Cover

1.

 

Es war ein Tag, an dem man sich wünschte, dass er nie vergeht. Die Luft war kristallklar, von den Hügeln im Osten konnte man bis zu den schneebedeckten Bergen im Westen blicken und eine frische Brise wirbelte das tote Herbstlaub der Eschen auf. Von den Bergen aus zog sich der Fluss Freen zweihundert Meilen südwärts bis zum Meer. Am Anfang, dort wo er die steilen Hänge der Gebirgsläufer hinunterstürzte, war sein Lauf schnell, verlangsamte sich aber, je näher er dem Vonsingh-See kam, in dem er sich strudelnd ergoss, um dann in den tiefen Höhlen am Südufer zu verschwinden aus denen er in einer Kaskade wie der Schwall aus einem Krug hervorsprudelte und zwanzig Faden tief in das Becken darunter stürzte.

Eine schwarze Kutsche rollte über eine Straße, gezogen von schwarzen Pferden, die den Weg auch ohne den Kutscher kannten. Das Wappen des Hauses Alemont – zwei Hermeline auf blutroten Grund – prangte als Zeichen für alle Bewohner Norfestas sichtbar auf den Wagentüren. Die älteste und wahrscheinlich bekannteste Familie von Werwölfen und bekanntermaßen ein Machtfaktor in der Region, baute ihre Beziehung zu den anderen Regionen aus. Im Innern saßen zwei Personen, so verschieden wie Tag und Nacht: ein Soldat namens Francesco de Palma aus dem Süden und seine Schülerin und einzige Tochter des Hauses Alemont.

Claudile Alemont wippte unruhig auf ihrem Sitz hin und her, während der Mann vor ihr sie scharf ansah. Der wache, unruhige Blick, der energische Zug um ihren Mund und die kleinen, zielbewussten Bewegungen; das war alles ein Mädchen, das die Welt bereisen und von ihr lernen wollte. Ein Werwolf.

„Sitzt stehts aufrecht“, mahnte er und schlug zum wiederholten Male ein Buch auf, das den bedeutungsschweren Titel trug: Adelshäuser und ihre Sitten – rund um Norfesta und drüber hinaus. „Wiederhole, was wir heute durchgenommen haben.“

Claudile stöhnte leise und wischte ihre widerspenstigen roten Locken vor dem Gesicht fort – ein Zeichen, das Francesco nur zu gut kannte. „Auch wenn es Eure Ladyschaft heute an Geduld mangelt.“

„Francesco“, murmelte sie leise quengelnd und ruckte hin und her. „Ich will raus aus diesem Käfig.“

„Das Buch der Etikette ist gewiss sehr anstrengend zu lernen“, sagte der Privatlehrer, und sein Blick fügte lautlos hinzu: Und was zum Teufel geht mich das an?

„Wir sind seit einer Woche auf der Straße“, begann sie nach einer Weile, als Francesco keine Anstalten machte, von sich aus das Gespräch zu eröffnen. „Ich will raus und neben dem Karren laufen. Ein bisschen jagen oder vielleicht schwimmen. Sind wir nicht eben an einem See vorbeigekommen? Lass mich raus!“ Ihre gelben, großen Augen blickten ihn an und aus den Augenwinkeln konnte der Mann sehen, wie sich ihr Nackenfell am Haaransatz sträubte – untrügliche Zeichen, die er auch gelernt hatte zu deuten.

„Was sollen eure Untergebenen denken, wenn Ihr wild und mit Grasflecken auf dem Kleid an eurem neuen Stammsitz ankommt? Die Fürstin von Blaqrhiken, die Herrscherin des Nordens, tollt mit Füchsen und Hasen herum!“ Er suchte einen Moment krampfhaft nach Worten. „Eure Mutter, die ehrwürdige und gewaltige Schattenkönigin selbst, hatte wirklich das Gefühl, dass Ihr so weit seid. Zum Herrschen!“

Claudile machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte. „Du schuldest mir was, Francesco. Stell dir nur vor, meine Brüder hätten dich statt Meiner erwischt.“

Der Mann erinnerte sich gut an ihre Brüder, Zurric und Pjotr, die ihrem Vater Miquel Alemont an Wildheit und Kraft in nichts nachstanden und daran gewohnt waren ihre Lehrer einfach aufzufressen, wenn ihnen danach war.

Er stöhnte leise und legte kurz das Buch beiseite. „Darf ich Euch daran erinnern, dass ich euch den Rücken deckte, als Ihr mal … ganz kurz… auf das Fest im Dorf gehen wolltet? Eure Mutter hätte mich fast gehäutet, während Ihr mit einigen Bäuerinnen über die neueste Sommermode geschwatzt habt. Ich konnte mich gerade noch im Schrank verstecken!“

„Sommermode“, wiederholte sie und lächelte schief. „Ich vermisse das bunte Treiben. Ich will raus! Kannst du das nicht verstehen?“ Ihre Finger zupften am engen schwarzen Brokatkleid, das ihr jeden Bewegungspielraum nahm. „Ich bekomme keine Luft mehr...!“ Sie hechelte leise. Das Tier in ihr windet sich, stellte er kühl fest. Trotzdem war er lieber mit ihr hier drin als mit ihrer Verwandtschaft. Ihre Mutter Cesarel, eine stolze und große Frau, hatte ihn in der Wut gegen das Bett geschleudert. Werwölfe hatten in der Regel wenig Geduld mit Menschen.

 

Das Königtum Norfesta erstarkte vor 890 Jahren, zerfiel aber unter einem blutigen Kampf um die Krone in kleinere Fürstentümer – einem losen Bund aus kleineren Reichen, die sich fast zweihundert Jahre lang nicht auf einen König einigen konnten. Wenngleich sich noch lange Zeit danach keine „norfestische Identität“ entwickelte, verband alle Menschen eine Abneigung gegen Andersartige – wie Zwerge, Hexen, Elfen und Werwölfe. Nicht überliefert, aber dennoch factum, war, dass Elfen, Zwerge und Hexen systematisch vertrieben wurden. Der letzte Elf starb in der Ersten Republik vor zwei Jahren an Altersschwäche. Seine Werke über die Pogrome zählten bis zu 36 Bänden und gehörten zu den meistgelesenen Werken der Republik. Francesco de Palma hatte sie als Kind lesen müssen. Damals eine anstrengende Pflichtlektüre, heute sein Garant für ein recht bequemes Leben als Privatlehrer am Hofe des Adels von Norfesta, dass in der Regel keine Gefangenen machte.

Seit 600 Jahren teilen sich die Menschen Norfestas mit den Werwölfen die Wälder, die bis dato in Rudeln oder vereinzelt für Schrecken sorgten. Erst nach der Krönung des ersten Königs Grosny („Grosny, der Pfähler“) begann die Nacht der Blitze, in der Jägerkolonnen gezielt Jagd auf die Wölfe machte. Nach dem Tod des menschlichen Königs verlor das Königtum Norfesta an Macht und Einfluss und die Zeit des Khanats begann. Die Werwölfe unter der Führung des Khans der Blutklauen begannen die Silbermienen und die Depots der Armeen systematisch anzugreifen und zu schließen. Seit 5 Jahren war der ungekrönte Khan, Claudiles Vater, verschwunden, doch die Khane der Acht Regionen hielten noch immer das Reich stabil und pflegten lose diplomatische Beziehungen zu den Vampiren im Süden. Momentan war das Königtum in einem Wandel: die Werwölfe waren bestrebt die Monarchie weiter auszubauen. Die neuen Herrscher waren offenbar sehr bestrebt, sich mit neuen Wappen zu schmücken und sich für Etikette und Manieren am Hofe zu interessieren.

 

Claudile kratzte sich mit den Hinterpfoten am Nacken.

„Bitte nicht wieder!“ ermahnte er sie. „Wir haben bloß noch das eine Kleid. Wollt ihr nackt vor den Dörflern stehen?“

„Diese dumme Kutsche“, maulte sie und fuhr mit einem heftigen Nicken fort: „Habe ich etwa darum gebeten, Fürstin zu sein? Auch noch im Norden. Da ist nichts, Francesco.“

„Stopp“, ermahnte er erneut und hob dabei den Finger. „Was haben wir gestern gelernt?“

„Nein, nicht…“

„Doch. Es muss sein.“

„Ich kann es doch…“

„Eure Ladyschaft“, begann er streng. „Was macht Blaqrhiken aus?“

Claudile seufzte, starrte eine Sekunde an Francesco vorbei ins Leere und zwang sich dann zur Ruhe. Aufrecht sitzend und beide Hände im Schoß, psalmierte sie: „Der Ort Blaqrhiken ist der nördlichste und entfernteste Ort in Norfesta. Jetzt, wo es für sein Sägewerk bekannt ist, sind es seine traumhaften Pasteten, für die Blaqrhiken so berühmt ist. Jeder köstliche Bissen ist wie eine warme Umarmung, aber das Besondere an dem Ort sind die Menschen, für die Nachbarschaft noch echte Werte besitzen. Diesen Geist verdanken die Stadt ihrem Wohltäter, Baron Ferou Hronghard der Dritte, der nach seinem Tode den Bürgern sein Vermögen überließ.“

„Wie viele Einwohner?“

„Zweiunddreißig Familien. Das Sägewerk, drei Lager, vier Ärzte, Tischler, Blechschmiede, Bäcker und so weiter und so fort. Dazu noch das Forstamt, die Burg und ungefähr sechzehntausend Hektar Fichtenwald.“

„Wie heißt der Stadtvogt?“

„Lyren. Mattes Lyren. Ihn soll ich als Erstes treffen.“

„Einer von euch, wie ich meine.“ Francesco hegte keinen Groll gegen Werwölfe. Er hatte sich damit abgefunden, als Mensch Herren zu dienen, die den Mond anheulten und wilde Jagden als angenehmen Zeitvertreib betrieben. In der Monarchie gab es bei den Menschen im Westen Könige und Fürsten, die ihre Untergebenen mit Pacht, Steuern und willkürlichen Zwangsversteigerungen das Leben unerträglich machten – gab man hier einem Werwolf die Gelegenheit zur Jagd, war er schon zufrieden. Baron Glofort im Süden, beispielsweise, konnte mit Gold nichts anfangen und ließ sich von seinen Untergebenen in Hasen auszahlen. Doch über Lyren erzählte man sich etwas anderes: „Seine Lordschaft wird nicht erbaut sein, dass Ihr seinen Platz einnehmt. Er soll ungehobelt und brutal sein, wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet.“

„Ist hiermit stattgegeben“, meinte Claudile und bewegte ihre Hand frei nach der Etikette, wie es sich einer Dame am Hofe gebührte. „Mir scheint, dass es dem Lord an Manieren mangelt“, bemerkte sie spitz gekünstelt. „Welch Affront!“

Francesco konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ihr sollt es auch nicht übertreiben. Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon. Versteht ihr?“

Sie nickte knapp. An den Fenstern zog die Landschaft dahin. Das Rumpeln und Krachen der Räder mischte sich mit dem gelegentlichen Wiehern der Pferde. „Eine Lady muss lange Zeit still und duldsam sein können. Sie ist die Repräsentantin des Hauses, wenn der Herr nicht zuhause ist. Sie hütet die Kinder, übt sich in Geduld, um dann ihrem Gemahl zu Diensten zu sein.“

Eine Bremse flog durchs Fenster, begutachtete die potenzielle Opfer und entschied sich für das Falsche. Behutsam landete sie auf ihren Nacken.

„Sie näht die Kleidung, stopft die Socken, wäscht die Wäsche und organsiert die gesellschaftlichen Pflichten, die da wären...?“ Francesco sah sie über das Buch kritisch an. Er konnte förmlich spüren, wie ihre innere Unruhe wuchs.

„Die Geburtstage merken, natürlich die örtlichen Gegebenheiten wie Feste…“ Claudile verscheuchte das Insekt kurz und bemühte sich um Kontrolle. „Die Lakaien müssen stehts an ihre Pflichten erinnert werden. Müßiggang ist der Zerfall eines jeden Haushalts. Bestrafungen fallen in das Amt des Gatten…“ Für einen Moment hielt sie inne, als wäre ihr ein neuer Gedanke gekommen. „Wen soll ich heiraten? Will ich das überhaupt!?“

„Einen stattlichen Werwolf, möchte ich meinen.“ Francesco lächelte belustigt, als er ihre großen Augen sah. „Die Alemonts sind eine hochgeachtete Familie und eine lohnende Partie, möchte ich anmerken. Euer Vater hat schließlich die Khane der Reiche verbunden. Euch zur Frau zu nehmen, bedeutet, dem Thron einen gewaltigen Schritt nahe zu sein. Eure Mutter und eure Brüder wählen den Richtigen aus…“

Das Insekt stach.

Claudile wand sich, fauchte wie wild und schlüpfte schnell aus dem Kleid, bevor es zu einer Katastrophe kommen konnte. Francesco kannte diesen Ausbruch zur Genüge, drückte sich, soweit es ging, in die hinterste Ecke und verschloss die Augen, während die Natur ihr Recht einforderte.

Unsichtbare Kräfte formten Fleisch und Muskeln neu, während Sehnen sich wie Drahtseile wie ein Mantel um die Verwandelte legte. Sie waren die Quelle ihrer Macht und auch der Grund für ihre Unverwundbarkeit. Manches Schwert hatte sich schon an Werwolfshaut etliche Scharten zugezogen. Horn wuchs rasend schnell über ihre Finger- und Fußnägel, formten sie neu, während sich Fell um das rote Haar herumbildete. Sekunden nur – dann sprang ein Blitz aus Muskeln und Kraft aus der Kutsche.

„Eure Ladyschaft“, sagte Francesco gedehnt und schlug das Buch zu, während draußen die Pferde wild vor Angst zu wiehern anfingen. Äste brachen, irgendwo gellte ein Tier panisch auf. Francesco konnte es ihm nicht verdenken.

Die Kutsche war zum Halten gekommen. Der ehemalige Soldat stieg aus und begutachtete die Landschaft um sich herum. Mehrmals streckte er sich, während es um ihn herum im Geäst hier und da knackte.

Der Kutscher drehte sich verärgert zur Seite. „Schon wieder, was? In dem Tempo kommen wir nie an.“

„Schon wieder, ja“, bemerkte Francesco lächelnd. „Geben wir Ihrer Ladyschaft etwas Zeit.“ Er schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich auf den Kutschbock.

Der Kutscher reichte einen Flachmann. „Unter uns: ich hasse sie alle.“

„Nicht so laut.“

„Die Werwölfe sind unnatürlich“, begann er leise. „Einer von ihnen hat meinen Vetter gefressen.“

Erinnerungsbilder huschten an Francescos inneren Auge vorbei. Vor allem Mahlzeiten aus der Zeit, als er ihr noch nicht gesagt hatte: das gehört sich nicht.

„Deshalb kann ich sie nicht ausstehen“, meinte der Kutscher und gab mit den Zügeln das Zeichen weiter zufahren. „Es heißt zwar, einen Wolf könnte man zähmen, aber ich finde, ein Wolf bleibt ein Wolf. Man darf ihnen nicht trauen. Die Bosheit liegt in ihrer Natur, stimmt´s? Sie können praktisch jederzeit zu einem wilden Tier werden.“ Dem Kutscher fröstelte es. „Es heißt, im Süden leben Menschen und Vampire in einer Republik. Seid Ihr schon einem Vampir begegnet? Können nicht so schlimm sein, finde ich.“

Anders als in Norfesta lebten in der Ersten Republik tief im Süden Vampire und Menschen zusammen – zumindest auf dem Papier. Es existierte nachweislich eine Aristokratische Republik, die von einem geschlossenen Kreis von Patrizierfamilien bestimmt wurde. Unter der Führung der Großen Gilden wurde seit zweihundert Jahren eine Erbmonarchie erfolgreich verhindert. Der letzte König war Brunoq Gediman III., der genau vor 213 Jahren in die Verbannung ging. In der Silent Ages, die fast 130 Jahre anhielt, hielt sich die Erste Republik aus den Machtkämpfen zwischen den Königen des Nordens und des Ostens heraus und baute ihr Machtzentrum weiter aus. Heute war sie eine reiche See- und Wirtschaftsmacht, die im Südosten mit der Grauen Schar und einem losen Piratenbund zu kämpfen hatte.

„Man sucht sich seine Herren nicht aus“, bemerkte Francesco und gab den Flachmann wieder zurück. „Ich stamme aus Lornti de la Vogh, das liegt nördlich an der Hauptstadt. Dort bin ich mal einem Vampir begegnet.“

„Wie war es?“ Interessiert rückte der Kutscher näher.

„Sie sind… alt. Die meisten von ihnen. Die jungen bewegen sich wie Elfen…“ Er dachte an das eine Mal zurück, als seine Familie Besuch von einem sehr alten und mächtigen Vampir bekommen hatte. Jener Baron, der über die Ländereien wachte und eines Abends an der Schwelle stand. Hochaufgerichtet, fein gekleidet und dünn. Aber von einer Aura umgeben, die Francesco bis heute nachdenklich stimmte: Seht meine Herrlichkeit! Ich schenke euch Leben oder Tod. Meine Berührungen sind wie kühles Wasser, meine Worte verwandeln jedes Bauernlied in eine Oper, ich bin dem Himmel und der Hölle näher als die Erdgebundenen! Er schluckte trocken. „Unser Meister verlangte jedes Jahr einen Blutzoll. Ich hatte eine Schwester, und…“ Er unterbrach sich und schaute den Kutscher von der Seite aus an. „Man kann Werwölfe nicht mit Vampiren vergleichen. Die Welt ist, wie sie ist.“

„Elfen kann ich auch nicht leiden.“

„Gibt auch nicht mehr viele von ihnen.“ Er griff in seinen alten Soldatenmantel und holte Pfeife und Tabaksbeutel hervor. Er begann, sie umständlich zu stopfen. „Aber etwas Gutes haben sie ja.“

„So? Und was?“

„Schaut euch um.“ Francesco entzündete seine Pfeife und schmauchte große Kringel, bevor er fortfuhr. „Norfesta hat keine Banditen mehr.“

Beide beobachteten, wie weit vor ihnen ein Grizzly aus dem Unterholz brach und kurz in ihre Richtung schaute, bis er sich beeilte fortzukommen. In seinem Blick lag eine Dringlichkeit, die Francesco bei Mensch und Tier oft gesehen hatte.

„Die Kleine ist ja nett und so“, gurgelte der Kutscher, indem er sprach und gleichzeitig sich den letzten Rest seines Alkohols einverleibte. Er hustete kurz, dann fuhr er fort: „Claudile soll kein echter Werwolf sein, sagt man sich. Hat nur Flausen im Kopf. Sucht ständig die Nähe von Menschen. Ist vielleicht ein Seitensprung, so sagt man. Hatte wohl ein rothaariger Bauer ein Treffen mit der Königin…“

„An deiner Stelle wäre ich vorsichtig“, mahnte Francesco. „Claudile ist scharfsinnig. Sie hat Feuer. Aber sie ist definitiv die Tochter des Großen Khan der Wölfe. Glaub nicht alles, was die Leute reden.“ Die beiden älteren Brüder, Zurric und Pjotr, waren als Barone tätig. Ihre Mutter Cesarel war als „Schattenkönigin“ die Anführerin des Rudels und als konservative Adelige und als Diplomatin ständig im Gespräch bei Hofe. Solche Reden – ob von Mensch oder Wolf – bedeutete mehr als nur Ungemach.

„Gleich behauptest du noch, das Ding hätte Gefühle“, ächzte der Kutscher schwer und bedeutete den Pferden anzuhalten, als eine völlig verdreckte, nackte Frau aus den Büschen trat und Anstalten machte einzusteigen. „Können wir dann weiter?“

 

 

 

2.

Einige Meilen weit verlief die Straße breit und eben in östlicher Richtung durch das Weite Tal. Sie führte schnurgerade durch den Wald am Rande der Hochwasserebene des nördlichen Flussufers entlang, wo die Bäume hoch und ungehindert wuchsen. Den Reisenden bot sich ein freier Blick auf den Gebirgsfluss, und nicht selten konnten Claudile die Tiere des Waldes sehen, die zum Flussufer kamen, um zu trinken.

Die Wildheit eines Wolfes zu zähmen bedeutet Geduld und Selbstdisziplin aufbringen zu müssen. Die menschliche Form halten können, bedeutete, Herr über das eigene Schicksal zu sein und galt bei den Aufgeklärten als höchste Form. Ein verwandelter Mensch verspürte immerzu dieses Jucken, dieses Zerren, den Trieb sich zu verwandeln. Es war, als hätte man eine schlecht verheilte Narbe auf dem Rücken, an der man nur schwer hinkam, um sich mal richtig zu kratzen. Doch all die Selbstbeherrschung nützte nichts, wenn der Vollmond zu sehen war. Dann war das Verlangen da und die Nacht verwandelte sich in Farben und Gerüche, die nur ein Wolf verstehen konnte.

Erschöpft aber sichtlich zufrieden hatte Claudile es sich in der Kutsche bequem gemacht, während um sie herum die Welt wieder ihre normale Fülle an Geräuschen und Gerüchen annahm. Tiere flohen vor ihr, selbst die Gefährlichen. Einmal hatte sie eine Bärenfamilie aufgestöbert, die ihr Territorium verteidigen wollten. Nun, ihre Felle hingen zuhause am Kamin. Werwölfe diskutierten nicht.

Sie schlief langsam ein und träumte von der Jagd.

Je mehr sich die Straße dem östlichen Rand des Tales näherte, desto weiter entfernte sich sie sich vom Fluss, wurde immer schmaler, ging erst in einen Karrenweg über, dann in einen Feldweg und endete schließlich in einem Trampelpfad, der so überwuchert war, dass der Kutscher gelegentlich davon abkam.

Zur Mittagszeit erreichten sie Blagrhiken, das in einem Hochtal unweit einer Weggabelung lag. Die meisten Hütten waren nichts anderes als Bretterbuden, manchmal erblickten sie auch kleine Zelte dazwischen, nur über Stöcke gespannte Planen. Im Gegensatz dazu überragte eine große Burg aus festem Gestein alle anderen Gebäude. Zwei aus Kragsteinen gesäumte Türme ragten, wie zum Gruß erhobene Arme, neben der heruntergelassenen Zugbrücke auf. Sonnenschein fing sich in den an den Fahnenstangen aufgezogenen Bannern und glitzerte auf der silbernen Oberfläche des Burggrabens. Als sie näherkamen, meinte Francesco, es müsste ihnen eine Schar von Rittern zur Begrüßung entgegenkommen.

Doch es kamen keine Ritter. Es gab keine Begrüßung. Je näher sie dem Dorf und der Burg kamen, umso mehr wich seine Freude und Erleichterung einem Gefühl des Unbehagens der unheilvollen Ahnung. Unter den Kiefern sangen keine Vögel. Kein Tier regte sich in den Feldern und Wäldern.

Ein ärmliches Dorf mit rauen Gestalten, die misstrauisch alles und jeden beäugten. An diesem Ort, der grau und wenig einladend schien, lächelte niemand und erklang keine Musik. Eine Gruppe von Männern saß an einem schwelenden Feuer und tranken mürrisch vor sich hin. Drei Waschfrauen grummelten leise, als sie die Kutsche ankommen sahen und tuschelten aufgeregt. Zwei Kinder sahen neugierig rüber und klaubten einige Steine vom Boden auf.

Francesco erinnerte sich gerade rechtzeitig an seine Pflichten und kletterte umständlich nach hinten, um nach ihr zu sehen. „Wir sind bald da. Jetzt wird sich angezogen!“

„Das Kleid ist… gerissen. Ich kann nichts dafür.“ Die Stimme klang fast weinerlich hinter zugezogenen Gardinen.

„Das muss doch anders gehen. Warte mal“, ächzte jemand im Innern. „Das muss dorthin, und hier stecken wir etwas fest…“

„Das tut weh! Sieh nur, es fällt von alleine ab! Es sollte halten, aber das tut es nicht.“

„Das ist doch Mist!“

„Ich kann nichts dafür!“

Der Kutscher hielt den Wagen an und klopfte aufs Dach. „Ähm, wir sind da“, erklärte er überflüssigerweise. Als Mann von Welt ignorierte er die fragenden Blicke der Bürger und starrte unverwandt auf die schiefe Mauer der Burg.

Eine Weile passierte garnichts. Einige Neugierige versuchten einen Blick ins Innere zu erhaschen.

Dann ging endlich die Tür auf.

Die Menge holte erwartungsvoll Luft.

Claudile spazierte im Soldatenrock, Männerhose und einem blauen Hemd und die Haare lässig über die Schulter gelegt auf die Straße und sah sich um. Zum Glück vermied es Francesco auszusteigen. Es wäre nicht gut ausgegangen.

„Hallo, liebe Bürger“, sagte sie und reichte dem ersten Mann die Hand. „Ich bin Claudile.“

Der Kutscher drehte den Kopf herum. „Ja, so geht es natürlich auch.“

Die Menge war im ersten Moment so verblüfft, dass niemand reagieren konnte. Alte wie Junge, Männer wie Frauen hatten sich eingefunden und blickten abwechselnd zur Kutsche und zur…Frau in Männerkleidern. Es waren verhärmte Gesichter, gealtert vom Last der Entbehrungen und der Arbeit, die ihr Leben bestimmte. Sie verstanden die Botschaft nicht, … wenn es eine war. Und der Zirkus kam äußerst selten in die Stadt.

Ein einsamer Wind stöhnte durch die Reihen. Jemand hüstelte leise.

„Das ist also Blagrhiken“, stellte Claudile fest und nickte zur Bestätigung.

„Wer seid ihr?“ wollte jemand wissen. Jemand holte einen Knüppel aus einem Eimer. Forken wurden gereicht. Die Blicke bekamen etwas Bedrohlicheres.

„Ich bin Claudile Alemont, eure Fürstin vom heutigen Tage.“ Sie wartete auf Reaktion, und als nichts kam, drehte sie sich um und sah zur Kutsche. „Francesco! Schau doch mal…“ Dabei wischte sie nervös ihre Haare fort und ihr Fellansatz im Nacken wurde zufällig sichtbar.

Die Menge stöhnte leise auf. Sofort rutschten wenige beiseite, machten Platz während Knüppel und Forken hastig versteckt wurden. Als sich Claudile umdrehte, hatte sich das Bild verändert: die erste Reihe kniete umständlich. Frauen verbeugten sich während Kinder große Augen bekamen. Ganz kleine Kinder fingen an zu weinen.

Sie lächelte und reichte dem ersten Mann wieder die Hand.

Es handelte sich hierbei um einen Schmied des Dorfes; einen breitschultrigen Mann mit gerötetem Gesicht und Armen wie Schiffstaue. Als sich die Menge zurückzog, sah er sich in der ersten Reihe und riss sich selbst die Kappe vom Kopf. „Ich habe nichts getan“, murmelte er hastig.

„Was meinst du?“

Er war groß und… nun, gewaltig. Wenn der Schmied durch die Straßen wankte, wirkte er wie ein kleiner Eisberg und konnte schnell und hart zupacken. Doch vor der kleinen Frau verlor er fast die Fassung. „Nichts“, erwiderte schließlich. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass allgemeines Leugnen besser war als Abstreiten.

„Freut mich“, sagte Claudile und ergriff seine Pranke noch bevor er sie wegziehen konnte. „Ich bin von nun an eure Fürstin. Ich wünsche euch allen einen angenehmen Tag. Ist das deine Schmiede?“

Sie deutete über seine Schulter auf das Gebäude, wo in einer Esse glühende Kohlen langsam erkalteten.

Falten bildeten sich auf seine Stirn, als er herauszufinden versuchte, in welche Richtung die Frage zielte. „Nein. Das gehört mir nicht.“

„Ach?“

„Sie gehört Euch, wollte ich sagen.“

„So?“

„Ich habe immer die Steuern bezahlt“, betonte er und war fast den Tränen nahe. Alle anderen wandten sich weiter und weiter von ihnen fort. In der Schmiede starrten eine Frau und ein Kind herüber. „Muss Papa jetzt sterben?“ fragte der Bube leise.

Claudile war kurz verwirrt, lächelte aber und schien guter Dinge. „Nun, da ich nichts vom Schmieden verstehe, überlasse ich dir den Rest. Möge dein Stahl stehts gerade und deine Esse heiß sein!“ Sie lachte leise. Niemand fiel mit ein. Claudile hüstelte verlegen. „Gute Leute, kann mir jemand sagen, wo ich den Stadtvogt treffen kann?“

„Bist du… seid Ihr wirklich die Fürstin?“ wollte der Schmied wissen. Er schien sich ein wenig zu entspannen. „Wir haben den Baron seit Wochen nicht mehr gesehen. Er wohnt dort in der Burg. Seht ihr?“ Er wies auf das graue Gebäude mit der Mauer und den Türmen, an die sich Claudile fast anlehnen konnte. „Dieser Hurensohn… ich meine, dieser Kerl kommt nicht vor der Tür! Verzeiht, Mylady, ich bin es nicht gewohnt mit Euresgleichen zu reden.“ Er wirkte jetzt weitaus weniger besorgt als am Anfang.

„Ja, das fällt auf.“ Claudile wandte sich um, zuckte mit den Schultern und erkannte ein Schild in der Nähe, dass einen Hammer und einen Gartenzaun präsentierte. Das musste die Stadtwache sein.

 

Vor der Wache am LangenBrunnenPlatz hatte sich eine kleine Menschenmenge eingefunden, als Hauptmann Gaver sich zum Mittagsschläfchen auf seinen Stuhl setzte. Bis dahin war es ein netter, sonniger Morgen gewesen. Er blieb sonnig, wurde aber weniger nett. „Das sind Fremde, weil sie nicht von hier sind“, stellte er ungerührt fest und stocherte mit seinem kleinen Finger in seine Nase. „Die sollten sehen, dass sie weiterkommen, nja. Das ist meine Meinung.“

Gaver war ein breiter Mann, nicht besonders muskulös und schwitzte stark beim Gehen, so dass er seinen Dienst am liebsten auf seinen Platz draußen an der Tür tat. Seine einzelnen Barthaare neben den Leberflecken zitterten, während er versuchte sich herumzudrehen, um über die Menschenmenge zu sehen. Neben ihm trat Korporal Axel mit zwei Bechern Wein aus der Tür und lehnte sich an die Tür. Wenn man Gaver und Axel nebeneinander patrouillieren sah, wirkten sie wie der Rosenkohl und die Rose. Axel war schlank, hatte zarte Hände und schien die meiste Zeit nur Beobachter zu sein, was Gaver sehr gefiel. Er stupste seinen Freund und Kollegen an und deutete mit dem popelverschmierten Finger nach vorne. „Da ist doch eine Kutsche vorgefahren mit einem komischen Kerl, der lange Haare trägt. Schneid sie ab, sage ich, nja! Das sind Störenfriede. Nicht so schlimm wie die Zwerge früher, aber wir sollten schon mal die Knüppel holen, sage ich. Oder was meinst du, Korporal?“

Axel schirmte seine Augen vor der Sonne ab und blinzelte. „Da ist ein Wappen auf der Kutsche.“

„Kann nicht wichtig sein, sage ich! Vielleicht haben sie die Kutsche nur gestohlen, nja. Können nicht wissen, was ihnen blüht. Nun, wir werden mal schauen, was es da zu schauen gibt.“ Gavers schweinsgleiche Augen verrenkten sich fast, während er angestrengt nachdachte. „Könnten Banditen sein, nja.“

Axel stöhnte genervt auf, stellte seinen Becher ab und nahm Haltung an. Die braven Bürger von Blagrhiken hatten sich schon lange darauf geeinigt, dass ihre Ortschaft eine Stadtwache brauchte. Und da niemand sonst die Arbeit machen wollte, erschien Gaver als die perfekte Person um das Tor zu bewachen. Gaver war nicht etwa böse – er war einfach nur Gaver.

Axel salutierte knapp, als Claudile näherkam. „Entschuldigt bitte“, sagte Claudile und versuchte, ihre Nackenhaare daran zu hindern, sich aufzurichten. „Ich bin Fürstin Claudile Alemont und suche den Stadtvogt. Bitte zeigt mir den Weg.“

„Fürstin Alemont“, sagte Axel mit tiefer Stimme. Dabei vermied er es ihre Kleidung anzusehen. „Ihr wurdet schon vor zwei Tagen erwartet. Wir hoffen, Ihr hattet eine angenehme Reise.“

Claudile nickte höflich ihm zu, während sich Gaver umständlich aufzusetzen versuchte.

Als Werwolf nahm sie eine ganze Reihe von Gerüchen wahr: sie sah die Spur des Bäckers, wie er jeden Morgen zum Brunnen ging und erschnupperte den Geruch von Mehl, der noch zart in der Luft hing. Die Esse brodelte vor dunkler Energie und knisterndes Feuer versprühte ein dunkles Ambiente, während die feine Seifennote des Wachmanns vor ihr sich wie ein B Blumenbouquet über allen legte. Naja, fast, denn die ungewaschenen Socken des dickeren Wachmanns sprachen eine ganz andere Sprache.

Claudile verzog das leicht das Gesicht und schnupperte erneut. Dort war noch etwas anderes… „Ist der Baron öfters hier gewesen?“ wollte sie wissen.

Beide Männer warfen sich erstaunte Blicke zu.

„Können Sie sich ausweisen, nja?“ schnarrte Gaver wichtigtuerisch, während er umständlich sich die Hose hochzog.

Axel schüttelte nur den Kopf, trat vor und verbeugte sich leicht. „Sehr oft, sogar“, bestätigte er und führte sie kurz weg von seinem Kameraden. „Nehmt es ihm nicht übel, Eure Lordschaft. Mit der Zeit werdet ihr verstehen, wie Gaver denkt. Er ist harmlos.“ Er deutete auf die Burg vor ihnen. „Es stimmt, was Ihr sagt. Der Herr kam gelegentlich zu einem Kartenspiel. Aber ich fürchte, dass der Hohe Herr nicht zugegen ist. Wir haben ihn seit Tagen nicht gesehen.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Es ist uns eine Freude, euch willkommen zu heißen.“

Claudile nickte zufrieden. „Danke. Wie ist Euer Name?“

„Axel, Maam. Zu Euren Diensten.“

„Angenehm.“

Er wies auf die Burgtore, die sich langsam der anrollenden Kutsche näherten. „Ihr seid ein Werwolf, oder?“ In seinem Blick lag eher Neugier als Furcht. Das empfand sie als beruhigend. „Ganz recht.“

„Die Leute haben Angst. Vor euch. Wir haben… Erfahrungen gemacht. Mehr sage ich nicht dazu.“

Sie nickte zur Bestätigung.

„Wir sind dazu angehalten, euch durch die Stadt zu führen und euch alles zu zeigen. Aber bestimmt wollt Ihr euch vorher frisch machen.“

„Danke, Axel. Ich komme darauf zurück.“ Etwas verlegen strich sie sich über

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 06.11.2023
ISBN: 978-3-7554-6012-1

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Katrin K. , die mich die Fantasie lehrte

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