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Die letzten Tage

Von Hüten, Träumen und andern wichtigen Dingen

Ein mögliches letztes Kapitel zu „House of Mirth“

 

1

Heute Abend würde Helen Kilroy sich endlich mit der Neuen treffen. Unbedingt. Denn eines war klar, lange würde diese nicht mehr da sein.

„Hallo Girls, hier kommt Verstärkung“, Miss Haines stand breit und wie immer unwirsch in der Tür und präsentierte eine elegante junge Frau, die alle Mädchen im Saal wie elektrisiert aufblicken ließ: „rückt mal zusammen, damit Miss Lily Bart einen Platz findet“. Wobei sie den Namen „Miss Lily Bart“ eine Spur affektiert aussprach. Das war vor zwei Monaten. Auch Helen konnte damals ihre Neugier nicht verbergen. Und die Neue machte ihrem Aussehen alle Ehre und legte einen regelrechten Auftritt hin. Wie sie hereinschwebte, als wäre dieser leicht angestaubte Arbeitssaal eine Bühne. Mit einer winzigen Geste neigte sie ihren hübschen Kopf, wobei sie gleichzeitig das Kinn ein wenig nach oben reckte. Erst dachten die Mädchen, sie wäre eine von denen, für die sie sich hier die Finger blutig sticheln, eine von den reichen Damen, die ihr Hütchen abholen wollen und die Arbeiterinnen hochmütig übersehen. Doch Helen inspizierte im Vorbeigehen die Garderobe der geheimnisvollen Neuen und fand schnell heraus: feiner Stoff zwar, aber doch schon leidlich abgetragen. Sofort ging im Saal die Tuschelei los: „Der ist bestimmt der Mann durchgebrannt und jetzt sitzt sie da ohne Geld, oder war sie vielleicht so etwas wie Gesellschaftsdame in einem reichen Haus? Wer weiß, was sie angestellt hat“. Jede der Mädchen hatte eine andere Idee, was es mit dieser Miss Lily auf sich haben könnte.

Doch als Helen einmal Gelegenheit hatte, Miss Lily direkt in die Augen zu schauen, war sie erschüttert. Diesen abgrundtief verletzten, hoffnungslosen Blick konnte sie nicht mehr vergessen. Was ist ihr zugestoßen? Warum ist eine von ihrer Klasse hier als Arbeiterin gelandet? Während die junge Putzmacherin ihren Gedanken nachging, veredelte sie äußerst kunstvoll die ungewöhnlichsten Hutkreationen mit glänzenden Bändern, Stoffblumen und Federn. Sie erwies sich am Ende ihrer Lehrzeit als eine der talentiertesten im Salon von Madame Rebecca und hoffte, dass sie bleiben konnte und vielleicht sogar ein paar Dollar mehr im Monat verdienen würde.

Doch plötzlich hörte sie Miss Haines durchdringend schneidende Stimme, wie sie jemanden barsch zurechtwies. Wieder hatte es die strenge Aufseherin auf Miss Lily abgesehen. Sich ihrer Macht bewusst, stand sie vor Lily’s Tisch und entriss der zitternden jungen Frau wutentbrannt ein lila Hütchen, auf dem die Pailletten kreuz und quer angenäht waren. Die Arme senkte den Kopf und versuchte, sich die Kränkung nicht anmerken zu lassen. Nachdem sie einige Minuten in dieser geduckten Stellung verharrte, stand sie auf, erhob ganz langsam ihren Kopf und zischte Miss Haines im Vorbeigehen etwas zu, bevor sie mit wippenden Röcken die Werkstatt verließ. Helen war sofort klar, dass sie jetzt etwas tun musste. Was, wenn Lily einfach weglief und nie mehr wiederkam, was würde dann mit ihrer Verabredung und der ersten freundschaftlichen Annäherung werden? Denn sie hatte keine Ahnung, wo Lily wohnte und wo sie zu finden sein würde. Ohne dass Miss Haines etwas merkte, schlüpfte sie aus der Tür in Richtung Toilette. Miss Lily stand starr und leichenblass vor dem Spiegel, mühsam Haltung bewahrend und hielt kraftlos die Puderdose in den Händen. „Miss Lily, Sie dürfen sich das nicht so zu Herzen nehmen, sie ist einfach eine bösartige Frau. Ich weiß, dass Sie Talent haben, Sie müssen durchhalten“ Lily blickte sie mit großen Augen an, völlig erstarrt, so als würde sie nichts verstehen. Dann trat sie einen kleinen Schritt nach vorne, taumelte. Helen sprang ihr entgegen, nahm die sich nur schwach Wehrende in die Arme und hielt sie einfach nur fest. Bis Lilys schmächtiger Körper sich von Kopf bis Fuß schüttelte und sie hemmungslos zu weinen begann.

 

2

Säumige Zahlungen einzutreiben, das langweilte Selden über die Maßen. Doch als selbständiger Rechtsanwalt konnte er sich, wenn er überleben wollte, seine Aufträge nicht aussuchen. Und so rosig ging es ihm nicht, dass er einen potentiellen Kunden hätte abweisen können. Scheidungen, vor allem wenn es sich um wohlhabende Kunden handelte, interessierten ihn bedeutet mehr, nicht nur wegen der höheren Honorare, die er in Anrechnung stellen konnte. Die Geschichten, die sich dahinter verbargen, Geschichten von Eifersucht, Demütigungen und manchmal auch Brutalität waren einfach spannender. Aber heute saß ihm Mr. Simpson gegenüber und klagte sein Leid, dass wieder drei Kunden, die seine Dienste in Anspruch genommen hatten, und auch noch Sonderwünsche erfüllt haben wollten, einfach nicht zahlten. Und schließlich müsse er für seine Miete aufkommen und für seine Familie sorgen. Lawrence Selden, hinter dem zerkratzten Nussbaumschreibtisch seines Vaters sitzend, stellte bemüht höflich die obligatorischen Fragen. „Ihre Anschrift, Ihr Geburtsdatum, Ihr Beruf Mr. Simpson?“ Der Angesprochene reagierte leicht gekränkt, als fühlte er sich indiskret behandelt und ratterte schließlich herunter: „Lincoln Street 32, geboren am 5. Mai 1871, Beruf: Privatdetektiv“. Selden schrieb eifrig mit, doch dann schaute er auf „Privatdetektiv, für wen arbeiten Sie denn so, Mr. Simpson?“ „Für jeden“, konterte sein Gegenüber leicht gereizt „für jeden, der mich braucht und der sich meine Arbeit leisten kann!“ Selden nickte gedankenverloren, sprach die Details des weiteren Vorgehens ab, aber im Hinterkopf entwickelte sich gleichzeitig, ohne dass er jemals vorher darüber nachgedacht hatte, ein Plan. Als beide Männer schon in der Tür standen, um sich zu verabschieden, hörte sich Selden zu seiner großen Überraschung fragen: „Würden Sie auch für mich arbeiten?“ Simpson, der gerade seinen Hut genommen hatte, drehte sich nochmals um: „Warum nicht, um was gehts denn?“ Nach einem kurzen peinlichen Schweigen, fasste Selden noch einmal Mut: „Können wir morgen bei einer Tasse Tee darüber sprechen?“ Mr. Simpson willigte sofort ein.

Als sich die Tür hinter dem neuen Klienten schloss, ließ sich der junge Anwalt erschöpft auf den gemütlichen Besuchersessel fallen, griff geistesabwesend nach einer Zigarre, die eigentlich für seine Kunden bereitlagen und dachte nach. Über den überraschenden Besuch von Miss Lily Bart gestern Abend. Ob er ihr wirklich genug vertrauen konnte, um sie vielleicht doch eines Tages um die Ehe zu bitten? Was war mit dem Gerede, sie hätte Geld von Trenor genommen? Wofür? Welche Gegenleistung musste sie dafür erbringen? Und hatte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, wie sie im Dunkeln aus dessen Haustür geeilt war. Und was, wenn die Beschuldigungen von Bertha Dorset stimmen, Lily hätte mit ihrem Mann angebandelt. Da konnte seine zartfühlende Cousine Gerty noch so viele Entschuldigungen hervorzaubern, dass Lily’s Gutgläubigkeit von den Männern ausgenutzt worden sei, dass Bertha sie als Sündenbock benutzte, um ihre eigene Untreue zu vertuschen und dass ihr Herz nur für ihn, Lawrence Selden schlug. Aber Selden wurde das Gefühl einfach nicht los, dass Miss Bart’s Freundlichkeit ihm gegenüber eher ein kokettes Hinhalten war, möglicherweise so lange bis sie herausgefunden hatte, ob der neureiche Rosedale sie zur Frau nehmen würde oder nicht. Bevor dieses ungute Gefühl nicht endgültig vom Tisch war, konnte er sich einfach nicht für Lily entscheiden.

 

3

Nachdem Lily sich wieder gefangen hatte und gestützt von ihrer neuen Freundin Helen Madame Rebeccas Hutsalon unbemerkt durch die Hintertür verlassen hatte, liefen die jungen Frauen zur 22. Straße und setzten sich im nahe gelegenen Park auf eine Bank. Die aufziehende Dämmerung hüllte die Beiden in ein rötlich-warmes Licht. „Miss Helen, ich kann nicht“, Lily schaffte es nur mit Mühe, die Tränen zurückzuhalten: „Sie müssen verstehen, ich kann Sie in diesem Zustand nicht begleiten. Was sollen die Anderen bei Ihnen zuhause, was sollen die von mir denken? Und ich… ich muss darüber nachdenken, was ich jetzt tun soll. In meinem Kopf dreht sich alles“. Lilys Stimme wurde immer leiser und stockender. Eigentlich war sie wahnsinnig gespannt darauf, was sie bei Helens Vermieterin, die so etwas wie einen Salon pflegte, in dem sogenannte Literaten Texte vortragen und wo diskutiert wird, erwartet. Und Helen sagte auch, dass man dort über alles spricht, was wichtig im Leben ist. Aber was war denn wirklich wichtig? Und könnte es sein, dass sie in Helen endlich eine ebenbürtige Freundin gefunden hätte, der sie wirklich vertrauen konnte?

 

Was Lily bisher von Helen wusste, war nicht viel. Vor drei Jahren war sie vom Land nach New York gekommen, denn ihr Traum war es, Putzmacherin zu werden. Helen Kilroy’s Familie, die von Erträgen eines kleinen Gutshofes lebten, konnten ihr nur die Reise bezahlen. Doch es gab noch eine Tante, die glücklicherweise einen wohlhabenden Mann geheiratet hatte. So konnte sie Helen ein paar Dollars mit auf den Weg geben. Aber das wertvollste war ohne Zweifel die Anschrift einer Freundin, die an junge Mädchen Zimmer vermietete und die dazu noch diesen Literatur-Salon hatte. Dass es so etwas geben sollte, davon hatte Lily schon häufiger gehört, aber ihre früheren, reichen Freunde hatten für arme Poeten nur ein verächtliches Stirnerunzeln übrig und Frauen, die sich gar selbst für Schriftstellerinnen hielten, waren einfach völlig indiskutabel. Sie wurden als bemitleidenswerte Blaustrümpfe belächelt.

Doch Helen fühlte sich in dem Kreis ihrer neuen Vermieterin wohl, sie war fasziniert von den Gedichten, die vorgetragen wurden, von den Gesprächen, von denen sie oft gar nichts verstand, aber die sie begierig aufnahm und die ihr das Gefühl gaben, etwas kennen zu lernen von der Welt, das einen tieferen Sinn hatte. Und genau das wollte sie Lily zeigen, ihr deutlich machen, ein Mädchen kann auch noch eine andere Bestimmung finden, als reich zu heiraten. Sie kann selbst Geld verdienen und sie kann dazulernen.

 

4

In der Nacht, nachdem Rosedale Lily in ihrer schäbigen Pension aufgesucht und ihr erneut vergeblich seine Hilfe angeboten hatte, fasste sie einen Entschluss. Sie wollte sich von keinem Mann mehr aushalten lassen. Denn wie sollte sie sich jemals wieder als achtbare Frau fühlen, wenn sie noch einmal in diese verführerische Falle ging. In dieser Nacht hatte sie sich außerdem zu einem Schritt durchgerungen, den sie lange, vielleicht viel zu lange vor sich hergeschoben hatte. Aber wahrscheinlich war auch jetzt erst der richtige Moment gekommen. Sie wollte ihr Vorhaben nicht Rache nennen, das wäre zu hart ausgedrückt, nein - sie sorgte endlich für Gerechtigkeit, um ihre Würde wieder herzustellen. Nach diesem Entschluss fiel sie seit langem mal wieder in einen tiefen traumlosen Schlaf, der viel zu früh endete. Mit den ersten Pferdehufen, die im gleichmäßigen Rhythmus über das Pflaster klapperten, erwachte sie fast erschrocken. Und sofort schoss ihr durch den Kopf, was sie für heute geplant hatte. Noch bevor der erste Tropfen Wasser ihre zarte Haut berührte, griff sie beherzt in den Schrank, zog den alten Koffer hervor und schloss ihn auf. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals, als sie das wohlverschnürte Päckchen alter Briefe herauszog. Mit Bedacht wickelte sie es in ein Stück Stoff und verstaute es in ihrem Umhang. Erst dann ging sie daran, sich sorgfältig herzurichten und diesen Tag der Wende mit Ruhe, Überlegung und einer Spur Genuss anzugehen. Sie verspürte sogar Hunger und freute sich auf das bescheidene Frühstück, das ihr das Dienstmädchen wie jeden Morgen vor die Tür stellte.

Dabei ließ sie den gestrigen Abend bei Helen zuhause Revue passieren. Die Vermieterin, die die beiden jungen Frauen herzlich begrüßte, war ein Schock. Sie trug einen schrillen rot gefärbten Lockenkopf, hatte sogar die Lippen angemalt und ein wirklich viel zu tief ausgeschnittenes, eng anliegendes Kleid an, zudem noch von schlechter Qualität. Die Gäste ähnelten in ihrem Aussehen den schäbigen Stühlen, auf denen sie saßen, von denen keiner zu dem anderen passte. Lily konnte sich ein hochmütiges Augenbrauen-Hochziehen nicht verkneifen. Sollte das ihre neue Welt sein, diese abscheulich aussehenden Menschen und sie empfand eine leichte Übelkeit vor den Gerüchen, die diese verströmten. Doch im Laufe des Abends wurde sie immer unsicherer, als sie gebannt den geistreichen Gesprächen über Literatur, Musik und schließlich Politik folgte, die sich spät am Abend in eine hitzige Diskussion über die schmarotzende Bourgeoisie zuspitzte, die den Arbeitern und Dienstboten den verdienten Lohn vorenthielten und sie zudem noch schlecht behandelten. Lily rauschte der Kopf und sie trat spät am Abend auf die Straße, um sich eine Droschke zu rufen, die sie nach Hause brauchte.

Und dann stand auch noch dieser Rosedale vor ihrer Tür und wartete auf sie. Daran mochte sie jetzt gar nicht mehr denken.

Nachdem sie all diesen neuen Erfahrungen noch einmal nachgespürt hatte, war es Zeit, aktiv zu werden. Bevor sie das Haus verließ, überlegte sie ganz genau, wie sie vorgehen wollte. Wenn sie direkt zu den Dorsets ging, was nur jetzt in den Morgenstunden sinnvoll wäre, wollte sie die Dame des Hauses alleine antreffen, müsste sie sich beeilen. Doch würde Bertha sie nach alldem, was geschehen war, überhaupt eintreten lassen? Und was, wenn sie erstmal nur einen Brief über einen Boten abgeben ließ mit dem Angebot, über die Herausgabe der anderen kompromittierenden Schriftstücke mit ihr zu verhandeln? Vielleicht wäre dies die klügste Lösung. Sie zog sich an, legte das warme Wollcape mit dem wertvollen Päckchen in der Tasche um, streifte die langen eleganten Handschuhe über und verließ das Haus. Sie brauchte jetzt frische Luft, um nachzudenken, um nichts zu überstürzen.

 

4

Mr. Selden war gerade bei seinem Nachmittagstee. Was immer er auch tat, seine Gedanken beschäftigten sich unwillkürlich mit Lily. Hatte seine Cousine nicht davon berichtet, wie sehr sie sich um Lily sorgte, die ihre Arbeitsstelle im Hutsalon verloren hätte und nun wieder völlig verzweifelt und mittellos dastand? Wie würde sie, die so inständig gehofft hatte, wie auch immer zu Geld zu kommen, mit dieser erneuten Niederlage umgehen? Während Selden genüsslich seinen Tee schlürfte, versuchte er die verstörenden Informationen, die Mr. Simpson ihm über Lilys Aktivitäten und diversen Besuche berichtet hatte, mit Gertys Aussagen in Zusammenhang zu bringen. Und während er über all das nachgrübelte, beobachtete er mit einem Teil seiner Wahrnehmung die Millionen Regentropfen, die fast in Zeitlupe am Fensterglas abperlten. Doch gleichzeitig spürte er zunehmend ein beunruhigendes Kribbeln an Rücken und Hals emporsteigen.

Was, wenn Gerty Recht behalten würde und Lily sich tatsächlich etwas antut? Wäre es nicht gut, sicherheitshalber unter einem Vorwand bei ihr vorbeizuschauen. Er hoffte, diese Art Gefühlsaufwallung, die er bei sich noch nicht so häufig beobachtet hatte, würde schnell vorübergehen. Aber die Beunruhigung hielt wider Erwarten an und so nahm er Regencape, Hut und Schirm und machte sich im Sturmschritt auf den Weg zu Lily’s Pension. Dort angekommen, traf er eine völlig aufgelöste Gerty: „Stell dir vor Lawrence“….ihre Stimme versagte und sie sank völlig erschöpft auf einen Stuhl, „stell dir vor Lawrence, Lily ist diese Nacht nicht nach Hause gekommen. Das hat sie noch nie gemacht, das passt nicht zu ihr. Ihr muss etwas zugestoßen sein.“ In Seldens Mienenspiel ließ sich in kürzester Zeit eine kaum merkliche Veränderung wahrnehmen. Zunächst starrte er Gerty erschrocken an und versuchte fieberhaft zu überlegen, was Lily Schreckliches zugestoßen sein könnte, doch dann verfinsterten sich seine Augen und er entgegnete Gerty in einem leicht zynisch-süffisanten Ton: „Vielleicht hat sie bei einem ihrer vielen Verehrter übernachtet, die Gute. Schließlich muss sie doch endlich einen Mann finden, nicht war meine Liebe?“ Gerty war empört und erhob ihre Stimme: „Begreifst du denn nicht, dass Lily in Gefahr ist, warum geht es bei euch Männern immer nur um gekränkte Eitelkeit?“

Selden war verblüfft über den ungewohnten Gefühlsausbruch seiner Cousine und setzte sich erstmal hin. Wo hatte er eigentlichen den schriftlichen Bericht des Privat-Detektiven? Er fand ihn in der Innentasche seines Jackets und las ihn nochmals sorgfältig durch, während Gerty vor Sorge und aufsteigender Wut immer hin und herlief. Selden dachte nach und spürte, wie die Vernunft langsam wieder Oberhand gewann:„Gerty, lass uns in Lilys Zimmer schauen, ob wir irgend welche Anhaltspunkte finden, bevor wir uns kopflos auf die Suche machen“. Sie stiegen die Treppe nach oben und fanden im Schreibtisch ein kleines Päckchen. Gerty griff sofort danach, öffnete es, zog den ersten Brief in einer ihr unbekannten Handschrift heraus und las laut: „Lawrence mein Liebling, wie sehr sehne ich mich nach dir…….“ Ungläubig blickte sie ihr Gegenüber an, dessen Kopf augenblicklich hochrot angelaufen war. Selden griff wütend nach den restlichen Briefe und schnauzte sie im strengen Ton an: „Das ist lange her und stimmt so auch überhaupt nicht. Schließlich ist Bertha Dorset verheiratet“ Aber er wusste augenblicklich, warum Lily den Dorsets – nach all dem, was geschehen war – einen Besuch abgestattet hatte, aber er wusste nicht, was dabei passiert war. Blitzschnell gelangte er zu der Entscheidung, das tatsächlich „Gefahr im Verzug“ war, wie es in der Juristensprache heißt und er schnappte Gerty am Arm, um so schnell wie möglich, die nächste Polizeidienststelle aufzusuchen.

Gerty und er berichteten abwechselnd alles, was sie über Lilys letzte Tage, Erlebnisse und Begegnungen wussten. Selden lüftete sogar sein Geheimnis und präsentierte die Recherche-Ergebnisse des Privat-Detektiven.

Kommissar Wilson hörte sich alles an und fragte dann völlig gelassen: „Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie eine Vermissten-Anzeige aufgeben wollen? Und kann es nicht sein, dass die junge Dame sich bei Freunden oder vielleicht einem Herrn aufhält?.“ Beide wiesen diese Vermutungen entrüstet zurück und betonten immer wieder „Lily ist in Gefahr, so glauben Sie uns doch“. Kommissar Wilson versprach, sofort eine Suchaktion einzuleiten und ggfs die Herrschaften Dorset und Rosedale, die offenbar zuletzt Kontakt zu der Vermissten hatten, aufzusuchen.

 

5

Fast zwei Tage dauerte das angstvolle Bangen von Gerty und Selden, bis sie erfuhren, Lily ist gefunden. Sie saß auf einer Bank im Park an der 22. Straße, ruhig schlafend. Zwischen sich und ihrer Handtasche ein Fläschchen mit Schlafmittel, das

offenbar bis auf den letzten Tropfen geleert war. Sie konnte nicht mehr gerettet werden. Für die Verdächtigungen Seldens, Bertha Dorset oder gar Rosedale könnten in den Tod Lilys verstrickt sein, konnte Kommissar Wilson keine Beweise finden. Wenngleich Selden skeptisch war, ob der Polizeibeamte sorgfältig genug gearbeitet hatte, Möglicherweise hatte er sich von dem Reichtum dieser angesehenen New Yorker Bürger sogar bestechen lassen. Selden musste den abschließenden Bericht: „Der Fall wurde aus Mangel an Beweisen eingestellt“ akzeptieren.

 

6

Nur einen Tag später erhielt die noble New Yorker Gesellschaft über einen Boten die Einladung zu einem standesgemäßen Begräbnis für Lily Bart. Mr. Rosedale hatte es sich nicht nehmen lassen, „seine geschätzte Freundin“ wie er sie jetzt plötzlich bezeichnete, angemessen auf ihrem letzten Weg zu begleiten.

Der weiße Sarg aus gelacktem Holz war kunstvoll mit roséfarbenen Lilien geschmückt. Dazwischen steckte eine einsame rote, voll aufgeblühte Rose.

Sie waren alle gekommen und einige bestanden darauf, große Reden auf die Verstorbene zu halten. Am Rand der Gesellschaft standen Selden, Gerty Farish und schließlich Helen Kilroy aus dem Hutsalon.

Alle zogen noch einmal am offenen Grab vorbei. Miss Kilroy war die Letzte. Keiner kannte sie. Ein Raunen ging durch die Menge, als Helen länger als üblich vor Lilys Sarg, der schon in die Tiefe herabgelassen war, stehen blieb, ihren kunstvollen, lilafarbenen Hut vom Kopf nahm. Der Hut, den Lily so gerne selbst gestaltet hätte und den Helen ihrer neuen Freundin eigentlich schenken wollte, Diesen Hut nahm Helen vom Kopf und warf ihn in einer eleganten Bewegung, eine Bewegung, die einer Lily Bart würdig gewesen wäre, in die Tiefe. Der Hut vollzog eine leise Drehung und blieb schließlich auf dem Sarg, in der vermuteten Höhe von Lilys Kopf, liegen.

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 13.05.2013

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