Langsam fuhr Brown am Einkaufszentrum vorbei, als er den kleinen Jungen bemerkte. Er kam aus dem Haupteingang, schien vielleicht drei oder fünf Jahre alt zu sein und sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, die Brown bestens kannte. Er wollte nicht weinen, würde aber gleich losheulen. Brown hielt kurz an und betrachtete eingehend die Kulisse: eine gut besuchte Einkaufsmeile zwischen der Altstadt und dem Hauptbahnhof von Croydon. Jeden Samstagmorgen unternahmen gestresste Eltern mit ihren Zöglingen einen Einkaufsbummel durch die überfüllten Passagen, kämpften sich durch die allgemeine Hektik der Weihnachtsfeiertage und hofften inständig, dass die greinenden und nach Geschenken gierenden Kinder bis zum Abend sich wieder beruhigt hatten. Manchmal entschwand ein Kind und tauchte ab im Trubel, um noch ein bisschen länger zu glotzen und zu träumen.
Brown hielt seinen Wagen an und spürte die vertraute Anwandlung von Ekel. Doch je öfter er ein Kind aufgriff, umso schwächer wurde das Gefühl. Irgendwann würde es ganz verschwunden sein, aber die Frage blieb, was der Händler mit ihnen anstellte. Beim ersten Mal hatte Brown den schmierigen Händler gefragt und als Antwort bekommen, dass sie sicher und geborgen ein neues Zuhause bekommen würden. Dabei hatte er ihn ausdruckslos angestarrt, und Brown hatte in der Pause folgende Botschaft verstanden: Und wenn du schlau bist, fragst du nicht weiter. Die Spielschulden waren hoch, und wenn er binnen zwanzig Stunden dem Händler nicht die Ware brachte, würde er mehr als nur Unannehmlichkeiten erdulden müssen.
Brown litt unter Schlaflosigkeit, machte sich Gedanken über die kleinen Engel und wünschte sich insgeheim, er hätte nie damit angefangen in kleinen verrauchten Bars Karten zu spielen. Aber seine Leidenschaft gehörte den Karten und jedes Spiel war ihm recht, solange man dabei gewinnen konnte.
Aufmerksam betrachtete Brown den Jungen. Er wollte, dass ihm jemand half, dass ihm jemand die richtige Frage stellte: Hast du deine Eltern verloren? Sollen wir sie suchen gehen?
Doch es wäre nicht klug gewesen, sofort auszusteigen und sich dem Jungen zu nähern. Brown suchte nie an denselben Orten zweimal und achtete stehts auf aufmerksame Wachmänner und Kameras. Das Timing war wichtig. Zweimal waren sogar die Eltern rechtzeitig aufgetaucht und einmal hatte ein besonders aufmerksamer Wachmann ihn bis zu seinem Wagen verfolgt. Noch drei Fahrten. War das zu viel verlangt? Er atmete tief durch, hängte seine Invalidenplakette an den Rückspiegel und steuerte den Lieferwagen in eine Parkbucht speziell für Invaliden, denn sie lagen immer günstig und nach seiner Erfahrung würde niemand Fragen stellen.
Er stellte den Motor ab und holte seine Tasche hervor, in der das Chloroform, einen Lappen und Klebeband aufbewahrte. Das Kind konnte ihm aus seiner misslichen Lage heraushelfen, doch einmal erwischt würde es das Ende für ihn bedeuten. Unangenehme Fragen, eine Ermittlung und Knast drohten – und einen nicht amüsierten Händler, der am Ende seiner Haftzeit auf Michel Brown warten würde. Und sicher würde er Mittel und Wege finden, Brown die Ernsthaftigkeit der Lage klarzumachen.
Brown stieg aus, zog die Kappe über seinen Kopf und näherte sich vorsichtig dem Jungen, der sich immer ängstlicher umschaute. Jawohl, dachte er, der Kleine musste um die fünf Jahre alt sein, vielleicht sogar sechs. Er wirkte zart und trug keine Secondhand-Ware, sondern teure Kinderkleidung. Brown hatte mittlerweile einen Blick für Kinder reiche Vorstädter bekommen und seltsamerweise machte ihm diese Erkenntnis seine Arbeit etwas erträglicher: die Reichen würden sich mit ihrem Verlust schon irgendwie arrangieren, vielleicht adoptierten sie wieder ein Kind oder bezahlten einen teuren Psychologen dafür, den Schmerz weg zu therapieren. Ein hässlicher Gedanke.
Langsam fing der Junge an zu weinen. Wenn er laut werden würde, würde jemand auf ihn aufmerksam werden. Das konnte Brown nicht gebrauchen.
Brown beschloss seine Chance zu nutzen. Die Brust des Jungen zuckte, und die Zeit wurde knapp. Er ging zu dem Kind, ein junger Mann im Khaki-Hemd und einem Gesicht voller Sorgen. Die Hände auf die Schenkel gestutzt, beugte er sich über den Jungen, der ihm sein verstörtes, zartes Gesicht zuwandte. Himmelblaue Augen starrten ihm entgegen, wobei die Farbe durch die Tränen intensiviert wurde.
„Hast du deinen Daddy verloren, mein Sohn?“ fragte Michel Brown und lächelte freundlich.
Drei Jahre später
Captain John Hole durcheilte mit energischen Schritten den Flur, der zu seiner Kommandobasis führte. Seine Sekretärin hatte ihn mitten beim Frühstück zu einer unerwarteten Besprechung gebeten, und die zwanzig Minuten, die er dadurch verloren hatte, wirkten sich nun äußerst unangenehm auf den Zeitplan des Hauptverantwortlichen von Backdoor aus, einer Untergruppe des privaten Sicherheitsunternehmens SpaceTec, die für die sichere Verwahrung des größten Freiluft- Gefängnisses der Galaxie verantwortlich war. Zum Glück konnte sich Hole auf seinen Mitarbeiterstab verlassen. Sie kamen pünktlich, starteten die morgendlichen Programme, überprüften die Ergebnisse der Nachtschicht und konnten ihn über den gegenwärtigen Stand unterrichten. Gewohnheitsgemäß checkte er sein Tablet, der er immer bei sich führte. Keine Nachrichten.
Der schlanke Mitte Vierziger besaß einen trainierten Körper, der mal jung und attraktiv gewesen war – jetzt fielen ihm andere Adjektive ein. Kleine wie große Narben zeugten von einem entbehrungsreichen, disziplinierten Leben auf Militärbasen und Schießständen. Er näherte sich den Türen zu seinem Arbeitsplatz mit seinem üblichen schnellen Schritt. Die beiden Wachen, die dort mit voller Bewaffnung standen, registrierte er kaum. Sie waren fast unsichtbar für ihn, ein Teil der Einrichtung wie die Nieten an den Drucklufttüren. Alle vier Stunden wurden sie ausgetauscht, doch kamen sie ihm alle identisch vor, mit ihrem starren Blick, dem ausdruckslosen Gesicht, der weißen Panzerung, und der schweren Waffen. Schwarz, weiß, braun, Frauen, Männer, für John sahen sie alle gleich aus. Sie waren auserlesene Wachen, hochbezahlt und im Ernstfall fähig, entsprechend zu agieren. Genau wie sie waren auch alle Techniker, Mechaniker, IT-Spezialisten und selbst die Lagerarbeiter im Dock handverlesen und mehrfach geprüft worden. SpaceTec geizte nicht mit fürstlichen Löhnen, aber dafür wollten sie auch Resultate sehen.
Die Türen öffneten sich lautlos und gaben ihm den Weg in sein Allerheiligstes frei. Wie zu erwarten war sein Team bereits vollzählig versammelt, emsig bei der Arbeit, im Dienste der Firma. Und diese Kommandozentrale war dafür der perfekte Ort. Hier gab es nur das Beste von allem, die besten Apparate, die besten Programme und die besten Mitarbeiter. Die Resultate würden das beweisen. Nachdem er herumgegangen war und sich davon überzeugt hatte, dass alles genau so war, wie er es haben wollte – fast zu schön, um wahr zu sein -, wandte er sich endlich dem Hauptbildschirm zu.
Der Hauptbildschirm zeigte eine blass glänzende Kugel freischwebend im All, ein Klasse M-Planet mit der leicht irreführenden Bezeichnung Oasis, die sicherlich nicht zum Verweilen und zur Stärkung von müden Gliedern einlud. Früher einst ein dichtbesiedelter, frisch kolonisierter Planet der Gesellschaft, bis unerwartete Meteoriteneinschläge das geordnete Leben praktisch unmöglich machte und aufgegeben werden musste. Doch die Gesellschaft schmiss nichts weg – Oasis hatte nun eine neue Bestimmung gefunden. Nach der Aufgabe Oasis und der Errichtung eines Freiluftgefängnisses sorgten die Satelliten von SpaceTec dafür, dass nichts den Planeten verließ. Irgendwo weit oben im Orbit kreisten Dutzende von schwerbewaffneten Satelliten herum und schirmten alles ab. Funkverkehr hingegen war vielleicht nicht erlaubt, wurde aber auch nicht unterbunden. John hatte im Laufe der letzten Jahre die Erkenntnis gewonnen, dass es einfach niemanden interessierte, was nach Oasis kam. Was dort landete, würde auch dort sterben.
Wer jedoch viel Geld hatte und wusste, wen man fragen musste, konnte sich die Dienste von Captain John Hole und seiner Gruppe Backdoor sichern.
Zahlreiche Satelliten, Drohnen, versteckte Kameras und letztendlich die eingepflanzten ID-Chips der Gefangenen vermittelten eine nie endende Soap-Opera, in Live und in Farbe. Dagegen konnte das Bezahl-Fernsehen nicht anstinken, fand John und betrachtete die endlos wuselnde Welt der Generierten und Verlorenen.
Nicht alle Verurteilten auf Oasis waren „kleine Fische“, die wegen Autodiebstahl oder Steuerbetrug auf der Erde geschnappt und weit draußen ins All geschickt wurden. Einige wenige liebten ungezügelte Geilheit, sadistische Neigungen, die Sehnsucht nach Raub und Mord oder waren einfach nur fehlgeleitet in ihrer übersteigerten Form der Kinderliebe. Einige verstanden sich als Geschäftsleute, andere reklamierten ihr legitimes Recht, pervers zu sein. Erst vor Gericht bemühten sie sich darum, selbst als Opfer anerkannt zu werden, die Heilung und Verständnis bedurften. Kaum waren sie auf dem Gefängnisplaneten, kehrten sie allzu gerne auf den Spielplatz ihrer verklebten Fantasie zurück und schufen sich ihre eigenen kleinen Reiche. Wer geschickt war, konnte hier sein Paradies finden.
Für die meisten war es die Hölle.
Preston Smith, sein junger, dunkelhaariger, ehrgeiziger Assistent, wartete bereits auf ihn. Er sah so angespannt aus, dass John befürchtete, er würde gleich von einem Bein auf das andere hüpfen. Aber er konnte es seinem Schützling nicht verdenken. Nach allem, was sie in den letzten vier Jahren beobachtet hatten, entwickelte sich Oasis … abenteuerlich.
„Was gibt es Neues auf der Spielwiese“, sagte John zu seinem Assistenten. „Und nur die wichtigsten Punkte, bitte.“
Smith nickte. „Die H-66 wollen einen Deal mit den PureNations, aber ihr Anführer ist krank geworden, was seine Generäle dazu veranlasst, um über seine Nachfolge zu streiten. Im Osten von Extraktion Vier hat sich ein Clan an einem Wasserloch breitgemacht. Da ihre Anführer sich laut ID mit Kolonisierung auskennen, könnte es der Beginn von einer ruhigen, friedlicheren Kolonie werden. Überwiegend Frauen“, bemerkte er mit einem anzüglichen Grinsen.
John unterdrückte ein Stirnrunzeln. Es gefiel ihm nicht, dass Smith dazu neigte, sich zu sehr für die Leben der Gefangenen zu interessieren; es kam ihm nicht besonders professionell vor. Aber Smith war ein derart guter Analyst und darüber hinaus so fleißig und loyal, dass John versuchte, über solche Spleens hinwegzusehen. „Wollen wir hoffen, dass die anderen Banden ihnen Zeit lassen, sich eine gut geschützte Basis aufzubauen. Sie mögen Kriminelle sein, aber auch sie verdienen Ruhe und Frieden. Was noch?“
„In den letzten vier Stunden vierzehn Ausfälle“, bemerkte Smith trocken und zeigte auf sein Tablett mit den dazugehörigen IDs und vollständigen Namen und Hintergrundgeschichten. John überflog die Zeilen.
„Schade“, bemerkte Smith leise. „Der alte Gorrsion hat es nicht geschafft. Safeknacker und Einbrecher. Hab seine Karriere in der Zeitung verfolgt. Wurde beim Wasserklau erwischt. Die Wölfe von Durow lieben harte Strafen.“
„Ist Teams Eins wieder zurück?“
„Wie gewohnt erfolgreich“, bestätigte Smith mit sanfter Stimme und rief eine weitere Datei auf. Ein unrasierter Mann saß nackt und bloß auf einem Labortisch und ließ sich von Ärzten untersuchen. John wusste, dass es Live-Aufnahmen direkt über seiner Kommandobasis waren. Die Extraktionsgruppe aus Spezialisten hatten gemäß der Tradition von Backdoor einen Häftling von seiner Gruppe getrennt und mittels Raumschiff wieder ins gewohnte Leben zurückgebracht. John beobachtete das sprachlos wirkende Gesicht des Mannes, als könne der Gefangene nicht verstehen, dass er bald wieder auf der Erde sein würde. „Gab es Komplikationen? Ich wette, er konnte es nicht erwarten“, sagte John mit väterlichen Stolz und dachte dabei an sein erstes Team, das er eigens für solche Missionen ausgesucht hatte. Probleme konnte er nicht gebrauchen, denn sonst war Backdoor nichts anderes als eine Beobachtungsstation für Voyeure und eine teure Art der Freizeitbeschäftigung, denen man bald den Stecker ziehen würde.
„Wie Geister“, bestätigte Smith wohlwollend. „Rein und raus. Niemand hat etwas bemerkt.“
„Da werden sich seine Angehörigen aber freuen. Und unsere Anteilseigner auch.“ Über den Behörden auf der Erde machte sich John keine Gedanken. Es gehörte zum Service dazu, dass die Heimkehrer ein neues ID-Implantat bekamen – der Rest lag bei ihnen.
„Wo wir gerade davon sprechen“, begann Smith und deutete auf einen Konferenzraum hinter den Monitoren, hinter dessen Verglasung zwei Menschen standen und auf die Computerwelt unter sich starrten. „Der Haupteigner von SpaceTec möchte Sie sehen. Er kam mit der letzten Fähre. Inkognito.“
John wandte sich um, öffnete den Mund, sagte aber nichts und nickte nur. „Weitermachen“, bemerkte er leise und neugierig geworden machte er sich auf dem Weg.
Derrick Waldmann war ein Philanthrop, ein Macher und einer der reichsten Männer der Welt. Der fünfundvierzigjährige Mann mit dem breiten Kreuz und seinem Südstaatenakzent investierte klug in allen möglichen Bereichen und war als erfolgreicher Inhaber eines Mischkonzerns schon zweimal auf dem Titelblatt der Times zu sehen gewesen. Von Derrick Waldmann hieß es, er habe als junger Mann durch sein bloßes Erscheinen eine in vollem Gange befindliche Party schlagartig verstummen lassen. Ein sprudelnder Quell voller Tatendrang und Unternehmergeist – doch als John die Tür öffnete, traf er einen gebeugten Mann vor, der bleich und schwach in einem Sessel vor sich hinstarrte. „Derrick!“
Der Milliardär sah sich um und erspähte John. „John! Gut siehst du aus.“
John trat auf ihn zu und reichte seinem Freund die Hand und stutzte, als dieser aufstand und ihn umarmte. Derrick wirkte, als fände er aus fernen Welten zurück in die bittere Realität und hätte viele Stunden Schlaf nötig.
Die meisten Menschen sahen einander in die Augen, um Aufmerksamkeit und Interesse zu bekunden. Es geschah eher nebenbei, man nahm den anderen als ganze Person wahr. Was von Pupille zu Pupille geschah, folgte vornehmlich einer Funktion, nämlich Kommunikation zu ermöglichen und zu vertiefen. John hielt seinen Freund fest, länger als für gewöhnlich und fühlte sich wie eine Boje im Meer, an die sich ein Ertrinkender festklammerte. Natürlich kannte er den Grund. „Derrick, es tut mir leid“, hauchte er seinem Freund in die Schulter und tätschelte ihm den Rücken. „Das sollte keinem Kind geschehen.“
Der schwerreiche, aber nun sehr arme Mann ließ schließlich ab und starrte ihn aus Augen an, die nur Kummer und Verzweiflung kannten. John fühlte sich überrumpelt. Fast hasste er sich dafür, dass er seinem Freund nicht beigestanden hatte, als er die Nachricht vernommen hatte. Man konnte sich nicht davor schützen, denn alle Medien berichteten davon: Kevin war endlich gefunden worden.
„Ich hätte dich ja besucht, aber ich komme hier schlecht weg“, stammelte John zu ihm. „Wie geht es Martha?“
Derricks Augen ließen Halbheiten nicht zu. Sie suchten keinen Kontakt, sie erzählten eine Geschichte.
Er schüttelte langsam den Kopf und ließ sich schließlich langsam wieder in den Sessel zurückfallen. John war schockiert über diese Schwäche, denn Derrick war als harter Finanzhai bekannt, der skrupellos Firmen splittete. Jetzt wirkte er, als hätte man ihm alles genommen. Im Grunde stimmte das auch. Kein Geld der Welt konnte ihm helfen. „Martha geht es gut.“ Es war ein Stöhnen, fast mehr ein Raunen und beide wussten, dass es eine Lüge war. John besaß Taktgefühl, um nicht weiter nachzubohren. Hinter Derrick bemerkte er den zweiten Gast.
John runzelte die Stirn und starrte den dünnen Mann im schwarzen Sakko an, der mit seinem glattrasierten Schädel wie ein Pinguin wirkte. Doch auch seine Augen erzählten eine Geschichte: sie kommunizierten ähnlich wie ein Habicht, der aufmerksam nach Beute Ausschau hielt. Die Art, wie er sich von der Glasfront zu John umdrehte, verriet, dass er zu aufrecht, zu kontrolliert vorging, um nur über Paragrafen sich den Kopf zu zerbrechen. Unter seinem Blick fühlte sich John wie unter Röntgenstrahlen durchdrungen. Jeder Makel, mit dem man bis zu diesem Moment gut hatte leben können, würde aufgebläht und ins Unerträgliche potenziert werden. Dieser Mann war ein Killer.
John sah ihn an, offenbar verwirrt, seine Aufmerksamkeit plötzlich zwischen sich und Derrick dreiteilen zu müssen.
Der Mann trat einen Schritt vor und reichte ihm die Hand. „Hansen. Spiro Hansen.“
„Sehr erfreut“, sagte er lahm und schüttelte die schwielige, feste Hand auf dessen Handrücken das Tattoo eines Skorpions zu sehen war. Definitiv kein Anwalt. „Möchtet ihr etwas zu trinken? Wir können uns etwas aus der Mensa holen lassen“, half John aus und fühlte sich wie eine schlechter Gastgeber.
„Ein andermal.“ Derrick setzte sich schweratmend zurück, als würde ihm jede Bewegung zusätzliche Energie kosten. Doch er lächelte sanft und klopfte John freundschaftlich auf die Schultern. „Von deiner Tochter hört man nur Gutes. Sie hat ihre eigene Kanzlei aufgemacht. Washington D.C soll zu dieser Jahreszeit schön sein. Du kannst stolz sein.“
„Ja, das bin ich auch.“
„Ich möchte sie mehr einbinden. Wir suchen noch gute Kräfte, die unsere Interessen vertreten.“ Er lächelte John väterlich an. „Ein paar Empfehlungen hier und dort, und sie sitzt bald im festen Sattel. Gute Anwälte gibt es wie Sand am Meer, aber gute Geschäftspartner machen das Leben erst erträglich.“
„Sie würde sich freuen, Derrick. Das ist sehr nett von dir.“ Er lächelte dankbar. „Willkommen bei Backdoor.“
Derrick legte den Kopf zur Seite. Dann streckte er langsam die Hand aus. John ergriff sie. Seine Finger umschlossen die seinen mit einem kaum wahrnehmbaren Druck. „Mir gehören neununddreißig Prozent von SpaceTec, John, und ich hätte eine Bitte. Wir sind Freunde und ich weiß deine Anteilnahme zu schätzen. Deine Schwester hat sich gut um Martha gekümmert. Darum bin ich persönlich hier, um dich um einen persönlichen Gefallen zu bitten.“ Er warf Hansen einen kurzen Blick zu, als wolle er sich vergewissern, dass er noch da ist. „Das ist eine vertrauliche Angelegenheit. Spiro ist mein Sicherheitsexperte, übrigens. Ich möchte deine Dienste in Anspruch nehmen.“
„Natürlich, Derrick.“
„Du sollst einen Mann ausfindig machen.“
„Wenn er auf Oasis ist, ist er schon so gut wie gefunden.“
„Ich plane meine Anteile etwas zu verlagern. Die fünf Prozent an Backdoor werde ich verdreifachen, sobald der Markt am Samstag wieder aufmacht. SpaceTec und wir“, damit meinte er die Liga der Aktionäre, die Milliarden in das Projekt steckten, „stehen deinen Aktivitäten wohlwollend gegenüber. Bis zum Monatsende sorge ich dafür, dass du nie wieder um einen Cent betteln musst.“
John schluckte und nickte freudig. Wo war der Haken?
Derrick und Hansen lehnten sich zurück und schienen zu warten.
„Als Chef der Finanzen plädiere ich natürlich für ein Ja“, bemerkte John, als habe er seine Gedanken erraten. „Erstmals hätten wir den seltenen und bemerkenswerten Fall, dass wir unserem Haupteigner einen Gefallen tun dürfen. Wenn wir die Person herausholen, gäbe es noch zu besprechen, welche ID sie bekommen muss. Natürlich kann sie nicht zurück in ihr Heimatland gehen. Auch Europa würde ich für unklug halten. Aber es gibt schöne Ecken in Asien. Vietnam ist beliebt, wenn man mit ein paar Kübeln Regen leben kann. Ein ruhiges, beschauliches Leben erwartet sie dort und das Essen ist ganz wunderbar.“
„Er kommt mit nach Bora Bora“, antwortete Derrick. „Und Hanssen wird ihn von hier bis dort begleiten.“
Also ein Mann.
John nickte, war aber nicht zufrieden. Bora Bora war einer der luxuriösesten Paradiese der Erde, aber auch dort kannte man Gesichtserkennungssoftware. „Wir können uns diesen Luxus erlauben, weil bislang kein Staatsanwalt davon Wind bekommen hat. Sollte sich jemand unvorsichtigerweise verplappern oder einer der Verurteilten wieder in sein altes Jagdrevier aufmachen und die Behörden ihn entlarven, sind wir dran, Derrick. Ich würde mich ungern schmerzhaften Fragen aussetzen, die ich nicht beantworten kann.“
„Mach dir keine Sorgen.“
„Na schön“, bemerkte John nach einer Weile. „Ich sage dir das, was ich allen Kunden sage: wenn es sich bei der Zielperson um einen Drogenkartellboss oder einen Serienmörder handelt, werden wir nicht aktiv. Das ist mein Ernst, Derrick. SpaceTec würde mir die Haut abziehen, wenn ich einen Ed Gein oder Ted Bundy wieder auf die Menschheit loslasse. Das kannst du sicherlich verstehen.“
„Mach dir keine Sorgen.“
„Um wen handelt es sich?“
„Michel Brown“, antwortete diesmal Hansen und zog einen USB-Stick aus einer Tasche, den er vor sich auf den Glastisch legte. Sein Gesichtsausdruck blieb gelassen, aber John bemerkte, wie Derrick kurz die Augen schloss. Die Art, als würde er einen altbekannten Schmerz versuchen auszuweichen. Johns Radar begann zu summen.
„Ist es etwas persönliches?“
„Nein“, sagte Derrick gedehnt und starrte an die Decke, als müsste er sich die Worte zurechtlegen. „Er ist der Sohn einer meiner Sekretärinnen und hatte hier und da ein bisschen Pech. Wollte Chemie studieren, aber hat sich Schulden angehäuft. Hat mit Drogengeld sein Studium aufgebessert und wurde erwischt. Hatte eben Pech“, meinte Derrick achselzuckend. „Das bin ich ihr schuldig.“
„Deine Sekretärin, sagst du“, stellte John klar und steckte den USB in seinen Laptop. „Mmh, mal sehen. Verurteilt wegen Drogenbesitzes und Herstellung von synthetischen Drogen. Kam vor zehn Monaten an.“ Er rief auf seinem Tablet eine Zusatzdatei auf und ließ den Rechner nach der ID fahnden. Ja, der war hier. „Er lebt in einer Extraktion, die überwiegend friedlich ist“, sagte er und wusste gleich, dass Derrick etwas vorhatte. Aus dem beigefügten Datensatz lebten Michel Browns Verwandte in England in der Nähe von London. Die Eltern waren aber schon vor einem Jahr bei einem Brand verstorben.
Derrick lügt. Ist das zu fassen?
Er starrte seinen Freund durchdringend an und entschloss sich Klartext zu sprechen. „Ich betone, dass ich die Verantwortung allein für jeden Einsatz trage.“
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6291-0
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