Es war dunkel. Ich konnte nicht schlafen. Irgendetwas in mir, dass lange im inneren meiner Seele geschlummert hatte, schien erwachen zu wollen. Als würde ein Ungeheuer aus seinem Gefängnis ausbrechen wollen. Wie eine Schatulle, jahrelang unberührt, die jetzt durch ein Erdbeben erschüttert wurde. Und dessen Schloss langsam von innen zerbrach, sodass es sich bald öffnete.
Doch noch war es nicht so weit. Bald... aber nicht jetzt.
Denn lange würde ich es nicht mehr hier aushalten. Sich dem Willen eines Menschen zu beugen, den man so tief verachtete. Das erschien mir falsch. Alles hier schien mir, als gehörte es nicht zu mir. Als würde man eine Maus in ein Kolosseum werfen, um sie gegen die Löwen kämpfen zu lassen.
Dies konnte nicht mein Leben sein. All das wirkte so... irreal. Ich fühlte mich verloren. Als fiele ich in einen Brunnen ohne je in das Wasser einzutauchen, dass am Grund ruhte.
So mussten sich die Tiere fühlen, die im Zirkus dazu gezwungen wurden, Kunststücke aufzuführen.
So fühlte ich mich. Im Stich gelassen von Gott, der jedem Menschen das Gefühl geben sollte, geliebt zu werden. Oder etwa nicht?
Draußen raschelten die Blätter einer alten Eiche im Wind. Es war stürmisch heute Nacht. Jede halbe Stunde marschierten die Patrouillen am Haupttor vorbei. War es mittlerweile nicht so weit, dass sie wieder ihre nächtliche Route passierten?
Ich musste wohl zwischendurch schon eingeschlafen sein. Nur um anschließend aufzuwachen und erneut grübeln zu müssen. Aber über was? Warum stand ich nicht einfach auf und ging. Weit fort von hier. Weg von dem, was ich tief in mir nicht zulassen wollte.
Ich konnte nicht. Jacques...
Er war der einzige Mensch, der mich noch hier hielt. In dieser viel zu großen Haut, in der ich steckte. Die mir einfach nicht zu passen schien.
Es war dunkel. Nur der Mond schien hell und erzeugte kleine Lichtspiele an der Wand meines Zimmers. Draußen raschelten die Blätter einer alten Eiche im Wind. Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig...
Was von dem, dass sich in meinen Gedanken überschlug, war noch wahr. Was davon war falsch? Wie ich ihn doch hasste. Für alles, wofür er mich hasste. Dafür hasste ich ihn.
In meinem inneren, da wurde keine kleine goldene Schatulle erschüttert. Nein, es war ein Drache. Er zerrte an den Gitterstäben seines Gefängnisses. Er versuchte sich die Eisenketten, die um sein Maul gespannt wurden, zu entreißen. Die Mauer bröckelte, als er sich mit all seiner Kraft gegen seine Fesseln stemmte.
Vorübergehend war ich von meinem innerlichen Kampf erschöpft. Nicht zu wissen, was richtig und was falsch war. Doch der Drache würde siegen. Sobald er sich wieder aufsetzen konnte, um sich zu wehren, würde er es tun...
Und befreit von seinen Fessel würde er Feuer speien, gegen seine Feinde, die ihm seines freien Willens beraubt hatten.
Doch noch war es nicht so weit. Bald... aber nicht jetzt.
Dreiundachtzig, vierundachtzig...
Irgendetwas stimmte nicht. Mein Verstand spielte mir einen Streich. War ich gar nicht wach? Träumte ich schon längst, oder wieso waren meine Lider so schwer und mein Gemüt so zerrissen?
Incroyable. Die Wachmänner hätten den Weg vor dem Haupttor längst überqueren müssen.
Ich zwang mich, nicht gleich aufzuspringen und draußen nach zu schauen. Doch irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas war hier faul. Die Burg war nicht weit von Lyon entfernt und somit sehr leicht für Außenstehende zu finden. Gerade in Zeiten des Konfliktes würde die Bewachung der Gilde nie vernachlässigt werden. Nie.
Ich schlug die Decke auf und stürzte förmlich aus meinem Bett. Das Holz der Dielen knarrte leicht, als ich mit nackten Füßen zum Fenster eilte. Sie schmerzten noch vom langen Spaziergang am Vormittag. Kein Vergleich zu den Kopfschmerzen, die mir le papotage mit Francois einbrachte.
Ich blickte aus dem Fenster. Es war dunkel.
Wie ich ihn doch hasste. Für alles, wofür...
Wo waren die Wachen geblieben? Sie verließen nie ihre Posten an den Kanonen. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Ich griff zum Kleiderständer und nahm meinen Morgenmantel an mich. Ich streifte ihn über und öffnete leise das Fenster. Es war still. Zu still. Man hörte nichts als das rascheln der Blätter im Wind.
Vorsichtig lehnte ich mich über die Brüstung. Keiner der Männer war zu sehen. Vielleicht war es auch einfach nur zu dunkel, um jemanden zu erkennen.
Ich wandte mich der Tür zu. Gespannt lauschte ich den Stimmen de les chaperon, welche diese Nacht mein Zimmer bewachten.
Sie flüsterten sich etwas zu. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Sie waren zu leise.
Etwas über irgendeine Frau...
Oui, typisch. Égal. Würde ich mich erneut meinen zerstreuten Gedanken hingeben und versuchen zu schlafen. Ich machte mir zu viele Sorgen um Dinge, die mich nicht betrafen. Sollte er sich doch selber darum kümmern, schließlich waren es seine Männer. Seine Gilde. Ich war nur das störende Weib von Tochter, dass er nie gewollt hatte. Wie ich ihn doch hasste. Für alles, wofür er mich hasste. Dafür hasste ich ihn. Mehr als alles hier auf dieser Welt, in die ich hätte nie geboren werden dürfen.
Ich wendete mich von der Tür ab. Plötzlich hörte ich ein stumpfes Geräusch. Als würde Metall aneinander gerieben werden.
Das Türschloss fing an sich zu drehen. Ich lauschte noch ein Mal den Männern auf der anderen Seite des Raumes. Besser verstehen konnte ich sie immer noch nicht. Irgendwas mit... chapitre. Ein Kapitel? Von was? Einer Lektüre? Eines Lebensabschnittes?
Wo wir wieder bei meinem Lebensabschnitt waren, den ich momentan meistern musste, ohne es je gewollt zu haben.
Sie wiederholten sich. Chapitre... chapiteau. Oder sagten sie: „Capture?“
Capturer... sie wollten jemanden... gefangen nehmen?
Das Türschloss klickte jetzt bedrohlich lauter. Das Blut in meinen Ohren rauschte und der Angstschweiß lief mir kalt den Rücken runter. Merde!
Ich griff schnell nach dem Dolch unter meinem Kopfkissen. Mein Hals war trocken und die Zunge klebte mir förmlich am Gaumen fest. Schnell erreichte ich das noch geöffnete Fenster, schwang mich über den Fenstersims raus in die eisig stechende Kälte. Der Absatz war rutschig, denn es hatte noch vor Sonnenuntergang kurz geregnet. Entlang der Dachziegel balancierte ich mich zum nächsten Fenster. Vorsichtig spähte ich hinein, doch ich sah nur die ausdruckslosen Gesichter der toten Männer, die für diese Nacht den Befehl hatten mich zu bewachen.
In meinem Zimmer war ein lauter Knall zu hören. Die Tür schlug mit voller Wucht gegen die Vitrine aus Kirschbaumholz. Gerade sah ich die fremden Männer noch hinein stürmen, da stieß ich das Fenster auf und kletterte hinein in den leeren Korridor. Ohne zu zögern griff ich nach der Lanze, die eine der Leichen benutzt haben musste, um sich zu verteidigen. Ich zog die massive Holztür mit aller Kraft zu und rammte die Lanze durch den Griff bis auf die andere Seite der Wand. Sofort protestieren les porcins lautstark, doch ich ergriff die Flucht, ohne zu hören, was sie riefen.
Meine Füße trugen mich bis zur Treppe, die hinunter in den Haupttrakt führte. Mein Atem ging schnell und meine Lunge versagte. Was war hier nur los? Wer waren diese Männer? Und warum hatten sie es ausgerechnet auf MICH abgesehen?
Ich musste das Büro meines Vaters erreichen. Darauf hatten sie es abgesehen, ich war mir sicher. Und ich musste Jacques finden, so schnell ich konnte. Er wusste sicherlich, wie man an das Relikt gelangen könnte.
Hinter mir hörte ich Schritte, die immer schneller auf mich zu kamen. Ich eilte die Treppe hinunter und nahm dabei immer zwei Stufen zugleich.
Der Saum meines Nachthemdes war getränkt mit dem Schlamm der Dachrinne und meine Füße kalt vom nackten Stein der Korridore. Schließlich musste es so kommen und mein rechter Fuß verhedderte sich im Stoff des Unterrockes. Ich fiel die letzten fünf Stufen hinunter, der Dolch fiel mir aus der Hand und ich schrie erschrocken auf. Der Sturz hatte mich überrascht und ich hatte Panik, dass die Männer, die mich verfolgten, es gehört haben könnten. Der Teppich unter meinen Knien war kratzig und ich stand vorsichtig wieder auf. Dann lauschte ich kurz, wie dicht sie hinter mir waren. Doch ich konnte kein Geräusch mehr vernehmen.
Es war ein Alptraum. Ich wusste nicht wo ich nun entlang gehen sollte. Dabei kannte ich das Fort in und auswendig. Ich war so zerstreut. Links, rechts, gerade aus?
Ich nahm den Dolch wieder an mich und entschied mich für rechts. Viel Zeit zum überlegen hatte ich eh nicht, wenn sie mich verfolgten. Wer auch immer sie waren.
Es war dunkel. Es war still. Warme Tränen rannten mir übers Gesicht. Ich musste Jacques finden. Wo steckte er bloß? Ich betete zu Gott, dass er wohlauf war. Alles andere, worum meine Gedanken noch kreisten, als ich zu Bett ging, schienen mir banal. Es hatte keine Bedeutung mehr. Der Drache im innern meiner Seele schlummerte wieder tief und fest. Irgendwann würde er wieder erwachen.
Doch noch war es nicht so weit. Bald. Jetzt fürchtete ich um mein Leben. Denn ich wusste nicht, welche Ziele diese Männer verfolgten, wie sie hier rein gekommen sein konnten und was sie von mir wollten. Die Templer mussten sie geschickt haben.
„Lá-bas!“, schrien plötzlich dunkle Schatten einige Meter vor mir. Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte wieder zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war. Die schweren Rüstungen der Gestalten schepperten hinter mir wie der Donner eines Gewitters. Meine Lunge stach bei jedem panischen Atemzug den ich machte, um ihnen zu entkommen.
Wieder an der Gabelung des Haupttraktes angekommen, wo sich die Treppe ins obere Stockwerk befand, dachte ich, sie würden mich einholen. Doch gerade in dem Moment kam ein großer und schwer bekleideter Mann um die Ecke. So schnell hatte ich ihn nicht gesehen und prallte mit ihm zusammen.
En retard, sie hatten mich gefasst! Mein ganzer Körper zitterte vor Erschöpfung als der Unbekannte meine Oberarme mit seinem festen Griff umschloss. Zunächst traute ich mich gar nicht, ihm in seine Augen zu schauen, obwohl die Neugier mich packte.
Die Männer hinter mir mussten stehen geblieben sein, denn es herrschte totenstille.
„Geneviéve!“, hauchte mir der Mann mit seinem heißen Atem ins Gesicht. Als ich ihn anblickte, erkannte ich ihn.
„Francois!“ Erstaunt starrte ich in seine dunkelgrauen Augen. Er sah gequält aus. Die Haut auf seiner Stirn war zu Falten gerunzelt. Sein Blick war beschlossen, aber gleichzeitig leer. Als würde er durch mich hindurch sehen.
„Francois! Was ist hier los?“ Meine Stimme klang jetzt fester, als beim ersten Mal. Doch er antwortete mir nicht. Ich lies meinen Blick umher schweifen. Hinter ihm hatten sich diese merkwürdigen fremden Männer aufgereiht, die mich über die Treppe verfolgt hatten.
„Was...“, brach es aus mir heraus. Sein Blick blieb unverändert, nur sein Griff wurde fester. Meine Haut wurde unter seinen Finger immer wärmer und als ich hin sah, drehte sich alles.
Der Stoff war mittlerweile tief rot gefärbt und Francois' Hände waren getränkt von Blut. Starr vor Angst konnte ich mich keinen Millimeter bewegen. Alles was ich spürte war der Schmerz, der in meinen Armen pochte, so feste hielt er mich.
Die nächsten Sekunden vergingen wie eine ganze Ewigkeit, in der meine Augen wie in Trance nur auf das viele Blut fixiert waren.
Die nächsten Worte trafen mich nicht und sie klangen, als hätte jemand durch einen Ballen Wolle zu mir gesprochen. Francois' Lippen bewegten sich wie in Zeitlupe und ich nahm es nur unbewusst wahr.
Seine Worte trafen mich nicht. Sie erreichten mich nicht. Ich ließ den Dolch in meiner Hand zu Boden fallen und es klirrte kurz dumpf.
Und dann wurde es dunkel. Totenstille.
Jetzt wollte ich schlafen. Er war der einzige Mensch, der mich noch hier hielt. Im Stich gelassen von Gott. So fühlte ich mich. Es musste ein Alptraum sein.
Jacques war tot.
Langsam öffnete ich meine Augen. Die warmen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster der Kutsche in mein Gesicht schienen, kitzelten meine Nase. Es war ein schöner Herbsttag und ungewohnt mild für diese Jahreszeit.
Innerlich bereitete ich mich auf alles vor, obwohl ich mich insgeheim freute. Endlich würde ich Jacques wieder sehen. Ich wusste nicht einmal mehr, wie viele Jahre vergehen mussten, bis wir uns endlich wieder in die Arme schließen konnten. Doch das war nun égal. Hauptsache, er würde mich wieder erkennen. So viele Tage, die verstrichen waren. Und jeden einzelnen hatte ich gezählt. Mit der Hoffnung, der Moment möge kommen, dass ich endlich wieder nach Hause zurück kehrte.
Weit konnte es bis zum Fort nicht mehr sein. Vor ungefähr sieben Minuten hatten wir die Altstadt von Lyon hinter uns gelassen und ich sah schon die ersten steinigen Felsvorsprünge aus der Landschaft ragen. Irgendwie war es schon merkwürdig. Auf dem Internat hatte sich viel verändert. Ich hatte mich verändert.
Mit der rechten Hand strich ich mir über den Nacken und fuhr mit den Fingern nach vorne über meinen Hals. Unter ihnen spürte ich die feinen Ausarbeitungen von Gold. Mein Collier. Ich trug es noch. Er durfte nicht sehen, dass ich es stets bei mir hatte und mich auch nicht schämte, es über meinem Dekolleté zu präsentieren. Mit einer Handbewegung öffnete ich den filigranen Verschluss und nahm es ab. Danach ließ ich es vorsichtig in mein Handgepäck gleiten.
Dies war eines der Dinge, welche mir keine Freude bereiteten, wenn ich an meine Rückkehr dachte. Er war der wohl verabscheuungswürdigste Mensch, den es weit und breit in France gab. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, wer ihm so schnell Konkurrenz machen könnte. Ja, oui. Ich hasste meinen Vater. Denn er hatte mich stets so behandelt, wie man seine eigene Tochter niemals behandeln würde. Außer natürlich er. Ich wusste nicht, welche Gründe er dafür hatte. Aber ich wusste, dass Gott keinen Grund sah, sein eigen Fleisch und Blut jemals so zu verachten. Außer dieser Mensch hätte eine Sünde begangen, die unverzeihlich wäre. Wie zum Beispiel... Mord.
D'accord! Das musste es wohl sein. Ich war eine eiskalte Mörderin und hatte es nicht verdient, zu leben. Stattdessen hätte sie es gesollt. Und ich schamloses und skrupelloses Ding hatte sie viel zu früh dieser Welt entrissen und sie an unseren Herrn übergeben.
Ich war nicht mal einen Augenblick geboren, da verstarb meine Mutter. Sie hatte ihr Leben für mich gegeben. Jacques sagt, weil sie mich so liebte. Schon als sie mich noch in ihrem Leib trug. Und sie wünschte sich nichts mehr, als eine gesunde Tochter. Und für diese opferte sie sich. Aus Liebe.
Und dafür verabscheute mich mein Vater. Als ich noch ein junges Mädchen war, da hatte er sich immer wiederholt. Wie sehr ich meiner Mutter doch ähnelte. Und er schob mich ab auf ein Internat, um mich nicht mehr ertragen zu müssen. Anfangs, da kehrte ich noch jeden Sommer nach Hause zurück. Doch seit ich vierzehn wurde, unterband er auch dies.
Dabei waren die Ferien hier stets ein Abenteuer. Als Kinder spielten wir immer außerhalb des Anwesens auf den Feldern. Heute hat sich ein Fort um das ehemalige Anwesen Dupont geformt. Wie aus einem alten Felsen gemeißelt. Aus dem anderen Fenster der Kutsche konnte ich es schon erkennen. Nur noch wenige Minuten, dann wären wir da. Gerade in dem Moment fuhren wir an einer sehr alten und kaum noch erkennbaren Ruine vorbei. Dort hatten wir immer verstecken gespielt. Ich, zusammen mit Jacques und Francois. Ich erinnerte mich noch genau. Und Francois konnte nie verlieren. Er war immer sehr wütend, wenn wir ihn gefunden hatten. Allerdings muss ich dazu sagen, dass seine Verstecke auch nie besonders einfallsreich waren. C'est la vie.
Die Männer, die das Haupttor bewachten, waren dunkel gekleidet und trugen schwere Rüstungen. An jedem ihrer Arme hatten sie metallene Armschützer, in denen sich jeweils eine Klinge verbarg. Ihre Gesichter hüllten sie in einen königsblauen Umhang und man erkannte nur die Gesichtspartie um ihre Münder herum. Als die Kutsche stehen blieb, kam einer der Männer näher und murmelte dem Kutscher etwas zu. Ich konnte kein Wort verstehen, aber als er eine Antwort bekam, zog er sich wieder zurück. Mit einer Handbewegung machte er den Wachen innerhalb des Forts klar, das Tor zu öffnen. Mein Herz pochte wild in meiner Brust zu einer Melodie, die ich nicht kannte. Sie klang bedrohlich, gerade zu ängstlich. Sie zu ignorieren war unmöglich.
Mit einem Ruck hob sich das Eisengitter und sie gewährten uns Einlass. Der Kutscher spannte erneut die Zügel und trieb die Pferde an, sich in Bewegung zu setzen. Dann machte der Wagen einen Satz nach vorne und die Räder drehten sich wieder.
Nervös strich ich meine Hände über den Schoß. Sie waren ganz schwitzig. Und mir schossen die wildesten Gedanken durch den Kopf. Warum durfte ich nach vier Jahren wieder in meine Heimat zurück kehren? Welche Gründe hatte er, mich aus diesem Gefängnis der Vernunft zu befreien, in dem ich mich seit meinem vierzehnten Lebensjahr hatte quälen müssen? Diese Zucht und diese Ordnung, die dort herrschte. Ich hatte mich nur schwer getan, mich danach zu richten. Also hatte ich beschlossen, es nicht zu tun. War das der Grund? Hatten die Schwestern im Internat sich über mich beschwert? Bin ich sogar vielleicht raus geschmissen worden? Dann hätte mein Plan funktioniert, denn ich wollte nichts sehnlicher als wieder nach Hause. Und nach Hause bedeutete für mich nicht das Fort oder das Anwesen. Mit Nichten bedeutete es mein Vater. Non, Jacques war für mich mein Zuhause. Und gleich durfte ich ihn in meine Arme schließen, so hoffte ich.
Innerhalb der Mauern schien die Gilde meines Vaters ihren gewohnten Tätigkeiten nach zu gehen. Einige Botschafter verließen gerade das Hauptgebäude und taten sich recht wichtig mit ihren aufgeblasenen Hüten. Neugierig starrten sie in die Kutsche. Ich drehte mich abrupt weg.
Auf der anderen Seite trainierten einige Männer ihre Fertigkeiten mit dem Schwert. Fasziniert beobachtete ich sie, als wir plötzlich stehen blieben. Der Kutscher stieg ab und machte sich daran, mein Gepäck vom Dach zu hieven. Meine Finger umschlossen die Klinke der Wagentür und mit Vorsicht drückte ich sie runter. Als wäre sie eher eine Mausefalle und ich hätte Angst, dass sie zu schnappt. Draußen war es kälter als gedacht und der Wind wehte mir um die Ohren. Ich stieg aus und schlang die Arme um meinen Körper, um mich selber ein bisschen zu wärmen. Mittlerweile hatte der ausländisch aussehende Mann, der mich hier her gebracht hatte, alle Koffer entladen und wechselte ein paar Worte mit dem Hauptmann. Dann verschwand dieser wieder in der Kaserne und der Kutscher bereitete sich auf die Abfahrt vor. Erstaunt erkundete ich die Umgebung. Es hatte sich viel getan und ich meinte auch mehr Assassinen ihren Aufgaben nachgehen zu sehen, als noch vor vier Jahren. Eine Traube von Gestalten näherte sich mir aus der Richtung, in der die Kaserne stand. Allmählich erkannte ich, wer dieser Gruppe voraus lief.
„JACQUES!“, rief ich aus voller Kehle und eilte ihm entgegen. Dabei nahm ich meinen Rock in die Hand, um nicht darüber zu stolpern. Jetzt streckte er seine Arme aus und strahlte förmlich übers ganze Gesicht.
„Ma petite soeur! Meine kleine Schwester, du bist endlich wieder Zuhause!“ Sogleich erreichte ich ihn und schloss ihn in meine Arme. Er war schön warm und drückte mich herzlich an sich. Ich musste mich zusammen reißen, nicht gleich zu weinen vor Freude. Wir ließen voneinander ab und sahen einander an.
„Du hast dich kein bisschen verändert.“, sagte ich zu ihm und musterte ihn dabei von oben bis unten. Er erwiderte: „Du dich dafür um so mehr.“ Dabei fuhr er mir durch mein goldenes Haar und zerrieb eine einzelne Strähne mit seinen Fingerspitzen.
„Du erinnerst mich so sehr an Mutter. Du siehst ihr immer ähnlicher, weißt du das eigentlich? Du hast die gleichen großen, braunen Augen.“, schwärmte er. Es war mir unangenehm, dass er mich mit ihr verglich. Das sollte das Zusammentreffen mit meinem Vater nicht gerade angenehmer gestalten. Ich versuchte unser Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. „Genug von mir. Erzähl mir mon frére, wie geht es dir? Wie ist es dir all die Jahre ergangen? Ich habe dir so oft geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten!“
Er seufzte verlegen. „Ah, oui... Papa verbat es.“ Dabei zuckte er ahnungslos mit den Schultern. „Frag nicht, warum. Ich glaube, das gehört zu deiner Ausbildung.“
Ich konnte nicht anders als verächtlich zu schnauben. Ausbildung. Sicherlich wollte er mich zu einer Assassine ausbilden, indem er mich nach Paris in eine Mädchenschule steckte und nicht mal mehr in den Sommermonaten nach Hause kommen ließ. Mein Bruder war einfach so naiv, geblendet von der Überzeugungskraft meines Vaters. Er machte sich doch tatsächlich vor, Vater würde mich genau so lieben wie ihn. Seinen Erstgeborenen. Seinen einzigen leiblichen Sohn. Dem er die Nachfolge als Mentor und Heerführer dieser Gilde zu sprach. Connerie!
„Ach komm Schwesterherz. Jetzt bist du endlich wieder Heim gekehrt und wir haben so viel nach zu holen. Francois und ich bringen dir schon ein paar Dinge bei, um dich gegen Räuber verteidigen zu können!“, scherzte er und klopfte mir dabei auf die rechte Schulter. Genauer betrachtet wirkte sein Gesicht sehr müde und abgehetzt. Sein Kinn zierte eine ziemlich frische Wunde, die erst ein oder zwei Tage alt sein musste.
„Francois? Ist er auch hier?“, erkundigte ich mich nach dem besten Freund meines Bruders. Sie kannten sich seit Kindertagen und mein Vater nahm ihn damals bei uns auf, als das Waisenhaus in Lyon geschlossen wurde. Da waren er und Jacques dreizehn und ich gerade mal sechs Jahre alt. Seitdem ist er für meinen Vater so etwas wie der zweite Sohn, den er nie hatte. Und er bildete ihn genauso aus, wie er es bei meinem Bruder tat. Mir blieb dieses Privileg vorenthalten.
Jacques murmelte nur: „Bien sûr.“ Dabei schaute er sich nervös um. Irgendetwas ging hier vor, von dem mich bisher keiner in Kenntnis gesetzt hatte. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Wir sollten nun rein gehen. Papa erwartet dich bereits. Es gibt sicherlich viel zu bereden.“ Das letzte Wort murmelte er nur noch. Sicherlich nicht die überzeugendste Taktik, etwas zu überspielen, aber um mich zu täuschen musste Jacques schon früher aufstehen. Er drehte sich um und steuerte auf das Hauptgebäude zu. Dort befanden sich das Büro meines Vaters und der Konferenzsaal. In einem von beiden Räumen würden wir ihn bestimmt antreffen. Die Männer, die mit meinem Bruder gekommen waren, begleiteten uns bis in den Haupttrakt. Erst jetzt bemerkte ich, dass zwei von ihnen mein Gepäck trugen. An der großen Gabelung, im Herzen des Gebäudes, verließen sie uns und trugen die schweren Taschen die Treppe hinauf in den ersten Stock. Jacques wählte den linken Korridor, welcher zu dem Büro des Mentors führte. „Mon frére...“, begann ich vorsichtig meine Stimme zu erheben. Er drehte sich während des Laufens zu mir um und lief fortan neben mir. Fragend forderte er mich mit seinem Blick auf, weiter zu sprechen. „Bist du wirklich der Meinung, dass er mich zurück nach Hause geholt hat, um mich endlich zur Assassine auszubilden?“ Meine Worte hatte ich bedacht gewählt und ich war gespannt auf seine Reaktion. Doch er wendete sein Gesicht nur von mir ab und starrte schweigend geradeaus. Der Flur war lang und machte eine sichelförmige Biegung, während man ihn durchschritt. Mittlerweile konnte man aber schon von weitem die Tür des Büros erblicken. Ich konnte mir einen langen, gequälten Seufzer nicht verkneifen und plötzlich blieb Jacques stehen. Auch ich hielt an und blickte ihn misstrauisch an. Er wusste etwas und wollte es mir partout nicht sagen. Mit seinen warmen Händen fasste er mich sanft an den Schultern und flüsterte nur: „Alles wird wieder gut, das verspreche ich dir.“ Dann ließ er wieder los und lächelte mir aufmunternd zu. Gerade, als ich etwas sagen wollte, hörten wir die Tür des Büros aufgehen. Mechanisch drehten wir uns beide in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Aus dem Raum trat ein großer muskulöser Mann. Er war schwer bekleidet und trug ein Schwert bei sich, welches eine vergoldete Klinge hatte. Als er auf uns zu kam, zupfte er seinen linken Ärmel zurecht. Dabei sah man eindeutig eine große verblasste Narbe, die fast gänzlich um seinen Daumen herum führte. Sobald er das erste Fenster erreicht hatte, schien Licht von draußen auf sein Antlitz. Erst jetzt erkannte ich den kahlköpfigen Mann.
„Francois!“, rief ich ihm zu. Sofort grinste er breit und trat vor uns. Ohne zu zögern ging ich auf seine Umarmung ein. Das Eisen seiner Rüstung war kalt und mir fröstelte es ein wenig. „Wie schön, dich endlich wieder zu sehen.“, sagte ich über seine rechte Schulter hinweg. Er ließ von mir ab und nahm meine rechte Hand. Mit einer leichten Verbeugung küsste er sie zärtlich und strich behutsam mit seinem Daumen über die Stelle, die vorher seine Lippen berührt hatten. Mir war das Ganze äußerst unangenehm und mein Kopf wurde ganz heiß. Bestimmt waren meine Wangen vor lauter Peinlichkeit schon rot angelaufen. „Mademoiselle Geneviéve, ich bin hoch erfreut.“, schwafelte er und richtete sich wieder auf. Das sollte wohl alles ein schlechter Scherz von den beiden sein. Allerdings sah ich aus dem Augenwinkel, dass mein Bruder ganz und gar nicht zu Späßen aufgelegt war. Seine Miene war ausdruckslos und ernst. Fast schon beängstigend. Ich konnte mir darauf keinen Reim machen.
„Wie war eure Reise? Ich hoffe ihr seid gut angekommen?“ Interessiert musterte er mich von meinem Hut bis hin zum Saum meines Kleides. Mir war diese Situation nicht geheuer. In seinen Augen sah ich etwas wie... Erstaunen. Allgemein hatte er sich sehr verändert. Er war ein stattlicher und attraktiver Mann geworden. Von dem sonst so schüchternem und tollpatschigem Jungen von früher war nichts mehr zu sehen. Die Frauen mussten Schlange stehen, um seine Gunst zu erwerben. Ich beschloss, höflich zu bleiben und meine Unsicherheit mir nicht anmerken zu lassen. Ich antwortete: „Sie war sehr angenehm, danke der Nachfrage.“ und zog meine Hand zurück, welche er immer noch fest gehalten hatte. Dabei nickte ich ein Mal kurz mit dem Kopf und lächelte freundlich. Wenn es Gott doch nur gut mit mir meinen würde und mich aus dieser misslichen Lage befreien würde. Doch unserem allmächtigen Herrn stand es wohl heute nicht im Sinn, peinlich berührte Mademoiselles aus ihrer Misere zu befreien. Francois beobachtete jede meiner Bewegungen ganz genau, seien sie auch noch so klein. Nach einer Weile wandte er wieder seine Worte an mich: „Ihr seid noch viel reizender, hübscher, als in meinen Erinnerungen. Verzeiht mir, dass ich so kühn bin und es einfach ausspreche, aber ihr habt euch zu einer wunderschönen jungen Frau verändert.“ Ich wollte vor Scham am liebsten im Erdboden versinken. „Ah, merci, Francois...“, stammelte ich unbeholfen. Nervös schaute ich zu meinem Bruder rüber und hoffte, er würde mir helfen. Aber er sah gar nicht erst hin, sondern blickte stur aus dem Fenster. „Aber...“, setzte ich erneut an und sah wieder zu Francois. „Seit wann diese Förmlichkeit? Schließlich spielten wir schon als Kinder zusammen.“
„Gewiss.“, murmelte dieser. „Aber das scheint mir nicht mehr angemessen, für eine solche beauté.“ Es sah fast so aus, als hätte er den Drang, erneut meine Hand zu greifen. Unbeholfen verschränkte ich meine Arme vor der Brust und Francois setzte ein verdutztes Gesicht auf. Diesem Mann entging auch nichts. „Mir ist etwas kühl heute.“, entschuldigte ich mich. Ein sehr bemitleidenswerter Versuch, aber er war es Wert. Sofort erntete ich den Preis für meine Lüge. Er nahm unweigerlich seinen Umhang ab und legte ihn mir über die Schultern. Der dunkelblaue Stoff war sehr hochwertig und das war so ziemlich das einzig positive, dass ich dieser Situation entnehmen konnte. Während er ihn mir umlegte, kam sein Gesicht meinem gefährlich Nahe und ich hielt die Luft an. Sein heißer Atem streifte meine Wange und mir lief ein Schauer durch den Körper. Verlegen schaute ich zu Boden und erblickte kurz Jacques' Miene. Er hatte sich uns zu gewandt und sah ziemlich wütend aus. „Je vous en prie.“, säuselte Francois mir lieblich ins Ohr. Ich flüsterte nur: „Merci.“ und meine Stimme versagte.
Was wurde hier gespielt? Ich wartete sehnsüchtig auf den Moment, in dem beide anfingen zu lachen und ich mir sicher sein konnte, auf einer ihrer Scherze rein gefallen zu sein. Aber meine Hoffnungen verliefen sich im Sand und Jacques trat auf Francois zu, packte ihn an der Schulter und sah ihn eindringlich an. Diese stille Konversation zwischen den beiden Freunden zu deuten entzog sich meines Verstandes. Nach einem kurzen Moment, der für mich eine Ewigkeit zu sein schien, lösten sie sich aus ihrer Starre und Francois verneigte sich erneut vor mir. Meine Hände hatte ich dabei an seinem Umhang geklammert, sicher vor seinem Griff. „Ich empfehle mich, Mademoiselle.“, waren seine Worte und er ging in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Doch nicht ohne mir noch ein Mal mit seinen dunkelgrauen Augen in die meinen zu blicken.
Froh, dass er endlich weg war, wollte ich von meinem Bruder eine Antwort haben, was hier eigentlich ablief. Allerdings setzte er seinen Weg in Richtung Büro einfach fort ohne mich eines Blickes zu würdigen. Das alles gefiel mir ganz und gar nicht. So kannte ich die beiden nicht. Zwischen ihnen lag Spannung in der Luft, als Francois sich verabschiedete. Und sie hatten auch kein einziges Wort miteinander gesprochen. Sie waren doch beste Freunde. Brüder im Geiste. Seit klein auf. Ich wollte nicht, dass sie solch große Differenzen hatten, dass sie für Außenstehende schon aussahen wie zwei alte Rivalen.
Nun waren wir an der Tür zum Büro meines Vaters angekommen. Mein Puls stieg und mir wurde ganz warm. Ich nahm den Umhang, den Francois mir gab, ab und legte ihn ordentlich über meinen rechten Arm. Jacques klopfte zwei Mal kurz, ein Mal lang und dann wieder zwei Mal kurz. Das war wohl so etwas wie ein geheimes Klopfzeichen.
„Entrez!“, rief eine dunkle Stimme von drinnen und er öffnete die Tür.
Im Büro meines Vaters hatte sich nicht viel verändert. Waffenkonstruktionen und mathematische Berechnungen hingen an der linken Wand, sortiert nach dem jeweiligen Datum der Anfertigung. In der Mitte des Raumes ein runder Tisch, mit Figuren zur Darstellung verschiedener Angriffsstrategien. Einige von ihnen anders farbig als der Rest. Am Ende des Raumes ein massiver Schreibtisch aus Eichenholz, nach Maß angefertigt von einem Schreiner aus Roma. Der Teppich, auf dem wir standen, handbestickt aus Persien importiert. Er erstreckte sich über die ganze Fläche des Büros. Und hinter dem Schreibtisch hing ein Gemälde, imposant in einem aus Gold gegossenem Rahmen eingefasst. Das Motiv wohl noch schöner und wertvoller, als all die Gegenstände in diesem Raum zusammen. Es zeigte meine verstorbene Mutter.
Lange konnte ich es nicht ansehen. Es brach mir das Herz und vor Allem brachte es mir sicherlich Ärger mit meinem Vater ein, wenn ich es anstarrte. Ihre goldblonden Haare reichten ihr bis zur Hüfte und waren zu einem romantischem Zopf gebunden. Ihre mandelförmigen braunen Augen strahlten und das rubinrote Kleid, dass sie trug, wirkte viel zu knallig im Vergleich zu ihrer elfenbeinfarbigen Haut. Ich war fast gänzlich eine exakte Kopie von ihr.
Beschämt blickte ich zu Boden. Ich allein war der Grund, warum sie nicht mehr lebte. Mit dieser Schuld würde ich nie inneren Frieden mit mir selbst schließen können.
Vater hatte bis dahin aus dem Fenster geblickt. Nun kam er direkt auf uns zu, seinen Blick fest auf mich gerichtet. Sacrebleu, ich hatte immer noch so viel Angst vor ihm, wie ich es schon als kleines Mädchen gehabt hatte.
„Fille.“, sagte er und blieb vor uns stehen. Respektvoll verneigte ich mich vor ihm. Aus Angst, seinen Zorn zu spüren zu bekommen, hielt ich meinen Blick immer noch gesenkt. Er machte keinerlei Anstalten, mich zu umarmen. Streng fixierte er mich und hatte dabei seine Hände hinter seinem Rücken gefaltet. Kein bisschen hatte er sich verändert.
„Bonjour Pére.“, antwortete ich ihm, fast schon zwanghaft. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Schreibtisch. Stumm folgte ich ihm. Er streckte seinen Arm in Richtung Sessel aus und machte mir damit klar, dass ich mich setzen sollte. Darauf hin nahm ich Platz und legte den Umhang sorgfältig auf meinen Schoss. Jacques blieb währenddessen auf der gleichen Stelle stehen und machte den Eindruck, als erwartete er einen Befehl von meinem Vater. Die Tatsache, dass er zugleich Vater und Mentor für meinen Bruder war, ließ ihn noch mehr Druck auf Jacques ausüben. Gespannt schaute ich zu ihm hin, doch noch immer sah er mich nicht an. Seit der Begegnung mit Francois mied er jeglichen Augenkontakt. „Du darfst gehen.“, befahl mein Vater ihm und Jacques verbeugte sich kurz. „Merci, Papa. Ich empfehle mich.“ Wie einen Aufsatz sagte er die Worte auswendig auf und machte kehrt, um den Raum zu verlassen. Zu oft hatte er diesen Satz wohl schon wiederholt. Normalerweise hätte ich ihm hinter her gerufen. Antworten gefordert. Wäre eventuell sogar aufgesprungen und ihm nach gelaufen. Aber in Gegenwart meines Vaters traute ich mich gerade mal zu Atmen. Die Tür fiel ins Schloss und Jacques war verschwunden. Jetzt waren wir allein. Langsam drehte ich mich wieder zu meinem Vater und legte meine Hände auf mein Gesäß. Nervös spielte ich mit einer Falte im Stoff des Umhangs. Wenn ich recht bedachte, war mir die Situation mit Francois dann doch lieber. Egal, wie lange er mir meinen Arm abgeschleckt hätte.
Schließlich begann mein Vater zu reden: „Die Schwestern im Internat haben mir einen Brief zukommen lassen. Du hast nicht gerade das beste Benehmen an den Tag gelegt, ließ ich mir sagen. Hast du dafür eine Erklärung, Geneviéve?“ So etwas hatte ich mir schon gedacht. Sie hatten mich raus geworfen. Wegen mangelndem Benehmen. Mein Vater hatte sich nun mir zugewandt.
„Excusez-moi, pére.“, fing ich meine Erklärung an. „Ich bin zutiefst beschämt, ich wollte euch nicht kränken. Es ist mir wohl nicht leicht gefallen, mich dort an die Vorschriften zu halten.“ Ich setzte einen unschuldigen Blick auf. Ungläubig schüttelte er den Kopf und zu meiner Verwunderung schien er nicht erzürnt. „Gewiss.“, stellte er fest. „Wie hätte ich es auch anders von dir erwarten können.“ Er ließ den Satz mit einer Gleichgültigkeit durch den Raum klingen, welche mir schon fast das Gefühl von Enttäuschung vermittelte. Hatte ich ihn wirklich lieber erzürnen wollen, anstatt seinen Anforderungen gerecht zu werden? Das hätte mir unter normalen Umständen eine Menge Ärger eingebracht. Doch es schien ihn nicht weiter zu kümmern. „Ich verlange von dir, dass du dich zukünftig auch wie eine Dupont benimmst und unseren Familiennamen nicht mehr in den Dreck ziehst, compris?“ Fordernd sah er mich an. „Oui, Vater.“, sagte ich zu ihm und sah ihn kurz an. Dann fixierte ich meinen Blick erneut auf einen der Gegenstände auf seinem Schreibtisch. Er antwortete nur: „Bien.“ und setzte sich auf seinen Stuhl. Er hatte immer noch das fahle und ernste Gesicht, wie das letzte Mal, als ich ihn sah. Sein leicht welliges Haar war nur noch grauer geworden und um seine Augen hatten sich tiefe Ringe gebildet. Um seine Mundwinkel war die Haut noch schlaffer und faltiger geworden und seine spitze Nase wirkte noch blasser, als sonst. Jacques ähnelte ihm mehr als ich, doch auch er hatte blondes Haar, wie einst unsere Mutter. Mein Vater hatte dunkles Haar gehabt, fast schon rötlich. Aber die Augen, die hatte er an Jacques weiter gegeben. Sie waren kräftig blau und strahlten im Sonnenlicht. Doch von diesem Glanz war in den Augen meines Vaters nichts mehr zu sehen. Er wirkte alt und müde. Fast hätte ich Mitleid mit ihm gehabt, wenn seine Worte nicht nach wie vor so bestimmend und autoritär gewesen wäre.
„Nun gut.“, erhob er seine Stimme. „Deswegen habe ich dich nicht zurück befohlen.“ Meine Gedanken verstummten sofort und neugierig lauschte ich seinen Worten. „Es steht ein besonderer Anlass bevor.“ Wieder machte er eine Pause und die Spannung stieg. Wenn er mich nicht zurück geholt hatte, weil die Schwestern mich nicht mehr im Internat haben wollten: Wieso hatte er dann das Verlangen, mich hier in seiner Gilde zu begrüßen? Noch sprach er nicht weiter. Seine Gedanken schienen in weite Ferne zu schweifen. Ich war kurz davor, ihn an zu sprechen, traute mich dann aber doch nicht. Lieber wartete ich die Weile ab, bis er wieder sprach. Bevor er mir diese wichtige Information, die ich brauchte, noch vorenthielt. Vielleicht würde das ja erklären, wieso Jacques nach dem Treffen mit Francois so reserviert zu mir war. Wieso Francois sich aufführte wie ein dressierter Pudel. Und was die beiden auf einander so wütend machen lies. Nach einem tiefen Atemzug sprach mein Vater weiter. „Ich bin schon lange nicht mehr so aktiv, wie ich sein müsste, um Mentor dieser Gilde zu sein.“, sprach er mehr zu sich selbst, als zu mir. „Und dein Bruder ist wirklich ein begabter Assassine. Er ist scharfsinnig und intelligent. Er war jetzt lange mein erster Offizier. Ich machte ihn schon mit siebzehn zu meinem Gehilfen, meiner rechten Hand, wenn du so willst. Das ist jetzt bereits sieben Jahre her.“ Mein Vater ließ seine Gedanken wieder schweifen und legte eine Pause ein. Ich ahnte, was jetzt kommen sollte, doch verstand ich nicht recht. Was hatte das mit mir zu tun? Sollte Jacques Recht behalten? Hatte mein Vater tatsächlich vor, mich endlich in die Geheimnisse und Gepflogenheiten eines Assassinen einzuweihen? Mein Herz hüpfte vor Freude, dass es schon schmerzlich war. So aufgeregt wie in diesem Moment war ich noch nie gewesen. Er hatte mich nicht Heim geholt, weil sie mich im Internat abgelehnt hatten. Er war nicht wütend gewesen, als er von meinem miserablen Benehmen dort erfuhr. Deswegen hatte Francois mich plötzlich wie eine Madame behandelt. Ich sollte nun endlich das sein, was ich mir immer gewünscht hatte. Eine Assassine. So wie Vater und Großvater und Urgroßvater es vor mir waren. Meine Gedanken überschlugen sich. Das heimliche Training mit Jacques von früher hatte sich also gelohnt. Die Grundlagen beherrschte ich bereits. Ich würde meinen Vater zum ersten Mal mit Stolz erfüllen. Genau das war es, wozu ich fähig war. Zu kämpfen.
Mein Vater beendete seine Pause und fuhr fort: „Morgen ist die Zeremonie, ihn zu meinem Nachfolger zu ernennen. Er wird nun der neue Mentor der Assassinengilde von Lyon.“ Seine Brust war dabei geschwellt vor Stolz. „Das ist so großartig!“, platzte es aus mir heraus. „Ich freue mich so für Jacques! Das hat er mit keinem Wort erwähnt.“
Stille erfüllte den Raum. Eindringlich sah mein Vater mich an. Sofort hielt ich ein. „Er weiß es auch noch nicht.“, sagte er. „Nur du und Francois wisst davon.“ Damit wurde mir klar, warum er es mir nicht erzählt haben konnte. Das erklärte aber nicht, wieso Jacques so feindselig gegenüber Francois war. Welche Gründe hatte er? Na, vielleicht war das auch eine Sache zwischen den beiden. Und selbst mein Vater hatte keine Kenntnis darüber, was bei ihnen vor sich ging. Möglicherweise ging es mich auch nichts an und ich sollte mich nicht einmischen.
„Ich möchte auch, dass es weiter so bleibt. Er soll davon nichts erfahren. Ich erwarte äußerste Diskretion, Geneviéve. Wäre das ausnahmsweise nicht zu viel verlangt?“, fragte mein Vater. Ich nickte beschlossen und antwortete nur: „Oui, Pére.“
Dann stand er auf und ging im Zimmer umher. Ich blieb sitzen und wartete auf den Befehl, dass ich nun auspacken gehen durfte. Schon großzügig genug, dass ich zurück kommen durfte, um bei der Ernennung zum Mentor meines Bruders dabei zu sein. Möglicherweise war es ja auch gleichzeitig eine Überraschung, dass er mich zur Schülerin ernannte. Doch das Gespräch war noch nicht beendet. „Deswegen war Francois vorhin bei mir. Ich betreute ihn mit den Vorbereitungen für die Zeremonie. Selbstverständlich wird er der neue erste Offizier des Mentors.“, lies er anklingen. „Du hast ihn sicher im Flur getroffen, non?“ Verwundert blickte ich meinen Vater jetzt an. Woher wusste er das? Diese Frage schoss mir durch den Kopf. Bevor ich jedoch fragen konnte, war er sich meiner Zweifel bewusst.
„Dies ist doch sein Umhang, nahm ich an.“, sagte er und deutete auf den Haufen Stoff auf meinem Schoss. Sûre, den Umhang hatte ich ganz vergessen. Ich nickte nur verlegen und schaute wieder weg. Es war eigenartig, aber meines Vaters Lippen umspielte ein kleines Lächeln. Ich wollte mir nicht so sicher sein, aber es machte wirklich den Anschein, als gäbe es da noch eine Sache, die mich betraf. Und die er und Francois wussten und mir verheimlichen wollten. Wobei mein Vater immer weiter sprach, sodass ich das Gefühl nicht los wurde, es gleich noch zu erfahren. „Weißt du, wir haben lange gesprochen.“, gab mein Vater zu. „Vor Allem über dich und deine Zukunft.“
Es war so weit! Magnifique! Gleich würde er mir sagen, dass meine Ausbildung beginnen würde. Aber warum Francois? Sollte er das nicht lieber mit Jacques besprechen? Sollte er nicht mein Lehrer werden? Wobei, das lag ja auf der Hand. Jacques würde als Mentor dafür keine Zeit haben. Und mein Vater wollte seine Tochter eben nur jemandem anvertrauen, von dessen Fähigkeiten er voll und ganz überzeugt ist. Gespannt lauschte ich weiter seinen Worten. „Wir beide sind der Ansicht, dass du so weit bist. Du wirst bald achtzehn, mon fille. Schon fast überfällig, dass es passiert.“ Vor lauter Freude konnte ich kaum noch an mich halten. „Vater, ich kann es kaum glauben. Warum habt ihr euch endlich dazu entschlossen?“
„Oh.“, machte er ganz erstaunt. „Ich wusste gar nicht, dass du so darüber denkst.“ Er blieb neben dem Schreibtisch stehen und sah mich mit einem Blick an, den ich so noch nie bei ihm gesehen hatte. „Um ehrlich zu sein, hat mich Francois auf die Idee gebracht. Ich selber wäre von alleine nie darauf gekommen.“ Mit zufriedenem Blick sah er zu mir hinab. Das erklärte nun alles. Warum Francois vorhin so merkwürdig zu mir war. Ich hatte ihm viel zu verdanken, jetzt da er mich als Schülerin für sich vorgeschlagen hatte. Wie konnte ich die Schuld nur je begleichen, nachdem er mir das ermöglicht hatte, wovon ich schon immer geträumt hatte? „Wann findet die Zeremonie statt, Vater?“, drängte ich ihn.
„Nun...“, sagte er. „Immer mit der Ruhe, mein Kind. Erst mal findet morgen die Zeremonie deines Bruders statt. Deine wird erst einmal etwas warten müssen.“ Enttäuscht drehte ich meinen Kopf zur Seite. Er bemerkte dies und fügte hinzu: „Francois ist ein viel beschäftigter Mann. Erstmal müssen sich meine Männer mit der neuen Führung zurechtfinden. Dann kommst du an der Reihe.“, versprach er mir. Meine Augen strahlten nur so vor Freude und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Merci, Vater.“, bedankte ich mich aufrichtig bei ihm. Plötzlich klopfte es an der Tür. Mein Vater gab den Befehl, einzutreten und es war Francois, der das Büro betrat. Automatisch erhob ich mich aus meinem Sessel, um ihn höflich zu begrüßen. Ich war ihm zu unendlichem Dank verpflichtet. Dabei fiel mir der Umhang zu Boden. Ich hatte mal wieder nicht an ihn gedacht. „Nicht doch.“, murmelte er und eilte auf mich zu, um den Umhang aufzuheben. „Ist euch jetzt wärmer, Mademoiselle?“, fragte er und nahm den Umhang wieder an sich. „Äh...“, machte ich und nickte nur kurz mit dem Kopf. Dann drehte er sich kurz um, damit er die Tür schließen konnte. Anschließend verneigte er sich vor meinem Vater. Herzlich begrüßte mein Vater ihn: „Francois, gerade sprachen wir von euch.“
„Ach...“, fing dieser an und ließ den Satz in der Luft hängen. Mein Vater erwiderte: „Oui, oui. Ich hätte gedacht, es wäre viel schwieriger, sie zu überzeugen. Ihr wisst doch, wie stur sie immer ist.“ Dabei nickte er mit dem Kopf in meine Richtung. „Ihr habt sicher einiges zu bereden. Schließlich gibt es noch viel, dass ihr für die Zeremonie planen müsst.“
Ich war total aufgekratzt. Er war noch nicht fertig: „Am besten geht ihr etwas spazieren. Ich nehme an, ein wenig Luft tut dir gut, Geneviéve?“ Jetzt wandte er sich direkt an mich. Ich konnte nichts sagen, so gelähmt war ich. Wieder nickte ich nur kurz.
„Seht ihr.“, sagte mein Vater. „Sagte ich es euch nicht? Sie ist ganz sprachlos.“ Er strahlte jetzt richtig gegenüber Francois. Doch dieser sah merklich skeptisch aus. Wieder machte er nur ein zustimmendes Geräusch und ließ meinen Vater weiter reden. „Na los, nun geht schon. Lasst euch nicht von so einem alten Mann wie mir aufhalten.“
Jetzt fing das ganze an merkwürdig zu werden. Meine Freude schlug ebenfalls in Skepsis um. Doch ich befolgte die Worte meines Vaters und stand auf. Francois blickte mich fragend an und ich runzelte die Stirn. Es hatte den Anschein, als fragte er mich nach... Zustimmung. Immer noch verdutzt blieb ich vor ihm stehen und er streckte mir seine Hand entgegen. Seine Handfläche zeigte dabei nach oben und er gab mir zu verstehen, seine Hand zu nehmen.
Was...?
Zögernd legte ich meine zarten Finger in seine raue Hand, da mein Vater uns genaustens beobachtete. Liebevoll umschloss er sie und streichelte erneut meinen Handrücken, so wie er es bei unserer Begrüßung schon getan hatte. Danach zog er mich ein bisschen näher an sich und ließ unsere Hände sinken. Meine Hand befand sich immer noch in seiner. Er war ziemlich kräftig, was nicht verwunderlich war. Unter seiner Rüstung wirkte er ziemlich muskulös. Panik stieg in mir auf. Was ging hier vor sich?
Francois sah mich merkwürdig an. Es war eine Mischung aus Zufriedenheit und Ungläubigkeit. Ich konnte ihn nicht weiter anschauen und blickte verzweifelt weg. Dabei trafen sich die Augen meines Vaters mit meinen. Er bemerkte sofort meine Unsicherheit und sagte: „Ich verstehe, es ist euch ein wenig unangenehm vor mir. Keine Sorge.“ Mir war ganz heiß im Gesicht, meine Wangen mussten glühen. „Nun lasse ich euch ein wenig Zeit, über alles zu sprechen. Ich denke Jacques wird sich wieder beruhigen, wenn er sieht, wie glücklich ihr miteinander seid.“
WAS?! Wenn was? Wenn...? Meine Gesichtsfarbe wechselte innerhalb von Sekunden von rot auf kreidebleich. Ich begann zu zittern. Francois lächelte mir aufmunternd zu und ich ahnte schlimmes. Zusammen gingen wir zur Tür, um das Büro meines Vaters zu verlassen. Nach wie vor ließ er meine Hand nicht los. Noch ein letztes Mal wandte mein Vater sich an mich: „Geneviéve.“, fing er an. „Erst war ich erstaunt, als Francois mich um deine Hand bat. Ich wusste ja nicht, wie es um euch steht. Doch jetzt sieh dich an. Endlich sehe ich dich ein Mal glücklich, wenn auch beschämt, vor deinem alten Vater deine Liebe offen zu zeigen. Du wirst Francois eine gute Frau sein.“, sagte er bestimmt. Ich war mir nicht sicher, ob ich gerade der erste Mensch war, dem es gelungen war, rückwärts zu atmen. Doch ich bekam keine Luft mehr. „Und du wirst ihm sicher viele gesunde Kinder schenken.“, setzte er drauf. Francois lächelte verschmitzt und verbeugte sich kurz vor meinem Vater. Als wir das Büro verließen, schloss er die Tür hinter uns. Die ganze Zeit hatte er mich an seiner Hand mit gezogen, ich war unfähig irgend etwas zu sagen. Dann nahm er auch meine andere Hand und sah mir tief in die Augen. Mein Herz pochte wie wild und hämmerte so stark gegen meine Brust, dass ich nicht verstand, was er sagte. Dann ließ er mich los und seine Hände berührten mein Gesicht. Dort strich er wieder mit den Daumen über meine Wangen, wie er über meinen Handrücken gestrichen hatte. Er sagte wieder etwas und alles was ich hörte waren dumpfe Geräusche. Dann legte er seine Stirn auf meine und unsere Nasen berührten sich. Sein Gesicht war voller verblasster Narben, die man von weitem gar nicht so bewusst wahr nahm. Sein heißer Atem machte mir deutlich, dass seine Lippen nicht weit von meinen entfernt waren.
Tausend Dinge schossen mir durch den Kopf. Gerade noch dachte ich, mein Vater hätte sich entschlossen, mich als Assassine auszubilden. Doch jetzt wurde mir alles bewusst. Warum mein Vater mich zurück befohlen hatte. Warum Jacques so wütend war auf seinen besten Freund. Und warum Francois plötzlich so interessiert an mir war.
Ich sollte ihn heiraten.
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2014
Alle Rechte vorbehalten