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Ein Tag und eine Mail

Der Morgen danach

 

Gestern hatte er es getan. In der Nacht. Die Erinnerung daran lässt sein Herz leise flattern. Er hatte kaum geschlafen. Fröstelnd und müde steht er am Fenster, beobachtet die Sonne, die in weiter Ferne wie in Zeitlupe den Morgenhimmel in rosarotes Licht taucht. Er fühlt sich, als sei er gerade aus einer tiefen Narkose erwacht.

 

Hatte er es wirklich gewagt? Hatte er die Mail tatsächlich abgeschickt? Oder war alles nur ein Traum und nichts hatte sich verändert? In den frühen Stunden des Tages erscheint alles so unwirklich.

 

Vor 10 Jahren war er ihr zum ersten Mal begegnet, in Kassel auf dem Bahnhof. Sie saß auf einer Bank, schwarze Hose, weiße Rüschenbluse und lächelte ihn an. Ein amüsiert-spöttisches Lächeln.

Meinte sie ihn? Wirklich ihn? Da wusste er noch nicht, dass sie es war.

Sein Telefon klingelte und eine Frauenstimme rief: „Was läufst du so aufgeregt hin und her, wen suchst du?“

„Ich suche dich! Ich kann dich nicht finden“. Leise Verzweiflung ließ seine Stimme unsicher vibrieren. Machte sie sich lustig über ihn?

 

Es war ein besonders heißer Augusttag. Sein hellblau gestreiftes Hemd, was so vorteilhaft mit seinen blauen Augen korrespondierte, klebte ihm schon am Rücken.

Er konnte also seine Jacke nicht ausziehen. Und die neu gekaufte Hose, sie war einfach zu lang. Keine perfekten Startbedingungen für ein erstes Rendez-vous.

Bisher kannte er sie nur von einem Foto. Keine Schönheit, aber interessant schon.

Er war ein wenig nervös, hatte Angst, dass seine Erwartungen enttäuscht würden oder dass er ihr vielleicht nicht gefallen könnte.

Nur wo blieb sie? Wo hatte sie sich versteckt?

Er wählte nochmals ihre Nummer. Sie lachte wieder und rief,“ guck dich doch einfach mal um? Ich bin genau dort, wo du nicht hinschaust.“ Sein Blick fiel nochmals auf die Bank.

Auf die Frau mit schwarzer Hose und weißer Bluse, die in ihr Telefon lachte und ihm zuwinkte.

Sie also war es. Er hätte sie nicht erkannt. Sie sah jünger aus als er dachte und war ziemlich groß, so groß wie er selbst.

Sie begrüßten sich etwas verlegen und er achtete darauf, dass sie sein verschwitztes Hemd nicht bemerkte.

Was sollte er jetzt tun, was sagen? Sein Mund klebte. Er hatte Durst, ihm war einfach nur heiß und er war unsicher. Er blickte in ihre prüfenden Augen und versuchte zu lächeln „Sollen wir etwas trinken gehen? Champagner vielleicht und was Schönes essen?“

Wer sie so zusammen weggehen sah, hätte denken können, ein Paar zu sehen, das sich schon lange kennt und trotz vorgerückten Alters noch viel zusammen lachen kann. Er wusste, dass er mit seiner Höflichkeit gut ankam. Er trug ihre Tasche, öffnete ihr die Tür und als sie sagte, sie wolle zur Toilette gehen, stand er mit ihr auf. Sie war überrascht: „Willst du auch zur Toilette?“ „Nein“, sagte er, „ich bin nur höflich.“ Sie lachten beide.

Vier Wochen später flogen sie nach Paris. Er war stolz, sie einladen zu können, denn er hatte Meilen gesammelt und sein „Künstlersohn“ wie er ihn gern nannte, hatte dort eine Ausstellung.

Er – ein weit gereister Geschäftsmann - konnte ihr beweisen, dass man selbst in einer Großstadt wie Paris spontan bleiben konnte und ohne zu buchen ein gutes Hotel fand. Sie war beeindruckt.

 

Sie trafen sich alle vierzehn Tage für ein längeres Wochenende, denn er lebte im Süden Deutschlands und sie im Norden, 500 Kilometer voneinander entfernt. Eine Liebe auf Distanz.

Jeden Abend telefonierten sie, ein Ritual, auf dem er bestand. Einmal hatten sie zwei Tage nicht miteinander gesprochen. Sie war auf einer Dienstreise und dann mit einer Freundin unterwegs, sagte sie und hatte das handy abgestellt. Er war wütend „Wir haben eine anspruchsvolle Beziehung“, rief er ins Telefon „wir müssen sorgsam damit umgehen und wenigstens per Telefon in Kontakt bleiben.“ Sie entschuldigte sich und stimmte ihm zu. Er war beruhigt und freute sich auf den nächsten Abend, um endlich wieder lange mit ihr telefonieren zu können. Denn er wollte ihr nahe sein.

 

Es ist hell geworden, die Sonne wärmt fast schon ein bisschen. Die Geräusche der erwachenden Stadt werden lauter. Er schließt das Fenster, um bei sich bleiben zu können, um zu spüren, an welchem Punkt seines Lebens er jetzt angekommen ist.

Am liebsten würde er noch mal überprüfen, ob er die Mail in der Nacht tatsächlich abgeschickt hatte. Sein Herz klopft ihm bis zum Hals. Und wenn sie schon geantwortet hat?

Schnell klappt er den Laptop wieder zu.

Nicht jetzt, erst einen Kaffee und die Zeitung lesen. Vielleicht später. Vielleicht hatte sie dann ja auch schon angerufen. Er erschrickt, als er spürt, dass eine Träne über seine Wange läuft. Er kann nicht lesen, sein Blick ist verschwommen. Draußen scheint die Sonne, innen ist es kühl.

 

Drei Jahre nachdem er sie kennen lernte, heirateten sie und reisten vier Wochen durch Sri Lanka Eine wunderbare, aufregende Zeit. Sie machten eine Ayurveda-Kur, weil sie es so wollte. Jeden Tag Massagen mit glitschigem Öl. Sie strahlte immer glücklich und zufrieden, wenn sie sich danach wieder trafen, er aus dem Männertrakt, sie aus der Frauenabteilung kommend. Eines Tages ließ sie sich von den Massage-Frauen zeigen, wie ein Sari gewickelt wird. Er war dabei und beobachtete „seine Frau“, der die Inderinnen lachend zuriefen. „You need petticoat under your sari, madam“

Er kannte Sri Lanka schon von seinen Geschäftsreisen und freute sich, ihr diese Insel zu zeigen. Deshalb hatte er eine Rundreise gebucht mit einem Fahrer. Er beobachtete sie lange von der Seite, wie sie gespannt aus dem Fenster sah, erschrak, wenn der Fahrer zu schnell an einem Ochsengespann vorbeifuhr oder wenn sie voller Begeisterung auf wunderschöne Landschaften, Tempel oder auch auf lachende Schulkinder zeigte. Bei dieser Gelegenheit fragte er sie unvermittelt: „Liebst du mich noch?“ Er registrierte genau, wie sie einen Moment zögerte, ihn dann wortlos in die Arme nahm und ihm das Gesicht streichelte. Eine Zärtlichkeit, die er liebte.

 

Das letzte Mal war er mit seiner ersten Frau in Sri Lanka. Das musste mindestens 6 bis 7 Jahre her sein, denn kurz danach starb sie an Krebs. Es war seine erste Liebe, die er schon früh kennen lernte. einen Sohn und eine Tochter hatten sie und ein gut gehendes Geschäft.

Dann wurde sie krank. Nach ihrem Tod geriet sein Leben aus den Fugen. Er musste das Geschäft schließen, versuchen wieder Geld zu verdienen. Und er wollte nicht alleine bleiben. Kurz vor ihrem Tod fragte ihn seine Frau: „Wirst du dir wieder eine Partnerin suchen?“ Und er antwortete: „Ich kann es mir nicht anders vorstellen.“ Ein halbes Jahr danach fand er im Internet eine website und darüber Kontakt zu einigen Frauen, die er traf. Er suchte so lange bis er sie fand.

 

Das Telefon klingelt. Er zuckt zusammen. Sein Herz klopft bis zum Hals. Aber es ist nur seine Schwester. „Ich dachte sie ist es“, bricht es aufgeregt aus ihm heraus. „Gestern Nacht habe ich ihr geschrieben“. Die Schwester ist seine einzige Vertraute, Freunde hat er nicht. „Glaubst du, es war richtig?“ Die Schwester zögert, „es ist dann richtig, wenn du selbst das Gefühl hast, es stimmt so.“ Aber er weiß nicht, ob es so stimmt.

Es regnet, Wassertropfen perlen über das Fenster. Die Zeit vergeht einfach nicht. Und wenn er sie jetzt einfach anruft?

 

Auf der Rückreise machten sie einen Zwischenstop in Bombay. Ein Fahrer holte sie ab und brachte sie zum Hotel. Groß gewachsene, schöne indische Männer in traditioneller Tracht mit Turban rissen die Türen auf. Beim Aussteigen fiel er beinahe hin, ihm war schwindelig, er wusste im Moment nicht, wo er war, wollte nur noch losrennen. Ein Inder hielt ihn zurück, nahm ihn in den Arm, um ihn vor einem schnell anfahrenden Auto zu schützen. Was war mit ihm los? Er sah ihren prüfenden, erschreckten Blick. Doch dann lächelte sie: „Es war bestimmt nur der Kreislauf nach dem Flug.“ Am nächsten Morgen suchte er seine Brieftasche. Er war nervös, hatte Angst, sie verloren zu haben. „Sie ist dort, wo du mal wieder nicht hinschaust“, sagte sie zunächst lachend. Und dann etwas strenger: „Erinnere dich“,du hast sie gestern im Zimmersafe eingeschlossen.“

Auf dem Heimflug spürte er, wie eine leichte Trauer in ihm hochstieg. Die schöne Zeit war vorbei. Bald würden sie sich wieder trennen. Ob sie es auch so empfand?

Sie würden darüber reden müssen, wie sie in Zukunft leben wollen. Denn in wenigen Monaten würde er in Rente gehen. Sie hatte noch vier Jahre vor sich.

 

Als es aufhört zu regnen fährt er mit dem Fahrrad am Fluss entlang Richtung Stadt. Er weiß nicht so recht, wohin. Es gibt noch keine neuen Rituale, seit er aufgehört hat zu arbeiten. Eigentlich war seine Hoffnung, er könne öfters bei ihr sein. Aber sie scheint immer so beschäftigt, viele Termine, viele Treffen mit Freundinnen, ihre Familie, die alte pflegebedürftige Mutter. Und was sollte er in ihrer Stadt tun? Er kennt niemanden, denn er war bisher immer nur wenige Tage mit ihr zusammen. Also wartete er bis es wieder Zeit war zum nächsten Treffen. Bis sie zu ihm kommt oder er sie besucht.

Inzwischen hatte er sich angewöhnt schon morgens am Computer zu sitzen, las aktuelle Meldungen im Internet. Recherchierte zu irgendwelchen Themen, die ihm aufgefallen waren und die er bald wieder vergaß. Dabei merkte er kaum, wie die Stunden vergingen. Das Angebot an Informationen war unerschöpflich. Er träumte von neuen Urlaubszielen, freute sich, wenn er preiswerte Angebote herausfand und sie ihr abends am Telefon präsentieren konnte. Und er nahm ihren Rat an, sich nach ehrenamtlichen Aufgaben zu erkundigen. Bei der Suche danach fand er noch andere Internet-Portale. Bald hatte er regen Mail-Austausch mit Menschen, die er gar nicht kannte, aber mit denen es Freude machte, sich virtuell zu unterhalten. Der Computer war zum Freund geworden.

Dann war es so weit. Zu ihrem Dienstende plante sie ein großes Fest. Auch er war eingeladen und viele ihrer Kollegen. Er tröstete sie, als sie vor Rührung über so viel Anerkennung weinte. Und er war stolz auf sie, als er hörte, wie sehr sie gelobt wurde. Gleichzeitig freute er sich, auf die gemeinsame Zeit, die jetzt kommen würde.

 

Bei ihrem nächsten Treffen 14 Tage später berichtete sie voller Stolz, was sie in Zukunft alles machen würde. Es hörte sich nach sehr viel an. Und er fragte ganz beklommen: „Was werden wir gemeinsam tun? Wann werden wir miteinander verreisen? Wie hast du dir das vorgestellt?“ Sie wusste es nicht. Und nach wenigen Tagen trennten sie sich wieder.

Er war enttäuscht, fühlte sich oft so alleine und spürte, dass sie das nicht so gerne hören wollte. Ihr nur nicht zu Last fallen, dieser Gedanke kam ihm immer häufiger und gleichzeitig merkte er, wie falsch sich das anfühlte.

 

Am Horizont geht die Sonne unter und taucht den Himmel in blutrotes Licht. Wolken wie aus Feuer ziehen vorüber.

Er hat den ganzen Tag kaum etwas gegessen, denn er wartete.

 

Er schreckt zusammen, als es plötzlich an der Tür klingelt. Wer sollte das sein? Er kannte niemanden, der ihn überraschend besuchte und schon gar nicht am Abend.

Als er öffnet, steht sie davor.

Sie war 500 Kilometer gefahren, um ihm eine Frage zu stellen? „Hast du deine Mail wirklich ernst gemeint?“ Sie bleibt abwartend in der geöffneten Tür stehen, tritt mit unsicheren Schritten in den Raum und bleibt am Schreibtisch stehen. Sie sieht so blass aus, so müde, denkt er. Es tut ihm weh, sie so sehen.

 

In dem Moment klingelt das Telefon. Er ist völlig überfordert mit der Situation, nimmt dennoch ab und hört eine fröhliche Frauenstimme begeistert rufen: „Ich habe deine mail bekommen und wollte dir nur schnell sagen…………

 

Erstarrt schaut er auf, sieht sie am Schreibtisch stehen, den Blick auf den Bildschirm. gerichtet. Sein elektronisches Tagebuch, das er akribisch genau führt, war geöffnet. Den letzten Eintrag hatte er fett gedruckt und unterstrichen. Er kann ihn sogar auf die Entfernung lesen: „Und dann trat Erika in mein Leben“.

Er sieht, wie sich ihre Augen ganz leicht verändern und spürt, wie ein leiser Ruck durch ihren Körper geht.

Gleichzeitig hörte er wie durch Watte aus weiter Ferne die etwas zu schrille Stimme aus dem Telefon: „Ja, ich fahr mit dir nach Sri Lanka, ich freu mich so.….

 

Aus den Augenwinkeln sieht er, wie sie langsam fast in Zeitlupe zur Tür geht und sie von außen verschließt. Er glaubt zu hören, dass sie leise weint.

 

Er legt auf.

Draußen ist es dunkel geworden.

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Tag der Veröffentlichung: 01.04.2013

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