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Mamatschi

Melodie des Lebens

 

Von weitem weht der Wind den sanften Gesang einer Frauenstimme heran. Es ist Sommer - Sommer auf dem Land, ein Bauernhof in Norddeutschland. Hühner, die im Hof picken, Kühe auf der Weide und Schweine, die sich im Schlamm suhlen. Und dann diese sehnsuchtsvolle Frauenstimme: "Mamatschi schenk mir ein Pferdchen, ein Pferdchen wär mein Paradies..". Wer ihr folgt, gelangt überraschenderweise zu einem unscheinbaren Anbau hinter dem großen Anwesen. Ein kleines Mädchen, kaum das es laufen kann, spielt mit einer Truthenne, die sich geduldig an den Federn zupfen lässt und dem Kind treu ergeben folgt, wo immer es auch hinwatschelt. Und immer wieder lauscht das Kind versonnen der Stimme seiner Mutter, die hinter dem weit geöffneten Fenster unermüdlich frisch geschnittene Strohhalme bündelt und dabei singt. Das ergreifende Lied von dem kleinen Jungen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich richtige Pferde zu besitzen. Doch wer den Text kennt weiß, dass diese echten Pferde für den Jungen erst beim Leichenzug für seine Mutter wahr werden. Ein schaurig schönes Lied. Und immer wenn die Mutter aufhört, ruft das Kind sofort: "Nochmal" Und dann gehts wieder von vorne los. Die zarte Verbindung zwischen Mutter und Kind, eine erste Lektion in Sachen Schönheit der Melancholie.

"Ein Vogel wollte Hochzeit machen in dem grünen Wahalde fidererallalla, fiderallalla" tönt es aus dem kleinen Landschulhaus. Fünf Jahre sind vergangen und das ansonsten schüchterne Mädchen mit dem streng gescheitelten Haar schmettert aus vollem Halse zusammen mit Kindern dreier Klassen "fiderallalla, fidereralla....usw., usw." und die Kleinen strahlen, denn singen tut gut.

Dann der erste Schulausflug mit dem Bus und wieder wird gesungen, diesmal das alberne Lied vom schönen Harung und der fetten Flunder, die sich in ihn verliebt. Kurz darauf werden die hart gekochten Eier ausgepackt, die Butterbrote, der schmierig gewordene Schokoladenkuchen. Und es kommt so ein Gefühl von Freiheit, von Erwachsensein auf, das erste Mal allein ohne Eltern, wie aufregend wird das werden in dem großen Schlafsaal der Jugendherberge.

Das kleine Mädchen, das inzwischen ein Teenager ist, das Nora heißt und vom großen Bruder Rara gerufen wird, darf von der Ferne miterleben, dass der Rock'n Roll Einzug hält in die Ohren und Herzen der Jugend. Aber sie ist ja noch zu klein dafür, findet der ältere Bruder und schließt sie schamhaft ein in ihrem Zimmer unterm Dach wenn seine Freunde mit ihren Mädchen kommen und in Abwesenheit der Eltern Parties gefeiert werden. Dann schaut die Nora von oben aus dem Fenster, schaut wie sie alle kommen, die Jungens mit der glänzenden Elvis-Tolle und die Mädchen mit ihren schwingenden Petticoats. Und dann träumt sie davon, auch mal so toll auszusehen. Einen Pferdeschwanz hat sie schon und sie konnte die Mama überreden, ihr einen Petticoat zu nähen, der fett in Stärke getunkt und getrocknet wie ein Teller um die Hüften schwingt. Schließlich ertönt von unten Bill Haley mit Rock'n Roll o'clock und "Cockonut Woman is calling out... " von Harry Belafonte. Und der eingeschlossene Teenie mit dem Pferdeschwanz wirbelt die Hüften mit einem Hula Hoop Reifen zur Musik und wenn dann der Schmusesong von Elvis "Its now or never" ertönt, stellt sie sich vor, wie der blöde Bruder so furchtbar peinlich mit seiner neuen blonden Freundin tanzt und ist heilfroh, dass sie sich so etwas nicht mit ansehen muss.

Bevor sie selbst ins Partyalter kommt, absolviert sie noch die Zeit des guten deutschen Schlagers, die sie sich mit ihrer Mutter auf dem neu erstandenden Plattenspieler "Musicus 108" anhört. Catherina Valente mit "Wir kaufen uns ein Häuschen, ein Casetta in Canada",

und meine Lieblingssongs, vor allem wegen der großartigen Texte "Er war der Wumba-Tumba-Schokoladen-Eisverkäufer" von Bill Ramsey und der "Itsy bitsy teenie weenie Honolulu Strandbekini" gesungen von wem auch immer.

Dann ist es endlich so weit, sie feiert eigene Parties, sie geht in Discos, sie schwärmt für die Beatles, für die Rolling Stones, für Herman Hermits, Crobsy, Stills, Nash and Young, Procul Harum und wie sie alle heißen. Und sie lernt Tommi kennen. Tommi, ein langhaariger, blonder Junge spielt Gitarre in einer Band. Was kann es schöneres geben? Wie wird sie von ihren Freundinnen beneidet, wenn sie stolz unterhalb der Bühne sitzt und er beim Spielen des Stücks "stand by me" nur sie anschaut. Welches Glück. Sie ist inzwischen fast 20, Ende der 60iger Jahre, Flower-Power-Zeit. In Frankfurt spielen die bekanntesten Gruppen der Welt. Sie sitzt mit ihrem Tommi und den Freunden und Freundinnen im Konzertsaal, wenn der smarte Cat Stevens, der sich heute Yusuf Islam nennt, spielt und zart ins Micro haucht "I'm beeing followed by a moon-shadow, moon-shadow, moon-shadow", oder die beeindruckenden Chicago-Big-Band in ihre Hörner blasen. Und zwischendurch wird die Hasch-Zigarette rumgereicht und Nora versucht cool daran zu ziehen. Aber es gelingt ihr nicht, einen Lungenzug hinzukriegen, denn sie kann nicht rauchen und leider bleibt dann auch die Wirkung aus, aber trotzdem ist es einfach super.

Jahre und einige Liebschaften später nimmt sie ein Freund mit in die Oper nach Frankfurt "Die Sache Makropoulos" von Janacek. Sie ist entzückt von der Musik, dem Bühnenbild, der Inszenierung. Und immer wieder hält ihr der Freund den Mund zu, wenn sie von den hinteren Reihen ruft "Ist das schön". Und von da an ist ihr Interesse an klassischer Musik, an Opern erwacht. Am liebsten hat sie Verdi-Opern (La Traviata, Aida, ein Maskenball) Rossini (Der Babier von Sevilla, Semiramide) Norma von Bellini und Mozart (Cosi van tutte, die Zauberflöte, la nozze de figaro). Sie versteht nicht viel von Opern, aber sie mag die Musik und Sonntag morgens zum Frühstück legt sie häufig das berühmte Duett aus Semiramide gesungen von Marylin Horne und Jean Sutherland auf, oder Maria Callas mit ihrer altmodischen und melancholischen Stimme.

Und irgendwann im Leben haben mich, die ich die Nora bin, die alten Lieder von ganz früher wieder eingeholt. Im Jahr 2005 gibt Harry Belafonte ein Konzert in Frankfurt. Dafür habe ich meinem Bruder Karten geschenkt und er hat mich mitgenommen. Welch ein Abend mit dem inzwischen weißhaarigen Sänger, der an diesem Tag seinen 78. Geburtstag feiert. Eine großartige Persönlichkeit, der noch einmal seine Lebensgeschichte als Schwarzer im Amerika der Rassentrennung Revue passieren lässt, der die Hintergrundgeschichten seiner Songs schildert und seine politische Haltung gegen Bush und gegen den Irakkrieg deutlich macht und dazwischen hinreißend singt und sogar tanzt "Island in the sun", "Mathilda" , Coconut woman". Tränen der Rührung und der Dankbarkeit, diesen großen Künstler live erleben zu dürfen und eine große Verbundenheit mit meinem Bruder, der mich einst ausgeschlossen hat, als er mit seinen Freundinnen und Freunden zu Belafonte-Songs getanzt und gefeiert hat.

Und noch ein bisschen weiter zurück. Ich war gerade 50 geworden, meine Mutter 78 und ich bin mit ihr endlich, endlich nach Kanada zu ihrer Kusine geflogen. Der erste Flug meiner Mutter, die erste weite Reise in ihrem Leben. Mein Vater, für den eine solch weite Fahrt nicht in Frage kam, war einige Jahre zuvor gestorben und nun konnte meine Mutter sich ihren Traum erfüllen. Wir zwei sind während dieser Zeit eine Woche alleine durch die Rocky Mountains gefahren, durch diese einsame, wilde Landschaft. Wir haben während dieser vielen Kilometer allein im Auto unser gemeinsames Leben besprochen in allen Einzelheiten, auch mal gestritten und wieder versöhnt. Es war eine intensive Zeit und irgendwann habe ich sie gebeten, doch noch einmal die alten Lieder aus meiner Kindheit zu singen und dann hat sie es nochmal mit zarter Fistelstimme gesungen, dieses "Mamatschi schenk mir ein Pferdchen" und ich konnte leider nicht mitsingen, weil mir die Rührung den Hals zuschnürte..

Heute kann sie es gar nicht mehr singen. Und vor kurzem habe ich meinen großen Bruder, der inzwischen auch schon 66 ist, gefragt, ob er sich noch an die Lieder unserer Mutter erinnert und wie aus der Pistole geschossen nannte er "Mamatschi schenk mir ein Pferdchen". Es wird "unser" Lied bleiben, egal wie alt wir sind..

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 01.04.2013

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