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Dramatis théatron

 

Als Provinzen werden im Kaiserreich von Haven die größten teilsouveränen Verwaltungseinheiten bezeichnet.

Die Grafschaft Bruma – heute besser bekannt als die Dunkle Steppe - ist die nördlichste Grafschaft der Provinz Haven. Seit den andauernden Konflikten zwischen Magiern und den Adelshäusern leidet das Land unter Zerstörung und dem dauernden Auftauchen von magischen Konjunktionen. In der ganzjährig dunklen Region der Dunklen Steppe leben vorwiegend an die dortigen Witterungen angepasste Pflanzen und Tiere. Nadelwälder und verstreut wachsende Winterblumen wie die Milchdistel bilden dort die natürliche Vegetation. Landwirtschaft ist in dieser unwirtlichen Gegend kaum beziehungsweise schwer möglich, obgleich es mit den kleineren Ortschaften wie Belhaven oder Brückstett auch Fischhandel gibt. Die Gegend galt schon seit jeher als die "Müllkippe Havens", wo Luft, Wasser und Boden vergiftet seien und somit alles Verfaulte und Verdorbene letzten Endes landet. Zahlreiche Kreaturen wie Bären, Wyvern, Greife, insektenartige Endriage oder ein einsamer Zyklop können hier angetroffen werden.

Belhaven ist der Geburtsort unserer Heldin.

Graf: Graf Ravix von Candele, Lord der Dunklen Steppe, verwaltet ein von Kriegen und Seuchen heimgesuchtes Reich im Norden. Sein ältester und bester Freund ist der Herold Jarre Assengarde.

 

Schwarzdornwald: die über 46.000 Quadratkilometer große Fläche aus Nadelbäumen gilt als reiches Tierreservoir und eine wahre Fülle an Flora und Fauna – und leider auch als verflucht. Selbst Monster halten sich von dem Wald fern, und weder Baron noch Holzfäller wagen es jenen unbewohnten Teil von Haven für sich in Anspruch zu nehmen. Man sagt, die mächtige Hexe dort webe zusammen mannshohen Spinnen satanische Runen, um jeden Mann und jedes Kind für immer bei sich zu behalten.

 

Die Grafschaft Alftand im Westen ist das Highland von Haven. Es besteht aus windgepeitschten Eisebenen im Norden, dichten Wäldern im Süden, mit einer kleinen Menge an Boden, die für den Bergbau genutzt werden kann. Alftand und Rainform pflegen seit Jahrzehnten einen stabilen Tauschhandel, wo Erze gegen Getreide den Besitzer wechseln. Da die Klans von Alftand überwiegend in Familienfehden verfeindet sind und die Konflikte noch anhalten, gilt die Grafschaft als instabil und notorisch bankrott. Dieser Kessel konkurrierender Fraktionen wird von der Gräfin Annabelle von Jannus und ihrem Klan zusammengehalten – mehr schlecht als recht.

 

Die Grafschaft Rainform liegt angrenzend an dem Schwarzdornwald und der Südebene und wird als das Tor zum Süden bezeichnet. Der Schwarzdornwald sorgt mit seiner Dichte an Nadelbäumen und gewissen okkulten Zaubern dafür, dass das raue Klima aus dem Norden und die Monster den Süden nicht überschreiten. Im Gegensatz zu den anderen Grafschaften begrüßen die „Brugger“ den Handel und haben mächtige Gilden, die die Produktivität des Reiches maximieren. Eine Reihe von Gilden suchen immer neue Handelsmöglichkeiten und gelten untereinander als Konkurrenten, aber viele glauben, dass sich alle letztendlich vor dem Graf Harald von Brugge verneigen. Die Farmen rund um Brugge sind berühmt für ihre ummauerten Gärten und dem ertragreichen Ernten. Es ist das ertragsreichste Land von Haven – von der Schönheit und Wärme ähnlich wie bei uns das südliche Frankreich.

Vor langer Zeit lag eine schwere Fehde auf den Beziehungen zwischen Haven und der Grafschaft Brugge, welche jedoch unter Valento von Brugge im Jahre 1143 beendet wurde.

Die meisten Fahrenden Ritter sind hier anzutreffen, da Raubritter und ähnliches Gesindel vom reichen Handel angezogen werden und für Unfrieden sorgen.

Graf: Harald von Brugge; Präfekt und Gildenvorsitzender.

 

Haven: Alle Gesetze und Politik, die über die des lokalen Stammes oder Dorfes hinausgehen, laufen entweder durch den Hof in Haven oder die Heiligen Tempelanlagen, wo die größten Götter wie Arterios, Doris und natürlich Al-Pahl angebetet werden. Die Tempel überwachen einen Großteil des Gesetzes und beraten die Stammesführer und Grafen in allen Angelegenheiten. Alle wahre Macht darüber hinaus auf rein lokaler Ebene wird von König Ludwig gehalten, und die Priester sorgen dafür, dass jeder, der es wagt, ihre Gesetze zu überschreiten, gefunden und hart bestraft wird.

Der Rat setzt sich aus den Grafen der Länder zusammen. Zusammen mit dem Obersten Hirten Plaqueis stellen sie eine wirkungsvolle Instanz dar, die jederzeit den König beraten oder auch zurechtweisen kann. Da die Kaiserstadt Haven keine Güter produziert und vom Handel abhängig ist, gelten die Worte des Rates als wegweisend.

 

Der Osten (Dunkelforst)

Eins der größten Domänen in Haven ist der gesamte Osten, der von den Wachtürmen Aqua Sulis, Are Cluta und Dubis entlang des Walls eifersüchtig bewacht wird. Entlang des Walls hat niemand je den Boden betreten. Gerüchten zufolge haben sich die Bewohner bewusst vor vierzig Jahren von Haven abgenabelt und sind sehr erfolgreich, dabei nichts und niemanden in ihr Reich hineingelangen zu lassen. Trotz allem werden Waren zwischen Brugge und der Dämmerküste transportiert – an den Grenzen werden Pferd, Wagen und Güter einfach ausgetauscht. Die wilden Spekulationen beim Volk reichen von monsterverseuchten Ebenen bis Utopia, wo Menschen des Osten friedlich mit den letzten Elfen in Eintracht leben.

 

Carnac: Laut einigen Seefahrern soll es eine ausgedehnte Vulkaninsel weit über das Tränende Meer im Süden geben, auf die noch kein Mensch Fuß gefasst hat. Meerjungfrauen, Bäche aus Gold und paradiesische Strände warten auf den mutigen Abenteurer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Band Eins: Die Stadtwächterin

Reich der weißen Hexe – Buch Eins

 

Band Eins: Die Stadtwächterin

 

1.

Sie waren nicht zurückgekehrt, weder im letzten Monat noch zu Beginn dieses Aprils– den letzten vereinbarten Termin. Der Außenposten war rund um die Uhr besetzt, und hätten die Wachen nur das Echo eines Hilferufs gehört oder den schwachen Widerschein einer Lampe auf der matschigen Ebene der Dunkelküste gesehen, dort, wo es zur Handelsstraße nach Haven ging, so wäre unverzüglich ein Stoßtrupp losgeschickt worden.

Die Anspannung wuchs mit jeder Stunde. Die Dorfwache von Belhaven schlossen nicht für einen Moment die Augen. Die Flaschen Kartoffelschnaps und die Spielkarten, mit denen man sich sonst die Zeit zwischen den Patrouillengängen vertrieb, staubten vor sich hin, obwohl kein Mann hier gerne auf Alkohol verzichtete. Ihre zwanglosen Unterhaltungen waren erst kurzen, nervösen Absprachen gewichen, und jetzt herrschte nur noch unheilvolles Schweigen. Jeder hoffte, als Erster das Pferdegetrappel der zurückkehrenden Handelskarawane zu hören. Zuviel hing davon ab.

Alle Bewohner von Belhaven, ob Knabe oder Greis, verstanden es mit Waffen umzugehen. Seit Beginn des Krieges der Magier hatte sich der Himmel verdunkelt, so dass kein einziger Sonnenstrahl mehr die hellen Sandstrände an der Küste erreicht hatte. Der Wind war wie zum Herbstbeginn kalt und schneidig geblieben, als wäre die Zeit für alle stehengeblieben. Die fünf strohgedeckten Hütten mit der Mühle und dem hohen Palisadenzaun vor dem Damm glichen zusammen wie eine uneinnehmbare Bastion aus längst ausgedienten Möbeln, Treibgut und umgedrehten Booten. Obwohl Belhaven hauptsächlich vom Fischfang lebte, verspürte kaum jemand Lust rauszufahren, um dort sein Glück mit den Fischen zu versuchen: Der magische Krieg dauerte schon zu lange an und schien Tiere wie Menschen zu vertreiben. Immer öfter blieben die Netze leer.

Die ganze Welt schien sich gegen die Bewohner verschworen zu haben: schwere Gewitterwolken hatten sich über die Dunkelküste gelegt. Selbst die Möwen blieben eines Tages aus, und als der strenge Landvogt zur halbjährlichen Inspektion einfach nicht kam, ahnte jeder, dass es mit ihrem Dorf zu Ende ging. Der Schnee vom letzten Winter wollte nicht schmelzen, Frühling und Sommer hatten an der Dunkelküste keinen Einzug gehalten, so dass sich die Tage wie eine ständige Wiederholung von tristen Graupeltagen anfühlten. Die jungen Leute blieben jedoch bei den Alten, gingen Tag für Tag ihren Beschäftigungen nach und beteten zu den Göttern, die schwere Zeit endlich enden zu lassen. Auch wagte es niemand die Heide zu durchqueren, da von Raubrittern, gefährlichen Bestien und schlussendlich der Krieg die Rede war. Gemeinschaftlich hatte man sich darauf geeinigt, die Sache einfach auszusitzen. Diesmal aber verzögerte sich die Rückkehr der Karawane. Und zwar so sehr, dass nur ein Schluss möglich war: Etwas Unvorhergesehenes musste geschehen sein, etwas Furchtbares, das weder die schwer bewaffneten Begleitsoldaten noch die jahrelang gepflegte Beziehung zu den anderen Dörfern hinter der Heide hatten verhindern können.

Die Heide war eine üble Fläche aus unbebauten Land, auf dem kilometerweit außer Sand, wenigen feuchten Stellen und Wacholderbüschen nichts Gutes zu finden gab; das spürte jeder. Selbst die Pflückerinnen erlaubten es sich nicht weiter als hundert Meter nach frischen Beeren zu suchen und wurden immer von ihren Männer begleitet.

Der Wachmann schirmte seine Augen vor dem grellen Licht der Öllampe ab, als er in der Ferne auf der Straße eine Bewegung ausmachte. Verräterische Schatten huschten umher, das Zwielicht des Abends und ein unnatürlich zäher Nebel vom Westen sorgte für Beklemmung und Angst, so dass der Mann mit Helm und Forke beinahe die Nerven verlor: „Heda, wer holpert und stolpert zu dieser Stund´? Nenn mir deinen Namen, sonst ist es aus!“

Die anderen Wachen, nur fünf Männer, die sich schon ewig kannten, warfen sich besorgte Blicke zu. Einer von ihnen bekreuzigte sich stumm.

„Es ist bloß Spatz, Leute!“, verkündete die Wache und sofort lockerte sich seine angespannte Haltung. „Niemand wichtiges.“

„Ich würde zehn von ihr eintauschen, wenn dafür bloß die Karawane käme“, warf der Nächste ein, ohne sich umzudrehen.

„Alles ruhig“, meldete einer von der Ostseite. „Wie ist die wieder rausgekommen?“

Grummeln unter den Männern, während die Gestalt bis zu dem Tor kam.

 

Die Frau ging mit langen Schritten durch eine flache Ebene aus Eis und Matsch. Dabei zog sie die Pelzjacke fest über die Brust zusammen bis unters Kinn, sodass sich die Kapuze eng um ihren Kopf legte. Bei einem typischen kalten Abend wie diesem half auch nur wenig. Auch diese Frau marschierte mit einer grimmigen Entschlossenheit, die den Bewohnern von Belhaven eigen war. Nur den Willen jeden Tag aufs Neue zu meistern.

„Spatz“, oder auch Vic genannt, hatte als junge Frau keine besonderen Merkmale vorzuweisen: Schultern und Arme waren durch harte Arbeit sehnig, die Hände knotig und grob geworden. Die bräunlichen Haare waren kurzgeschnitten, eine Narbe am Kinn und eine oft gebrochene Nase verunzierten das ehemals hübsche Gesicht der drahtigen Frau, die für die Bemerkungen der Männer nur einen herablassenden Blick übrighatte. „Mach das Tor auf, Kalle.“

Der Mann namens Kalle schöpfte mit einer Kelle das Öl aus dem Eimer und befüllte seine Laterne, als hätte er alle Zeit der Welt. „Und, wie war´s?“, fragte er.

„Nichts.“ Sie schniefte, zog die Schultern ein und lehnte sich gegen das Tor. „Der nächste Hof ist auch ruhig. Niemand mehr da. Von hier bis Bückstett ist alles totenstill. Drei Tage bin ich keiner Menschenseele begegnet.“

Während die anderen von ihren Plätzen neugierig näherkamen, beendete Kalle seine Arbeit und zündete die Laterne an. An einem Stock gebunden ließ er sie von der Palisade herunter und leuchtete der Frau ins Gesicht. „Warst du auch schon in Hüvelrogh? Wie steht es mit Hüvelrogh?“

„Da gibt es nichts zu sehen. Zehn Hütten am Fenrir, und der Fluss ist so ruhig wie ein Friedhof.“ Sie deutete mit den Schultern Richtung Osten. „Ich war zweimal dort. Aber wenn du unbedingt willst, geh ruhig, es sind nur fünf Meilen von hier.“

„Verdammter Mist“, knurrte der Mann. Jedermann wusste, dass Kalles Schwester dort mit ihrer Familie ein Gasthaus betrieb. „Deinesgleichen bringt nichts anderes als Miesmacherei.“ Dabei spuckte er aus.

Jedes Dorf hatte jedem Kind, jeder Frau und jedem Mann eine besondere Rolle zugedacht. Von früh bis spät gab es genug zu tun, die meisten lernten von ihren Eltern das Handwerk der Familie und so war es Brauch schon immerdar. Doch manchmal gab es Jemanden unter ihnen, der nicht dazugehörte, der seinen Platz nicht fand und nicht recht zu wissen schien, was von ihm erwartet wurde. Vic, seit jeher Waise und allein, half überall aus und gehörte doch nirgends dazu. Die Bitterkeit dieser Rolle hatten dieser Rose gefährliche Dornen verpasst, wie die Alten so schön sagten.

Das Tor wurde geöffnet. Vic wanderte erschöpft zu ihrem Platz, band sich die Schürze um und tat das, was sie meistens tat: Weißlinge an der Fischbude entschuppen. Der eklige Gestank aus fauligen Melonen und verbrannten Horn machte ihr schon gar nichts mehr aus, denn ihre Nase war gegen Gerüche im höchsten Maße abgestumpft. Der Eimer mit den Fischen wurde nie leer, und abends musste das Fischgekröse mit den Händen vom kalten Boden aufgelesen und zu einem Misthaufen weit nahe am Tor gebracht werden. Es war eine stumpfe und stupide Arbeit, und so sollte es auch heute sein. Victoria von Belhaven war noch eine junge Frau, hatte alle Zähne und noch keine Gicht und keine Schwindsucht, wie sie gerade in ihrem Dorf oft vorkam. Aber dafür Träume.

Dieter lehnte seine Armbrust an ein Fass und schielte schräg nach unten. „Von hier oben habe ich einen guten Ausblick“, grunzte er schmierig. Die Männer von Belhaven waren einfache, gemütliche Charaktere, die sich auf einfache Wünsche im Leben beschränkten: nicht zu viel Arbeit, immer einen Schnaps in der Hand und eine willige Frau an ihrer Seite die das Oberhaupt der Familie als Geschenk der Natur anpries. Gerötete Augen, frühe Falten und vernarbte Arme von einer harten und grimmigen Arbeit auf See. Und der Charme eines Sägefisches…

„Nur weiter so“, zischte sie leise. „Ich hasse diesen Ort und alle, die hier leben.“ Vic redete häufig mit sich selbst. Sie hatte sich in ihrer eigenen Gesellschaft immer wohl gefühlt, doch sie antwortete sich selbst nur selten. Sie arbeitete weiter und weiter, alles mechanisch, während die linke Hand den Weißling packte und die Rechte mit drei Stichen des rostigen Messers das Gekröse entfernte. Der rechte Zeigefinger taub von dem kalten Blut, wenn sie etwas nachhalf. Wenn sie nicht Weißlinge entschuppte, dann schleppte sie Wasser. Monatelang schleppte sie Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer, Hunderte von Eimern am Tag, denn das Dorf verlangte Unmengen an Wasser zum Waschen, zum Weichen, zum Brühen, zum Färben, zum Kochen. Selbst im Sommer troffen ihre Kleider am Leib vor lauter Wassertragen, ihre Hände blutig und stinkend vom Fisch und dazu im Winter kalt und fast gefühllos. Es war eine mehr tierische als menschliche Existenz: keine Familie, keine Freunde, keine netten Worte, keine Feiern. Zum Schlafen sperrte man sie ein. Das Essen war miserabel, denn es waren nur die Reste. Sie war ein nützliches Haustier. Es war hart der Spatz von Belhaven zu sein.

Doch es kommt der Zeitpunkt, wo selbst der dümmste Besitzer sich fragt, ob man das Haustier nicht auch anders nutzen kann: Vic war eine junge Frau mit dünner Taille, drahtigen Armen und einer herben Schönheit gesegnet. Sie brauchte langsam lange Binden, um ihre Brüste zu umwickeln, denn Begehrlichkeit entsteht bei Dingen, die man jeden Tag sieht. Die Männer verstanden langsam, aber sicher, dass sie kein Kind mehr war. Nur eine Frage der Zeit.

Kalle war verheiratet, aber kein Kostverächter. Es kam der Punkt, wo ihn die Langeweile strafte, denn Inge war eben nur Inge – nach Jahren des Aushaltens vorhersehbar geworden, der Beischlaf mechanisch und so fad geworden, als würde man jeden Tag eine Praline essen. Irgendwann wollte Kalle etwas anderes…

Kalle kam an den Fischstand heran. Stellte eine dampfenden Becher Tee hin, und Vic argwöhnte schon, dass es eine Art Belohnung war. Für was? Natürlich für den Marsch durch die gefährliche Heide, oder aber…

Kalle berührte sie nicht gerade sanft am Gesäß und grinste fett, als sie zusammenzuckte. Wie alle Männer in Belhaven war auch er grob, stank nach Fusel und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. Er grunzte schwer, drückte sich heran und fühlte tief.

Endlich hatte sie den Mut sich umzudrehen, zwängte sich vorbei und schubste ihn weg. Atmete tief durch. Rührte sich nicht, starr vor Schreck, tat keine abwehrende Bewegung. Die Stimmung hatte sich verändert. Die Frauen würden nicht zur Hilfe kommen. Das taten sie nie.

Kalle lachte und griff sie am Arm.

An diesem Abend ballte sie die Faust, schwang sie nach vorn und wusste sofort wie durch eine Eingebung, wie sie sich bewegen musste. Ein Schlag, indem alles enthalten war, was einen guten Schlag ausmachte: Kraft, Schnelligkeit, Technik und eine erschreckende, unwiderstehliche Schönheit an roher Gewalt. Hart erwischten die Knöchel sein Kinn, ließen ihn taumeln und schließlich zusammenbrechen. Kalle riss die Augen auf, Speichel benetzten sein Kinn und wirr hing sein Haar im Gesicht. Die anderen Männer schwiegen verdutzt.

Sie spürten nicht, dass die Frau den Kompass für ihr künftiges Leben gefunden hatte.

Natürlich griffen sie an.

 

Das Entengrün war mehr als nur ein Ort, wo man etwas essen konnte. Es war die wichtigste Schenke (und die einzige!) und wie überall in solch kleinen Dörfern eine Art Mittelpunkt der Gemeinschaft. Zum Abendbrot speiste allein der Dorfschulze, da die Männer es vorzogen daheim bei ihren Frauen zu sein und den Kindern den Weg ins Bett zu zeigen. Dann trudelten die Arbeiter langsam hierher, um zu essen, zu trinken und den neusten Klatsch zu hören. In vielerlei Hinsicht war es das Herz von Belhaven.

Momentan machte das Herz Geräusche.

In Belhaven war man Ärger gewohnt, und nach einem handfesten Streit mit Kalle, Dieter, Jop, Steve und Otmar war es zwar laut geworden, aber doch nicht zu laut. Das änderte sich daraufhin, als Kalles Frau Inge nebst Freundinnen schimpfend sich Vic vornahmen und ihr unschöne Dinge an den Kopf warfen. „Kriech wieder unter deinem Stein!“, „Deinesgleichen bringt nichts anderes als Miesmacherei.“, „Eine Frau – die sich prügelt!? Unnatürlich, widerlich unnatürlich!“. Schließlich verzogen sich die Frauen keifend und lärmend, und Vic setzte sich mit einem hochroten Kopf an ihren Stammplatz. Weit von den anderen entfernt. Es war kein schönes Leben.

Grimmig kippte sie ihren Grog herunter, scharrte mit den Füßen unter ihrem Tisch und versank in Melancholie: wohin sollte ihr Weg sie führen? Egal, nur weit weg. Siebzehn Lenze und ein jedes war überschüttet mit stumpfsinniger Arbeit, einem Dorf, das sie nicht schätzte und einem Land, das von den Göttern verlassen schien. Mit ähnlichen Gedanken verbrachte sie fast jeden Abend hier, trank und sinnierte über Sinn und Unsinn, machte Pläne und verwarf sie wieder und ging schließlich übermüdet in ihre Schlafecke hinten zu den Pferden.

Doch an diesem Abend…

…passierte etwas Neues.

In Belhaven war man Fremde nicht gewohnt, denn selten kamen Händler hierher - je nach Lage des Konflikts. Ein Hausierer mit einem Rucksack voller Bürsten hatte sich an den Tresen gesetzt, sein Gepäck abgestellt und sich langsam umgeschaut.

Der Mann hatte ein freundliches Dutzendgesicht, weiche und warme Augen und schien immerzu zu lächeln. Schon fünf Minuten nach seiner Ankunft – in denen er jedem in der Schenke einer schweigenden Musterung unterzogen hatte, lächelte und jeden mit seinem Blick förmlich zu durchbohren schien – hatte er Vic beobachtet. Schließlich kam er herüber, setzte sich ihr Gegenüber und schaute sie an.

„Du wirkst wie jemand, der schnell aus dieser Gegend verschwinden will.“ Seine Stimme war ein zischendes Flüstern, das trotzdem auf unangenehme Art amüsiert und freundlich klang. „Mögen dich die Leute etwa nicht?“

Vic wagte einen Blick in seine Augen und sah weder Tücke noch Hinterlist. Trotzdem nahm sie sich vor, vorsichtig zu sein. „Was weißt du schon?“

„Es war nicht zu überhören, wie Belhaven zu seinem Spatz steht. So nennen sie dich doch, nicht wahr? Du solltest die Welt bereisen, dich in einer aufgeklärten Gegend versuchen. Wie wäre es mit einem Schnaps? Ich könnte versuchen dich aus deiner Lage zu befreien.“ Er wandte den Blick zum Wirt und bestellte zwei Schnäpse.

„Ja, aber was in aller Welt könntest du…“

„Oh, wir Krämer kommen viel herum. Wenn der Weg des Schicksals verworren scheint, kommt die Zeit der Furcht und nicht selten die Aufgabe. Kennst du die Bedeutung von Leuchttürmen?“

Sie musterte ihn. „Glaubst du, dass ich dich begleite und Bürsten von Tür zu Tür verkaufe?“

„Wohl nicht.“ Er lachte leise auf. „Wir können einander helfen. Du gibst mir etwas, ich gebe dir etwas. Alle gewinnen.“

Sie bedachte ihn mit einem schiefen Blick. „Ich mache so was nicht.“

„Ich bin nicht am Beischlaf interessiert“, stellte er klar. „Du hast das Gefühl allein zu sein, am falschen Ort zur falschen Zeit, während die Welt da draußen Abenteurer sucht. Selbst ein tumber Tor kann dort zum Helden werden. Vertane Chancen können einem das Leben madig werden lassen. Ich brauche eine zielstrebige und intelligente Person die gewisse ...Abläufe in Gang setzt.“

„Die reinste Schmeichelei.“

„Du willst doch von der Dunkelküste fort, oder nicht?“

Das Mädchen wartete ihre Antwort erst ab, als der Wirt das Gewünschte brachte. Schnell kippte sie ihren Schnaps herunter, klopfte auf dem Tisch und rülpste leise.

„Ich bin Davo Tamoni, ein bescheidener Händler.“ Er ahmte lässig eine Verbeugung an. „Ich biete dir Überfluss für Körper und Seele. Ein großes, wahres Abenteuer quer durchs ganze Land. Das Schicksal weniger Auserwählter! Du musst mir nur zuhören. Schenke mir deine Zeit, um alles zu erklären. Und es wird sich für dich lohnen. Deine Wahl.“

„Warum ich, …Davo?“

„Warum nicht, Spatz? Das Land ist im Chaos. Die Jahre vergehen, doch alles Gute braucht noch immer Verteidiger. Und du könntest diejenige sein, die dieses Land braucht!“

Die Atmosphäre hatte sich geändert. Jetzt starrte sie ihn an, unsicher, ob er sie auf den Arm nehmen wollte oder zu denjenigen gehörte, die absonderliche Sachen dachten und den Bezug zu dieser Welt verloren hatten. Das mit der Welt etwas nicht stimmte, wusste jedes Kind, aber Vic lebte so weit entfernt vom Geschehen, das sie nicht mal sagen konnte, wer am Konflikt beteiligt war. Es gab Gerüchte, nicht mehr als Hörensagen, aber sie war keine Närrin: sie war nichts anderes als eine ungeliebte Person in einem weit abgelegenen Dorf und ohne jede Bildung. Und doch schien der Hausierer einen Plan zu haben…

„Na gut! Wie sieht dein Plan aus?“

Zufrieden lehnte sich Davo zurück und lächelte, während er von seinem Schnaps trank. „Erzähle mir von deinem Erlebnis mit dem Ritter. Damals, als du neun Lenze alt warst.“

Ihr stockte der Atem, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie Angst. Niemand weiß davon! Er strahlte eindeutig etwas Unangenehmes aus. Als hätte er alles gesehen und sie, die den größten Teil ihres Lebens an der Dunkelküste gelebt hatte, nichts. Und doch wollte sie raus; fort von hier und egal wohin. Am besten …sofort. Entgegen jeder Vernunft begann sie zu erzählen. „Der Ritter war… eine Frau“, hauchte sie leise und fürchtete fast, er könne sie nicht verstehen, doch Davo schaute sie nur interessiert an, als würde er ihre Worte gut verstehen und ihre Gedanken gleich dazu. „Eine Frau in silberner Rüstung, groß und wunderschön, frei und stark. Sie hatte einen grauen Wallach und ein Breitschwert auf dem Rücken, und sie kam zu mir hin. Schenkte mir einen Apfel. Ich hatte niemanden“, fügte sie leise hinzu und kam sich erbärmlich vor. Doch Davo lachte sie nicht aus.

„Fahrende Ritter“, erwiderte der Hausierer verstehend. „Herolde des Rechts. Ich verstehe deine Begeisterung.“

„Woher weißt du davon? Vielleicht sollte ich gehen…“

„Überstürze nichts.“ Sanft hielt er sie zurück. „Du willst ein fahrender Ritter werden? Das kannst du, aber von hier aus… ich fürchte, ohne meine Hilfe wirst du hier versauern.“ Er lächelte entschuldigend, als täte ihm die Sache leid, griff in seinen Mantel und holte eine Karte hervor. Bevor er sie ausbreitete, blickte er sie prüfend aus seinen schwarzen Augen an. „Wenn du nicht willst, …“

„Na schön.“

„Das ist die Dunkle Steppe“, erklärte er und stellte beide leere Gläser auf die Karte, damit sie nicht wieder von allein zusammenrollte. Vic hatte noch nie eine Karte gesehen; geschweige ein Pergament, das voller Symbole und Namen war. Mit seinen spitz geschnittenen, sehr sauberen Fingernägeln zeigte er auf den äußersten Rand, wo mit blauer Tinte Wellen gemalt worden waren. „Belhaven ist das nördlichste Dorf an der Küste. So gut wie alle besiedelten Gebiete leiden unter den Auswirkungen des Krieges und haben mit den Nachwirkungen zu kämpfen. Neben den üblichen Banditen bekommst du es daher auch oftmals mit plündernden Bauern, desertierten oder missgelaunten und reizbaren Soldaten zu tun, denen das Gesetz nicht mehr viel bedeutet. Abseits der Ansiedlungen sieht es nicht viel besser aus. Je weiter du gen Süden wanderst, umso wilder wird das Niemandsland, das ihr die Heide nennt. Zahlreiche Kreaturen wie Bären, Wyvern, Greife, insektenartige Endriage oder ein einsamer Zyklop durchstreifen die unberührte Natur. Und was dich im Dunklen auflauert, willst du erst gar nicht wissen. Du musst zum Schwarzdornwald und triffst dort jemanden, der dir hilft. Das ist unser erster Halt. Die Hexe des Waldes ist eine alte Freundin von mir.“

„Ich paktiere doch nicht mit einer Hexe!“

„Ohne sie wirst du es nicht durch den Schwarzdornwald schaffen, fürchte ich“, warf er schnell ein und sah sie kritisch an. „Höre, Spatz, du hast nicht den Luxus dir deine Freunde auszusuchen. Der Weg zu Ruhm und Anerkennung ist hart und steinig. Die Hexe ist die Erste, der du dich unterordnen musst. Missachte ihre Weisungen und du bist tot. Deine Sippe wird mit dir untergehen.“

Schweigend sah sie ihn an.

„Ich führe dich an den Orten, wo das Schicksal Dutzender von deinen Entscheidungen abhängt, wo Geschichte geschrieben wird und das Wohl der Masse höher wiegt als das Wohl Einzelner. Ich mache dich mit Personen bekannt, die dir helfen werden und noch eine wichtige Rolle spielen. Du wirst Freunde und Feinde finden, fremde Ort sehen und überall in Haven deine Spuren hinterlassen. Du bekommst dein angestammtes Recht, deinen Wappen und dein Land. Du wirst mit Barbaren hausen und mit Adeligen dinieren, du schmeckst das Blut deiner Feinde und den süßen Nektar der Auserwählten. Du wirst als alte Frau in den Armen deiner Sippe in Wohlstand und Zufriedenheit sterben. Ein Leben voller Streit, Kampf und Abenteuer. Jetzt noch gierst du nach Kampf und Ehre…, wenn du meinem Rat beherzigst, wirst du satt und zufrieden im Haus deiner Eltern leben.“

„Meiner… meiner Eltern!?“ Wieder mal fühlte sie sich überrumpelt. Zu viele Informationen. Zuviel von allem. Langsam begann ihr den Kopf zu schwirren. „Was … kannst du mir über meine Eltern sagen?“

„Verzeih mir, Spatz, aber das musst du selbst herausfinden. Suche in den Archiven in Haven, dort wo sich die Fahrenden Ritter treffen.“

„Kannst du mir nicht mehr sagen?“

„Wenn auf dem Bucheinband das Ende stehen würde – würde dann noch jemand Bücher lesen?“

„Wieso habe ich die ganze Zeit das Gefühl, das ich dir nicht trauen kann?“

 

2.

Mit seinem Rucksack auf dem Rücken stand sie da, während Davo den Wirt mit klingenden Münzen bezahlte. Alles ging so schnell. Zeit ihres Lebens hatte sie sich diesen Tag sehnlichst herbeigewünscht, doch jetzt schien er da und sie fühlte sich kein bisschen bereit. „Das kommt mir zwielichtig vor.“

„Verabschiede dich vom Wirt. Schließlich gehst du für immer fort.“

Brungolf, der gute alte Brungolf, der immer die gleiche fleckige Schürze trug, die Haare niemals zu waschen schien und immer wortkarg seine Gäste bediente. Jener große Mann starrte sie an, als würde er ihr zum ersten Mal gewahr. „Du gehst?“

„Ja.“

„Dann geh.“ Sprachs, und wandte sich um.

Für immer?

„Ich… sage Auf Wiedersehen“, half sie knapp aus, doch es schien nicht die gewünschte Reaktion hervorzurufen. Mit offenem Mund blickte sie dem Wirt nach, der nur mit den Schultern zuckte.

Mit dem Bürstenhändler ging sie hinaus in die kalte Nacht und zum ersten Mal nahm sie alles in sich auf, als wolle sie sich jeden Stein, jede Pfütze und jedes schimmelige Dach sorgfältig einprägen. Es beginnt! dachte sie verzückt und auch ängstlich. Wieso fiel es ihr nur so schwer loszulassen? Dort die Stelle, wo Kalle sie zum ersten Mal unsittlich berührt hatte, dort der Stand wo sie monatelang Fische ausgeweidet hatte. Das klebrige Blut tagelang an den Händen, das Gekröse in einen Eimer werfend und der Rücken voller Schmerzen vom ewigen Stehen. Hier war sie als Kind von einem Hund gebissen worden, war weinend durch die Gassen gelaufen; nach einer Mutter rufend, die doch nie kam, um sie zu trösten.

Dieser Ort hat mich krank gemacht, und doch kenne ich nichts anderes. Aber was ist, wenn es überall auch so ist?

Als hätte er ihre Gedanken erraten, murmelte er: „Ist es nicht.“

Als sie an den Häusern vorbeigingen, gingen die Lichter dort eins nach dem anderen aus. Vic wollte am liebsten zu jedem gehen, sich ruhig verabschieden und ein Gefühl von Wehmut in ihren Augen erkennen. Als Zeichen, das ihnen ihr Spatz doch etwas bedeutete. Das ihr Verschwinden eine Lücke hinterlassen würde. Doch der grauenvolle Gedanke, dass die Bewohner ähnlich wie Brungolf reagieren würden, versetzte ihr Schmerzen. Sie hasste es, wenn man sie ignorierte. Aber das hier… war schlimmer.

Plötzlich konnte sie es kaum erwarten endlich zu gehen.

Sie kam an dem Stall vorbei, wo frierend und mager die Mähren standen und dösten. Im dritten Heuschober war noch deutlich die Kuhle im plattgedrückten Heu zu sehen, und nun überkam sie wirklich ein Gefühl zwischen Wehmut und Heimweh. Sie kniete sich hin und zog aus einer Nische eine handgefertigte Puppe hervor: ein dürres, verdrecktes Püppchen ganz und gar aus Stroh geflochten, das fast gänzlich in ihrer schwieligen Faust verschwand. Ein persönlicher Schatz, vielleicht sogar ihr wertvollster Besitz und sie steckte es ein. Das Gefühl der kratzigen Puppe auf ihrer Haut machte es ein bisschen besser.

Davo stand abseits davon und zog es vor zu schweigen.

Am Tor angekommen waren alle Wächter vor Ort; alle, außer Kalle, der sich bestimmt bei Inge sein Veilchen versorgen ließ. Sie blickte in die Gesichter der groben Männer, die ihr seid, Erblühen ihrer Jugend nachgestellt hatten. Sie kannte ihre klebrigen Gedanken in- und auswendig und war nur froh, dass dem niemals Taten gefolgt waren. Gerne hätte sie ihnen allen giftige, schlagfertige Sätze entgegengeschleudert, doch der passende Moment verstrich und auch hier ging das Tor widerspruchslos auf und entließ die Reisenden in die Nacht.

Den Bewohnern von Belhaven schien es gleichgültig.

Das war es. Ich bin fort. Für immer.

Das Tor schloss sich mit einem Krachen.

Erst da wurde ihr das ganze Ausmaß der Situation bewusst und die Auswirkungen dessen, was passiert war. Vic befiel ein schleichendes Gefühl der Panik. „Vielleicht… sollte ich es nicht tun.“

Davo wandte sich um. „Wenn du jetzt nicht gehst, wirst du morgen auch nicht gehen. Oder übermorgen. Du wirst bleiben. Und nichts wird sich ändern.“ Er trat näher heran, holte aus seinem Mantel eine kleine Flasche hervor, entkorkte sie mit seinen Zähnen und nahm einen Schluck. Reichte sie weiter. „Es beginnt, kleiner Spatz.“

Sie nahm die Flasche und nahm einen tiefen Schluck von dem rauchig öligen Gesöff. Sie seufzte, warf noch einen letzten Blick zurück und nickte dann mit dem Kopf in Richtung Heide. „Gehen wir, ehe wir erfrieren.“

 

Sie hielten sich in der Sicherheit der Handelsstraße auf, durchquerten die Heide und kamen gut voran. Der Krämer ging, ohne ein Wort zu sagen vorneweg. Mit einem Mal wurde Vic klar, dass sie nachts draußen umherwanderten, während Nachttiere auf der Jagd waren, und das sagte sie auch. „Man wird uns in Ruhe lassen“, war sein einziger Kommentar und dabei drehte er sich nicht um, sondern bestimmte das Tempo. Die Nacht war friedlich, der Mond nur eine blankpolierte Scheibe, die wegen der Wolken nur zu erahnen war und die Dunkelheit nichts als eine Decke die sich schweigend über alles legte. Nur zu gerne hätte sie ihn alles gefragt: über die südlichen Landen und ihre Feudalherrscher, über die Bewohner von Haven und die Fahrenden Ritter, über ihre Eltern und ihr Erbe. Dutzende von Fragen, die einfach hinauswollten, doch sie sprachen kein einziges Wort miteinander. Zu frisch war die Furcht durch zu viel Geräusche weitaus Schlimmeres als einen Genfling heraufzubeschwören – also schwieg sie lieber und verschob die Fragen auf später. Das Wandern machte ihr nichts aus und die Meilen flogen so dahin, als wären es den Beinen egal, dass sie ohne Schlaf und ohne Pause gehen könnte. Ab und an nickte sie ein, wachte schreckhaft wieder auf, nur um festzustellen, dass sie im Halbschlaf einfach weitergegangen war. Der Weg und ihr Begleiter waren noch immer da und kurz hatte sie das Gefühl durch einen unheimlichen Traum zu wandern, der nie enden würde: auf der Suche nach etwas, was ihr der Teufel versprochen hatte, nur um auf ewig zu wandern und doch nie anzukommen. Kurz dachte sie zwischen den Phasen aus Wachen und Schlafen darüber nach, erinnerte sich an den komisch schmeckenden Fusel und ahnte, dass er ihr eine Art Zaubertrank gegeben hatte – so musste es sein. Das gefiel ihr nicht, und sie nahm sich vor ihn darauf anzusprechen – nur um im nächsten Moment wieder in eine Art Halbschlaf zu verfallen.

Irgendwann wachte sie auf und stellte mit Entsetzen fest, dass sie auf dem Bauch lag. Sie öffnete die Augen und sah einen Käfer, der vor ihr auf der Erde krabbelte, sie roch frischen Lavendel, hört das Zwitschern der Vögel (Himmel, wie lange war das her!) und in der Ferne brutzelte etwas. Mit einem Ruck erhob sie sich.

Dort saß er.

Davo stocherte in eine Pfanne herum, saß mit überkreuzten Beinen vor einem kleinen Lagerfeuer und wirkte kein bisschen müde oder geschafft. Ein kleines Feuer brachte den Speck zum Brutzeln. Auf einer Decke lagen Brot, Trauben, Oliven sowie Butter der fett in der Sonne glänzte. Sonne.

Herrlich warme Strahlen, die ihr bleiches Gesicht bedeckten und sie glauben ließen, dass sie im nächsten Moment fast erblinden musste. Sie stöhnte auf und rieb sich die Augen. Davos Kopf wandte sich ihr zu. „Aufgewacht, die Sonne lacht. Wir haben ein gutes Stück des Weges hinter uns gebracht.“

Sie waren nicht mehr an der Dunkelküste.

Aber außer Gefahr auch nicht, denn hinter Davos Kopf bemerkte sie einen Hintergrund, der sich für immer in ihr Gedächtnis einbrennen würde.

Eine so trostlose und entsetzliche Landschaft hatte sie noch nicht gesehen. Feuersbrünste hatten hier gewütet und verkohlten Fels und abgestorbene Wälder zurückgelassen. Keine Blume wuchs an diesem Ort, kein Vogel sang. Geräusche hallten verzehrt und um ein Vielfaches verstärkt durch gruftartige Täler wie die Seufzer der Erde selbst. In der Ferne erkannte sie helle Punkte und sie begriff, dass es eine Reiterschar war, die durch die Ebene galoppierte. Der Tross schwenkte herum und griff eine Gruppe an, und sofort mischten sich die hellen und dunklen Flecken. Vic verstand, dass dort Krieg herrschte und dass der Tod auf alle lauerte.

Der Konflikt.

Davo schnitt das Brot in gleich große Teile. „Selten habe ich so ausgedehnte Landschaften und einen solchen Himmel in derart ungewöhnlichen Farben gesehen. Nordlinge sind“, er steckte sich eine Olive in den Mund und zerkaute sie, bis er weitersprach, „verschlossen, wortkarg. Die Straßen wimmeln von Banditen. Aber daran ist wohl der Konflikt schuld.“

„Warum hilfst du mir?“

„Ich brauche einen Verbündeten. Eine risikobereite Person. Du bist nichts weiter als eine Schachfigur, die vom Tisch gefallen ist. Und ich stelle dich zurück. Greif ruhig zu. An der frischen Luft schmeckt es köstlich. Oh, und keine Sorge wegen denen. Sie haben anderes zu tun.“ Er nickte unbekümmert Richtung Osten, und etwas in ihr glaubte ihm jedes einzelne Wort.

Sie starrte auf das Mahl und musste an das Gesöff in der Flasche denken. „Wenn das ein Trick ist, …“

„Du hungerst nach Abenteuer. Wie jeder junge Mensch willst du dich beweisen. Das ist dein Weg. Oh, und ich weiß, dass du mir am liebsten die Zähne rausschlagen willst. Gegen dein Temperament müssen wir etwas tun, aber nicht jetzt.“

Mühsam um Kontrolle kämpfend blickte sie sich um. Dort im Norden lag irgendwo an der Küste ihr vertrautes, zugleich verhasstes Belhaven; dort wo eine undurchdringliche Wolkendecke die gesamte Küste wie ein Leichentuch verhüllte. Im Westen hingegen blühte die Heide in ihren charakteristischen Farben: grün und Lavendelfarben. Es wirkte friedlich und entspannend. Im Süden fingen Bäume, ja ganze Wälder an und in der Ferne thronte eine beeindruckende Bergkette – das Ziel ihrer Reise. Reise, echote sie stumm und verstand augenblicklich, dass sie noch nie so weit mit den Füßen sich von zuhause entfernt hatte. Und im Osten…

Nur nicht genauer hinschauen, nicht zu den verkohlten Leichen, nicht in die Ferne wo noch immer Scharmützel stattfanden, Bruder gegen Bruder, Magier gegen Soldat. Nicht sehen, was aus einem starken, unabhängigen Land geworden war. Ein grotesker Totenacker, auf dem niemand seine Ruhe fand, eine furchtbare Fleischhalle, übersät mit abgenagten Skeletten, verwesenden Körpern, abgerissenen Leichenteilen. Und mit einem Mal wurde ihr eine mögliche Zukunft aufgezeigt, und sie musste sich setzen: der Tod auf dem Schlachtfeld war weder ruhmreich noch bedeutungsvoll. „Warum hilfst du mir?“

„Ich liebe ein gutes Ende.“ Er lächelte sanft und bedeutete ihr sich von den Oliven zu nehmen. „Ich möchte dir erzählen von einem sehr üblen Menschen auf einem Thron. Von einem verwöhnten Adeligen, der sich von Schmerz und Leid anderer ernährt. Ehemals war dieser Landstrich voller Apfelbäume und weiten Flächen voller Grün, wo fette Kühe grasten. Jetzt sind die Häuser zerstritten, alte Verträge gebrochen und Bestien streifen durch die Lande. Niemand kommt die Leichen fortschaffen, die ständigen magischen Attacken wirbeln das Gefüge durcheinander und wilde Konjunktionskreaturen stürzen sich auf die Unschuldigen. Seuchen entstehen, und Bruder gegen Bruder bekämpfen einander. Schon lange hat der König sich aus der Sache zurückgezogen; wie gelangweilte Kinder es tun, wenn das Spielzeug langsam fad wird.“

„Schrecklich. Aber du erzählst es mir nicht ohne Grund, wie?“

„Du ziehst gegen den König zu Felde.“

Die Frau gab einen heiseren Schrei von sich – unsicher ob sie lachen oder verzweifeln sollte. „Ich… ich habe nichts damit zu schaffen.“

„Ich glaube, dass dir nicht klar ist, dass König Ludwig für deine missliche Lage verantwortlich ist. Der König missachtet die Ratschläge seiner Berater und verwickelt aus Eigennutz und kindlichem Verständnis die Ländereien in einen wütenden Krieg, den du von hier gut sehen kannst. Täglich sterben hier Soldaten und Magier in einem sinnlosen Kampf – so auch deine Eltern, die nichts mit der Sache zu tun hatten. Ja, solange währt der Konflikt schon und die ehemals gleichgestellten Gegner lösten sich auf, teilten sich in religiöse und politische Gruppen, die nur selten zusammen das große Ganze im Blick haben. Das ist ein Krieg, den niemand mehr gewinnen kann und seit fast fünfzehn Jahren außer Kontrolle geraten ist. Wie viele Mütter müssen noch weinen?“ Davo redete in einer Ruhe, als würde er einem Kaufmann eine simple Sache wie das Wetter in der Ferne erklären. Er wirkte kühl und abgeklärt, schob sich eine Scheibe Brot in den Mund und blickte zur grauenhaften Ebene, als hätte er nichts anderes gesehen; oder mehr noch: als betreffe ihn das alles nicht. „Wie viele Kinder warten jetzt auf ihre Väter und Brüder, die niemals durch die Haustür kommen?“

„Es ist klar, dass du ihn nicht magst. Was hat er dir getan?“

„Wir hatten einen Pakt.“ Plötzlich änderte sich seine Haltung. Angebissenes Brot wurde achtlos fortgeworfen, die Züge verhärteten sich, als hätte er sich an eine lang zurückliegende Schmach erinnert, deren Wunde noch immer empfindlich schmerzte. „Einen Pakt, unter dem ich meine Talente und Verbindungen spielen ließ, um ihm zu verschaffen, was sich der König so sehnlichst wünschte. Doch am Zahltag drückte er sich vor seinen Verpflichtungen; mehr noch, er betrog mich und ließ mich hinauswerfen. Das lasse ich mir nicht gefallen.“ Er sprach wie gewohnt ruhig, doch in seinen Augen flimmerte es gefährlich. Sie ahnte, dass sein Zorn schrecklich köchelte. Das war es also.

„Du“, stieß sie leise hervor, „du versprichst mir, dass du mir hilfst. Du träufelst mir Honig ins Ohr, redest von meiner Familie und einem Wappen. Und jetzt zeigst du auf ein Schlachtfeld und sagst, dass ich kämpfen soll!? Ich bin kein Ritter!“

„Victoria von Belhaven… woher weiß ein Adler, das er fliegen kann“, erwiderte er plötzlich gutgelaunt. „Du hast zweifellos begriffen, dass du mehr kannst als nur Fische zu entschuppen. Ich biete dir die Wahl; einen Ausweg von der Dunkelküste. Du hast zweifellos Talent und ja, eine Ritterin bist du noch nicht…“

„Was du nicht sagst…“

„Nimm diese Chance an, oder du wirst zurückgehen. Wie viele Freunde hast du in Belhaven? Wie lange willst du noch beim Alten Svenson Fische bürsten? Wenn du zurückgehst, bist du verdammt in der Bedeutungslosigkeit. Ein Schicksal, grausamer als der Tod, gepeinigt von der grausamsten Frage des Universums: Was wäre, wenn? Eine alte, gebrochene Frau voller Bedauern. Oder… du folgst mir.“

In der Ferne grollte es dumpf.

„Schöne Reden.“

„Danke. Ich habe meine Momente.“

Da war es wieder. Diese leichte Überheblichkeit, dieses sorglose Getue eines Händlers, auf das bestimmt jeder hereinfallen konnte. Und da war noch mehr: Vic war sich plötzlich sicher mit einem Dämon zu reisen, zumindest einem Wahnsinnigen, der die Welt um sich nur als Spielfläche betrachtete. Einer Person, die aus niederen Gründen lockte und für sich einspannte. Er ist womöglich kein Mensch.

„Verpiss dich“, zischte sie heiser und wollte nichts anderes als wieder zu gehen. Einfach weiter, bis die Füße sie nicht mehr trugen. Egal, wohin. „Ich gehe zurück. Ich sterbe nicht für einen sinnlosen Krieg...“

„Komm mit mir, und ich mache aus dir einen fahrenden Ritter, führe dich von einem Abenteuer zum Nächsten und zeige dir Wunder über Wunder. Und eine Möglichkeit, die Untaten eines Kindes zu sühnen, das mit dem Leben anderer spielt, als wären es Spielzeuge. Mit deinem auch, als er dir deine Eltern nahm. Wenn du mir hilfst, werde ich dir eine Zukunft schenken von dem die meisten nur träumen. Sonst erwarte ich nichts von dir. Versprochen.“ Bevor sie antworten konnte, hob er einen Arm, als wolle er noch etwas hinzufügen. „Jetzt musst du dich entscheiden, kleiner Spatz. Folge mir, oder ziehe weiter. Was kommt dann? Frierende Nächte in der Wildnis? Eine ungewisse Zukunft? Noch mehr Menschen des gleichen Schlags wie der von Belhaven? Kommst du bei einem Müller unter, verirrst du dich in der Fremde oder fällst du den Raubrittern in die Hände? Such es dir aus.“

Sie wankte unter den Konsequenzen, sah sich irrend durch die Lande streifen ohne Plan und ohne Ziel und wusste, dass sie wählen musste. Jetzt. Langsam setzte sie sich wieder und starrte vor sich hin. Schließlich nahm sie sich vom herrlich duftenden Schinken, legte es auf eine Scheibe Brot und biss ab. „Ich bin dabei“, verkündete sie kauend.

Und Davo lächelte salbungsvoll.

 

Eine lange Zeit des Schweigens folgte, aber zumindest wurden sie nicht verfolgt. Wieder trug sie seinen Rucksack, der sich erstaunlich leicht anfühlte trotz der Bürsten, der Decke und den Lebensmittel. Sie ertrug ihre Rolle als Packesel stoisch und harrte der Dinge, die noch kommen mochten.

Nach einer sehr langen Weile bemerkte Vic häufig Spuren der alten Straße unter ihren Füßen, Stellen, an denen Generationen von Stiefeln, Hufen und rollenden Rädern die Erde fest gepresst hatten. Gelegentlich stießen sie sogar auf ein Stück Kopfsteinpflaster. Langsam hellte der Himmel auf und die Regenwolken blieben lieber im Norden, bis sie sie nicht mehr sehen konnten. Die Umgebung verändert sich seit dem Verlassen der Dunkelküste je weiter sie gen Süden wanderten: der Regen setzte seltener ein und überall wucherte das Grün und beanspruchte die Vorherrschaft. Jetzt schien die Sonne angenehm und sogar Apfelbäume tauchten hier und dort auf. Berittene Patrouillen waren öfter zu sehen, und nach den düster dreinblickenden Reitern zu urteilen, befanden sie sich nun an der Grenze zum Todesacker. Kleinere Dörfer waren in der Ferne zu erahnen, die Rauchfahnen ihrer Kamine waren in der klaren Luft wie Angelleinen zu sehen, als würden die Bewohner im Himmel nach Wolken angeln.

Nach Stunden des Schweigens brachte Davo als Erster ein Wort hervor. „Was weist du über Hexen?“

Vic schloss mit ihrem Rucksack schnell auf. „Alte, haarlose Frauen“, versuchte sie sie zu beschreiben. „Ich hörte nur von ihnen. Sie sollen mit finsteren Mächten im Bunde stehen.“

Davo blickte sie prüfend an. Als wolle er sichergehen, dass diese sich keinen Spaß erlaubte. Dann zuckte er mit seinen Schultern. „Das Übliche also.“ Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, und ging mit weichen Schritten voraus.

„Das… stimmt doch, oder?“ fragte sie unsicher.

Diese widerlichen Geschöpfe griffen Kinder auf, ernährten sich von totem Fleisch und verzauberten Mädchen und Jungen, um sie in ihren Töpfen zu kochen. Nicht um sich daran zu laben, sondern um unheilvolle Zaubertränke im Namen ihres dunklen Gottes zu brauen. Von ihnen ging nichts Gutes aus. So erzählten es sich die Menschen von Belhaven.

Davo hingegen grinste leicht, änderte plötzlich seine Richtung und hielt auf ein Stück Wald zu, dass anders als die anderen etwas dunkler und unheilvoller zu wirken schien. Von hier ging kein Trampelpfad, Vic achtete mehr auf ihre Füße beim Gehen, um nicht über Maulwurfshügel und leichte Erhebungen zu stolpern. Der Wald war kühl, schien verlassen und die Bäume hochgewachsen. Hier endeten die Grasfläche und sattes Braun und Schwarz bedeckten den Boden – voraus endlose Reihen aus Baumstämmen, die sich in der dunklen Ferne verloren. Zum ersten Mal verspürte sie Furcht; richtige Furcht, denn was konnte man schon von einer Hexe erwarten? Womöglich überraschten sie sie gleich dabei, wie sie strampelnde Kinder in einen Ofen steckte und brabbelnden Unsinn von sich gab. Und welchen Sinn machte es eine Hexe aufzusuchen…

„Warum...?“

„Wir werden die Hexe Ophelia aufsuchen. Ich rate dir, zu schauen und nicht nur zu sehen. Höre ihr zu, denn mich interessiert heute dein Herz. Wie wirst du reagieren? Wie gehst du vor? Hier müssen keine Zähne ausgeschlagen, sondern der kühle, sachliche Verstand genutzt werden. Und jetzt kein Wort mehr, denn wir befinden uns in ihrem Reich und ich möchte sie überraschen.“

Sie zitterte plötzlich und erinnerte sich an den unausrottbaren Gerüchten um Teufelswerk. Labyrinth? Reich? Unsicher geworden holte sie schnell auf und empfand für ihrem Begleiter ein besonderes Gefühl: ein klebriges Gemisch aus Angst und Ekel. Und eine Erkenntnis traf sie hart, als wäre sie gegen eine Mauer gelaufen: Er will mich an sie verkaufen, denn er ist ein Händler! Das ist alles sein Plan, von Anfang an! Ich Närrin habe mich einfangen lassen.

„Keine Angst“, bemerkte er leise über die Schulter, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Ich habe ein gutes Gefühl bei der Sache. Am Ende unserer gemeinsamen Reise werden wir uns die Hände schüttelten und unserer Wege gehen.“

Vic wischte sich schwere Schweißtropfen von der Stirn und versuchte ihr galoppierendes Herz zu zügeln. Sie waren nah.

Nach vielleicht zwanzig Minuten schien der Wald endlos zu sein: Bäume und nochmal Bäume, wohin man schaute. Eine endlose Reihe aus gleich aussehenden Stämmen, die sich scheinbar gemeinsam abgesprochen schienen, was den Wuchs anging: jeder Baum glich dem Nächsten. Es war tatsächlich ein Labyrinth. Gut möglich, dass sich mancher Wanderer verirrte und niemals nach Hause fand. Plötzlich wollte sie es hinter sich bringen, dass es endlich vorbei war. „Wann sind wir da?“

„Bald.“

„Wann ist das genau?“

„Sehr bald.“

„Wie weit müssen wir gehen?“

„Nicht sehr.“

„Ich will dir jetzt mal was sagen, du…“

Davo blieb so plötzlich stehen, dass Vic aus dem kratzigen Federbett ihrer Fantasie nicht rechtzeitig wieder auftauchte und dem Händler ungebremst in den Rücken lief. Wortlos stieß dieser die Frau zurück, senkte den Kopf und hielt sein Ohr an den nächsten Baum. Wie eine blinde Fledermaus sich ein Bild von dem sie umgebenden Raum zeichnet, schien er unhörbare Schallwellen wahrzunehmen. „Hier lang.“ Sprachs, und änderte plötzlich seine Richtung.

Vic hingegen spürte etwas anderes: den Geruch von köchelnden Suppen, einen Geruch, der nicht zu verwechseln war. Sie konnte nicht direkt fassen, was irgendwo in der Ferne köchelte, aber der Geruch weckte entfernte Assoziationen. Sie waren also nah, und plötzlich bekam ihre Furcht ein Eigenleben und sie wollte fort. Nur fort von hier!

Wo sollte sie hin? Zurück durchs Labyrinth konnte sie nicht mehr, sie war sich sicher, sich hilflos dort zu verirren… Mit klappernden Zähnen folgte sie Davo weiter, dem unheimlichen Händler von Bürsten.

Schließlich erblickte sie in der Ferne etwas, wischte die Düsternis des Waldes fort und machte das Ende des Waldes aus. Nur zwanzig Meter entfernt hörten die endlos scheinenden Reihen der Bäume einfach auf und vor ihr erkannte sie eine Hütte. Nicht aus wahllos gezimmerten Brettern, die mehr oder weniger eine Behausung abgaben, wie in Belhaven alle zugigen Bauten bestanden, sondern aus sauberen Baumstämmen, die alle die gleiche Größe hatten. Windspiele aus Knochen und bunten Federn hingen an den Ästen der umliegenden Bäume und unweit der massigen Tür thronte ein Kochtopf auf Steinen und verbreitete den besagten Duft, den Vic nicht richtig einordnen konnte. An der ihnen zugewandten Seite wuchsen Kletterpflanzen an der Wand hoch, doch auf eine geordnete, manierliche Art, als hätte ihnen jemand den Befehl dazu gegeben. Sauberes Geschirr glänzten auf einem Stein unweit eines kleinen Brunnens und selbst Stühle und ein Tisch waren vor der Frontseite zu sehen. Die schwarze Katze, die träge auf dem Dach ihr Sonnenbad genoss, wandte ihnen den Kopf zu und verlor schnell wieder das Interesse.

Mit Staunen besah sich Vic des – zugegeben – gemütlich wirkenden Heimes und versuchte sich vorzustellen, wie das alles zu ihren Vorstellungen passte. Keine Käfige voller greinenden Kinder, keine blutverschmierten Holzböcke mit Messern und Äxten und keine unheilvollen Runen. Sie tapste unsicher heran und bestaunte ein besticktes Kissen, das auf dem Markt sicherlich ein paar Münzen wert sein mochte: filigran war eine stolze Elchkuh auf grünem Samt genäht worden, dass noch im Lauf den Kopf wandte, säuberlich und akkurat. Sie warf einen forschen Blick in den Kessel und atmete auf, als sie Erbsensuppe erkannte. Das hatte also so geduftet.

Verwirrt von alldem blickte sie sich um.

„Der Unterschied zwischen Druiden und Hexen ist einfach“, erklärte Davo im Plauderton. „Die Hexen sind ausschließlich weiblich, während die Druiden alle Geschlechter in ihren Reihen akzeptieren. Die Wyrd sind havenische Hexen. Sie folgen den Lehren und Praktiken, auf die auch die Druiden zurückgehen. Die Hexe vom Schwarzdornwald nennt sich Ophelia.“

„Ist sie… böse!?“

„Keine Spur. Sie ist sogar sehr umgänglich. Nur die Bauern weben giftige Fabeln, in denen alte, haarlose Frauen Kinder fressen und so. Was der Mensch nicht versteht, fürchtet er. Doch die meisten Hexen sind hervorragende Kräutersammler und verstehen sich gut auf Magie. Ophelia herrscht über den Schwarzdornwald. Kein Ritter und kein Halunke haben je versucht, ihr das streitig zu machen.“

 

3.

Die Tür flog auf, und dann trat sie heraus: Die Frau war klein und bucklig, hatte einen schiefen Gang und schlotterweißes Haar, das in Wellen bis zu den Hüften reichte. Ihre Schultern waren vornübergebeugt, das Gesicht zerfurcht und die Augen starrten verdreht zu beiden Seiten als wolle sie versuchen zwei entfernte Ecken gleichzeitig auszuspähen. Die Hände in den Hüften gestemmt starrte sie Davo unheilvoll an. „Davo Tamoni! Und der Tag hat gerade gut angefangen.“

Davo lächelte auf seine freundliche Art und schacherte mit den Händen, während er gebeugt auf sie zuging. „Ophelia, es ist so lange her...“

„Nicht lange genug, du alter Teufel.“

„Sag doch so was nicht…“

„Das ist mein Heim, und ich bestimme, wer hier reden darf und wer nicht. Was machst du auf meinem Land? Oh, sag nicht, dass du wieder einen dabei hast…“

„Das ist Vic, auch Spatz genannt…“

Die Hexe bewegte sich angespannt und hastig wie die abscheulichen Zackenwesen in der Gischt des Ozeans. Schnell kam sie näher und beäugte die große Frau vor sich. Gebückt und klein reichte sie Vic nicht mal bis zur Hüfte. Die windschiefe Nase wackelte in ihrem Gesicht. „So was habe ich doch noch nicht gesehen! Ganz anders als der andere. Das ist… das ist…“, unsicher geworden kam sie näher, und schnupperte. Schnupperte, als wäre Vic ein saftiger Kuchen, dessen Frische man nur durch das Riechen bestimmen könnte. „Fischerin! Norden! Ich glaube es nicht! Willst du mich veräppeln?“

„Sie ist vielversprechend“, begann sich Davo zu rechtfertigen und nickte Vic aufmunternd zu. „Diesmal bin ich mir sicher. Du wirst schon sehen. Ich irre mich nie, das heißt“, er lächelte entschuldigend und grinste verschmitzt, „immer seltener, Hand aufs Herz.“

Vic blickte in hellgrüne Augen, die von satten dunklen Ringen umrandet waren. Auch die Gesichtsfarbe war bleich. Womöglich klagte die Frau über üble Kopfschmerzen. Oder sie hatte schlecht geschlafen…

Davo ergriff wieder das Wort, während sich beide Frauen anstarrten. „Ophelia, meine Liebe, ich versprach dir bei deinem Problem zu helfen, und das tue ich jetzt. Das ist Vic, und sie wird dir helfen. Lernt euch erst mal kennen und plauscht ein bisschen. Ich muss dann los. Oh, den Rucksack kannst du hierlassen“, wandte er sich an Vic und ging einfach den gleichen Weg zurück. „Ich muss los. Noch einen schönen Tag, die Damen!“

Da war er schon zwischen den Bäumen verschwunden. Davo Tamoni, mehr als nur ein bescheidener Händler, hatte sich empfohlen.

Ungläubig starrte Vic ihm nach. „Warte, was soll ich…“

„Lass dich erst mal anschauen, Kind“, grunzte die Frau sichtlich schlecht gelaunt und packte sie an der Hand. Die Augen wanderten über ihren Körper. „Haare wie ein Junge, das Kreuz recht stabil, die Arme sehnig und drahtig, … gut, du kannst bleiben“, entschied sie und wirbelte wieder herum.

Vic war sich nicht sicher, was sie tun sollte, und schloss langsam auf.

„Ich bin Vic aus Belhaven…“

„Ophelia ist mein Name. Entweder ist man zu stark, um zu versagen oder zu schwach, um es zu versuchen. An der Probe haben sich schon einige die Zähne ausgebissen und das waren alle ältere, erfahrenere Burschen als du. Einer hat sogar geweint“, fügte sie leise hinzu und stieg in Stein gehauene Stufen zu einem Hügel auf. Ihr Tempo war enorm, und leise hechelnd versuchte Vic Schritt zu halten – den Kopf voller Fragezeichen.

„Wo sind wir hier?“

„Mein Heim liegt auf dem Salzbergen. Ja, ich bin eine Hexe und nein, ich bilde nicht jedes Mädchen zur Hexe aus. Aber darum bist du nicht hier, was?“

„Ich soll eine Fahrende Ritterin werden.“

Die Hexe erstarrte, wandte sich um und blickte sie staunend an. Lächelte plötzlich, gluckste und immer breiter wurde ihr Grinsen. „Klar.“

„Wirklich.“

Ophelia wandte sich wieder um und schüttelte amüsiert den Kopf. „Man wird hilflos geboren und sucht Stärke. Dann wollen sie einen benutzen. Man findet Liebe, die aber nicht real ist. Es ist ein Wunsch, den jemand hatte, bevor er wusste, wer du bist. Jetzt stehst du hier und bist nicht in Haven. Nein, du bist mit ihm hier. Weißt du, wer Davo Tamoni ist?“

„Ich…“, begann Vic und musste sich unterbrechen. Auf dem Hügel angekommen erblickte sie eine Reihe von Gräbern, und eine aus Stein bestehende Gruft, die alt und kunstvoll aus dunklem Stein bestand. Die verdorrten Blumen hatte jemand versäumt gegen Frische auszutauschen. Ein Friedhof, schlussfolgerte sie.

„Vielleicht wartet jetzt ein größerer Plan auf dich, aber deine Begleitung ist schlecht gewählt. Davo schließt Pakte. Und sie garantieren allen, die sich darauf einlassen, dass sie bekommen, was sie verdienen – nicht das, was sie sich wünschen. Großer Unterschied, Mädchen.“

„Ich habe keinen Pakt geschlossen.“

„Gut. Dann besteht noch Hoffnung.“ Ophelia blieb vor dem Bau stehen und stemmte die Hände in die Hüfte, reckte stolz und herrschaftlich ihr Kinn nach oben. „Ich habe ein Problem, ein magisches Problem. Und du sollst mir helfen. Ich beurteile deinen Kompass. Sieh das hier als Prüfung an. Bist du bereit?“

Für Vic ging das alles zu schnell.

Was tun? Magisch?

„Ich… weiß nicht…“

Ophelia verdrehte die Augen und wies mit dem Daumen hinter sich. „Schon mal einen Toten gesehen? Sobald die stoffliche Existenz versiegt ist, sucht der Geist die nächste Sphäre auf, um von dem Gleichmacher gewogen, gemessen und beurteilt zu werden. Die Dorfbewohner begraben auf dem Salzberg ihre Toten. Sie wissen nicht, dass Salz ein hervorragender Damm für Sphärenprojektionen ist. Ich habe diesen Trottel wieder und wieder gesagt, dass sie hier nicht buddeln sollen – aber hören sie auf mich? Natürlich nicht. Diesen Schafliebhabern ist die Tradition heilig! Und wer glaubt schon einer Hexe? Man könnte auch vierzig Meter entfernt vom Dorf in der sandigen Erde die Toten verbuddeln, aber das entspricht ja nicht der Tradition. Und wer muss wieder alles in Ordnung bringen? Ich, ich und ich. Oder wie siehst du das?“

„Was?“

„Du bist ja nicht gerade eine große Hilfe“, bemerkte die Hexe schnippisch und deutete auf den dunklen Eingang neben sich, dessen Stufen weit ins Erdinnere reichten. „Die Geister bleiben hier, bringen meine Getränke durcheinander, stöhnen und ächzen in der Nacht und beobachten mich beim Scheißen. Sie bringen meine Kristalle in Aufruhr und starren mich an. Manchmal lösen sie sich auf, manchmal finden sie einen Weg raus aus ihrem Gefängnis und manchmal, und jetzt wird es richtig nervig, manifestieren sie sich, wenn sie von extremen Gefühlen geleitet werden. Einmal stand ein verliebter Bursche mitten in meiner Hütte und wollte nicht gehen. Schmachtete vor sich hin, glotzte mich an… hörst du mir noch zu?“

„Äh, was...?“

„Keine Ahnung, wie du ein Ritter werden willst. Langweilst du den Feind zu Tode? Hast du ein Schwert gehalten? Bist du mit der Heraldik vertraut? Ich sage es dir gleich: wenn du wieder was sagst, kannst du gleich wieder gehen. Na, jetzt schau nicht so beleidigt. Das ist die Krypta. Du weißt doch, was eine Krypta ist?“

„Eine Art Gruft?“

„Hurra, wir haben einen Gewinner.“ Missgelaunt fasste sich die Hexe an die Stirn, als müsse sie an sich halten. „Und hier die Prüfung: Geh da rein und sorge für Ruhe. Jede Nacht ist hier Lärm. Ein Tumult, das man denken könnte, stumpfsinnige Bauerntölpel würden Topf-schlagen spielen und dabei Wurzelgrog-Wettsaufen veranstalten. Wüste Beschimpfungen, unflätige Bemerkungen und immer, wenn ich schlafen will, verdammt nochmal! Immer dieses „Ghurrägh! Aaargh! Whomm!“ Dabei machte sie die komischsten Grimassen, um dann stöhnend und jammernd sich gegen die Wand fallen zu lassen. „Ganze drei Wochen geht das schon so. Ich… will… schlafen! Löse das Problem.“

Vic musste sich ein Grinsen stark verkneifen.

„Zerstöre nicht die Krypta oder mach sonst etwas, was dir den Zorn der Götter auf dich zieht! Meinetwegen könntest du es tun, aber das wäre nicht der Sinn der Prüfung. Also gib dir Mühe! Hör auf zu grinsen, ich bitte dich!“

„Gut“ gluckste Vic. „Sonst noch was?“

„Nein, soll ich dir noch die Hand halten?“

„Schon gut.“

Ohne ein weiteres Wort stampfte die Hexe davon, als wäre bereits alles gesagt.

Und Vic stand vor einem Problem. „Moment, … Geister!?“

 

Ein dumpfes Zischen – und ein Lichtkegel erleuchtete das gerippte Tunnelgewölbe vor ihr bis auf gut zehn Meter; Vics Fackel aus alten Stoffresten und einem Stock war eine gute Lichtquelle. Sie atmete lautlos aus und lauschte in den Tunnel. Langsam ging sie in die kühle Düsternis voran und sog durch die Nase tief die rostige Luft ein. Lautlos ging sie in den abzweigenden Gang und besah sich die Gräber an. Sie hatte schon Legenden vernommen, aber auch wahre Begebenheiten, die bisweilen furchtbare und bizarrer waren als die unwahrscheinlichsten Geschichten, die sich die Belhavener am einsamsten Lagerfeuer aus Langeweile erzählten. Feine Spinnweben woben ein dichtes Netz als gut erkennbare Trennlinie zwischen der Welt der Lebenden und der Toten, doch der Hitze der Fackel hatten sich nichts entgegenzusetzen. Leise zischelnd verschmorten sie und gaben einen Weg frei, den Vic kaum bereit war, zu gehen. Was hatte sie schon einem Geist entgegenzusetzen? Selbst mit einer Rüstung, einem Schild und dem schärfsten Schwert der Welt konnte man nichts gegen Geister ausrichten. Die Krypta erwies sich als gelungenes Bauwerk voller Seitengassen und tief verzweigten Gängen, an deren Seitenwände kleine Nischen eingelassen waren. Dort fristeten Urnen nebst Grabbeigaben wie Blumen, Bilder und sogar Münzen einer ungewissen Zukunft entgegen. Jemand hatte viel Geld für dieses Bauwerk ausgegeben – nicht, dass Vic je eine Krypta von innen gesehen hatte.

Der Irrtum um die vermeintlich kinderfressende Hexe Ophelia ermunterte sie: gut möglich, dass gewisse Fabeln und Legenden nichts weiter waren als Geschichten ohne Wahrheitsgehalt; also konnte es sehr wohl sein, dass jene Geister, die man im Volksmund als unsterbliche und todbringende Existenzen kannte, ebenso nicht der Wahrheit entsprachen. Stolz auf ihre Schlussfolgerungen ging sie weiter hinein.

Doch sie fand nichts.

Unsicher leuchtete sie in jeden Winkel und kam zu dem Schluss, dass sie einfach warten musste. Ophelia hatte schließlich gesagt, dass sie nachts nicht schlafen konnte – also kamen die Geister nur nachts raus. Langsam ging Vic wieder nach oben ins wärmende Tageslicht, suchte sich ein paar Wurzeln und Pilze, und machte sich ein Mahl.

Und wartete.

Kaum war die Sonne untergegangen, konnte sie es hören: Scharren, Schlurfen und dann Geräusche wie aus einer Taverne, in der sich zwei verfeindete Clans plötzlich gegenüberstanden. Heulen und Scheppern. Wütende Rufe und das schrille Brüllen, an denen noch das Echo der Gruft anhing – viel zu verzehrt, um einzelne Worte zu verstehen.

Unruhig und mulmig zugleich machte sich Vic wieder auf dem Weg. Diesmal nahm sie eine der Wandfackeln aus der Halterung und entzündete bei ihrem Besuch jede einzelne Fackel, die in den Gängen zu warten schienen. Langsam war der Weg hinter ihr hell erleuchtet. Und im nächsten Gang…

… sah sie die Geister.

 

Unruhig flackernd standen zwei Postkonjuktionen sich gegenüber. Von einem unheimlichen Schein erfüllt doch die Silhouetten wiesen sie sich klar als Frau und Mann aus. Schwebend über den Boden starrten sich die Wesen an, offenbar im hohen Alter dahingerafft, denn der Mann hatte eine Glatze und die Frau ging seltsam gebeugt. Und beide trugen Totenhemden.

Unnatürlich.

Tiefe Furcht ergriff Vic, und beinahe hätte sie die Fackel fallengelassen. Doch die Neugier überwog die Furcht, und achtsam bestaunte sie das Phänomen, das sich vor ihr auftat.

Die Geister stritten sich.

Das ist der Dank! Jahrelang habe ich darum gebetet, dass du mit der Spielsucht aufhörst! Und mit dem Saufen! Was war ich für eine Närrin, dich zu ehelichen!“ Die Frau hob beide Arme hoch und wirkte aufgelöst, während das Echo ihrer Stimme aus weiter Ferne zu kommen schien.

Der Alte rümpfte angewidert die Nase. „Ohne Wein würde ich doch keine vierzig Jahre neben dir aushalten! Offenbar sind die Götter dein Gejammer auch leid, denn ich bin jetzt hier! MIT DIR!

Oh, mächtiger Harmonokulus! Vergib diesen tumben Narr, denn er weiß nicht, was er sagt!“

Oh ja. Das hat immer gut funktioniert! Immerzu zu den Templern! Du hast dein ganzes Haushaltsgeld den miesen Priestern geschenkt.“

So ging es weiter und weiter, zu verbissen und zu verkracht zankten sich die Geister, als dass sie Vic gewahr wurden. Doch sie spürte keine Bosheit von ihnen ausgehend, sondern tiefe Verzweiflung und Kummer. Und dem Bund einer unglücklichen Ehe, den sie längst nicht mehr bereit waren gemeinsam zu gehen. Die anfängliche Furcht wandelte sich um in Neugier, dann tiefe Betroffenheit. Vic leckte sich über die Lippen und begann zu sprechen: „Worüber streitet ihr eigentlich?“

Langsam wandte sich der Kopf der Frau ihr zu. „Du kannst uns sehen?“

„Klar, und hören.“

Dann höre nicht auf diesen alten Narr! Gleich erzählt er dir von seinem Leben als Ritter, und dass er am Hofe war. Aber er sagt nicht welchem Rock er nachgejagt ist. Dieser alte Schürzenjäger! Nur Beleidigungen und Lügen. Selbst seine Freunde nahmen ihn nicht ernst!“

Lass Borre und Svensson aus dem Spiel! Sie haben zu mir aufgeschaut!“ keifte der Alte und hob drohend seinen Finger.

Ich bin Lydia von Melina, das ist Cahir von Melina. Ein Trunkenbold und ein Idiot.“

Er deutete ein Nicken in Vics Richtung an. „Ich kenne dich nicht, aber du musst mich von dieser Schreckschraube befreien. Ich weigere mich, meine Krypta mit dieser alten Vettel zu teilen! Sie gehörte meine Familie. Selbst im Tode hört sie nicht auf zu zetern!“

Und meine Mitgift war es, die sie wieder zu uns von den Gläubigern zurückgeholt hat. Dank deiner Spielschulden hatten wir sie fast verloren. Was haben die Nachbarn über uns den Mund zerredet! Wir wurden zum Gespött…“

Der Hall im engen Korridor war gut – zu gut, denn langsam beschwerten sich Vics Ohren. Tatsächlich trug der Schall die wüsten Beschimpfungen weit tief ins Erdreich, … und zu einer gewissen Hexe.

Langsam verstand sie das Problem. „Ich bin Victoria von Belhaven. Einer von euch muss gehen. Im Grunde ist der ganze Hügel der falsche Ort, wegen… Salz.“

Salz? Vielleicht auch ein bisschen Pfeffer? Warum?“ Jetzt starrten beide Geister sie verblüfft an.

Vic sah in die leuchtenden Projektionen und suchte nach Erklärungen. „Ich weiß nur, dass ihr nicht fortgehen könnt – aber bleiben könnt ihr auch nicht.“

Machst du Witze“, fragte Lydia und deutete zum Boden. „Hier stehen wir seit langer Zeit und können nicht fort. Jede Nacht tauchen wir auf und gaffen uns an. Selbst, wenn ich ihm den Hals umdrehen wollte, könnte ich es nicht.“

„Aus Liebe?“

Nonsens, etwas hält uns fest.“

„Oh.“

Nun denn, dann vertreibe ihn. Was war ich für eine Närrin, ihn zu ehelichen! Tue es, und ich werde sanft einhergehen. Alles ist besser als ihn länger zu ertragen.“

Du willst also, dass ich gehe? Ich soll verschwinden!? Gut, ich gehe…!“ Cahir von Melina ahmte eine laufende Bewegung nach und schaffte es doch nicht vom Punkt wegzukommen. Mit einem Mal wurde Vic klar, dass die Geister wirklich gefangen waren. Der Mann schnaufte laut und keuchend. „Ich schaffe es nicht. Was ist das hier? Ist das die Hölle?“

„Das Salz im Berg hält euch fest. Wenn wir nichts unternehmen, bleibt ihr hier für immer!“

O, ihr Götter!“

Scheiß auf die Götter!“

Blasphemie! Ketzer!“ Ihr Toben dröhnte Vic in den Ohren.

Hörst du das? Hörst du das? Oh, könnte ich doch meine Rüstung anlegen und einfach verschwinden.“

Der Kummer der beiden war herzergreifend, dass es Vic schüttelte. So sah also die Ewigkeit aus…, wenn man Pech hatte: auf ewig gefesselt an eine zweite Existenz, die weder Liebesschwüre noch gutgemeinte Reden für einen übrig hatte. Die beiden hatten sich satt und zogen anscheinend die totale Nichtexistenz vor. Und Vic konnte es ihnen nicht verübeln.

„Das Salz ist das Problem“, schlussfolgerte sie laut. „Aber es gibt hier viel Salz.“

Die Frau wandte sich zu ihr um und breitete hilflos die Arme aus. „Der andere vor dir hat schon versucht, mit einer Hacke die Wände zu bearbeiten. Hat sogar Wasser in Eimern runtergetragen, um sie fortzuwischen. Nach drei Nächten war er es leid und ging. Er kam nie zurück.“

Also nicht das Salz. Die Sache wurde kompliziert. „Die Krypta wurde in den Stein gehauen. Dann kamt ihr, aber wie…“ Sie leuchtete die Gräber aus und sah die Urnen. „Da ist eure Asche drin.“ Sie schnippte mit den Fingern. „Dann müssen die Urnen raus.“

Ja, darauf ist schon der andere gekommen“, half Cahir aus und schüttelte betrübt den Kopf. „Der Zement dort war noch frisch und jetzt stecken unsere Urnen tief im Beton. So geht es nicht.“

Eine Weile gingen sie gemeinsam alle Möglichkeiten durch.

„Was könnten wir sonst noch tun?“ fragte sie verzweifelt und lehnte sich an die Wand. Das Problem war eine harte Nuss. „Die Leichen werden verbrannt, die Asche kommt in die Urne, die Urne kommt in die Krypta, das Salz im Berg hält euch fest.“ Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. „Die Urnen sind nicht magisch, was?“

Nein. Es sind einfache Kelche.“

„Die Asche ist die Verbindung zu euch“, schlussfolgerte sie und lächelte breit. „Dann nehme ich die Asche fort.“

Nein!“, gellten Lydia und Cahir synchron auf und sofort wurde sie ganz still. „Wenn du sie vermischst, passiert ein Unglück. Nur ein einzelnes Körnchen in der anderen Asche löst eine … eine“, der Alte fuchtelte mit den Händen herum, „ich komme nicht auf das Wort!“

Du meinst Verschmelzung? Verpuffung? Explosion?“

Richtig, Frau. Kannst du dir vorstellen, mit einem anderen Menschen zu verschmelzen? Schreckliche Qualen muss derjenige erleiden, ein grausames Schicksal, schlimmer als der Tod. Unrettbar verloren als gestrauchelte Zwitterseele. Da ist mir der endgültige Tod lieber.“

„Verstehe.“ Wieder eine Sackgasse. Vic wandte sich ab und ging kurz zurück zu einem anderen Grab. „Und wenn ich die Asche von einem von euch in diesen Beutel packe?“ Der Münzbeutel war groß, ganz aus Samt und reichlich bestickt. Eine solide Stickarbeit. Die darin enthaltenden Münzen steckte Vic wieder zurück aufs Grab – sie wollte sich keinen Ärger mit der Unterwelt einhandeln.

Die beiden Geister starrten erst sie, dann den Beutel an.

Seltsam“, bemerkte Cahir knapp und rieb sich das Kinn. „Das darauf niemand gekommen ist.“

Sie machte den Beutel auf und maß die Größe mit ihrer Hand nach. Ja, genug Platz war da. „Gut, sag, warst du ein Ritter? Kannst du mir helfen? Ich will nach Haven. Zu den Fahrenden Rittern.“

Ich war ein guter Ritter“, bemerkte er stolz.

Geht das schon wieder los…“

Halt die Klappe! Ich meine, ich kann dir helfen. Ich kenne mich in Haven aus. Was sagst du? Trage meine Asche bis nach Haven und bestatte mich auf den Hügeln vor der Stadt. Das wünsche ich mir.“

Du gehst mit dem jungen Flittchen!?“ Giftig warf Lydia Vic einen bitterbösen Blick zu. „Er will dir nur unter dem Rock schauen. Der alte Schürzenjäger!“

RUHE!“ Der Geist vor ihr fuchtelte mit den Armen, dass seine Projektion unruhig zu flackern begann. „Du hilfst mir, und ich helfe dir, Mädchen. Gut, so machen wir es. Nimm meine Asche! Nimm sie an dich, aber lass mich nicht fallen. Gut so, gut…“

Wenige Minuten später war Lydia von Melina allein. Der Geist sah sich um, maß Decke und Boden mit einem Blick und drehte sich einmal um die Achse, die Arme langsam ausbreitend. „Endlich…Ruhe!“

Hätte ihr jemand zugesehen, hätte man bezeugen können, dass sie lächelte. Und sie verblasste. Ohne jedwedes Geräusch und ohne zusätzlichen Effekt. Nach einer Weile ging die letzte Fackel aus. Die Krypta füllte sich mit Stille, die nur verlassenen Höhlen zu eigen war.

Frieden.

 

4.

Die Krähe saß mit gespreizten Gefieder auf ihrem Ast und plusterte sich auf. Ihre mattschwarzen Augen hingegen beobachteten die zwei Frauen genau, die am Morgen durch den Schwarzdornwald spazieren gingen. Es war ein stolzes Exemplar der gefiederten Art. Zusammen mit ihren Brüdern erledigte die Krähe auf der ganzen Welt jene eine Aufgabe, zu der Menschen kaum fähig waren. Starr auf das Ziel gerichtet bemerkte die Krähe die fette Raupe, die auf einem Ast unter ihr kletterte, doch sie ignorierte den leckeren Festschmaus völlig. Das war sie ihren Meistern schuldig.

„Hörst du das? Ruhe, selige Ruhe… oh, ihr Götter…“ Die Hexe Ophelia stöhnte wohlig auf und lächelte entspannt. Ihren Rock und ihre Bluse hingen schlaff an ihrem Körper herunter; heute war ihr nicht nach Arbeit, und das sagte sie auch. „Ich habe selig geschlummert und es ist schon Mittag. Sag, was hast du mit der Postkonjunktion vor?“

Vic warf den Beutel voller Asche kurz in die Luft und fing ihn geschickt wieder auf. „Er sagt, er sei ein Ritter. Soll er mir zeigen, was das bedeutet.“

„Kluger Schachzug. Aber er wird sich nicht zeigen“, bemerkte die Hexe und nahm ihr den Beutel aus der Hand. „Er ist jetzt an diesem Beutel gebunden. Solltest du seine Asche in dem nächsten Fluss werfen, so wird er vergehen. Strenggenommen ist es nicht mal Mord.“

„Das will ich aber nicht.“

„Du hast für alle Beteiligten die richtige Lösung gefunden. Mir scheint, du hast ein gutes Herz. Oder du bist einfach nur schlau. Hast du etwas, was ihn an dich bindet? Etwas persönliches?“

Vic sah an sich herab, suchte in allen Taschen und holte die kleine Strohpuppe hervor. Ophelia nahm sie mit spitzen Fingern entgegen und roch daran. „Ah, der Geruch von vergossenen Kindertränen. Verzweiflung. Angst. Das sollte reichen.“ Sie wartete nicht auf eine Erlaubnis, zog einen dünnen Faden aus ihrem Umhang und band die Puppe geschwind an den Beutel. „Wenn du ihn in Haven beerdigst, nimm vorher die Puppe ab.“

„Das funktioniert?“

„Rufe seinen Namen. Ich denke, dass nur du ihn sehen kannst. Halte dich mit Gesprächen am besten fern von Menschenmassen. Gerade in Brugge sind die Leute… etwas nervös.“ Sie reichte den Beutel weiter. „Siehst du die Krähe dort oben? Faszinierende Geschöpfe, äußerst intelligent und zudem noch unersetzbar. Das Konzil von Haven hat sich an deine Spur geheftet.“

„Was?“ Vic sah hoch und sah vor lauter Ästen, Blattgrün und einigen schwarzen Punkten weder Krähe noch Konzil. „Ich verstehe gar nichts.“

„Diese Krämerseele hätte dir wenigstens das sagen können“, bemerkte Ophelia säuerlich und führte sie ein Stück weit fort. „Er muss dich bereits als Anwärterin beim herzoglichen Kämmerer angemeldet haben. Die Krähen beobachten alle Anwärter im ganzen Land, und sie sehen gut. Es nützt nichts, sich dem zu entziehen. Lass es ruhig zu. Sie werden am Ende deiner Reise genau wissen, wer als Ritter taugt und wer nicht. Aber das ist nicht dein erstes Problem.“ Ophelia blieb stehen und sah sie mit schielenden Augen an. „Kleiner Spatz, du musst dir wirklich sicher sein, was du willst. Du stammst nicht aus reichem Hause und warst kein Knappe. Nur dem Adel ist es vorherbestimmt in den Ritterdienst zu treten. Der Graf eures Landes, Ravix von Candele, hat das Recht jeden zum Ritter zu bestimmen. Sein Herold, Jarre Assengarde, nimmt aber keinen Knappen mehr auf, seit ein Wildschwein den Letzten getötet hat.“ Sie lächelte traurig. „Jetzt hast du ein neues Leben. Ist das für dich ein Neuanfang? Eine leere Tafel?“

„Ich habe nur Glück gehabt. Diese Gelegenheit nehme ich wahr.“

„Meine Ausbildung zur Hexe begann hier, und ich war zehn Jahre alt. Ich musste tagelang meditieren, die alten Schriften studieren und Kräuterkunde lernen. Stunde um Stunde mit der Alten Gorfokel zusammen, die anfing, die Welt und alles in ihr zu hassen. Zwanzig Jahre! Zwanzig Jahre hat es gedauert, und ich war es so leid. Die Ausbildung begleitet dich ein ganzes Leben, und sie ist nicht einfach. Kannst du reiten? Kannst du am Hofe bestehen? Hast du mal gekämpft?“

„Ich habe eine starke Rechte.“

„Oh, dann ist der Rest kein Problem“, witzelte Ophelia. „Großer Gott!“

„Es ist das Einzige, was ich will.“ Bestimmt stellte sie sich vor die Hexe, bis ihre Nasen sich fast berührten. „Ich… will… eine fahrende Ritterin werden.“

Ein plötzlich aufkommender Wind fegte die Blätter auf dem Boden durch Wirbel empor. Ophelia senkte nicht den Blick, konnte aber nicht verhindern, dass sie blinzelte. Widerwillig trat sie einen Schritt zurück. „Starrköpfig“ gab sie zurück, während sie die Frau vor sich missbilligend beäugte. „Aber ich bewundere deinen Mut. So höre: Deine Reise wird dich nach Brugge führen. Ganz recht, nicht Haven. Denn dort hat sich etwas ereignet. Hole dir ein Pferd und nutze die Zeit auf deiner Reise, um zu üben und um dich vorzubereiten.“

Vic hob den Blick. „Wie… Brugge!? Das liegt doch in Rainform. Das ist in der entgegengesetzte Richtung. Und wo bleibt Davo?“

„Warte nicht auf ihn. Er holt dich schon ein. Brugge liegt im Gebiet Rainform und ist ein Anbaugebiet für Weizen. Schon immer treiben sich dort Raubritter herum und offene Scharmützel mit den fahrenden Rittern sind dort keine Seltenheit. Du wirst also andere Ritter treffen. Halte dich bedeckt, das ist mein Rat, und versuche herauszufinden, was sich dort tut. Kannst du das?“

Ein mutloses Lächeln huschte über Vics Gesicht. Beinahe so, als hätte sie insgeheim diesen Augenblick längst gefürchtet. Sie senkte die Stimme. „Dann… reise ich von nun an wirklich allein. Werden wir uns je wiedersehen?“

„Du solltest dir ein Pferd besorgen.“ Ophelias Miene bekam etwas Nachdenkliches. „Eine der Raben hat es mir erzählt. Auch Davo bedient sich ihrer Weisheit.“ Sie zögerte und schien zu hadern: „Ich… deine Gesellschaft war angenehm, Spatz.“

Der Spatz schaute sie zweifelnd an und antwortete ihr, es ginge ihr ähnlich und dass man sich bestimmt wieder treffen würde. Sie sprachen vorerst einmal vom Wetter, dann nickte Vic verabschiedend: „Ich kann mich nicht länger aufhalten. Ich habe Angst vor der Welt, aber ich will auch hin. Und ich kann nicht anders.“

Die Hexe nickte verstehend. „Viel Glück! Du wirst es brauchen, fürchte ich.“

Vic schaute sie an, als würde sie das gerne glauben. „Ja…, dann danke.“ Sie wandte sich um, mit nichts als einen Beutel voller Münzen und einem Beutel voller Asche. Mit den Händen in ihrer Hose drehte sie sich um.

Die Hexe schaute ihr zweifelnd nach.

 

Sie erreichte gegen Abend den Rand des Schwarzdornwaldes und hielt sich in der Nähe eines Dorfes auf wie eine gemeine Person, die die ehrbaren Bürger auskundschaftet. Sie sammelte Beeren, Eier und Wasserkresse aus einem Bach und kaufte von ihren paar Münzen bei einem Bauern zwei Laib Brot. Er beschrieb ihr, wo es nach Brugge ginge und dass sie die Reichsstraße Zwei Richtung Süden an den Firnholm-Gebirge nehmen sollte – mit gut zwei Wochen Reisedauer solle sie schon rechnen.

Die ersten beiden Tage verbrachte Vic mit Grübeln, dachte über den Wandel in ihrem Leben nach und was sie bis jetzt erlebt, hatte: Davo Tamoni, ein bescheidener Händler, hatte sie aus ihrem Loch geführt und sie mit einer Mission betraut, die alle Vorstellungen sprengte. Sie zweifelte längst nicht daran, dass der „bescheidene Händler“ etwas im Schilde führte und sie nur benutzte. An ihm lastete etwas Gefährliches an; seine Worte waren schmeichlerisch und seine Gedanken wohlüberlegt, aber da war noch etwas anderes. Sein Wissen über Dinge, die sonst niemand wissen konnte; sein erstaunliches Interesse an ihrer Vergangenheit und ihre Rolle in einem Spiel, das sie noch nicht verstand. Es schien ihr klug, auf der Hut zu sein. Ophelia hatte sie beiläufig gewarnt: von gefährlichen „Pakten“ war die Rede und das Davo immer etwas im Schilde führte. Trotz all der Bedenken wollte sie weder zurück nach Belhaven noch ihr Glück in der Fremde versuchen: der Reiz eines Abenteuers und eine mögliche Zukunft als Fahrende Ritterin waren zu verlockend.

Bei dem letzten Gedanken bemühte sie sich zu einem nahen Fluss und betrachtete ihr Spiegelbild. Schmuddelige Klamotten, die schon zu lange getragen wurden, das Haar kurz und ein Gesicht, das von zahlreichen Kneipenschlägereien erzählte. Nein, wie ein Ritter sah sie nicht aus. Sie hatte weder Rüstung noch Lanze, kein Wappen und keine Bildung. Sie verstand, dass sie erst ihre Verstand stählen musste, bevor sie sich in das nächste Abenteuer stürzte. Sie entfachte ein kleines Feuer aus Reisig, stellte sicher, dass es ruhig brannte und rief den Geist zu sich.

Der Geist namens Cahir von Melina war auf ihren Wunsch erschienen. „Ich bin dir dankbar, Kind, doch das hier ist nicht Haven“, stellte die grünflackernde Projektion fest und hob gewichtig seine schmale Brust, „ich dachte, wir hatten eine Abmachung. Was säumst du noch?“

„Ich muss nach Brugge. Du warst Ritter, sagst du. Was braucht man, um Ritter zu werden?“

Die Arbeit eines Mönchs ist es, die grundsätzlich vorgegeben ist. Nur die Männer mit den reinsten Stammbaum und edelsten Empfinden für Recht und Ordnung ist es vorherbestimmt. Warum fragst du?“ Er lächelte sanft und setzte sich auf einen Stein. „Mir ist gerade nach einem Plausch. Möchtest du spannende Geschichten über Ritter und ihren Traditionen hören? Also, als ich damals in jungen Jahren…“

„Verzeih, wenn ich dich unterbreche, aber ich beabsichtige selbst Ritter zu werden.“

Du?“

„Ganz recht.“

Du bist eine Frau. Das ist nicht möglich.“ Er lächelte nun nicht mehr. „Aus welcher Ahnenreihe entstammst du? Was ist dein Wappen?“

„Rede mir nicht ein, es wäre nicht möglich. Ich habe schon eine Frau als Ritter gesehen. Und ich habe keinen Stammbaum.“

Warum benennen wir nicht auch die Kuh dort drüben zum Ritter? Heda! Willst du nicht auch Ritter werden...?“

„Wo liegen die Schwierigkeiten? Werden grundsätzlich keine Frauen zugelassen? Und warum nicht? Ich kann das auch.“

Warum es sich schwer machen? Gibt es nicht irgendwo einen Hof, wo du stattdessen Gänse füttern und einen braven Lümmel zum Mann nehmen kannst?“

„Ich … will es eben.“

Oh, die feine Prinzessin will es eben“, bemerkte Cahir spitz und lachte hohl. „Dann sollte es kein Problem sein, nicht wahr? Hört Ihr, herzoglicher Kämmerer!? Lasst alle Frauen zu! Ich sehe schon Ritter in ihren Stuben, die Spitzdeckchen nähen und mit einem Kind im Leib auf einem Pferd reiten! Warum gegen die natürliche Ordnung verstoßen? Du sagst, du hättest keinen Stammbaum. Wo kommst du her?“ Sie sagte es ihm, und er fing augenblicklich an zu lachen. „Lächerlich. Dein Platz ist auf dem Feld. Ich habe weder die Zeit noch die Muße, einem Kind die Grundlagen beizubringen! Was denkst du dir denn!? Obenrum ist untenrum?“

„Ich bin kein Kind! Ich bin schon siebzehn!“

Und wenn du meine Mutter wärst, würde es keinen Unterschied machen. Du bist eine Bäuerin.“

Langsam wurde ihr die Sache zu bunt. Schnell schnappte sie sich den Sack mit der Asche, stand auf und ging los. Der Geist sah ihr stirnrunzelnd nach. „Was machst du da?“

„Wenn du mir nicht von Nutzen bist, kann ich dich auch gleich zum nächsten Fluss bringen“, grollte sie dumpf. „Also, hilfst du mir jetzt?“

Da zeigt sich das wahre Gesicht! Du vorlautes Kind!“ Der Geist schwebte hinter ihr her und nach seinem Gesicht zu urteilen, schien er gleich platzen zu wollen: „Ja, ich nenne dich Kind! Was denkst du dir eigentlich? Du willst mich erpressen!? Mich, Cahir von Melina? Ich war ein Ritter, und ich kenne die Tugenden, ich kenne meine Pflichten und meinen Platz. Ich habe ihn akzeptiert. Das ist weder ein romantisches Abenteuer, sondern harte Arbeit. Du weißt doch gar nicht, was harte Arbeit ist...!“

Jetzt wurde Vic sauer, während sie dem Fluss bedrohlich immer näherkam. „Von früh bis spät habe ich gearbeitet, bis meine Finger bluteten. Schon als Kind, kaum dass ich Laufen konnte. Mit nichts als einen Klumpen Brot und etwas Wasser im Magen bin ich abends eingeschlafen, und du sagst, ich wüsste nicht, was harte Arbeit ist? Du alter Narr!“

Du blöde Gans. Du vorlauter Abkömmling eines niederen Bauern!“

„Dann… brauche ich dich auch nicht mehr“, stellte sie klar und stand nun am sandigen Ufer des Flusses und nestelte nervös am Beutel. Haderte mit sich selbst. Wie weit war sie bereit zu gehen?

Der Geist sah

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 24.11.2023
ISBN: 978-3-7554-6205-7

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