auskratzen für so eine Gelegenheit.
Siini stand auf und neigte ehrerbietig den Kopf. „Verzeiht, Euer Gnaden, ich bin noch ganz außer mir. Niemals habe ich so etwas wie das hier
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Nadja Neufeldt
Cover: VercoDesign, www.vercoPremadeBookCover.de
Lektorat: Michaela Stadelmann, www.textflash.de
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2019
ISBN: 978-3-7487-1925-0
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