Cover

Die Lehrerin

In einer anderen Welt

 

Sie waren erst vor kurzem hierher gezogen in die beschauliche Kleinstadt am Rhein. Ihr Mann hatte endlich wieder eine Anstellung gefunden, gut bezahlt als Personalchef in einem mittelgroßen Unternehmen. Sie hatte eigentlich immer Lehrerin werden wollen, doch dann studierte sie Betriebswirtschaft und spezialisierte sich auf Management-Training. Damit hatte sie sich und ihren Mann einige Jahre gut durchbringen können. Jetzt wollte sie sich mal eine Pause gönnen, es langsam angehen lassen.

Sie dachte daran, ihre Zeit für etwas Sinnvolles einzusetzen, sich ehrenamtlich zu engagieren. Zum Beispiel für Kinder. Immer wieder hatte sie gelesen, wie viele Jugendliche die Schule verlassen, ohne richtig schreiben, lesen und rechnen zu können. Besonders Migranten-Kinder brauchten dringend Unterstützung. Bei der Freiwilligen-Agentur erkundigte sie sich, ob und wo ihre Hilfe gebraucht würde.

Was könnte sie Kindern anbieten? In Mathematik war sie sicherlich nicht mehr auf dem Laufenden. Aber vielleicht könnte sie beim Lesen- und Schreiben-Lernen helfen Man gab ihr die Adresse einer Brennpunkt-Schule, wie man ihr sagte.

Auf Nachfrage schlug die Rektorin der Ehrenamtlichen vor, mit einer kleinen Gruppe lernschwacher Kinder lesen zu trainieren und beim Schreiben eines Lese-Tagesbuches behilflich zu sein. Es ging um 12jährige aus der 6. Klasse einer Grundschule „Aber stellen Sie sich darauf ein,“ erklärte die Rektorin noch zum Schluss, „dass diese Kinder aus schwierigen Verhältnissen kommen und nicht einfach im Umgang sind.“

 

Abends berichtete sie ihrem Mann davon, der Bedenken hatte, worauf sie sich einließ. „Mein Gott, mit 12 Jahren können das schon ziemliche Rabauken sein. Ich finde das unverantwortlich, dir solche Kinder zuzumuten, wo du doch gar keine Erfahrungen als Pädagogin hast.“

 

Doch sie ließ sich nicht beirren und freute sich darauf, mit Kindern zusammen zu sein. Das Buch, das die Klasse lesen sollte, hatte sie sorgfältig studiert und sich Notizen gemacht, damit sie mit den Kindern inhaltlich arbeiten konnte. Der Ablauf der zwei Schulstunden war sorgfältig vorbereitet und lag in ihrer Handtasche. Sie hatte sich genau überlegt, was sie an die Tafel schreiben wollte und wie sie sich vorstellen würde.

Das Navi leitete sie an den Stadtrand. Schon von weitem konnte sie das Viertel mit den riesigen Wohnblocks erkennen. Sie bog ab in die Straße, in der die Schule sein sollte und konnte auf der rechten Seite eine Art rohen Betonklotz erkennen. Davor – offenbar der Schulhof - tobten Kinder.

Auf der anderen Straßenseite quetschte sich ein Wohnblock neben den anderen. Davor auf der runtergetretenen Rasenfläche kickten Jugendliche und schrien sich gegenseitig an. Auf einer Bank saßen zwei Männer in Feinripp-Achselshirts mit der Bierflasche in der Hand. Ein großer schwarzer Hund lag daneben auf dem Boden. Manchmal wenn der Ball dem Tier zu nahe kam, sprang er auf und setzte sich kläffend gegen den vermeintlichen Feind zur Wehr. Es war ein Sommermorgen um 10 Uhr und schon relativ heiß. Über den Bürgersteig schob eine blonde Teenager-Mutter mit Hüftjeans und knappem Top ihr Baby spazieren. Ihr Blick war seltsam verloren, während sie immer wieder hastig an ihrer Zigarette zog.

 

Sie fühlte sich wie in einer anderen Welt. Direkt vor der Schule konnte sie nicht parken. Sie musste in eine Seitenstraße fahren und dort neben einem freien Platz, der eher wie eine Müllkippe anmutete, stellte sie ihren Wagen ab. Ihr war mulmig dabei, denn sie beobachtete wie eine Horde Jugendlicher mit offensichtlichem Migrations-Hintergrund um einige geparkte Autos herumlungerten.

Doch sie hatte keine Wahl.

Als sie die Schule betrat, ging es ihr besser. Denn hier sah es aus und hörte sich an, wie in allen Schulen. Kinder liefen über den Hof, schrieen, lachten, tobten, rannten die Treppe rauf und runter.

Die Rektorin zeigte der Ehrenamtlichen den Raum, in dem sie in Zukunft mit ihren Schützlingen arbeiten würde. Bevor sie sorgfältig die Tafel beschriften konnte, wurden ihr schon die ersten Schüler gebracht. „Es sind Kinder“, so sagte die Schulleiterin noch, „die besonders schlecht lesen können.“ Anstatt zwei, wie ursprünglich angekündigt, kamen nach und nach vier Jungen in den Raum und begannen sofort rumzuschreien, ihre Bücher von weitem auf den Tisch zu werfen und sich gegenseitig anzurempeln.

Ehrlich gesagt, fühlte sie sich überfordert. Es dauerte eine Weile, bis sie die Kinder so weit hatte, dass sie sich hinsetzten und sie sich vorstellen konnte, ihren Namen nennen und warum sie eigentlich da war. Etwas gelangweilt sagten schließlich auch die Jungs ihre Namen. Als sie, wie geplant, die ersten Kapitel des Buches reihum vorlesen sollten, kam blitzschnell das Argument: „Aber wir haben doch das Buch schon gelesen. Wir sollen doch jetzt ein Lesetagebuch schreiben. Hat unsere Lehrerin Ihnen das nicht gesagt?“ Sie war irritiert. Was sollte sie jetzt tun? Sie hielt es für möglich, dass die Kinder sie anlogen. Doch sie wusste es nicht genau und zögerte. Drei Schüler hatten schon ihr Heft genommen und begannen zu schreiben und zu malen. Nur Marcus kritzelte lustlos auf dem Papier herum und probierte, die Anderen mit witzigen Sprüchen vom Arbeiten abzuhalten und die neue Ehrenamtliche zu provozieren. Sie versuchte Ruhe rein zu bringen, setzte sich nach und nach zu jedem an den Tisch, ließ sich zeigen, was sie geschrieben hatten und half ihnen beim Formulieren und Fehler korrigieren. Doch immer wieder ließen sie sich von Marcus ablenken. Als sie schließlich bei ihm ankam, gab er ihr zu verstehen, er brauche keine Hilfe und rief trotzig „Ich schreibe jetzt erstmal das Deckblatt mit dem Inhaltsverzeichnis“. Sie legte beruhigend die Hand auf seinen Arm und schlug vor, dies zu Hause zu machen und hier die Chance zu nutzen, inhaltlich zu arbeiten. „Aber Sie sind doch gar keine Lehrerin, also dürfen Sie mir auch gar nicht sagen, was ich hier machen soll. Außerdem will ich nicht, dass sie mich anfassen.“ Erschrocken nahm sie die Hand von seinem Arm, entschuldigte sich und versuchte es noch einmal. „Weißt du, ich bin hier, um euch zu unterstützen beim Lesen und beim Schreiben. Zeig mir doch mal, was du schon geschrieben hast.“ Wütend zog er sein Heft zur Seite und fragte unvermittelt: „Darf ich mal auf die Toilette?“ Natürlich durfte er. Als er zurückkam war die Zeit zu Ende und sie schickte die Schüler zurück in ihren Klassenraum. Sie war enttäuscht von sich, von den Kindern, von der Situation. „Ich bin ja auch nur eine Ehrenamtliche und keine Lehrerin“, dachte sie resigniert.

Die Schulleiterin versuchte sie aufzumuntern: „Das waren auch die schlimmsten, die wir Ihnen geschickt haben. Ich rede noch mal mit ihnen. Das nächste Mal wird es bestimmt besser. Und wenn Marcus noch mal so stört, dann schicken sie ihn einfach raus.“

Genau das hatte sie sich für die nächste Woche vorgenommen.

Sie kam diesmal etwas früher, um den Raum vorzubereiten, die Tische als Quadrat zu stellen, damit sie und die Kinder sich direkt gegenüber saßen. Diesmal - so hatte sie sich vorgenommen – würde sie zu Anfang eine gemeinsame Übung machen und egal – ob einige das Buch tatsächlich schon durch hatten – reihum vorlesen lassen.

Dann kamen die Jungs. Es waren diesmal fünf in völlig neuer Zusammensetzung, aber Marcus war wieder dabei. Und der kleine Ünal, ein charmanter Junge, dessen Eltern aus der Türkei nach Deutschland zogen. Voll Stolz präsentierte er ihr sein Lesetagebuch. Er hatte zu fast allen Kapiteln eine Zusammenfassung geschrieben und Bilder dazu gemalt. Marcus machte sich lustig über ihn und rief hämisch in ihre Richtung „Der liebe Ünal, das ist doch nur ein doofer Streber“. Alle lachten. Sie war wütend und nahm sich vor, Marcus bei der nächsten Störung sofort vor die Tür zu setzen.

Mit strengem Ton gab sie bekannt, dass sie nun einige Kapitel lesen würden und ignorierte die Proteste. Tatsächlich konnte sie einen nach dem anderen zum Lesen bewegen. Sie taten sich schwer bis auf Ünal, der die Seiten nur so runterratterte und seine Leistung stolz mit „Ich bin der Beste, krieg ich eine Eins?“ kommentierte. Dann kam Marcus dran. Er quälte sich mit jedem Wort. Die Anderen begannen zu kichern. Der sonst scheinbar so starke und selbstbewusste Junge wurde immer unsicherer. Sie schimpfte mit den Kindern und unterbrach schließlich das Lesen. Ihr Angebot, mit ihm alleine nochmals zu üben, lehnte Marcus schroff ab.

Dann forderte sie die Jungs auf, an ihrem Lesetagebuch weiter zu schreiben. Marcus blieb ungewöhnlich still. Sie setzte sich neben ihn, unterhielt sich mit ihm über die wichtigsten Punkte des gelesenen Buches und wie er diese zusammenfassen könnte.

Widerwillig begann er zu schreiben und fragte betont genervt nach dem jedem Wort: „Und jetzt?“. Sie spürte, wie ihr langsam die Geduld mit dem Jungen ausging und sie immer wütender wurde.

Sie beobachtete ihn, wie er widerwillig zwei Worte schrieb und sagte plötzlich „Du bist ja Linkshänder“.

Erschrocken blickte er auf: „Ist das falsch?“

„Nein“, antwortete sie, „weißt du, dass man sagt, Linkshänder seien die intelligenteren Menschen?“

Er senkte abrupt den Blick auf seine Finger, auf sein Heft. Einen Moment verharrten beide still in ihrer Position. Dann richtete er sich auf, sah sie an, ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht, das leicht erhitzt und rosig wirkte. „Stimmt das wirklich?“ fragte er zaghaft.

„Ja“, antwortete sie, „weißt du, Linkshänder haben offenbar größere Fähigkeiten was Kreativität und außergewöhnliche Leistungen betrifft. Albert Einstein, Johann Wolfgang von Goethe waren Linkshänder. Und sogar der momentane Präsident von den Vereinigten Staaten Obama schreibt mit links.“

Marcus hörte ihr zu. Dann nahm er seinen Füller und begann zu schreiben.

 

Später wird die Ehrenamtliche von der Klassenlehrerin erfahren, dass „Marcus zum ersten Mal eine brauchbare Arbeit abgegeben hat“.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /