Eine Woche in Ernen

 

Ich bin die ich bin

 

Ich schaue in die Weite, in die Berge, die Täler.

Ich sehe die Wolken, die Sonne, den Mond und die Sterne.

Ich beobachte das Leben und den Tod, das Glück und die Trauer.

Ich höre Stimmen, Geräusche, Vogelgezwitscher, manchmal auch Musik.

Ich stehe schon eine Ewigkeit hier.

Gestern Nacht hatte ich Besuch. Ein junges Liebespaar, denen ich Rückzugsort und Schutz bin.

Heute Vormittag sind zwei Frauen bei mir. Sie pflanzen, gießen und jäten Unkraut. Und danach

ruhen sie sich bei mir aus.

Heute Abend wird es wieder laut und voll werden, aber später wird es himmlisch sein.

Ich werde von Musik getragen, in den Himmel, in den aufgehenden Mond schauen

und dabei von einer Welt träumen, wie sie sein könnte oder wie sie vielleicht schon ist.

Ich bin die Friedhofsbank des Dorfes

 

 

Heute sind wir mit einem Mantel aus Tau und Regen erwacht.

Der Morgennebel hat uns drei eingehüllt.

Einige Jahrhunderte haben wir überlebt - viele Menschen jung sterben sehen.

Wir kennen Schuld, Schmerz und Elend. Wir leben, um daran zu erinnern.

Wir sind nie allein, auch wenn es so aussieht.

Jeden Tag werden wir besucht.

Vögel, Füchse, Dachse, Marder, manchmal auch Katzen. Wir kennen sie alle. Sie sind unsere Freunde.

Morgens schnüffelt ein großer, dunkler Hund an uns. Er findet, wir riechen gut. Nie kommt er allein.

Eine kleine, zierliche Frau begleitet ihn. Manchmal ruht sie sich bei uns aus. Aber niemals geht

sie vorbei, ohne uns anzusehen.

Sie weiß, wer wir sind.

Wir sind die drei Galgen des Ortes

 

 

Heute bin ich 6 Tage alt. Ich bin jung und trotzdem schon alt.

Alt genug, um zu erkennen, was ich angerichtet habe.

Denn ich bin eine Rebellin, eine Veränderin, eine Unruhestifterin.

Und ich beobachte sehr genau was geschieht, wenn ich auftauche:

Ich sehe die Schönheit ihrer wachen, neugierigen Augen

Ich kenne ihre Anspannung, ihre Unruhe, ihre Unsicherheit

Ich spüre das Gepäck ihres Lebens

Ich weiß um ihre Kreativität und Lebendigkeit

Ich freue mich an ihren Glücksmomenten und ihrem Erfolg

 Scheinbar aus dem Nichts tauche ich auf und werde mithilfe vieler Gedanken,

Gefühle und Wörter zu einem großen Ganzen.

Ich bin die Biografie-Werkstatt, zu der ihr alle gekommen seid.

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Tag der Veröffentlichung: 13.05.2013

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