Als langjähriger Bond-Fan habe ich meinen ersten Bond in „Goldfinger“ (1965) bewusst als Junge wahrgenommen und mitgefiebert. In den laufenden Abenteuern tauchten bessere und auch schlechtere Bonds auf – wer der Beste ist, kann jeder selbst entscheiden. Nach dem letzten Bond-Abenteuer „Keine Zeit zum Sterben“ (Originaltitel: No Time to Die) von 2021, war ich zwiegespalten und dachte daran, dass ich es auch mal versuchen könnte. Dies hier stellt nichts anderes als einen Versuch dar und ist in Anlehnung an den „wahren Bond“ Sir Sean Connery nachempfunden.
Ab Kapitel sechs liest sich ein eigenständiges Abenteuer von seiner Nachfolgerin: Ororo Natiwi, das den Titel trägt "Lied der Sande". Auch ein Bond-Abenteuer aber ohne James Bond. Ich hoffe, es kann gefallen.
„Natiwi-Lied der Sande“ ist als Nachfolger-Band zu „Bond – Ein zweites Leben“ zu verstehen. Auf die Idee kam ich, als mein erster Bond-Roman geendet hatte und ich Gefallen an der Figur der Ororo Natiwi gefunden habe. Wie sich eine geläuterte Terroristin wohl anstrengen muss, um beim berühmten MI6 arbeiten zu können, hat mich fasziniert und beschäftigt. Das in der Realität solche „Deals“ natürlich kaum zustande kommen, sollte klar sein – schließlich ist das hier nur eine Geschichte. Das benannte Verfahren „Gehirnscan“ gehört heute zu den beliebtesten Themen in der Theoretischen Physik, die natürlich viele Gefahren beinhaltet. Die Straßenkameras in Paris existieren tatsächlich, sowie die kurz erwähnte Diskussion um Missbrauch solch einer Macht. Auf den Webseiten (paris.sous-surveillance.net – Paris unter Überwachung) lassen sich die jeweiligen Standorte bis zu jeder Straßenecke verfolgen.
Viel Vergnügen.
Viel Vergnügen.
Was gegen 07:30 Uhr mitteleuropäischer Zeit auf den Bildschirmen der Durchleuchtungskontrolle erschien, die das BKA und der Secret Service im Zulieferereingang des Flughafens Köln aufgebaut hatten, waren keine verdächtige aussehenden Gepäckstücke, ominösen Aktenkoffer, Handfeuerwaffen oder tödliche Gimmicks, Laptops und mit Kokain gefüllte Teddybären, sondern das Resultat von Eleganz und Stil. Den Mitarbeitern der Security gelang dank der Technik des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts ein Blick ins Innere von Socken, Unterwäsche und einigen teuren Anzügen – untypisch für den besten Mann des MI6, der in den vielen Jahren viele Male die Welt gerettet hatte. Unter anderen Umständen wäre die Prozedur an Normalität kaum zu überbieten gewesen, die Ankunft des Top-Spions war natürlich geheim und für die Security von daher nichts weiter als eine weitere banale Angelegenheit. Zweimal durch die Schleuse gehen, während sein Smartphone, sein Portemonnaie und sonstigen hilfreichen Kleinigkeiten über den Bildschirm geisterten, diverse Male seinen Ausweis vorzeigen, checken, gegenchecken, danke, bitte. Alles sehr unaufdringlich und freundlich, aber von eiserner Entschlossenheit geprägt, in aller Öffentlichkeit einen mutmaßlichen Terroristen zur Not sofort zu erschießen.
James Bond hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was die Polizei von Köln durchmachte. Köln war mit seinem Wahrzeichen selbstverständlich des Öfteren Gastgeber für das White House, Secret Service, CIA, zahlreicher Botschafter und gewisser Prominenz, und damit auch Ziel für Untergrundorganisationen, die vielleicht mehr wollten als nur das Schokoladenmuseum zu besuchen. Die Außenministerin höchstpersönlich war der Meinung gewesen, man könne ruhig die Hilfe aus Großbritannien vertragen, da hier seit nunmehr zwanzig Jahren einer der größten Menschenhändlerringe der Welt zu finden war, sich die Spuren aber verliefen. Der MI6 schloss sich der Idee an, indem sie den langjährigen Diener Ihrer Majestät in einen Kurzurlaub schickten, er könne beim Blick auf den Dom den einen oder anderen romantischen Seufzer nicht lassen. Die Wahl für Köln fiel damit auf Deutz, Kölns rechtsrheinischen Appendix, gottlob in Friedenszeiten, weil man von da so schön auf die andere Seite gucken konnte. Und, wie Bonds Vorgesetzter M bekräftigte, könne er seine langjährige Erfahrung ruhig an die jüngere Generation weitergeben, anstatt die Beine hochzulegen und es sich gut gehen zu lassen.
James Bond saß, eine Zeitschrift auf den Knien, in der Vorhalle und betrachtete das Kommen und Gehen. Der Sitz seines dunkelgrauen Anzugs war perfekt, die dezent gemusterte Krawatte makellos gebunden. Das verhärmte Gesicht ruhig und ausdruckslos, während seine Sinne sich auf die umhergehenden Personen konzentrierten. So wartete er auf die Nummer eins.
Und das war Bonds größtes Problem.
Der eigentliche Grund, warum der Agent im bestgeschützten Gebäude Kölns auf seine Protegés wartete und nicht wusste, ob er darüber lachen oder weinen sollte, war das eigentliche Ziel seiner Mission: er couchte die „Neuen“.
Er legte die Zeitschrift auf den Glastisch neben sich und schlug die Beine übereinander. Die ihm zugeteilten Agenten waren Neulinge, hervorragende Absolventen des "Crime Scene Investigation" und auf ihren Gebieten perfekte Anwärter für einen Platz als Regierungssekretäre, wenn sie es ruhig mochten. Das dreiwöchige Praktikum mit einem der besten Agenten der Welt im Ausland zu fachsimpeln, praktisch Bett an Bett zu schlafen und zu ermitteln, war beim MI6 zu einem heißen Wettbewerb ausgeartet, in der alle Mitarbeiter ihre zehn Finger danach ablecken und sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen wollten. Die oberste Leitung sah sich unter einer Lawine öffentlichen Interesses begraben und nahm via Einrichtung eines Krisenstabs den verzweifelten Wettlauf gegen die Zeit auf, wohl wissend, dass das rege Interesse auch Unbill hervorrufen konnte. Plötzlich wollten selbst Mitglieder des House of Commons ihre Kinder mit auf die Reise schicken und hatten kein Problem damit, auch direkt vorzugehen. Der Wettbewerb war zu einem Desaster geworden. Wer sich abgelehnt fühlte, wurde nicht selten barsch in seiner Redewahl. Viel zu spät hatte der MI6 realisiert, dass ihr Top Agent viel zu bekannt war und den Ärger an Bond ausgelassen. Von dreiundsechzig Anwärtern hatte man sich auf drei geeinigt. Immer noch zu viel, aber weniger war nicht drin. Mittlerweile war James Bond nur noch genervt. Schöner Urlaub!
Der Erste war Richard O´Connor, Sohn des Premierministers und Absolvent des SRR (Special Reconnaissance Regiment), mit zwei Jahren Erfahrungen als Analyst. Er kam, mit der Rechten an seinem Smartphone tippend, in der Linken ein angebissenes Sandwich, die Freitreppe vom Café herunter, sah ihn und hielt mit ausladenden Schritten auf ihn zu. Er war schmächtig und schlecht gekleidet. „Es ist mir eine große Ehre“, sagte er etwas zu laut. Es klang, als habe er auf Bond gewartet, nicht umgekehrt. Bond hasste Menschen, die ihre Lautstärke an öffentlichen Plätzen nicht unter Kontrolle hatten. „Ich habe schon so viel über sie gelesen…“
„Blödmann“, grummelte Bond, stand auf und ging vorneweg. Im Gehen sah er sich um. „Wir sind auf einer Mission! Wir sollen nicht zusammengesehen werden.“
„Tut mir leid“, brachte Richard aschfahl geworden hervor und versuchte mit dem großen Mann Schritt zu halten. „Ich… ich habe Ihnen etwas mitgebracht, warten Sie, da kommt eine Nachricht…“
Bond drehte sich nicht um. „Stecken Sie das Ding weg.“
„Meine Mutter will wissen, ob wir schon zusammen sind“, bemerkte Richard kauend. „WhatsApp, das geht ganz schnell. So, jetzt habe ich Zeit. Warten Sie doch mal...!“
„Ich hoffe nur, dass heute bei SPECTRE ebensolche Pfeifen ihren Dienst tun, sonst sind wir geliefert.“
„Ach, die gibt es doch gar nicht mehr. Oder, Sir?“ Richard schien den Wink nicht verstanden zu haben. „Die Organisation wurde zerschlagen. Von Ihnen, Sir. Wie haben Sie das bloß gemacht?“
Spectre war die Abkürzung für die gegnerische Terrororganisation Special Executive for Counterintelligence, Terrorism, Revenge and Extortion. Mit Betonung auf war denn mit dem Tod von Ernst Stavro Blofeld, seinem Leiter und Bonds Todfeind Nummer Eins, hatte die Organisation sich in Rauch aufgelöst. Das war vor zwei Jahren gewesen. Keinerlei Aktivitäten waren noch zu verzeichnen.
„Ich habe meinen Verstand genutzt“, bemerkte Bond grummelnd und wich einer Scharr Touristen aus, die zum nächsten Gate aufbrach. Fast wünschte er sich, er könne mit einem von ihnen den Platz tauschen. „Der Wagen steht im Parkhaus. Nummer zwei sollte…“
„Richard!“
Die beiden Engländer warfen einen Blick zurück, während Bond demonstrativ das Gesicht verzog. Eine kleine Frau mit zwei übergroßen Koffern rollte lärmend hinter ihnen her. „Richard! Du auch? Was sagt man dazu!“ Teri Simmons maß einen Meter sechzig – mit den High Heels, die sie in dutzendfacher Ausfertigung besaß, weil sie fand, auf jeden Zentimeter käme es an. Dünn, blass und eckig war ihr Gesicht. Mit ihrer schmalen, endlosen Nase voller Sommersprossen hätte sie ein Bild von Modigliani entstammen können. Leider fehlte ihren übrigen Formen die entsprechende Üppigkeit, als habe der Italiener nach Fertigung des Porträts die Lust verloren und den Pinsel an Egon Schiele weitergereicht. „Oh, guten Tag, Mister Bond! Es ist mir eine Freude und eine Ehre!“
„Alle wissen´s inzwischen“, sagte Bond. „Ich weiß jetzt auch, warum manche Operationen gleich zum Anfang zum Scheitern verurteilt sind. Wer hätte gedacht, dass die Zusammenhänge so einfach sind!“ Er schob beide nach draußen und beschleunigte seinen Schritt. Vor dem Flughafen wartete ein Shuttle darauf, sie zu einem der öffentlichen Parkplätze zu bringen. Richard stellte fest, dass seine Jacke auf halb acht hing und ein Schürsenkel aufgegangen war, versuchte, beide Probleme gleichzeitig unter Einbeziehung seines Butterbrotes zu lösen und hampelte hintendrein.
„Sir, ich habe mir erlaubt grundlegende Informationen zu sammeln“, rief Teri hinter ihm, wobei die lärmenden Koffer ihre piepsende Stimme fast untergingen ließ.
„Sammeln wir erstmal Nummer drei ein“, zischte Bond und drehte sich beim Shuttle um.
Teri Simmons war nicht nur Sachbearbeiterin für den Verfassungsschutz, sondern auch eine ausgezeichnete Regierungsinspektorin in Probezeit– und die Tochter des Kultur-Attachés, was sie praktisch ins Rennen um den Praktikumsplatz nach vorne katapultierte. Es war kein Geheimnis, das ein entsprechender Vermerk in einer Akte um diese absolvierte Stelle jeden Agenten ein paar Pluspunkte einbringen konnte. „Menschenhandel findet tagtäglich in Deutschland statt. Viele Menschen arbeiten unter prekären Bedingungen, zum Beispiel in der Pflege, im Haushalt, in der Prostitution, Landwirtschaft, Fleischindustrie oder auf dem Bau. Den verschiedenen Formen von Menschenhandel liegt ein gemeinsamer Mechanismus zugrunde: Menschen werden mit dem Ziel der wirtschaftlichen Ausbeutung massiv in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt und grundlegend in ihren Rechten verletzt. Die Übergänge zwischen schwerer Ausbeutung und Menschenhandel sind fließend. Es ist ein Skandal, Sir.“
„Was Sie nicht sagen! Warum essen Sie das Brot nicht auf, Richard?“
„Weil…“ Richard ging in die Knie, schaffte es seinen Schnürsenkel neu zu verknoten, und kam wieder hoch.
„Ich frage mich auch, wann es Ihnen auffällt, dass Sie ihren Koffer vergessen haben!“ Bond wandte ihm dem Rücken zu und konzentrierte sich ganz auf die Nummer zwei. „Seien Sie bitte still! Wir sollten uns nicht mal kennen. Ich hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wir gemeinsam still und leise uns hier treffen.“
Teri wurde rot, behielt aber die Fassung. „Sir, wenn Sie erlauben, aber Geheimdienstarbeit von gestern ist nicht mehr von heute.“
„Was?“
„Schauen Sie sich doch um“, forderte sie. „Alle starren nur noch auf ihre Handys. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Hätte ich im Trenchcoat und Sonnenbrille hier auftauchen sollen?“
„Wäre eine Verbesserung gewesen“, maulte Bond und kam sich trotzdem deplatziert vor. Stimmte schon, die Welt hatte sich gewandelt und sich im Netz des Internets einfangen lassen. Jeder korrespondierte mit jedem, war praktisch sichtbar und über Meilen erreichbar. Die Menschen hatten sich den kleinen Google-Ratgebern hingegeben und nutzten immer seltener ihren Verstand. Er seufzte.
Richard mampfte das letzte Bissen herunter und starrte wieder auf sein Smartphone. „Adele hat meinen Post geliket!“
Teri starrte ihn an. „Ihr seid befreundet?“
„Nein. Vielleicht. Wir lernten uns beim Time-100-Diner kennen. Das ist das Foto, das sie geliket hat.“ Er reichte ihr sein Smartphone. „Von mir auf Kuba.“
Teri kam nicht mehr mit. „Du warst auf Kuba!? Was hast du da gemacht?“
„Ich hatte mich verliebt.“
Bond sah beide stirnrunzelnd an. „Ich hoffe, sie war für die Abtreibung.“
„Keine Witze über Abtreibung, Sir.“
„Was hast du gesagt, Teri?“
„Jungs, bleibt ruhig.“
Teri sah Richard kritisch an. „Hast du Jungs gesagt?“
„Tut mir leid, ich hätte gendern sollen.“
Bond sah beide an, während der Shuttle ankam. „Das werden anstrengende Wochen. Wollen Sie jetzt vielleicht mal ihren Koffer holen, Richard? Der Bus wartet nicht auf jeden!“
„Upps.“
„Von Nummer drei immer noch keine Spur“, maulte Bond.
„Wo ist ihr Koffer, Sir?“
„Habe ich schon vorausschicken lassen“, erwiderte er gereizt und setzte sich in den Bus. „Nummer drei hat es nicht geschafft. Zuerst zum Quartier. Bis dahin wünsche ich absolute Ruhe!“
James Bond machte es seiner Umwelt nicht gerade leicht, ihn zu mögen. Er schien als Kind ohne eigenes Verschulden in ein Fettnäpfchen gefallen zu sein, erwies sich jedoch, was die Erzeugung von Meisterung von Peinlichkeiten anging, als konsequent professionell. Mehr noch, der MI6-Agent handelte stehts wie ein Profi und schaffte den Spagat zwischen Vorgehen nach Lehrbuch und Flexibilität wie kein Zweiter. Er war ein Killer und über die Jahre so unnahbar und kühl geworden wie die Sphinx. Viele bewunderten ihn, doch hatte man erst ein paar Sätze mit ihm gewechselt, fühlte man sich selbst unzureichend im Angesicht der Legende. Selbst Felix Leiter, CIA-Agent und langlebiger Freund, vermied es einen Blick in die Seele der unaufhaltsamen Tötungsmaschine zu werfen. Trotzdem war Bond wegen seines Stils und seiner Erfolgsquote beliebt wie auch begehrt. Und gleichzeitig ein Fremder geworden. Es fiel ihm nicht auf, wenn andere Leute über Probleme sprechen wollten, denn in seinen Augen waren alltägliche Dinge wie Verzug bei der Steuererklärung, Hausratsversicherung und B-Prominentenklatsch so lebensfremd wie das Eislaufen einer Kuh. Er war durch und durch ein Agent. Ein Meisterspion.
Die Fahrt zur Ewaldi-Straße nahe dem Stadtteil Deutz führte durch eine belebte Metropole, die mit seinem Dreikönigsschrein und den Blick über den Rhein berühmt war. Das nahe gelegene Museum Ludwig zeigt Kunst des 20. Jahrhunderts, darunter viele Werke Pablo Picassos. Das Römisch-Germanische Museum beherbergt Objekte aus der Römerzeit. Und natürlich der Kölner Dom. Bond fuhr selbst den Audi A3 und freute sich über dreißig Minuten Stille um sich herum. Vor einem Friseursalon hielten sie schließlich an. „Was, kein Hotel“ fragte Richard.
„Das Quartier D-3 liegt zentral genug. Zehn Meter zur Stadtbahn, dort ist ein Kiosk und der deutsche Geheimdienst hat uns die obere Etage herrichten lassen.“ Von außen betrachtet sah der Klinkerbau nach nichts aus, einfache Bauten für die Mittelschicht. Nahezu perfekt. Bond parkte den Wagen und führte sie zur Adresse, betrat den Flur und wechselte einen Blick zum Briefkasten, während Richard und Teri mit ihrem Gepäck gut zu tun hatten. Im vierten Stock (einen Fahrstuhl gab es nicht!) kamen beide stöhnend und pfeifend an, während Bond die Post durchsah und sich dem Anschein von Bestürzung hingab. „Sieht schwer aus.“
„Danke, geht schon.“ Richard sah aus, als würde er gleich Platzen vor Anstrengung. „Stellen die Nachbarn keine Fragen?“
Vor der einzigen Tür im Dachgeschoß sah Bond seinen Koffer stehen, öffnete ein Seitenfach und holte seine Walter PKK hervor, die er routiniert einsteckte. „Diplomatengepäck“, bemerkte er spitz. „Die Frau unter uns ist schwerhörig, im ersten und zweiten Stock leben Familien, deren Eltern tagsüber auf Arbeit sind und deren Kinder die Ganztagsschule besuchen. Wir haben Intranet zum deutschen Geheimdienst und vier Räume allein für uns.“
„Wir… sind nicht… vollzählig“, meinte Teri schweratmend.
„Nummer drei… kann sich wohl verabschieden.“ Richard bemerkte Bonds angespannte Haltung und sah ihn schief an. „Stimmt was nicht?“
Bond stellte sich an die Wand und deutete auf das Schloss. Die Tür war angelehnt.
Er wartete geduldig, bis die beiden verstanden und sich ebenso an die Wand drückten, dann schob er mit der Pistole im Anschlag die Tür auf.
Er trat ein.
Die Gestalt neben der Tür huschte voran und packte seinen Arm, versuchte ihn zu verdrehen, aber darauf war Bond schon vorbereitet: sicher verlagerte er sein Gewicht, stieß ihn zur Seite und zielte. Der Mann vor ihm hielt ein Messer wurfbereit.
„Nummer drei?“
Amal Boran war dünn, aber athletisch gebaut und hatte seinen Bart gut gepflegt. Er lächelte trocken und steckte sein Messer wieder ein. „Sie müssen Mister Bond sein, Sir.“
Bond steckte seine Waffe ein, sagte aber nichts.
„Was… wie hat er“, fragte Richard.
„Ich habe die Maschine aus Sri Lanka genommen, aber sie knapp verpasst.“
„Trotzdem sind Sie vor uns da?“
„Mein Name ist Amal. Ich kenne mich in Köln aus, wusste aber nicht die Adresse. Dann habe ich einfach beim Konsulat nachgefragt und mir eine Geschichte ausgedacht. Mit dem Fahrrad ist man in Köln schneller. Ich warte seit zehn Minuten.“
Bond war beeindruckt. Wenigstens einer! „Sie kommen direkt vom MIT, mit besten Grüßen aus Ankara. Sehr schön. Dann kann es ja losgehen.“ Er wies auf den hinteren Bereich des sauber getäfelten Dachgeschoss, das nur von einer Sitzecke, drei Arbeitstischen mit Rechnern und einer Küche beherrscht wurde. „Dort hinter der Tür sind vier Betten. Das Klo und die Dusche sind hier. Verstauen Sie ihr Gepäck. In zehn Minuten geht es los.“
Richard, Teri und Amal setzten sich an ihren Plätzen vor den Rechnern, während Bond geduldig wartete. Bond konnte einem die Geschichte des amerikanischen Präsidentialismus ebenso dezidiert und spannend auseinanderlegen wie die Emissionsmodelle schwarzer Löcher, und er war ein brillanter Lektor. „Von nun an sind sie alle mir unterstellt, und ich will keine Wiederholung wie am Flughafen. Sie sind hier, um zu lernen, also lassen sie sich auch belehren. Richard und Teri, sie beide schalten ihre Handys aus und machen sie erst wieder an, wenn sie zurück in London sind. Amal, legen sie ihre Beretta nicht auf den Tisch. Jeder, der mit einem Feldstecher durch das Fenster schaut, muss sonst denken wir wären Gangster. Richard, schieben sie ihren Tisch nicht so direkt ans Fenster. Teri, machen Sie uns Tee.“
„Soll ich das machen, weil ich eine Frau bin?“
„Nein, weil sie am nächsten zur Küche stehen. Sie kümmern sich in erster Linie um diesen einen Fall, nämlich zur Zerschlagung eines Menschenhändlerrings, was seit zwanzig Jahren niemanden gelungen scheint. Wenn sie rausgehen wollen, melden sie sich ab. Waffen werden nur hier drinnen getragen – außer, ich sage etwas anderes. Da fällt mir ein, haben sie alles nach Wanzen abgesucht?“
„Nein.“
„Ich dachte zuerst daran, aber…“
„Nicht, dass ich wüsste.“
Ich wollte nie Kinder, dachte Bond bitter, ich weiß auch jetzt warum. „Gut, dann holen wir das jetzt nach. Teri, kommen Sie vom Wasserkocher weg. Suchen sie alles ab!“ Nach zwanzig Minuten schien alles sauber. „Gut, fangen wir nochmal an. Wir haben durch geschützte Unterbringung, Jugendhilfemaßnahmen, psychosoziale Unterstützung, Rechtsberatung etc. die bestätigte Vermutung, dass knapp fünfzehntausend Menschen davon betroffen sind. Die Identifizierung erfordert beispielsweise bei Polizei, Staatsanwaltschaft, der FKS, Jugendämtern und dem BAMF. Auch irreguläre Migrantinnen, männliche Bauarbeiter oder „Bettelkinder“ können von Menschenhandel betroffen sein. Wir haben folgende Hinweise…“
Zu später Stunde trat Bond auf die Straße und fröstelte leicht. Das Wetter entsprach der Jahreszeit. Der Herbst schickte einen eisigen Wind aus dem Osten und stoisch blickte er zum aschgrauen Himmel. Es war immer noch weniger, als er sich wünschte, und dennoch mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Drei Straßen weiter sah er sich verstohlen um und glaubte eine Bewegung hinter sich zu erkennen. Er ging weiter und wartete ab.
Eine Frau mit Hund gesellte sich zu ihm, als er in eine Gasse trat. „Schönes Wetter haben wir nur selten.“ Die Frau schob die Regenmütze aus dem Gesicht.
„In Berlin regnet es gerade sehr stark. Mir ist der Winter lieber.“
„Obwohl der Wind kälter wird.“
Die Parole stimmte. „Guten Abend, Agentin.“ Bond sah sich um und zurück zum Hund, der interessiert seine Hose beschnüffelte. „Der BND bezahlt auch Hunde, wie?“
„Nur der Hund einer Freundin. Hören Sie zu, Bond.“ Die Frau holte aus ihrer Umhängetasche ein Foto. „Wir sind der Ansicht, dass sich hinter dem Menschenhändlerring eine straffe Organisation verbirgt, die tief bis zur GSG9 reicht. Sie sollten sich mal mit Hauptkommissar Steven Shannon unterhalten.“ Bond sah auf dem Bild einen schattenhaften Mann mit Dreitagebart und reichlich Geheimratsecken, der flankiert von einer Gruppe ein Gebäude betrat. Er prägte sich die Gesichtszüge ein. „Die Kölner Polizei unterstützt sie bei allem. Wir natürlich auch“, fügte sie hinzu. „Brauchen Sie etwas? Unser Kontaktmann beim Friseurladen heißt Georg. Er kann ihnen alles liefern.“
Bond besah sich die Fotografie genau an. Jemand hatte aus einem Weitwinkelobjektiv und aus einem Versteck das Foto geschossen. „Sie denken, er hat etwas damit zu tun.“
„Das zu beweisen, ist fast unmöglich. Shannon kennt alles und jeden. Bis jetzt hat er sich ausgezeichnet aus jeder Ermittlung gegen seine Person rausgehalten. Entweder hat er nichts zu verbergen und wir sind die Idioten, oder er ist verdammt clever und hält alle zum Narren. Ist ihr Team gut?“
Bond konnte nicht verhindern, dass seine Schultern herabfielen.
„So schlimm? Ganz anders als eine gestohlene Atombombe aus den Fängen von SPECTRE wiederzubeschaffen, wie?“
„Es sind blutige Anfänger. Wenn ich könnte, würde ich sie alle zurückschicken und mir lieber ein paar Freunde einladen.“ Er lächelte verträumt. „Dimitry vom FSB, Leiter vom CIA oder so.“
„Kopf hoch. Wir haben alle mal klein angefangen.“ Die Frau zog kurz an der Leine, um den Hund daran zu hindern nähere Bekanntschaft mit Bonds Bein zu schaffen. „Pfui, Oswald! Da wäre noch etwas.“ Sie zog eine zweite Fotografie hervor. Diesmal war das Gesicht einer schwarzen Frau zu sehen. Schön und unnahbar. Bonds Interesse war geweckt. „Kennen Sie sie?“
„Nein.“
„Das Foto wurde heute am Flughafen gemacht. Kam mit derselben Maschine wie ihre Gruppe. Eine Verwandte von SPECTRE.“ Sie genoss seine Überraschung. „Wir glauben, dass sie Ororo Natiwi heißt. Als wir heute Mittag eine Anfrage an Interpol schickten, sind die fast ausgeflippt. Zufall? Ich glaube nicht.“
Er betrachtete die Gestalt in der Jeans und dem Pullover. Sie wirkte athletisch, hatte klare braune Augen und ein schönes Gesicht. Ein Mannequin. Aber wenn sie von SPECTRE kam, konnte das nichts Gutes bedeuten. „Was wissen Sie?“
„Zu wenig, aber dafür genug, um besorgt zu sein. Ororo Natiwi – stammend aus Kampala, Uganda. Mit sechs entführt und zu einer Kindersoldatin ausgebildet. Mit elf von SPECTRE gefunden und aufs Internat geschickt. War für vier Jahre vom Erdboden wie verschluckt. Gehört zum dritten Flügel: Mord und Terror. Wir haben ein Foto von einem Aufenthalt in der Koka-ryu Shinobinoden Schule. Jemand hat viel Geld und Mühe in ihre Ausbildung gesteckt.“
Bond war beeindruckt. Nicht nur, dass der BND und Interpol so nahtlos zusammenarbeiteten und in so kurzer Zeit einen gefährlichen Feind ausgemacht hatten. Vor allem, was dieser Natiwi anging: Kindersoldatin und die berühmte Schule in Japan, die einzige Adresse wo man zweifelsfrei Ninjutsu trainieren konnte. Darauf basierend unterteilt sich der Kurs in die beiden Hauptfächer Yo-Nin (Intelligenz) und Yin-Nin (Praktische Fähigkeiten). Eine kriegserfahrene Killerin, also. Und dazu noch von SPECTRE angeheuert. „Eine echte Attentäterin.“
„Sie will Sie töten, Bond“, fasste sie das Offensichtliche zusammen. „Da sind wir uns sicher.“
„Vielleicht ein anderes Ziel?“
„Wir haben gerade keine Präsidenten oder kirchliche Würdenträger zu Besuch, Bond. Sehen Sie sich das Foto genau an! Was fällt Ihnen auf?“
Bond musste nicht lange überlegen. „Sie wollte fotografiert werden.“
„Das ist ein Versprechen. Wenn nicht Sie, wer dann? Kommen Sie ihr zuvor. Viel Glück.“
Nur eine Stunde Autofahrt entfernt lag im Yachthafen von Zündorf ein Plattbodenschiff, grau und unansehnlich. Die Tjalk ist ein historischer niederländischer, einmastiger Segelschifftyp für den Gütertransport im und am Wattenmeer, also ein Wattensegler für flache Küsten- und Binnengewässer genutzt wird. Die „Desmond“ hatte schon lange ausgedient, allerdings hatte der Besitzer wenig Interesse an einem reinen Handelsschiff, als er zehn Jahre zuvor in Empfang genommen hatte, und den Raum unter Deck ausgeschlachtet, um eine hochmoderne, mit Blei abgeschirmte elektronische Kommandozentrale zu installieren.
Gespeist durch drei dedizierte Satellitenlinks und ein redundantes Array von Relaisstationen, verfügte der Stab der Kontrollraum der „Desmond“ über drei Personen, die angekettet ihre Arbeit verrichteten: Techniker, Analytiker und Computerspezialisten. Sie lebten an Bord und waren seit der Zeit nicht einmal von Bord gekommen. An ihrer Seite hielten zwei bewaffnete Männer Wache. Dazu noch ein Koch, der auch für Reinigung und Service zuständig war, erhöhte sich die Anzahl auf sechs Mann. Im Endeffekt ein mobiles Bürogebäude, von dem aus der Eigner sein Imperium lenkte.
Zu später Stunde kam Steven Shannon mit mehreren Tüten beladen über den Pier und betrat das Deck. Ein kleiner, stämmiger Mann mit Adlernase und tiefliegenden Augen. Seine wenig imposante Erscheinung und seine direkte Art wirkten mehr als angemessen für jemanden, der sein riesiges Vermögen mit einem ganzem Spektrum verdeckter Dienstleistungen gemacht hatte, jenseits der Legalität. Man hatte ihm schon viele Namen gegeben – Diener des Teufels, Vermittler der Sünde – doch er lebte seine beiden Rollen so getrennt voneinander, dass er mühelos hin- und herschalten konnte. Im Revier nannte man ihn hingegen den „gutherzigen Shannon“, der bei Betriebsfeiern das Bier spendierte oder auch mal den Kollegen fröhlich auf die Schulter klopfte. Zu später Stunde war er nur derjenige, der seinen Klientin die Möglichkeit verschaffte, ihren Angelegenheiten nachzugehen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, nicht mehr und nicht weniger – es war nicht sein Problem, dass die Menschheit zur Sünde neigte.
Shannon reichte die Tüten durch das Klapptür herunter, und stieg selbst hinunter. „Reichlich Pommes, wie gewünscht. Haben aber mit dem Ketchup geknausert. So, soll keiner sagen, ich würde nicht für meine Jungs sorgen, wie?“
Die Wachen nickten erfreut, mehr enthusiastisch als die drei hageren Männer an den Computern, die kaum aufsahen. Mochten Cola und andere Genussartikel auch in Strömen fließen, so schmeckte selbst der köstlichste Burger hier bitter. Die ehemaligen Informatikstudenten, wenig später Flüchtende und seit drei Jahren Gefangene, wussten dass sie hier nur waagerecht rauskamen. „Danke, Mister Shannon, Sir“, echote die Runde.
Shannon nickte begütigend in die Runde. „Die Bilanzen von letzter Woche, Dinesh.“ Er griff in seine Innentasche und holte ein Zeitschrift hervor. „Deine Lieblingszeitschrift, bitte schön. Du hattest Geburtstag, das weiß ich doch. Was sagt man?“
„Danke, Mister Shannon.“
„Gut so.“ Er tätschelte ihm den Kopf und setzte sich auf einen freien Platz, um seine Lektüre zu studieren. Die Zahlen waren solide, der Frachter aus dem Osten war pünktlich angekommen und die Nachfrage hatte sich verdoppelt. Er ließ sich die nächsten Berichte reichen. „Weihnachten steht vor der Tür, Jungs. Die Frauen werden sich von ihren Bälgern trennen müssen. Sind sie alt genug, bekommen sie ihren eigenen Film. Wenn nicht, dann zur Babyklappe.“ Er steckte sich eine Pommes in den Mund. Die Kasse stimmte.
Im zur Seite stand René, ein ehemaliger Werbegrafiker und nun Sekretär. Wie es seine Art war, schob er in nervösen Zeiten die Brille mit beiden Fingern sicher auf die Nase, als befürchte er, sie zu verlieren. „Herr Shannon, es gibt eine beunruhigende Nachricht über den MI6.“
Überrascht schaute sein Boss auf. „Wirklich? Was können die wohl wollen?“
„Unser Kontakt berichtet, dass ein gewisser Bond mit einer Gruppe von Agenten eingetroffen ist.“
„Der MI6! Ziemlich übertrieben“, meinte Shannon verzögernd. „Was wissen wir?“
René reichte eine Akte, die übertrieben voll mit Verweisen und Fotos war. Sprachlos durchforstete der Eigner das Manuskript und bediente sich nebenbei aus den Pommes, was den Gefangenen nicht entging. Natürlich sagten sie nichts. „Ein echter Geheimagent. Na und? Meine Tarnung ist solide. Der BND und die Schlampe beim Aufsichtsdezernat wissen weder vor noch zurück. Ich habe die Spur zu den Russen gelegt. Warten wir erstmal ab. So gut kann der nicht sein!“
„Paris ist uns voraus. Die Jahresbilanz sieht bei denen besser aus, Chef.“
Mit einem Mal kippte die Stimmung.
„Habt ihr Pfeifen das gehört? Strengt euch besser an! Sonst geht es ab nach Hause!“ Grob packte Shannon die Tüte mit Pommes und griff sich eine Handvoll davon, um sie sich in den Mund zu schieben. „Warum esst ihr nicht? Ach, ihr schämt euch, wie? Haltet besser die Klappe, sonst setzt es was! Puh, wie es hier stinkt! Ihr seid alle Ferkel…“
„Mister Shannon, wir können so nicht…“
„Hälst du wohl die Schnauze!“ Shannon schlug mit der Rückhand zu und grinste spöttisch, als Dinesh getroffen zu Boden ging. „Du hast in deinem Bericht einen Kommafehler gemacht. Deutsche Sprache, schwere Sprache, wie? Draußen warten dutzende wie dich, die sich freuen würden, wenn sie hier arbeiten dürften! So dankst du es mir!?“
Dinesh hatte lange, sehr lange unter diesen Bedingungen gelebt – viel zu lange in der Knechtschaft und selbst die besten Pommes der Welt konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nur ein Sklave in einer modernen Zeit war. Er begegnete seinem Herrn mit einem giftigen Blick.
Shannon war kein gnädiger Meister. Er nahm seine Pistole und schoss. Dann gab er die Waffe weiter an einen seiner Handlanger. „Alles Gute zum Geburtstag, Dinesh. Glaubt nicht, dass mir das leichtgefallen ist.“ Er stöhnte leise und schien erschüttert. „Macht das weg. Benutzt den üblichen Weg. René, hol mir Dinesh Nummer zwei.“
Er wandte sich um und sah in das besorgte Gesicht.
Rene´ hatte noch mehr schlechte Nachrichten.
Wenige Minuten später betrat Shannon das Oberdeck und blickte hinaus auf den Rhein. Trotz des malerischen Bildes des Flusses und den Bergen konnte nichts die Unruhe vertreiben, die sich in seinen Eingeweiden breitgemacht hatte.
Die Entscheidungen der Vergangenheit hatten ihn in die Lage versetzt, durch beinahe jedes Minenfeld zu navigieren und am Ende als Sieger hervorzugehen. An diesem Tag verspürte er eine ungewöhnliche Nervosität, während er auf die fernen Lichter der Großstadt starrte.
Ororo, dachte er, als er sich die athletische, kurzhaarige Frau vorstellte. „Sind wir sicher, dass sie es ist? Die sehen doch alle gleich aus.“
René war sich sicher. „SPECTRE hält sie nicht mehr an der Leine. Sie will dich, Steven. Das siehst du doch auch so.“
Der Menschenhändler glaubte nicht an Pech. Alles, was er unternahm, war so orchestriert, dass Zufall und Willkür keine Chance hatten. Kontrolle war das absolute Fachgebiet, doch auch in der Welt der Lüge und des Verschleierns gab es Grenzen. „Sie weiß, wie ich aussehe. Als Hauptkommissar bin ich praktisch auf jedem Smartphone schnell auszumachen. Mein Foto ist auf der Webseite der Polizei. Sie könnte schon zu Hause sein.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sah sich nervös um, als befürchte er, dass gleich hinter ihm ein tödlicher Schatten auftauchte.
„Wir könnten alles abblasen…“
Nein, davon wollte Shannon nicht wissen. Es hatte Jahre gedauert sich ein atemberaubendes Klientel zu bescheren – Milliardäre, Politiker, Scheichs, sogar ganze Regierungen. Der Ruf seiner Organisation war ihm wichtig. Brauchte ein Scheich eine rothaarige Frau aus Deutschland, so bekam er sie. Brauchten die Pädophilen unverbrauchte Stars, so wandte man sich an ihn. Die Russenmafia unterstützte ihn, die Franzosen hingegen mit ihrem eigenen recht eindrucksvollen Händlerring mochten ihn zwar nicht, aber sie respektierten seine Kunst. Denn das war er letztendlich: ein Künstler, ein Organisator von Fleisch der schnell und günstig lieferte.
Und doch zeichnete sich zum ersten Mal richtiger Ärger ab. Die Entscheidungen, die wir in unserer Vergangenheit gefällt haben, sind die Architekten unserer Gegenwart.
Shannon überlegte stumm, während sein Sekretär wartete.
Es wäre besser ihr zuvorzukommen.
„Ruf Klaus an. Ich brauche eine seiner Bomben.“
René schluckte unwillkürlich. „Und Bond?“
Shannon winkte ab. „Dieser Agent kann mich mal. Sorgen wir für Schlagzeilen.“
Die Arbeit dauerte kaum einen Tag, doch zum ersten Mal wurde Bond positiv überrascht: seine jungen Spione verstanden sich gut auf das Sammeln von Informationen. Amal und Teri studierten gemeinsam alte Fälle um Menschenhandel in und um Köln, die im direkten Zusammenhang mit Steven Shannon hingen. Da er der leitende Kommissar in der Abteilung war, war es nicht schwer gewesen den gemeinsamen Nenner zu finden. Übers Intranet zum BND rauschten die Fakten und Daten nur so in die Basis. An einer Pinwand erstellten sie ein Diagramm und diskutierten ihre Erkenntnisse, während Richard offensichtlich ein Händchen für Spionagetechnologie hatte: Mit knapp einhundert Euro hatte er frühmorgens das Haus verlassen und kam nach nur einer Stunde mit zwei vollen Tüten wieder. Bond ließ ihn machen. Es sollte sich auszahlen.
Um dreizehn Uhr meldete sich der Hunger. „Was sollen wir essen?“
Bond zeigte auf einen Flyer. „Wir bestellen nur bei diesem Restaurant. Die Rechnung geht direkt an das Konsulat.“ Nachdem er die Bestellung entgegengenommen hatte, rief Bond dort an. „Hier Herr Schröder. Dreimal die Neun, einmal die acht, bitte. In zwanzig Minuten? Das ist schnell. Gut, bis dann.“ Er legte auf. „Was basteln Sie da, Richard?“
„Eine Drohne.“ Der Spezialist reichte Bond einen Tablet-PC. „Ist mit einer Hochleistungskamera ausgestattet. Reichweite fast vier Kilometer, dann wird es schwierig wegen dem Empfang.“
Bond nickte zufrieden. „Lässt sich ein Muster erkennen?“ fragte er über die Schulter.
Amal nahm seine Lesebrille ab. „Nach den Berichten des BND ist Ihr Kommissar sehr umtriebig. Zum Glück hat uns unser Kontakt einen guten Link gegeben. Er besucht regelmäßig drei Stellen in Köln.“
„Das tut meine Tante auch. Was ist so besonders?“
„Ihre Tante, Mister Bond, geht bestimmt nicht dreimal die Woche in Chinesische Restaurants essen.“
„Stimmt. Das könnte was sein. Was ist das nächste?“
„Nach unserem Algorithmus ist es schon in zehn Stunden“, warf Teri ein und tippte auf einen Stadtplan. „Und zwar der „Magic Dragon“. Langsam bekommen wir ein Bild von der Sache: Steven Shannon hat in den letzten Jahren zwanzig Verhaftungen durchgenommen. Alle im Zusammenhang mit Menschenhandel.“
„Klingt doch gut.“
„Aber nur kleine Fische“, entgegnete sie. „Die Statistik ist gut, aber dass er nicht mehr getan hat, ist schon verwunderlich. Auf die Idee kam auch schon der BND. Vier offizielle Beschwerden. Keine wurde weiterverfolgt.“
Die Spione sahen sich an. Nickten düster und geheimnisvoll.
Jetzt sind sie im Jagdfieber, dachte Bond zufrieden. „Das war bis jetzt gute Arbeit. Jetzt nicht nachlassen. Teri und ich gehen shoppen und sondieren die Lage, während Sie, Amal, und Richard den Wagen nehmen und eine gute Position suchen. Wir halten in drei Stunden wieder Kontakt.“
„Wie denn, ohne Handys“, warf Richard säuerlich ein.
„Das ist eine Ausnahme, Richard. Nehmen Sie sie und fahren sie in einer Stunde los. Ich verlasse mich auf sie beide. Die Waffen bleiben zuhause. Falls jemand Fragen stellt, sagen sie, sie wären Hobbyastrologen oder so. Kein Aufsehen. Teri, holen Sie ihre Jacke. Wir fahren mit der Bahn.“
„Was ist mit dem Essen?“
„Gut, nach dem Essen“, räumte er ein und setzte sich wieder.
Mit neue Entschlossenheit gingen Bond und Teri zu Fuß zur Bahnhaltestelle. Teri hatte ihre Kopfhörer ausgepackt und spielte die gelangweilte Tochter, während Bond den genervten Vater spielte. Die Rollen erforderten kein schauspielerisches Geschick. In der Bahn saßen sie nebeneinander und beobachteten Köln während des Feierabendverkehrs. Auch Bond hatte seine Waffe zuhause gelassen. Der Auftrag lautete Sondieren, und keinen Schusswechsel mit den bösen Jungs. Er atmete schwer durch und erinnerte sich an seine Aufträge, die oftmals aus reinem Glück und Improvisation bestanden hatten. Ob in Europa, Asien oder einem anderen Kontinenten hatte er stets allein gearbeitet und sich seine eigenen Regeln gemacht. Persönlich maß er sich zur Vorsicht, denn um Shannon handelte es sich nicht um einen gefährlichen Superschurken, sondern um ein Schwarzes Schaf, das an die Behörden ausgeliefert werden sollte. Und selbst wenn sie nichts fanden, so sollte das Praktikum ruhig und gesittet zu Ende gehen. Fertig. Und alle waren glücklich.
„Wir könnten zuvor ins Kino gehen“, fragte Teri.
„Zuerst die Hausaufgaben.“
„Du bist ein Arsch, Dad.“
Einige Passagier drehten sich um. Bond ballte die Fäuste. „Nicht durchdrehen, Teri. Ich warne sie…dich.“
„Schön in der Rolle bleiben“, warf sie gehässig ein und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Das kriegst du zurück.“ Er lächelte säuerlich.
„Werden wir sehen.“
„Ja, das werden wir.“
„Macht zehn Mäuse.“ Fordernd hielt sie die Hand auf. Bond empfand die Taktik als dreist, konnte aber nicht anders als zu seinem Portemonnaie zu greifen. „Hier, Schatz“, grunzte er. „Kauf dir was Schönes.“
„Du bist der beste Vater der Welt.“
„Schon besser.“
Sie wechselten zweimal die Bahn und stiegen um in einen Bus, der sie in nur fünf Haltestellen zum Restaurant bringen sollte.
An der dritten Haltestelle geschah es.
Bond sah eine schwarze Frau mit Jeans und Pullover, die einstieg und sich nur zwei Sitze hinter ihm hinsetzte. Verstohlen blickte er sich langsam um. Kein Zweifel.
Ororo Natiwi hatte die Bühne betreten.
Währenddessen gingen Amal und Richard richtig in ihrer Rolle auf. Sie parkten den Audi A3 in einem Parkhaus nahe des Restaurants, kauften sich Bier und überblickten die gesamte Ecke, während sie sich lautstark über Star Trek unterhielten. „Picard ist der bessere Kirk. Mehr sage ich nicht.“
Amal hatte seine Dose Bier schon in einem Rinnstein entleert und tat so, als würde er trinken. „Blödsinn“, bemerkte er lallend. „Ich verlange Beweise.“
Richard legte nach. „Einige der dunkelsten Kapitel unserer Welt handeln von der Vertreibung einer kleinen Gruppe von Menschen zum Wohle der Mehrheit. Ich hatte gehofft, dass wir aus unseren Fehlern gelernt haben, aber einige von uns haben das anscheinend nicht.“
„Verdammt gutes Zitat. Aber Kirk sagte einst: Wir Menschen sind voller unvorhersehbarer Emotionen, die die Logik nicht lösen kann.“
„Klingt eher nach Spock.“ Richard wandte den Kopf und sondierte aus den Augenwinkeln die Lage. „Ich sehe wenige Gäste, aber es ist auch noch früh. Wir sollten den Standort wechseln.“ Er griff zu seinem Koffer mit der Drohne. Dabei rülpste er leise.
Amal blickte ihn stirnrunzelnd an. „Hast du etwa getrunken?“
„Verrat es keinem weiter“, griente Richard und stiefelte los. „Muss unser Idol doch nicht wissen. Hat gerade viel Spaß mit Teri, möchte ich wetten. Der alte Sack.“
Rasch sagte Amal ein kleines Gebet auf und eilte ihm nach, als plötzlich das gesamte Parkhaus erzitterte.
Bond richtete seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung, während er mit dem Rücken zugewandt seinen ärgsten Feind wähnte. Der Bus der Linie 322 war voll, kein Wunder zum Feierabend hin, also war ein Kampf ausgeschlossen. Aber war das auch Natiwi klar?
Er spürte, wie er sich verkrampfte. Er hatte keine Deckung, nicht mal eine Waffe. Schnell ging er seine Aktionen durch: er konnte schon die nächste Station aussteigen, dann würden sie laufen müssen. Was würde ich an ihrer Stelle machen? Und schon fielen ihm die Möglichkeiten ein: sich mit einer vergifteten Nadel heranwagen, oder lieber doch eine geräuschlose Pistole? Wenn die Berichte stimmten, war Natiwi niemand, mit dem man gerne in einer Seitengasse kämpfte. Es nützte nichts – sie mussten früher aussteigen.
Zuvor holte er sein Handy hervor und tippte etwas in seinen Chat. Teri blickte zu ihm und las die Nachricht: Hinter uns. Nicht umdrehen. Die Nächste raus.
Teri wurde ein Spur blasser. Unmerklich bewegte er das Handy herum und stellte die App für die Fotokamera ein. Machte von sich ein Foto. Bewegte die Hand weiter nach rechts. Tippte auf den Auslöser.
Natiwi blickte gelangweilt zu ihm hin. Und dann tat sie etwas, was er nicht verstand. Sie stand auf und…
Amal und Richard sahen sich entgeistert an. „Hast du das auch gespürt?“
Etwas knirschte, dann aufgeregte Stimmen. Richard richtete seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Das Parkhaus war ausgedehnt und hatte zwei Ausgänge mit einem Zugang zu einer weitöffentlichen Einkaufspassage. Es war von hohen Mauern umgeben, nur zwei Gassen führten zu der belebten Straße. Er stellte den Koffer bei dem Wagen ab und rannte los.
Amal war schneller und konnte bereits die Sirenen hören. Flink zog er sein Handy und tippte die Notrufnummer ein. Zusammen rannten sie zum Zugang zur Passage und rochen Qualm. Ein beißender Gestank, dazu aufgeregte Stimmen und von Panik erfüllte Menschen, die in alle Richtungen davonstoben. Schnell brachte er sich vor aufgebrachten Menge in Sicherheit und deutete auf sein Handy: „Die Leitungen sind belegt. Kein Durchkommen!“
„Eine Bombe?“
Zweifel ausgeschlossen.
„Wir müssen helfen“, sagte Amal und rannte voran.
Eine Drogerie hatte sich förmlich in Rauch aufgelöst. Zu allen Seiten zeigten Explosionsspuren das Ausmaß der Zerstörung, herumfliegende Glasscherben hatten eine Menge Passanten verletzt, wenn nicht gar getötet. Richard fuhr sich panisch über die Haare. „Was sollen wir nur tun!?“
„Wir müssen helfen“, wiederholte Amal und rannte zu einer Frau mit einem Kinderwagen.
„Großer Gott.“ Richard spürte, wie er bleich wurde, als er gegen einen einzelnen Schuh trat. Und sein Besitzer lag zusammengekrümmt weiter vorn. Und der Gestank…
… unbeschreiblich.
Nicht weit entfernt, vor dem Haupteingang, stapfte Steven Shannon durch ein Gewühl der Leute – mit so eisigen Blick, dass ihm die Leute freiwillig aus dem Weg gingen. Er trat zu dem improvisierten Steuerstand, den sein Überwachungsspezialist auf einem Klapptisch neben dem Van eingerichtet hatte. Der Spezialist hob seinen Daumen. „Die Kameras sind eingefroren, die letzten Minuten sind gelöscht.“
Shannon betrachtete die Serie von Standbildern und hielt bei einer verschwommen Vergrößerung inne. Dort war er zu sehen, direkt bei der Drogerie. „Löschen Sie das. Fügen Sie sie ein.“ Er wandte sich um und konnte schon die Sirenen von weitem hören. „Los jetzt! Eine Minute, dallidalli!“
Der Spezialist steckte einen USB ein und tippte so schnell Befehle ein, dass Shannon es vorkam, als würden sie vor seinem Auge verschwimmen. Dann klappte er den Laptop zu. „Fertig.“
„Gut. Alles zusammenpacken. Klaus, fahr den Wagen weg.“
Der bullige Kerl hinter dem Steuer grunzte leise und wartete geduldig ab, bis der Spezialist mit seinem Equipment eingestiegen war. Dann rollte der Wagen davon.
Mit dem Krankenwagen kamen auch die Polizisten. Shannon hielt seinen Ausweis hoch: „Bin gerade erst dazugekommen! Schnell! Sperrt sämtliche Ausgänge und beginnt mit einer Suchaktion! Das war ein Terroranschlag. Lasst die Rettungskräfte durch.“
„Wenn Sie unbedingt ein Foto haben wollen, dann fragen Sie doch einfach.“
Bond starrte die Frau vor sich sprachlos an – die Augen einer mutigen Frau. Oder war sie verrückt? Nein, den Blick kannte er zur Genüge. Dann war sie eben cool. Sehr cool.
„Verzeihung. Ich habe von mir ein Selfie gemacht“, log er.
„Ich wünschte, ich wüsste, wonach Sie suchen. Das würde helfen, alles in die richtige Perspektive zu rücken.“
„Wenn Sie es wünschen, kann ich es auch löschen“, wandte er ein. „Soll keiner sagen, ich würde jemandes Privatsphäre stören.“
Natiwi nickte. „Mitten in einem Bus sollte man das nicht machen. Ja, bitte tun Sie das. Sonst werde ich grob.“
Möchte ich wetten. „Ja, entschuldigen Sie nochmal.“ Er hob beschwichtigend die Hände. „Nichts für ungut.“ Sie starrten sich an. Dann löste sie den Blick und stieg die nächste Station aus.
„Was war denn das“, fragte Teri leise.
„Sie hat mich nicht erkannt“, flüsterte Bond ihr zu. „Ich dachte, sie würde mich kennen. Ich wäre Ihr Ziel. Kommen Sie.“
Sie stiegen aus, und stellten fest, dass sie eine Station zu weit vom Restaurant entfernt waren. Zu Fuß dauerte es nun beträchtlich länger. Sie hatten zwar noch Zeit bis zum Rendezvous, doch Bond fühlte sich unbehaglich. „Kommen Sie! Wir müssen rennen.“
„Warum? Ist das nicht auffällig?“
„Richtig. Nehmen wir ein Taxi.“ Er stutzte, hielt im Laufen inne und spürte es kommen. Etwas war geschehen. Eine Straße weiter stoben mehrere Krankenwagen aus einer Straße und flogen mit Blaulicht nur so dahin. Teri nahm ihr Handy zur Hilfe. „Oh.“
„Der Terroranschlag erfolgte in einer Einkaufspassage in Köln und forderte dreizehn Menschenleben. Das Tatwerkzeug war eine Bombe. Es ist davon auszugehen, dass die Bombe in einem Papierkorb in der Nähe einer Drogerie gelegt worden ist.“ Bond und Teri starrten wie gebannt zum TV-Bild in dem Pub, in das sie kurzfristig Infos sammeln wollten. Zu Bonds Überraschung tauchte kurz das Gesicht eines Bekannten auf: „18:40 Uhr, ein Bild des Grauens. Ich muss sagen, ich kann im Moment überhaupt nichts mehr sagen. Ich sehe nur hier, der ganze Eingang hier, der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG Tag der Veröffentlichung: 07.01.2024 Alle Rechte vorbehaltenImpressum
ISBN: 978-3-7554-6646-8