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Little Lovestory: Hauchzarte Schokoküsse

Evelyns große Leidenschaft ist Schokolade. Doch statt in einer Manufaktur edle Praline von Hand herzustellen, schuftet sie in einer Fabrik für Billigschokolade. Sie kann es kaum glauben, als das Schicksal ihr einen Traummann vorbeischickt, der ihr einen Job als „Schokofee“ anbietet. Doch ausgerechnet der Verlobungsring ihrer Großmutter macht ihr einen Strich durch die Rechnung – und ihre süßen Zukunftsträume beginnen zu schmelzen wie ein Schokoriegel in der Sonne …

 

*

 

Evelyn hatte die Augen geschlossen. Ihr Atem ging langsam und tief. Allmählich verschwamm der Lärm um sie herum wie ein Flaschengeist in seiner Lampe. Das Stück Schokolade, das sie sich gerade in den Mund gesteckt hatte, schmolz langsam auf ihrer Zunge. Was für ein Aroma! Mit geöffneten Augen schmeckte die Schokolade der Schoko-Schock GmbH für Evelyn fad und irgendwie nach Pappe. Eine Tatsache, die sie ihrem Arbeitgeber lieber verschwieg. Aber mit ein bisschen Fantasie verwandelte sie in Gedanken jeden faden Schokoladensplitter in ein geschmackliches Feuerwerk!

„Was machen Sie denn da?“, herrschte sie eine unfreundliche Männerstimme an. „Nennen sie das etwa arbeiten?“

„Oh, äh, Herr Bohnheimer. Ich habe nur kurz durchgeschnauft, mir war ein wenig schwindlig. Ich mache mich sofort wieder an die Arbeit!“

„Nix da, ich will sie in fünf Minuten in meinem Büro sehen!“ Bohnheimer drehte sich um und marschierte ohne ein weiteres Wort davon. Er war ein Chef, mit dem nicht gut Kirschen essen war. Besser gesagt: Mit dem nicht gut Schokolade essen war.

 

Obwohl sie mittlerweile in der Realität angekommen war - bei dem Wort „Schokoladenfabrik“ tauchte in Evelyns Kopf noch immer das Bild einer urigen Schoko-Manufaktur auf, wo auserlesene Kakaobohnen von Hand verarbeitet werden. Wo mit Gewürzen experimentiert und mit Leidenschaft Schokolade hergestellt wird. Von so etwas träumte sie: in einer kleinen aber feinen Schokoladen-Manufaktur Pralinen-Kreationen zu entwerfen. Da sie von Träumen aber nicht leben konnte, arbeitete sie in Friedrich Bohnheimers Fabrik, wo Schokolade als Massen- und Billigprodukt hergestellt wurde. Keine schönen Fässchen und Holztigel, keine handlichen Leinen-Säckchen mit Faitrade-Kakaobohnen. Nein, große Tanks, viel Stahl, viel Krach und eine Produktionsstraße wie bei der Herstellung von allen anderen Massenwaren auch.

 

Dennoch - sie brauchte den Job. Auf dem Weg zu Bohnheimers Büro ging Evelyn in Gedanken durch, was sie in letzter Zeit alles falsch gemacht hatte. Wollte Bohnheimer sie wegen irgendwas feuern? Ihr fiel kein Grund ein. Aber sie war noch nie einfach so ins Büro des Chefs gerufen worden. Und Anschisse verteilte er grundsätzlich vor versammelter Mannschaft!

Friedrich Bohnheimer erwartete sie schon ungeduldig.

„Frau Bellini“, begann er. „Sie kennen meinen Sohn Christian?“ Evelyn nickte etwas verstört über diese seltsame Frage.

„Ich hab ihn schon ein paar Mal gesehen“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Kurz huschte eine Erinnerung an einen großen, schlanken Mann Ende dreißig durch ihren Kopf. Gut sah er aus! Und charmant war er auch, soweit sie sich erinnerte. Leider sah man Christian Bohnheimer nur an betrieblichen Weihnachtsfeiern oder ganz selten mal in der Fabrik. Es hieß, er solle die Schoko-Schock GmbH einmal übernehmen, aber Friedrich Bohnheimer führte eine eiserne Herrschaft.

„Mein Sohn ist nicht davon abzubringen, ein Experiment zu machen. Um was es geht, kann er Ihnen selbst erklären. Er will Sie dabeihaben!“

„Mich?“, entfuhr es Evelyn. Sie war überzeugt davon, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste. Sie hatte nie etwas mit Christian Bohnheimer zu tun gehabt. Er kannte sie doch gar nicht!

Bohnheimer Senior überging ihre Frage. „Bitte finden Sie sich im zweiten OG ein, dort wartet mein Sohn auf sie.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, wedelte ihr Chef sie mit ungeduldigen Handbewegungen aus dem Büro. Verwirrt stand Evelyn im Flur. Was für ein schräger Film lief denn hier?

 

Als Evelyn Christian Bohnheimers Büro betrat, stand er auf und strahlte sie an.

„Frau Bellini, schön, dass sie da sind!“, sagte er freundlich. „Hat mein Vater Ihnen verraten, um was es geht?“

„Nein,“ erwiderte Evelyn. Ihr fiel auf, dass der Junior-Chef auf einem kleinen Beistelltisch Kaffee und Kekse bereitgestellt hatte. Auf keinen Fall würde sie etwas davon anrühren! Bei ihrem Glück schüttete sie sich den Kaffee über die Hose und verschluckte sich an einem Kekskrümel. Die Kombination >Vorgesetzter< und >extrem gutaussehender Mann< riefen in ihr aus unerfindlichen Gründen eine sagenhafte Trotteligkeit hervor.

„Dachte ich mir. Ich weiß ja, was Vater von meinen Ideen hält!“ Christian Bohnheimer lachte gequält. „Nun, ich plane, ein kleines Tochterunternehmen zu gründen, dass den neuen Trend bedient,“ erklärte er. Christian Bohnheimer berichtete, dass es immer mehr Menschen gab, die nicht mehr billig, sondern fair und gesund kaufen wollten und die das Außergewöhnliche suchten.

„Ich will keine Null-acht-fünfzehn-Schokolade für achtzig Cent verkaufen. Ich will hauseigene Kreationen! Ich will echte Handarbeit! Ich will das Besondere! Neuartige Pralinenfüllungen, personalisierte Schokolade mit Fotomotiven oder vielleicht Schoko-Skulpturen - mal sehen, was uns noch so einfällt.“ Evelyn verstand, was der Junior-Chef vorhatte. Aber wen meinte er mit „uns“?

„Das ist eine ziemlich gute Idee!“, bestätigte Evelyn.

„Dachte ich mir, dass Sie das finden.“ Christian Bohnheimers Grinsen reichte bald bis zu seinen Ohren. Seltsam. Wusste er etwa von ihrem Traum? Wusste er, dass sie, Evelyn, genau soetwas schon immer machen wollte? Aber wie?

Christian Bohnheimer verkündete nun, dass er das neue Projekt zusammen mit ein paar ausgewählten Mitarbeitern aus der Firma seines Vaters durchziehen wollte.

„Und Sie sind die Frau für neue Konzepte. Wie klingt das?“ Der Junior Chef strahlte sie an.

„Äh, gut“, stotterte Evelyn. „Da wären bloß noch zwei Fragen.“

„Schießen Sie los!“ Christian Bohnheimer schaute sie gespannt an.

„Okay“, begann Evelyn. „Also erstens: Was genau soll ich tun?“

Der Junior-Chef kratzte sich am Bart.

„Also, ich dachte, wir überlegen uns in unserem >Dream-Team<, welche Besonderheiten wir mit Schokolade zaubern können. Dann stellen wir Konzepte auf und Sie experimentieren. Sie stellen Prototypen her.“ Evelyn sollte also mit Kakaobohnen, Gewürzen und anderen köstlichen Dingen Schokoladen-Proben herstellen? Ein Strahlen breitete sich in ihrem Gesicht aus. Christian Bohnheimer lächelte. „Ich tippe mal drauf, dass wir im Geschäft sind. Und was war die zweite Frage?“

Auch wenn es Evelyn jetzt eigentlich schon egal war - denn sie wollte diesen neuen Job mehr als alles andere - trotzdem mochte sie eines noch wissen:

„Wie sind Sie ausgerechnet auf mich gekommen?“ Gespannt schaute sie den Junior-Chef mit ihren großen, haselnussbraunen Augen an. Er überlegte einen Moment und schien abzuwägen, wie viel er verraten sollte.

„Mir ist ihre Personalakte in die Hand gefallen. Da sind noch Ihre Bewerbungsunterlagen von damals drin. Sie haben dort von ihrem Traum geschrieben, selbst Schokolade herzustellen. So viel Leidenschaft für Schokolade - das liest man sogar zwischen den Zeilen von Ihrem Anschreiben! Und man sieht es, wenn man Sie mit Schokolade hantieren sieht."

 

 

Irgendetwas in Christian Bohnheimers Blick hatte sich verändert. Evelyns Mund fühlte sich plötzlich staubtrocken an. Noch immer schaute er ihr fest in die Augen. Mit rauer Stimme flüsterte er: „Ich mag Menschen, die leidenschaftlich sind.“ Evelyn wurde es schwindelig. Das Ganze hatte etwas von einem verrückten Traum. Bestimmt würde gleich der Wecker klingeln und sie würde in ihrem Bett aufwachen! Sie wagte es nicht, etwas zu tun oder zu sagen, was sie jetzt zum Aufwachen bringen würde. Nur einen Moment noch sollte dieser Traum andauern!

„Ich bin übrigens Christian“, sagte Christian Bohnheimer. „Mach Feierabend, Evelyn. Wir fangen morgen an. Ich freu mich drauf!“ Evelyn wollte etwas erwidern, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie nickte und verschwand wie Aschenputtel um zwölf Uhr auf dem Prinzenball.

 

*

 

Seit diesem unglaublichen Angebot von Christian waren nunmehr drei Wochen vergangen, und Evelyn war immer noch nicht aufgewacht. Der Traum war Wirklichkeit! Und es wurde jeden Tag besser! Evelyn hatte dermaßen viel Spaß an ihrer neuen Arbeit, dass es ihr gar nicht vorkam, als wäre es Arbeit. Mit Andy, Margit und Stefan kam sie prima klar. Und Christian sah sie jeden Tag. Jedes Mal, wenn er sie anlächelte, tanzte ihr Herz einen wilden Tango.

 

„Tatarataaaa“, flötete Evelyn und stellte ein silbernes Tablett auf den Tisch. Ihre neuesten süßen Geheimnisse waren noch unter einer Glosche verborgen. Ihre Kollegen und Christian saßen gespannt auf ihren Stühlen. Ein Raunen ging durch dir Runde, als Evelyn die Glocke wegzog. Fünf handgroße Schoko-Engel aus dunkler Schokolade, bedeckt mit einem Hauch Goldstaub, kamen zum Vorschein. Die Form erinnerte Evelyn an die niedliche Engelsfigur mit der Laterne von Hummel, die ihre Großmutter zu Weihnachten immer auf die Fensterbank gestellt hatte.

„Wow!“ Christian klatschte begeistert in die Hände. „Wenn die Schoko-Engel genauso lecker schmecken, wie sie aussehen, haben wir unseren ersten Kassenschlager, würde ich sagen!“ Auch die anderen waren entzückt.

„Sau gudd“, sagte Andy und strahlte übers ganze Gesicht. Margit kicherte. Sie fand den saarländischen Akzent von Andy ziemlich witzig. Andy hatte die Engelsform entworfen und war stolz, dass seine erste Gussform so wunderbar gelungen war. Obwohl Evelyn den Geschmack der Schoko-Engel schon kannte - immerhin hatte sie das Rezept erfunden - war sie aufs Neue überrascht von dem Prickeln, das die geschmolzene Kostbarkeit in ihren Mund zauberte. Stefan hatte ihr nicht glauben wollen, wie gut Chili, eine Priese Pfeffer und eine Idee Anis zusammenpassen würden. Alle anderen Zutaten würde sie allerdings nur Christian verraten.

„Himmlisch!“, seufzte Margit. Stefan zeigte mit dem Daumen nach oben.

„Ich wusste, dass du zaubern kannst, Schokofee!“, sagte Christian. Es klang zärtlicher als es sich für einen Vorgesetzten schickte, fand Evelyn. Und sie fand auch, dass die anderen sich gerade auffällig albern zuzwinkerten. Einen kurzen Moment wurde Evelyn rot. Dann stand Christian auf und wandte sich an alle.

„Leute, ich bin echt stolz auf euch! Ihr habt meine Erwartungen sowas von übertroffen! Diese Engel werden das erste Produkt von Schoko-Kunst,“ erklärte Christian, „so wird die Manufaktur heißen, wenn alles klappt.“ Christian verriet seinen Mitarbeitern, dass es einen Tag der Entscheidung gab: der fünfte November. An diesem Tag würden Vertreter einer renommierten deutschen Spezialitäten-Kette anreisen. Christian nannte sie die „süß-sauren Agenten“. Waren die überzeugt von den Schoko-Kunst-Produkten, würden die Edel-Schokis bald in ganz Deutschland zu kaufen sein; überall dort, wo es hochwertige Süßwaren gab. Wenn das klappte, konnte Christian Bohnheimer die Firma Schoko-Kunst auch unabhängig von seinem Vater führen und Evelyn und die anderen dürften weiter für den jungen Bohnheimer arbeiten.

 

Natürlich reichte es nicht, bloß den einen Schoko-Engel anzupreisen! Drei weitere süße Versuchungen wurden hergestellt: Modell Muffin-Mann Crème Brûlée. Modell Nussknacker Nougat-Zimt. Und Modell Weihnachts-Elf Caramel-Kaffebohnen-Geschmack.

Von jedem Produkt brauchten sie bis zum fünften November fünfzehn Exemplare. Und eine edle Verpackung natürlich. Wenn sie nicht mindestens zwei ihrer Kreationen an den Mann brachten, lohnte sich die Sache nicht und Bohnheimer Senior würde sicher nicht länger mitspielen. Entsprechend angespannt war die Stimmung am vierten November.

 „Oah leck, bin ich froh, wenn wir dat hingekriegt han“, stöhnte Andy, als er den vorletzten Schoko-Muffin-Mann verpackt hatte. Evelyn nickte. Sie konnte auch so langsam keine Schokolade mehr sehen, und das wollte schon was heißen! Sie hatte gerade ihre liebe Not, die Schoko-Nussknacker zu verpacken. Weil es ihr langsam heiß wurde, lockerte sie ihren Kragen. Dabei rutschte eine kleine silberne Kette nach vorne, an der ein Ring hing. Evelyn wollte ihn gerade wieder unter ihre Bluse schieben, da hörte sie Margits Stimme hinter sich.

„Was ist denn das für ein Klunker? Der sieht ja richtig wertvoll aus!“ Margits Neugier war unüberhörbar.

„Das ist der Verlobungs-Ring von meiner Großmutter“, antwortete Evelyn. Der antike Entourage-Ring war mit echten Diamanten besetzt. Er war sehr wertvoll - für Evelyn gar unbezahlbar. Schnell verbarg sie die Kette mit dem Schmuckstück wieder. Sie knöpfte ihre Bluse wieder bis oben hin zu. „Lass uns weiter machen“, sagte sie knapp und schnappte sich den nächsten Schoko-Nussknacker.

 

*

 

Als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel, wankte Evelyn ins Bad. Sie war völlig erschöpft. Sie wollte nur eins: eine heiße Dusche nehmen und ab ins Bett! Morgen hatte sie frei. Endlich! Das war auch höchste Zeit. Evelyn stellte die Dusche an und begann, sich auszuziehen. Als sie ihren BH öffnete, fiel die Silberkette zu Boden. Verdammt, die Kette war gerissen! Gut, dass sie wenigstens in ihren Klamotten hängen geblieben war. Aber wo war der Ring? Adrenalin schoss ihr so schnell in die Glieder, dass alle Müdigkeit wie weggeblasen war. Panisch durchsuchte sie mehrmals ihre Arbeitskleidung. Nichts. Bitte nicht! Evelyn schossen die Tränen in die Augen, aber sie beherrschte sich. Panik brachte sie jetzt auch nicht weiter. Evelyn zog sich an und lief den Weg zurück zur Schokoladenfabrik.

 

Mit der Taschenlampe leuchtetet sie den Weg akribisch ab. Nichts zu sehen. Der Ring war fort! Vor dem Eingang der Schokoschock GmbH setzte sich Evelyn auf die Treppe. Die Erschöpfung hatte sie wieder eingeholt und teilte sich ihr Inneres mit einem aufkeimenden Gefühl von Verzweiflung. Evelyn war kein Mensch, dem Materielles übermäßig wichtig war. Aber am Verlobungsring ihrer Großmutter hing ihr Herz! Selbst, wenn er kein Vermögen wert gewesen wäre, hätte Evelyn alles dafür getan, ihn wiederzubekommen.

„Okay, reiß dich zusammen!“, redete sie auf sich selbst ein. „Wo könnte der Ring verloren gegangen sein?“

In Gedanken ging Evelyn den Tag durch. Zuletzt hatte sie den Ring gesehen, als er ihr aus der Bluse gerutscht war und Margit ihn bewundert hatte. Da hatte sie die Schoko-Nussknacker verpackt. Anschließend hatte sie Andy geholfen, die ersten Schoko-Elfen unbeschadet aus der neuen Gussform zu heben. Zuletzt hatte sie nochmal Schokomasse für die Chili-Pfeffer-Anis-Engel angerührt. Fünf der Engel aus der Verkostungscharge für morgen waren beim ersten Anlauf nicht gelungen, weil niemand früh genug gemerkt hatte, dass sich etwas in der Gussform festgesetzt hatte. Dadurch hatten fünf Engel ein kleines Loch an der Nase. Natürlich sollten die >süß-sauren Agenten< keine gepiercten Weihnachtsengel vorgesetzt bekommen. Also machte Evelyn neue.

Sie erinnerte sich daran, dass sie beim Einrühren der Gewürze ganz schön ins Schwitzen geraten war. Sie hatte sich ihre Bluse wieder ein Stück weiter aufgeknöpft. Jetzt, wo Evelyn darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass sie sich über den Bottich mit der Schokoladenmasse gebeugt hatte, um zu schauen, ob die Säckchen mit dem Chili noch in der Ecke standen. Beim Vorbeugen war sie am Rand entlang geschrappt. Und da musste es passiert sein! Sie hatte sich mit dem Ring unter ihrer Bluse irgendwie am Rand verhakt. Dabei war die Kette gerissen. Als sie sich weiter vorgebeugt hatte, musste der Ring aus ihrem Ausschnitt gefallen sein. Dann war er also…

„In der Schokolade!“

Die Worte kamen als erstickter Schrei aus Evelyns Kehle.

Das war eine Katastrophe! Morgen würde ein >süß-saurer Agent< sich einen Zahn an ihrem kostbaren Ring ausbeißen. Und dann würde es mächtig Ärger geben wegen Verunreinigung der Schokolade! Wer weiß, was das für einen Rattenschwanz an Betriebsprüfungen nach sich ziehen würde! Oder der Ring blieb in übriggebliebenen Schoko-Engel-Resten unentdeckt und landete im Müll.

„Oder ich finde den Ring und sorge dafür, dass niemand etwas merkt“, fügte Evelyn in Gedanken eine dritte Möglichkeit hinzu. Noch konnte alles gut werden.

 

*

 

Wie sich herausstellte hatte Evelyn wenig Talent als Einbrecherin. Sie war viel zu aufgeregt und hatte beim Aushebeln eines Toilettenfensters des Schoko-Schock-Hauptgebäudes ziemlich lange gebraucht und dabei unnötig viel Lärm veranstaltet. Aber es schien niemand etwas bemerkt zu haben. Uff! Jetzt kroch sie in der Schokowerkstatt auf dem Boden herum und suchte jede Ritze nach dem Ring ab. Zwar war es am wahrscheinlichsten, dass der Ring in einem der letzten fünf Engel gelandet war - trotzdem schaute Evelyn erstmal in allen möglichen Ecken, in der Spüle und bei den Gussformen nach. Nichts. Sie musste also doch die Schoko-Engel himmeln. Höchstens fünf. Das war die gute Nachricht. Die schlechte war, dass sie auf jeden Fall für Ersatz sorgen musste, und zwar bis morgen früh!

„Eins nach dem anderen“, murmelte Evelyn und machte sich daran, die Schoko-Engel aus der Kühlkammer zu nehmen. Da die kleinen Kunstwerke alle von Hand hergestellt wurden, konnte man tatsächlich unterscheiden, welche die letzten fünf waren. Da hatte Evelyn nämlich selbst das essbare Goldpuder drüber rieseln lassen. Es war gleichmäßiger verteilt als bei den anderen, wo Margit den Goldstaub hatte regnen lassen. Evelyn nahm den ersten Engel vom Silberblech. Hoffentlich ist der Ring da drin! Für einen kurzen Moment schloss Evelyn die Augen und bat in Gedanken ihre Großmutter um Hilfe. Es war vielleicht albern, aber schaden konnte es nun auch nicht.

Mit mulmigem Gefühl begann Evelyn, den Schoko-Engel aufzubrechen. Es war gar nicht leicht, ihn so zu zerlegen, dass sich kein Ring in den Klumpen versteckt halten konnte. Der Engel war komplett aus Schokolade und hatte innen keinen Hohlraum.

Da lag nun also ein krümeliger Schokoberg aus köstlichen Zutaten vor ihr, aber Evelyn konnte kein Stück davon essen. Ihr Gewissen drückte viel zu arg auf ihren Magen. Sie hatte gerade in ihrer Firma eingebrochen und machte nun die exquisiten Schokoproben kaputt, die so wichtig waren fürs Geschäft! Und das, weil sie sich unvorschriftsmäßig verhalten und die Schokolade verunreinigt hatte, mit einem Gegenstand, der für Konsumenten richtig gefährlich werden konnte! Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie den Berg Schokokrümel, der von Schoko-Engel Nummer eins übriggeblieben war, noch einmal untersuchte. Nichts. Verdammt! Also musste der nächste Engel dran glauben. Der Schokokrümelhaufen wuchs, aber der Ring von Evelyns Großmutter tauchte nicht auf. Was sollte sie tun, wenn der Ring nicht im letzten Schoko-Engel war? Daran wollte Evelyn nicht denken.

 

Als Evelyn gerade angefangen hatte, Schoko-Engel Nummer fünf auseinanderzunehmen, hörte sie ein Geräusch. Verdammt, was war das? Eine ungute Vorahnung schob ihre Krallen um ihr banges Herz. Wie gelähmt saß sie auf dem Holzschemel und hörte Schritte näherkommen. Dann flog auch schon die Tür auf.

„Keine Bewegung!“ Friedrich Bohnheimer stand vor ihr. In seinem Gesicht las sie die Entschlossenheit, jeden noch so kräftigen Einbrecher augenblicklich niederzuschlagen. Passend dazu fuchtelte er mit einer Eisenstange. Als Bohnheimer Senior sie erkannte, lies er die Stange sinken.

„Siiiiiiie?“ Der alte Mann rang sichtlich um Fassung.

„Es… äh… ist nicht so, wie es aussieht!“, stammelte Evelyn.

„Was haben Sie hier zu suchen?“, wollte Bohnheimer wissen. Evelyn versuchte, ihrem Chef zu erklären, warum sie eingebrochen war und ein paar der Schoko-Engel vernichtet hatte. Sie hoffte, dass ihr Gestammel für ihn einen Sinn ergab.

Friedrich Bohnheimer schaute Evelyn mit unbeweglicher Miene an.

Nach einigen Sekunden sagte er: „Ich verzichte darauf, die Polizei einzuschalten. Aber das hier wird Konsequenzen haben, Frau Bellini! Wir sprechen uns morgen.“

 

Evelyn zitterte am ganzen Leib. Als sie zu Hause war, warf sie sich ins Bett und weinte. Sie hatte alles vermasselt! Ihren Job war sie mit Sicherheit los. Und was würde Christian über sie denken? Das Schlimmste war jedoch, dass das alles umsonst gewesen war - denn ihren Ring hatte sie nicht wiedergefunden …

 

*

 

Am liebsten hätte sich Evelyn am nächsten Morgen unter ihrer Bettdecke vor der Welt versteckt. Aber sie musste bei Bohnheimer antanzen. Das war unausweichlich. Auf dem Weg zu seinem Büro fühlten sich Evelyns Beine an wie Wackelpudding. Sie kam sich vor wie ein Gefangener auf dem Weg zum Scharfrichter. Evelyn musste sich schwer zusammenreißen, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Ob Christian schon Bescheid wusste?

 

Das zaghafte Klopfen an der Bürotür des Chefs wurde mit einem lauten „Herein!“ quittiert. Evelyn trat ein und wünschte sich, auf der Stelle, unsichtbar zu werden. An dem großen hölzernen Schreibtisch saß nicht nur Friedrich Bohnheimer, sondern auch Christian! Evelyn konnte Christian gar nicht in die Augen schauen. Sie hatte letzte Nacht natürlich auch keine Ersatz-Engel für die Verkostung herstellen können. Christian musste stinksauer auf sie sein!

Friedrich Bohnheimer sprach zuerst.

„Frau Bellini, ich muss Ihnen nicht sagen, dass es unerhört ist, dass Sie hier eingebrochen sind! In meine Firma! In meine Geschäftsräume!“

„In unsere Firma, in meine Geschäftsräume“, korrigierte Christian. Sein Vater schnaubte verärgert und sprach weiter.

„Sie sind gefeuert! Ihre Kündigungspapiere können Sie gleich mitnehmen.“

Obwohl es Evelyn klar gewesen war und sie sich innerlich gewappnet hatte - jetzt, wo der Chef es laut ausgesprochen hatte, tat der Rauswurf verdammt weh. Ihre Lippen bebten. Sie wollte sich so gerne entschuldigen. Wenigstens das. Aber sie brachte kein Wort hervor.

Jetzt stand Christian auf und trat zu ihr. „Falls du keine bessere Stelle in Aussicht hast -zufällig suche ich jemanden, der sich mit süßen Versuchungen auskennt. Für eine Festanstellung. Interesse?“ Evelyn fühlte, wie ihr schummrig wurde. Hatte sie sich verhört? Christian zwinkerte ihr zu, während Friedrich Bohnheimer sie immer noch streng ansah. Aber in seinen Mundwinkeln meinte Evelyn ein leichtes Zucken zu bemerken.

„Was ist, Schokofee - sind wir im Geschäft?“, hakte Christian nach. Evelyn nickte benommen.

„Und die kaputten Schoko-Engel?“, presste sie hervor. „Was wird aus der Verkostung mit den >süß-sauren Agenten<?“

„Da hatten wir wirklich Glück“, sagte Christian. „Heute Morgen kam ein Anruf, der Termin wird auf nächste Woche verschoben.“

Evelyns betonschweres Herz wurde federleicht. Jetzt konnte sie schon wieder ein bisschen lächeln. Bis zum nächsten Termin würde sie, wenn es sein müsste, hundert Schoko-Engel alleine herstellen!

„Sind wir hier fertig?“, fragte Friedrich Bohnheimer ungeduldig.

„Fast“, erklärte Christian.Er trat vor Evelyn und nahm ihre Hand.

„Evelyn Bellini“, sagte er, „du bist die erste Frau, der ich einen Ring an den Finger stecke, bevor ich ein Date mit ihr hatte!“ Grinsend schob er ihr einen Entourage-Ring über den Finger, der ihr sehr bekannt vorkam.

„Mein Ring!“

Evelyn war fassungslos! Sie schlang ihre Arme um Christians Hals und drückte ihm beinahe die Luft weg. Christian erklärte, dass er den Ring im Spülbecken gefunden hatte.

„Dankeschön! Das ist der Verlobungsring meiner Großmutter“, schluchzte Evelyn überglücklich.

„Na dann,“ sagte Christian, „möchte ich die Gelegenheit nutzen und die Braut jetzt küssen!“

„Das geht nur bei einer richtigen Verlobung!“, protestierte Evelyn.

„Ich möchte dich jetzt trotzdem küssen, Schokofee!“, raunte Christian in ihr Ohr.

Und wie eine Praline in der Sonne schmolz ihr Widerstand dahin. Der Kuss schmeckte nach einem Hauch von Schokolade.

ENDE

Impressum

Texte: Annie Shale
Bildmaterialien: coffee-dark-candy chocolate von Pixabay auf Pexels & photo-of-man-kissing-woman von Gustavo Miertschnik auf Pexels, lizenzfrei
Cover: Annie Shale
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2020

Alle Rechte vorbehalten

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