Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

 

Das alte Kind

 

Hélène und Victoria leben ihr Unbewusstes

 

Erzählung

 

 

"Si la non-violence est la loi de l'humanité, l'avenir appartient aux femmes. Qui peut faire appel au coeur des hommes avec plus d'efficacité que la femme ? "

 

Mahatma Gandhi

 

Mutter kam aus dem Bad. Mit glänzendem Gesicht kam sie auf mich zu, umarmte und küsste mich. „Das ist er. Jetzt ist er da. Ist das nicht wundervoll?“ sagte sie und zeigte dabei auf Sam. „Mutter, du bist ein Kind.“ erklärte ich. „Das denke ich auch manchmal.“ bestätigte Sam, „nein, nicht ein Kind, wie eine junge Frau ist sie, offen, unbeschwert, lebhaft und lustig. Wundervoll, Victoria.“ „Das ist das normale Leben einer Frau, das sie nicht leben kann, weil sie die Ordnungshüter des Geschlechts daran hindern. Sie schreiben vor, wie eine Frau zu sein hat. Das Drängen nach ihrem wirklichen Leben steckt aber in jeder Frau, auch wenn man noch so massiv versucht hat, ihr die Erinnerung an die Kindheit auszutreiben. Die Frau will sich selbst leben und die Kraft der Liebe verleiht ihr die Macht dazu.“ interpretierte es Mutter. „Die Liebe befähigt dich, das zu leben, was immer in dir war, aber wegen der Ordnungen für die Frauen in deinem Unbewussten verborgen bleiben musste? Dazu gehört auch die Erinnerung an das vergessene Mädchen Victoria?“ fragte ich nach. „Ja, es gibt vieles, was bei einer Frau im Unbewussten verborgen bleiben muss, was eingefroren ist und nicht zum Vorschein kommen darf, und die Liebe ist etwas Extraordinäres. Sie nimmt dich auf den Arm und lässt dich Ungeglaubtes leben.“ bestätigte Mutter. „Hast du keine Angst davor, dass es sich nicht immer zu deinem Vorteil entwickeln könnte?“ fragte ich Sam. Der lachte und meinte: „Sie wird immer die bonne sauvage bleiben, da bin ich sicher, und die erlebe ich jetzt auch schon.“ Meine Mutter, die gute Wilde? Als natürlich und echt war sie mir schon immer erschienen, aber dass sie aus sich herausgehen und ihre Gefühle offen ausleben konnte, schien mir für die arrivierte, distinguierte, ältere Anwältin unglaublich, aber ich hatte ja ihre Kindereien durch die offene Schlafzimmertür mitbekommen.

 

Das alte Kind - Inhalt

Das alte Kind 3

Muttersöhnchen 3

Mutters neuer Freund 4

Mutter du bist ein Kind 5

Veras Freundschaft 8

Wachträume 9

Phallozentrisch verseucht 12

Ferienzeit 13

Liebe als ob 14

Mit Hélène bei Mutter 15

Hélène am Baggersee 16

Neue Initiativen 18

Auswärts in Heidelberg 19

Weihnachtsferien 20

Die wilde Frau 23

Neue Zeit 24

Begegnung mit dem Du 25

 

 

Das alte Kind - Muttersöhnchen

„Und, die kann das besser?“ fragte Eva mit süffisantem Grinsen. Ich hatte ihr gerade erzählt, dass ich morgen wegen der Wäsche zu meiner Mutter fahren wolle. Eine kurze Pause. Ich erklärte lächelnd: „Ja, sie hat eine Waschmaschi­ne. Du hast völlig Recht. Im Grunde ist das unmöglich. Sie ist voll berufstätig, muss auch allein ihren Haushalt führen und ich bring ihr noch meine schmutzi­ge Wäsche. Ich bin bestimmt ein Muttersöhnchen.“ erklärte ich. „Wieso? Kommst du in dieser Welt ohne die Mutti nicht zurecht?“ vermutete Eva. „Nein, nein, so nicht. Meine Mutter bedeutet mir ungeheuer viel. Sie ist für mich der wichtigste Mensch auf dieser Welt. Das wird auch so bleiben, da wird sich nie­mand zwischen drängen können.“ stellte ich es dar. „Warum grinst du?“ wollte ich von Eva wissen. Eva war eine Kommilitonin, wir hatten uns beide für ein Referat gemeldet. „Lass es uns doch zusammen machen.“ hatte Eva vorge­schlagen, und es funktionierte nicht nur wunderbar, sondern es schien uns Spaß zu machen. Wahrscheinlich hatte Eva gespürt, dass es sich mit uns so entwickeln würde. „Weißt du, Mica, dass etwas immer so bleiben wird, solche Sätze kommen grundsätzlich nicht über meine Lippen. So etwas wäre Hellse­herei und falsch, denn nichts bleibt immer wie es ist, alles verändert sich. Aber mit deiner Mutterliebe, das ist doch nichts Ungewöhnliches. Von der Stunde der Geburt an ist deine Mutter der wichtigste Mensch auf der Welt für dich. Sie öffnet dir den Zugang zur Welt, dass du sie zu deiner machen kannst. Auch wenn dein bewusstes Gedächtnis später nichts mehr davon weiß, bei deiner Gehirnentwicklung hat es sich aber unauslöschlich eingegraben. Du kannst später noch so selbstständig sein, König der Welt spielen, aber deine Mutter bleibt für dich immer der wichtigste Mensch.“ erklärte Eva. „Und du, gilt das für dich auch?“ wollte ich wissen. „Bei Frauen und Mädchen ist das fast die Re­gel, ich nehme an, so gut wie selbstverständlich. Ein Muttertöchterchen gibt es ja auch nicht.“ bekräftigte Eva. „Bei Mutter und Tochter kommt auch noch die Solidarität unter Frauen hinzu, nicht wahr.“ fügte ich an. Eva lache: „Ja, ja, die ist wahrscheinlich genetisch verankert.“ kommentierte sie. „Vielleicht, aber das glaube ich nicht. Für mich ist es eher eine kulturgeschichtliche Konsequenz, die sich daraus ergibt, dass alles in unserer derzeitigen Welt männlich dominiert ist.“ entgegnete ich. Eva starrte mich verwundert an und meinte: „Du gehörst aber nicht dazu, zu dieser dominierenden, herrschenden Klasse?“ fragte sie leicht provokant. „Natürlich bin ich ein Mann und werde auch überall wie ein Mann behandelt, aber was das typisch männliche bei mir ausmacht, ist mir gar nicht richtig bewusst.“ erklärte ich. „Du möchtest lieber eine Frau sein.“ ver­mutete Eva. „Nein, nein, so nicht, aber ich denke schon, dass die Welt ganz anders aussähe, wenn das Weibliche dominierte.“ meinte ich. „Mica, es gefällt mir, mich mit dir zu unterhalten. Ich könnte aus feministischer Sicht bestimmt noch einiges von dir lernen. Wie nennt man denn eigentlich einen Mann, der feministische Gedanken vertritt? Einen Feministo im Gegensatz zum Macho?“ fragte Eva und lachte. Sie fuhr fort: „Wie kommst du denn überhaupt darauf? Hast du Simone de Beauvoir gelesen oder Ähnliches?“ „Nein, ich habe mich häufig mit meiner Mutter unterhalten. Sie ist eine biedere Rechtsanwältin, aber in feministischer Philosophie kennt sie sich absolut aus. Für mich sind es einfach die klügeren und intelligenteren Ansichten und Deutungen.“ erläuterte ich. Eva gehörte zu den Frauen, die ich als sehr angenehm empfand. Außerdem gab es für mich noch Frauen, die ich als eher unangenehm bezeichnen würde, weil es mir vorkam, dass ihnen eine Sucht zu Disharmonien angeboren schien. Den größten Teil bildeten aber die Frauen, die ich fast gar nicht wahrnahm. Ihr Gesicht, ihr Verhalten, ihre Gedanken und Äußerungen schienen von einem grauen Dunstschleier der Allgemeinheit überzogen. Dann gab es noch besondere Frauen, deren Gesicht für mich einen speziellen Ausdruck vermittelte. Was dieser Ausdruck konkret war und was er bei mir bewirkte, das konnte ich gar nicht benennen, ich spürte es einfach. Mutter hatte das kritisiert und gemeint, es handele sich um eine Machoansicht. Ich würde Frauen nach Kategorien der Brauchbarkeit für mich sortieren. Unrecht hatte sie wahrscheinlich nicht, aber sollte ich mein ganzes Wahrnehmungsverhalten umbauen?


Mutters neuer Freund

„So, und was für einer? Einer vom Amur oder ein Königstiger?“ hörte ich Mut­ter. „Der Tiger von Eschnapur bin ich.“ so Mutters Freund. „Au, du tust mir weh mit deinen scharfen Krallen und den langen Zähnen.“ Mutter wieder. Sie lachte ständig. Wahrscheinlich kitzelte ihr Freund sie noch zusätzlich. So hatte ich Mutter noch nie lachen gehört, fast wie ein Kind. Dann kamen noch einige zärtliche Worte für Sammy, so hieß der neue Freund wohl. Ich ging in mein Zimmer. Stören konnte ich die beiden ja jetzt nicht, auch wenn es schon zehn Uhr am Samstagvormittag war. Mutter wusste, dass ich kommen wollte, aber das schien jetzt wohl alles weniger bedeutsam. Mutter hatte es mir am Telefon gesagt, dass sie jetzt einen Freund habe. „Kannst du dir das vorstellen, richtig verliebt bin ich, unglaublich, nicht wahr?“ hatte sie gesagt. Das war für mich allerdings unglaublich. Ich wusste gar nichts zu sagen und erklärte nur: „Wie schön für dich.“ Vor anderthalb Jahren hatten sich meine Mutter und mein Va­ter getrennt. Das hielt ich für unverschämt. Sie gehörten doch schließlich nicht jeder sich nur alleine, sie waren doch zusammen meine Eltern, und da konnten sie doch nicht einfach, ohne mich zu fragen, auseinander laufen. „Da ist nichts mehr. Wir sind einfach nur noch da, weil wir dazu gehören, wie die Möbel auch.“ hatte Mutter erklärt. „Und die vielen Jahre gemeinsames Leben und ge­meinsame Erfahrung, das bedeutet alles nichts?“ hatte ich eingewandt. „Doch schon, das habe ich mir ja auch immer vorgesagt, sonst wäre es schon viel früher zur Trennung gekommen.“ Mutter dazu. „Wie konnte es denn dazu kom­men? Ihr habt euch doch auch mal geliebt.“ wollte ich erklärt haben. „Oh, Mi­chi, das ist eine lange Geschichte. Ich könnte dir jetzt stundenlang etwas er­zählen, aber das ist auch meine ganz private, intime Geschichte, die nur mir gehört. Im Übrigen müsste ich dann auch einiges zu deinem Vater erzählen. Das mach ich sowieso nicht. Das kann er dir ja selbst erzählen. Aber es hat sich auch nichts Spektakuläres abgespielt. Es hat sich so ähnlich entwickelt wie bei vielen anderen auch. Nur wir waren zu unachtsam, haben nichts wahrge­nommen, haben zu sehr an der Oberfläche in den Tag gelebt. Als es uns be­wusst wurde, war es längst zu spät, und Gewesenes wieder zurückholen, und es neu beleben, das geht nicht.“ hatte Mutter erklärt. Mich störte es schon, dass mein Vater jetzt nicht mehr da war. Freundlich war er immer gewesen, aber eine tiefere Beziehung war zu ihm nie zustande gekommen. Trauer habe ich wegen der Trennung meiner Eltern nie empfunden. Mein Hauptbezugspunkt war ja auch vorher schon meine Mutter gewesen. Wir hatten häufig über feministische Vorstellungen diskutiert, mit Vater sprach sie über so etwas nicht. Für mich war klar, dass sie in ihrem weiteren Leben allein bleiben würde. Einerseits war sie mit vierundfünfzig ja nicht mehr in dem Alter, das auf Männer besonders attraktiv wirkt, und andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie mit ihren feministischen Ansichten Lust auf einen Mann haben könnte. Direkt männerfeindlich war sie zwar nicht, aber ihre Ansichten über Liebe hätten sie eigentlich davor bewahren müssen.


Mutter du bist ein Kind

Ich hörte etwas in der Küche und ging hin. „Ah, sie sind Sammy, Mutters neuer Freund. Guten Morgen.“ begrüßte ich den Mann in der Küche. „Nein, nein, Sam oder Sammy das ist Victoria. In Wirklichkeit heiße ich Isaac, aber Victoria sagt, Isaac und Samuel sei das Gleiche, und Sam passe gut zu mir und gefiele ihr.“ korrigierte der Mann. „Sie lieben meine Mutter?“ fragte ich lächelnd. Der Mann lachte. „Würden wir sonst die Nacht gemeinsam im Bett verbringen?“ fragte er erstaunt. „Wenn es ihnen lieber ist, können wir uns natürlich weiter mit Sie an­reden, aber mir wäre es angenehmer, wenn sie mich Isaac oder meinetwegen auch Sam nennen würden.“ erklärte der Mann. „Mein voller Name lautet Micha­el, aber alle benutzen irgendwelche Abkürzungen, die ihnen gerade in den Sinn kommen, und erwarten selbstverständlich, dass ich weiß, wen sie damit mei­nen.“ stellte ich mich vor, und Sam schmunzelte. Mutter kam aus dem Bad. Mit glänzendem Gesicht kam sie auf mich zu, umarmte und küsste mich. „Das ist er. Jetzt ist er da. Ist das nicht wundervoll?“ sagte sie und zeigte dabei auf Sam. „Mutter, du bist ein Kind.“ erklärte ich. „Das denke ich auch manchmal.“ erklärte Sam, „nein, nicht ein Kind, wie eine junge Frau ist sie, offen, unbe­schwert, lebhaft und lustig. Wundervoll, Victoria.“ „Das ist das normale Leben einer Frau, das sie nicht leben kann, weil sie die Ordnungshüter des Ge­schlechts daran hindern. Sie schreiben vor, wie eine Frau zu sein hat. Das Drängen nach ihrem wirklichen Leben steckt aber in jeder Frau, auch wenn man noch so massiv versucht hat, ihr die Erinnerung an die Kindheit auszutrei­ben. Die Frau will sich selbst leben und die Kraft der Liebe verleiht ihr die Macht dazu.“ interpretierte es Mutter. „Die Liebe befähigt dich, das zu leben, was immer in dir war, aber wegen der Ordnungen für die Frauen in deinem Un­bewussten verborgen bleiben musste? Dazu gehört auch die Erinnerung an das vergessene Mädchen Victoria?“ fragte ich nach. „Ja, es gibt vieles, was bei ei­ner Frau im Unbewussten verborgen bleiben muss, was eingefroren ist und nicht zum Vorschein kommen darf, und die Liebe ist etwas Extraordinäres. Sie nimmt dich auf den Arm und lässt dich Ungeglaubtes leben.“ bestätigte Mutter. „Hast du keine Angst davor, dass es sich nicht immer zu deinem Vorteil entwi­ckeln könnte?“ fragte ich Sam. Der lachte und meinte: „Sie wird immer die bonne sauvage bleiben, da bin ich sicher, und die erlebe ich jetzt auch schon.“ Meine Mutter, die gute Wilde! Als natürlich und echt war sie mir schon immer erschienen, aber dass sie aus sich herausgehen und ihre Gefühle offen ausle­ben konnte, schien mir für die arrivierte, distinguierte, ältere Anwältin un­glaublich, aber ich hatte ja ihre Kindereien durch die offene Schlafzimmertür mitbekommen. „Sammy ist ein kluger, intelligenter Mann. Eigentlich ist er An­thropologe, aber in Wirklichkeit ist er Philosoph, nicht wahr, Sammy?“ erklärte Mutter, „Vielleicht verstehen wir uns deshalb so gut, weil wir uns stets auf ho­hem Niveau unterhalten können.“ „Wir lieben uns, weil wir gut miteinander re­den können? Ist da nicht auch noch etwas anderes?“ zweifelte Sam. „Du hast Recht,“ bestätigte ihn Mutter, „aber nein, wenn wir kommunizieren, tauschen wir doch nicht nur Texte aus. Wir begegnen einander doch in unserer vollen Persönlichkeit. So haben wir uns doch auch kennengelernt.“ „Das kann ich mir sowieso gar nicht vorstellen. Wie konnte Mutter denn Interesse an einem Mann haben und dies auch noch äußern?“ fragte ich zweifelnd. Die beiden lachten. „Ich kann mir das im Grunde auch gar nicht erklären. An das Gefühl, Interesse an einem Mann oder ein Bedürfnis nach einem zu haben, kann ich mich auch nicht erinnern.“ äußerte sich Mutter. „Es entwickelte sich eigentlich alles ganz banal.“ begann Sam es zu erklären, „Es war ein ganz normaler Vortrag mit an­schließender Diskussion. Victoria bemängelte das Fehlen feministischer Aspek­te. Sie wurde kritisiert, weil das mit dem Thema nichts zu tun hätte. Ich fand ihre Argumente aber so tiefgründig und fundiert, dass wir beide anschließend noch allein miteinander weiter diskutierten. Dabei kamen wir auf die Idee, dass wir uns nochmal treffen wollten. Wir gingen gemeinsam Essen.“ „Ich fand das, was du sagtest, ja auch ganz interessant, aber bestimmt war da bei der Dis­kussion schon etwas ganz anderes, was wir ineinander gesehen hatten. Wieso musste ich an den folgenden Tagen immer an den netten Menschen denken. Ich habe es mir verboten, wollte es nicht wahrhaben, aber es nützte nichts.“ kommentierte Mutter. „Hat Mutter dich denn gar nicht geprüft und getestet?“ wollte ich von Sam wissen. Mutter antwortete: „Na klar, es kam mir alles schon so vor, wie liebesähnliche Empfindungen. Das hielt ich einerseits für un­möglich, andererseits wollte ich es doch auch nicht. Nach dem gemeinsamen Essen war es noch viel schlimmer geworden. Ich hatte ihn zum Kaffee zu uns eingeladen, weil ich einerseits herausfinden wollte, wie es mit meinen Gefühlen und Empfindungen wirklich bestellt war und andererseits musste ich ihn mir doch mal genauer anschauen.“ „Der geplante Test verlief wie ein irres Spiel, bei dem wir ständig nur lachten.“ fügte Sam hinzu. „Es wäre albern gewesen, Fragen zu stellen und Antworten zu erwarten. Wir haben es einfach gespürt, dass wir zu dem gleichen Rhizom gehörten. Wir waren uns eins. Dann ist alles Übrige irrelevant. So dirigiert dich die Liebe.“ ergänzte Mutter. „Bei deiner Lie­be ist es anders. Da ist alles ordentlich und kalkuliert.“ ironisierte Sam. „Sie hat mich bislang noch nicht befallen.“ antwortete ich lächelnd. „Er sucht ja auch gar nicht danach.“ wusste Mutter. „Hast du denn danach gesucht? Wo willst du denn danach suchen? Auf dem Heiratsmarkt auf Partnerbörsen? Liebe kannst du doch nicht suchen. Du kannst vielleicht einen Partner finden, aber nicht die Liebe.“ machte ich deutlich. „Ich vermute, du würdest sie auch gar nicht reinlassen, wenn sie käme.“ prognostizierte Mutter. „Angst vor der Liebe? Denn mutig muss man ja schon sein.“ fragte Sam. „Nein, so viel Glück wie ihr beiden, haben eben nicht alle Menschen jeden Tag.“ antwortete ich.



Ich hatte nie Glück. Ich hatte viele Bekannte, und wenn man so will, auch Freunde. Das lag an unserer Schulzeit. Aber nur zu Guido und Lars hatte ich so enge Beziehungen, dass ich von Freundschaft sprechen würde. Jaco hatte es uns schmackhaft gemacht. Wir sollten doch alle Mitglieder in seinem Sportclub werden. Es gab keine Verpflichtung, irgendetwas zu tun. Man zahlte nur seinen geringen Mitgliedsbeitrag und konnte alles nutzen, vor allem das Vereinsheim mit seinem Bistro. Nirgendwo ist man so lange mit anderen Menschen zusam­men als in der Schule, aber uns reichten die sozialen Kontakte offensichtlich nicht. Wir trafen uns auch noch nachmittags im Club-Bistro. Völlig ungewöhn­lich ist das nicht. Aus anderen Klassen trafen sich ja auch nachmittags Cliquen in Cafés oder sonst wo. Morgens, das war eben Unterricht, nachmittags gab es das freie Sozialleben, und das gefiel einem unter Vertrauten am besten. Wir hatten immer noch gute Kontakte, luden uns zu Feiern oder Parties ein, obwohl wir uns natürlich längst nicht mehr im Sport-Bistro trafen. Es hatte sich sozu­sagen ein stabiler sozialer Kreis gebildet. Unser Sprache hatte sich sogar ange­glichen. Du konntest es nicht einfach so ablegen oder vermeiden. Es sprach einfach aus dir heraus, und du merktest, das waren Ulrikes Worte. Doch auch wenn meine Freunde Jungen waren, befasste ich mich lieber mit den Mädchen. Bestimmt gab es auch unter ihnen welche, deren Aussehen nicht als optimal galt, aber das interessierte mich nicht. Wenn du jemanden ein wenig kennst, spielt das überhaupt keine Rolle, ja du kannst es nicht einmal erkennen. Die Mädchen waren offener, in Gesprächen leichter zugänglich, sie hatten mehr Lust zu lachen und hörten besser zu. Keineswegs ist das eine Aussage über Frauen im Allgemeinen, aber für die Mädchen in unserem Kreis konnte ich das nicht leugnen. Aber auch, wenn wir uns gut verstanden und mochten, hatte ich als Junge, als Mann, der für sie als Lover in Frage kam, keine Chance. Da wur­den die bevorzugt, die wirklich Sport machten und ihre Muskeln aufbauten. Verstehen konnte ich das nicht. Ging es um die Schönheit des männlichen Kör­pers? Wirkte ein Mann attraktiv, weil er den Willen zum Siegen ausstrahlte, oder waren es die uralten Bilder von Kraft und Stärke, die Frauen immer noch faszinieren konnten, auch wenn sie heute völlig bedeutungslos waren. Ich wür­de jedenfalls nicht ins Fitnessstudio gehen, um Frauen mit meinem Körper zur Liebe zu animieren versuchen. Ich weiß gar nicht genau, was ich mir unter Lie­be vorstelle. Meine Mutter war ja ganz offensichtlich von der Liebe befallen, aber der Gedanke, dass eine von den Frauen aus unserem Kreis, bei mir Ge­fühle auslösen könnten, die mich zu derart exaltiertem Verhalten drängten, ließ mich nur schmunzeln. Ich mochte sie schon, aber um Liebesgefühle auslö­sen zu können, musste dich doch etwas besonders ansprechen, musste dich etwas faszinieren. Die Frauen aus unserem Kreis, auch wenn sie alle das Gymnasium besucht hatten, kamen mir eher vor wie Heringe aus der großen Masse der im Mainstream schwimmenden Fische. An der Käsetheke hatte ich eine Stimme gehört. Ich drehte mich zu ihr hin. „Nein, ein kleines Stückchen, ich muss das ja fast alles allein essen.“ sagte sie. Wundervoll fand ich den Klang und die Melodie ihrer Stimme und faszinierend ihren Gesichtsausdruck. Sie war eine Frau im fortgeschrittenen Alter. Wie gern hätte ich ihr gesagt, dass es mich glücklich machen würde. mit ihr gemeinsam bei einen Glas Wein den Käse zu verzehren. Was war ich für ein Idiot. Ich kannte die Frau doch überhaupt nicht, wusste nichts von ihr. Offensichtlich ließ ich mich doch von Äußerlichkeiten verführen. Aber als Schönheit hätte die Frau an der Käsetheke bestimmt nicht gegolten, dafür war sie zu alt. Waren es gar nicht die allge­meingültigen Bilder von Schönheit und Ausstrahlung, die mich bei einer Frau faszinieren konnten, sondern waren es meine eigenen Vorstellungen, Visionen und Fantasien, die ich manchmal angesprochen fühlte? Nur die kannte ich nicht, konnte sie nicht benennen, ich hätte gar nicht gewusst, was ich suchen sollte. Eva zum Beispiel war eine sehr nette Frau, mit der ich mich hervorra­gend verstand, und die ich gut leiden mochte, aber die Vorstellung, dass sich zwischen uns eine Liebesbeziehung entwickeln könnte, war für mich undenk­bar. Vielleicht trägt ja jede Frau, auch wenn ich sie dem Mainstream zurechne, einen unverwechselbaren, persönlichen Ausdruck in sich. Ich konnte ihn nur nicht erkennen, meine Wahrnehmung war begrenzt und sah nur das, was sie sehen wollte.


Veras Freundschaft

Bei Vera hatte mich auch kein starker persönlicher Ausdruck fasziniert. Wir sa­ßen nur zufällig bei einem Kaffee in der Mensa zusammen. Ich hatte dämlich etwas zum Wetter gesagt, und Vera lachte sich schief über mich. Wir klärten lachend mein dummes Gerede und kamen ins Gespräch. Bald sprachen wir über Beziehungen und Liebe, allgemein und keineswegs auf uns persönlich be­zogen. Vera vertrat die Ansicht, dass feste Partnerschaft und Liebe antiquierte Beziehungsformen seien, die ein sentimentales Bedürfnis bedienten. „Wir leben als Menschen doch von unseren Beziehungen, und da kann es doch sehr tief­greifende Verbindungen geben, die nicht nur ein sentimentales Bedürfnis an der Oberfläche bedienen.“ widersprach ich. Vera stellte klar, dass jeder Mensch letztendlich sein eigenes Leben zu führen habe, eine feste Beziehung ihm aber den falschen Eindruck vermittele, dass er nicht allein sei. Eine feste Beziehung sei letzten Endes immer einengend. „Und wie sehen deine Vorstellungen aus? Du lebst als Single und bei Bedarf hast du wechselnde Partner?“ vermutete ich. „Nein, du kannst doch befreundet sein. Da bleibst du völlig frei, und wenn Be­darf besteht, dann triffst du dich eben mit deinem Freund. Du kannst alles zu­sammen machen, bleibst aber trotzdem völlig frei.“ erklärte Vera. Wir wollten uns nochmal treffen und weiter darüber diskutieren. Vera kam zu mir. Mit der einengenden Wirkung einer festen Beziehung, das sah ich ja auch so. Sie er­zählte von Bekannten, die das auch so machten, und wie glücklich sie damit wären. Dass so die künftigen Beziehungen unter Menschen aussehen würden, statt Liebe, Partnerschaft und Ehe alles nur Freundschaften, dass konnte ich mir nicht vorstellen. Aber vielleicht war ich ja auch nur in antiquiertem Denken gefangen. Ich mochte Vera, und wir lachten viel. Als ich sie fragte, wie viele Freunde sie denn habe, wurde sie ernst. „Zur Zeit niemanden.“ sagte sie. Dann folgte eine Pause. „Mica, ich finde dich sehr nett, und wir verstehen uns doch auch gut, und da wollte ich dich mal fragen, was du davon hieltest, wenn wir befreundet wären?“ Ich überlegte und versuchte es mir vorzustellen. Große Liebesgefühle verspürte ich zwar nicht, aber das sollte ja auch nicht sein. Vera gefiel mir allerdings schon sehr gut, und Freundschaft? Warum nicht? Zuerst gingen wir auch manchmal gemeinsam ins Kino oder ins Konzert. Vera wurde mir immer näher und vertrauter. Mir kam es vor, als ob man nur öfter etwas gemeinsam liebevoll tun müsse, dann würde sich irgendwann die Liebe schon einstellen. Besonders traf das zu, wenn wir gemeinsam ins Bett gingen. Später trafen wir uns nur noch, um miteinander Sex zu haben. Natürlich war es jedes mal wundervoll, und ich hatte keinesfalls etwas dagegen, mit Vera ins Bett zu gehen, aber es erschien mir immer verlogener und irrsinniger. Niemals bist du einem anderen Menschen so nahe, so vertraut, so offen, so intim wie beim gemeinsamen Sex, aber du darfst nicht sagen, was Vera dir bedeutet, was du für sie empfindest? Nur gemeinsames Vergnügen soll das sein? Widerlich, so eine Benennung. Ich liebte Vera. Kein anderer Mensch war mir je so nahe, und das musste ich verschweigen? Für pervers hielt ich es und wollte mich nicht weiter selbst belügen. Ich versuchte es Vera zu erklären und war sicher, dass sie es auch so sehen würde. Aber das war wohl eine typisch männliche Fehleinschätzung, wonach die eigenen Argumente die besseren sind, die alle überzeugen müssen. Bei mir kam noch hinzu, dass ich sicher war, dass Vera mich auf keinen Fall verlieren wolle, aber auch das eine Fehleinschätzung. Sie sagte nur, dass sie es als schade empfinde, dass es mit uns beiden ja offensichtlich nicht funktioniere. Was für eine Frau, die mir die Liebste war, kann einfach so unsere tiefen, intimen, persönlichen Bindungen fliegen lassen, weil es nicht in ihr Konzept passt, dass ich ihr sage, es sei die Realität, dass ich sie lieben würde. Ich weiß nicht, was es für Vera letztendlich wirklich bedeutete, aber diese Coolness und Härte hätte keine von den von mir als Mainstreamfrauen bezeichneten, an den Tag gelegt. Für mich hatte es die Wirkung eines Schockerlebnisses. Ich konnte es gar nicht fassen, mich jetzt nicht mehr mit Vera treffen zu können. Sie war zu einem Teil von mir geworden. Ich liebte sie. Mutig war ich dazu nicht gewesen, es hatte sich einfach so ergeben. Nur mich in eine andere Frau verlieben, das konnte ich mir nach Vera gar nicht vorstellen. Unabhängig davon hatten mir die Erfahrungen mit Vera auch Angst gemacht. Nach Liebesbeziehungen verspürte ich kein Verlangen mehr, mir würden die freundlichen Momente, wie zum Beispiel mit Eva, genügen.


Wachträume

Wenn ich mich hinlege, wandern meine Gedanken nicht selten in Regionen, die mit der tatsächlichen Wirklichkeit nicht mehr korrelieren. Ich habe zum Beispiel Kompliziertes am Computer zu lösen, bis mir plötzlich bewusst wird: „Ich habe ja gar keinen Computer.“ Ich träume schon, aber schlafe noch gar nicht. Die Realität ist noch nicht völlig ausgeblendet. Ähnliches muss sich an manchen Tagen abspielen. Du bist zwar wach und lebst selbstverständlich in der Reali­tät, aber deine Vigilanz scheint sich nicht voll auf dein Handeln zu konzentrie­ren. „Du träumst.“ hatte Mutter dann früher manchmal gesagt, wenn sie es merkte. Wovon ich dann angeblich träumte, wusste ich aber nicht. Heute mor­gen hatte ich schon aus Unachtsamkeit eine Tasse Kaffee verschüttet. Als ich in die Vorlesung wollte, stand nur die halbe Tür offen. Zu schmal für die Kom­militonin und mich gleichzeitig. Mir wurde es aber nicht bewusst, sodass ich die Kommilitonin anrempelte. „Oh, Entschuldigung, das ist mir peinlich. Es tut mir entsetzlich leid.“ erklärte ich. „Regen sie sich doch nicht auf. Das ist doch ganz normal, jedem hätte das passieren können.“ reagierte sie freundlich lächelnd. Mittags traf ich sie wieder in der Mensa. Ich schloss mich ihr an und stellte mich neben sie an der Theke. „Sie sind eine sehr freundliche Frau.“ erklärte ich. „Das stimmt, aber klären sie mich auf, woher sie das wissen.“ bat sie. „Na, sie hätten ja auch sagen können: „Sie unverschämter Rüpel können sie denn nicht aufpassen?“ antwortete ich. Die Studentin bog sich vor Lachen. „Das stimmt. Hätten sie das denn lieber gehört? Aber das ist nicht mein Stil. So spreche ich nicht, auch wenn ich keine freundliche Frau wäre.“ erklärte die Frau und weiter, „setzen wir uns zusammen. Meine Freundin Julia ist noch dabei. Sie hat auch großen Hunger.“ Wir suchten uns freie Plätze. „Das ist die besagte Julia, und ich bin Hélène, Französin.“ stellte sie sich vor. Kurze Pause und Lächeln. „Quatsch, ich bin keine Französin. Nur mein Name ist französisch mit Akzent hinten und Akzent vorne.“ sagte Hélène und lachte. „Franzose wäre ich auch gerne. Ich heiße Michael.“ erklärte ich. „Dann wärst du Michel oder Miguel, nein, das ist, glaube ich, spanisch.“ wusste Hélène. „Das wäre doch besser. Jetzt nennen sie mich alle Micha, Mica, Micki oder was ihnen gerade einfällt.“ erläuterte ich. „Mischu, würde ich dich nennen, gefiele dir das?“ erkundigte sich Hélène. Julia lachte die ganze Zeit. Warum? das war nicht zu ergründen. Ich dachte nur, wie wundervoll, eine Freundin zu haben, die immer gut aufgelegt ist, die immer lacht. Aber auch Hélène und ich lachten häufig, obwohl wir uns doch überhaupt nicht kannten und nichts miteinander zu tun hatten. Vielleicht gibt es eine stillschweigende Übereinkunft unter Kulturwissenschaftlern, einen tacit consent, von dem man als Student zwar nichts weiß, aber den man spürt. Nein, es lag wahrscheinlich an der kuriosen Situation unseres Zusammenpralls und unseren Reaktionen darauf. Nach dem Essen sinnierte ich noch darüber, dass man doch im Grunde aus jeder Situation, ein Erlebnis mit Gefühlen des Wohlempfindens bereiten konnte, aber das lag wahrscheinlich auch an beiden Kommunikationsteilnehmern. Hélène hatte einen starken Eindruck auf mich gemacht, und ich musste in den folgenden Tagen öfter an sie denken. Sie wirkte so klar, offen und direkt, wie ich mir das vorstellte, wenn Mutter ihre eingefrorene Kindheit leben wollte. Ich würde sie ja noch öfter sehen. Ansprechen wollte ich sie auf jeden Fall. Aber ich begegnete ihr nicht, weder ihr noch Julia. Sie musste etwas anderes machen, denn Kulturwissenschaftler gab es ja nicht so immens viele. Ich überlegte ja auch eventuell mein Zweitfach zu wechseln. Philosophie oder Kulturgeschichte stand für mich zur Wahl. Ich hatte mich für Kulturgeschichte entschieden. Politikwissenschaft hatte ich zusätzlich gewählt, weil ich mich für aktuelle Politik sehr interessierte, aber jetzt konnte ich mich mit Theorien zur Staatenbildung und der Magna Carta beschäftigen. Belanglos war das ja keineswegs, nur traf es nicht im Geringsten mein derzeitiges Interesse. An Hélène musste ich öfter denken. Was sie wohl gestört hatte, und was sie wohl machte.


Exkursion

Zwei Jahre später nahm ich an einer von den Biologen organisierten Exkursion zu einem Vogelschutzreservat teil. Jeder sollte es eigentlich gesehen haben, nur jetzt war es durch den Anstieg des Wasserstands bedroht. Hier brüteten Vögel, die es sonst nur in Norwegen gab. Die Frau da vorne, das musste Hélè­ne sein, ich konnte mich nicht irren. Ich sprach sie an. „Ich weiß nicht, wovon sie sprechen. Lassen sie mich in Ruhe.“ sagte sie abweisend. „Aber, Hélène, dass ich deinen Namen weiß, zeugt doch davon, dass wir uns kennen. Ich bin der Mica, den du Mischu nennen wolltest.“ versuchte ich es nochmal. „Mag sein, dass sie Recht haben, aber ich möchte trotzdem nicht, dass sie mich be­lästigen.“ erklärte sie. „Ich habe damals gesagt, dass ich sie für freundlich hiel­te, jetzt müsste ich dem hinzufügen, dass sie auch zickig sein können.“ rea­gierte ich. „Sie sind ein frecher Lümmel.“ antwortete sie, wobei sie aber wieder lachte. Natürlich konnte sie es vergessen haben. Es war ja nur eine kleine un­bedeutende Episode am Mittag. Nur ich hatte sie nicht vergessen, weil Hélène auf mich so beeindruckend gewirkt hatte. Ich hätte mich gern mit ihr unterhal­ten, sie alles Mögliche gefragt, aber sie hatte sich ja strikt verweigert. Jetzt traf ich sie auch wieder in der Uni. Im Foyer sprach ich sie an. „Hélène, ich will doch nichts von ihnen, ich will sie auf keinen Fall belästigen, aber können wir uns denn nicht mal wie ganz normale, vernünftige Menschen unterhalten?“ bettelte ich. Sie musterte mich prüfend. „Na gut, Donnerstag um 15ºº Uhr in der Cafeteria?“ schlug sie vor. Ich erzählte nochmal, was sich vor zwei Jahren zugetragen hatte, und jetzt erinnerte sich Hélène doch wieder. „Ich habe so viele Probleme gehabt, und Julia ist auch nicht mehr da. Ich habe Biologie stu­diert. Das war eigentlich der Anlass und das Zentrum meines Studiums, aber beides zusammen war nicht zu schaffen. Meine Ansichten haben sich verän­dert. Biologie ist und bleibt sicher immer wichtig und interessant, aber ich sehe den Schwerpunkt meiner Wertvorstellungen mittlerweile primär im Kulturellen, im Geisteswissenschaftlichen.“ erklärte Hélène. „Also Biologie hast du abgebro­chen. Machst du denn neben Kulturwissenschaften noch etwas anderes?“ er­kundigte ich mich. „Ja, ja, mit den Wissenschaften der Historie beschäftige ich mich, ich mache Geschichte. Das passt doch ganz gut zusammen, nicht wahr?“ antwortete Hélène. „Ich finde dass es eine kluge Kombination ist, aber was wäre von einer klugen Frau, wie dir, auch anders zu erwarten.“ kommentierte ich. „Nimm dich in Acht, du Schelm.“ verbat sich Hélène derart triviale Kompli­mente. Die Anwesenheit von Hélène kam emotionalem Streicheln gleich. Sie sprechen zu erleben, dem Klang und der Melodie ihrer Stimme lauschen zu können und ihre Augen zu erleben, wenn sie mich anblickten, löste Gefühle von Wohlempfinden aus. Ich fragte sie, ob wir uns nicht öfter mal unterhalten könnten. Hélène blickte mich fest an. „Michael, oder wie wollte ich dich noch­mal nennen?“ fragte sie. „Mischu.“ fügte ich ein. „Also, Mischu, obwohl ich kaum etwas von dir weiß, meine ich doch zu spüren, dass du ein ganz netter Mensch bist. Aber für mich hat sich die Situation verändert. Ich habe einen fes­ten Freund, und daran möchte ich nichts beschädigen. Mich einfach so mit fremden Männern treffen, wäre da nicht so gut.“ erklärte Hélène. „Oh, Schreck, Hélène, wie denkst du? Ich dachte nur, dass es schade wäre, wenn man sich gut untereinander versteht, den Kontakt abreißen zu lassen.“ reagierte ich. „Und deine Freundin, was sagt die dazu?“ wollte Hélène wissen. „Ich habe gar keine und will auch keine. Schlechte Erfahrung.“ bemerkte ich. „Verlassen wor­den?“ forschte Hélène nach. „Nicht so direkt.“ erklärte ich. „Indirekt verlassen? Wie geht das denn?“ staunte Hélène. „Ach, Hélène das ist eine unangenehme Geschichte, die möchte ich nicht erzählen, ja, ich möchte noch nicht einmal daran denken müssen.“ kommentierte ich. „Na gut,“ sagte Hélène schließlich, „nächste Woche gleiche Zeit wieder hier?“ „Sollen wir nicht unsere Telefon­nummern austauschen, dann können wir uns informieren, wenn mal etwas da­zwischen kommen sollte.“ schlug ich vor. Davon war Hélène aber offensichtlich nicht sofort begeistert. Sie schwieg, schaute zur Decke und überlegte wahr­scheinlich, welche Nachteile sich daraus ergeben könnten. „Wahrscheinlich hat der Rempler an der Tür damals bewirkt, dass sich mein Herz für Michael-Mi­schu geöffnet hat.“ scherzte sie. Dann holte sie einen kleinen Block raus, schrieb eine Nummer darauf und schob mir den Block samt Stift hin. Jetzt hat­te ich Hélènes Telefonnummer und freute mich riesig. Was für ein Schwach­sinn. Würde ich sie jetzt etwa immer anrufen, wenn ich mal an sie dachte? Gar nichts änderte sich, nur dass ich mit Hélène jetzt wieder normal reden konnte, fühlte sich gut an. Ich meinte mir vorstellen zu können, wie belastend sich Dis­harmonien zwischen Verwandten oder unter Nachbarn auf das eigene Befinden auswirken können.


Phallozentrisch verseucht

Als wir uns wiedertrafen, kamen wir auf die staatlichen Maßnahmen zur Unter­stützung von Müttern mit kleinen Kindern zu sprechen. „Albern finde ich das ganze Palaver und hin und her hier. In Frankreich ist das optimal geregelt.“ er­klärte Hélène. „Es ist sicher übersichtlicher und klarer, aber so optimal finden das hier bestimmt nicht alle Frauen.“ wand ich ein. „Na ja, die Mamis hier sind nie zufrieden, dabei haben sie in den letzten Jahren so viel erreicht.“ meinte Hélène dazu. „Mag ja sein, dass es in den letzten Jahren einige Verbesserun­gen gegeben hat, aber im Grunde geht es doch darum, dass Frauen und Män­ner gleich behandelt werden. Das scheint aber ernsthaft keiner zu wollen.“ er­klärte ich. Hélène lachte. „Das ist doch unser Verfassungsauftrag.“ entgegnete sie. „Wie simpel wäre es, den ungleichen Lohn von Frauen und Männern abzu­schaffen. Man müsste nur die ungleiche Bezahlung bei hohen Strafen verbie­ten. Das Problem gäbe es nicht mehr. Überall, an den Schulen und an den Unis sind Frauen die besseren, aber die Betriebe brechen zusammen, wenn sie die Aufsichtsräte und leitenden Positionen paritätisch besetzen sollen? So etwas kann dir doch nur jemand erzählen, der dich für einen Idioten hält.“ so von mir zum Verfassungsauftrag. „Du meinst, die tatsächliche Gleichstellung ist noch längst nicht verwirklicht, es könnte viel mehr geschehen, wenn man es wollte.“ interpretierte mich Hélène. „Hélène, Gleichstellung das ist ein nettes Wort mit nichts dahinter. Die Welt existiert nicht in gleicher weise aus der Sicht von Männern und von Frauen, fast alles, wovon wir umgeben sind, basiert auf der Sicht phallokratischer Ordnungen.“ erklärte ich. „Du meinst, dass wir im Patri­archat leben.“ schlussfolgerte Hélène. „So ähnlich vielleicht, aber ich will auch keine Herrschaft von Müttern. Kein Mensch ist zum Herrscher oder Sklaven ge­boren. Das macht die Gesellschaft aus ihm. Die freie Frau muss sich selbst, ihr eigenes Leben leben können, und da weiß sie oft gar nicht mehr, was das ist. Eine Bekannte der Freundin meiner Mutter hat ihr Amt als Frauenbeauftragte zurückgegeben, mit der Begründung, dass die Frauen im Betrieb alle phallo­zentrisch verseucht seien.“ erzählte ich. Nachdem Hélène sich totgelacht hatte wollte sie es erläutert haben. „Die Frau kann sich gar nicht selbst sehen, son­dern sie sieht nur das Bild in dem sie aus der Sicht des Mannes erscheint. In dieses Bild, das ihr selbst gar nicht entspricht, verliebt sie sich narzisstisch. Pervers, nicht war, aber so ist es nicht nur beim Ego, sondern mit Ausnahmen bei allem, was uns umgibt.“ erklärte ich. „Beschäftigst du dich viel mit feminis­tischen Fragen? Ich glaube, du hast da weit mehr drauf als ich.“ meinte Hélè­ne. „Nein, ich habe mich nur sehr viel mit meiner Mutter unterhalten. Bei mir hat offensichtlich das Fragealter nie aufgehört. Wenn ich die Welt endgültig komplett verstanden hätte, wäre vielleicht Schluss gewesen. Hast du sie denn schon ganz verstanden?“ fragte ich. Hélène lachte. „Du bist süß.“ entfuhr es ihr, „Aber ich habe ja auch niemanden, der sie mir erklären könnte und wollte.“ „Bei den Gesprächen mit meiner Mutter kamen wir schon sehr früh in philosophische Dimensionen. Ob du selbst mit deinem freien Willen entscheidest oder ob es andere Determinanten gibt, ist doch in jedem Alter interessant. Daher hätte ich auch beinahe Philosophie studiert.“ erzählte ich. „Und was hat das mit feministischen Ansichten zu tun?“ wollte Hélène wissen. „Na klar, wenn du über Frau und Mann sprichst, sind die feministischen Ansichten einfach die klügeren, die intelligenteren, die besseren. Und feministische Philosophie ist so etwas, wie das Hobby meiner Mutter. Es reizt sie besonders, weil es ihren Intellekt fordert, wo sie sich sonst als Anwältin minderwertig vorkäme.“ erläuterte ich. Dass wir uns nochmal treffen wollten, bedurfte keiner Frage. Zum Abschied wurde ich sogar umarmt und gedrückt. Offensichtlich hatte ich in Hélènes Wertvorstellung einen höheren Rangplatz erklommen. Hatte ihr Herz sich weiter geöffnet, hatte ich Kluges gesagt, das ihr imponierte, oder gefiel ihr was ich von meiner Mutter erzählt hatte? Vielleicht war es auch ein Konglomerat aus allem, das mir das Empfinden vermittelte, wir seien uns ein wenig näher gekommen.


Ferienzeit

Hélènes Eltern waren relativ begütert. Sie waren in den Ferien immer nach Bi­arritz gefahren, weil sie den alten Charme der Belle Époque faszinierend fan­den. Hélène faszinierten aber mehr die jungen Männer am Strand, die auf ein­fachen Brettern stehend, sich über mörderische Wellen schwangen. Hélènes El­tern faszinierte das überhaupt nicht, weil Hélène insistierte, auch so ein Brett haben zu wollen. Schließlich bekam sie doch eins mit der Auflage, nur direkt am Strand darauf stehen zu lernen. Aber im nächsten Sommer schwang sie sich schon über die Wellen. „Wenn du es einmal gemacht hast, wird es zur Sucht. Wenn du einmal laufen gelernt hast, kannst du es nicht mehr lassen.“ sagte Hélène und lachte. „Und du machst es heute immer noch?“ wollte ich wissen. „Aber hier geht es ja nirgendwo.“ bemerkte Hélène. „Windsurfen, der ganze Baggersee ist doch voll mit Windsurfern.“ wusste ich. „Das hat doch mit Surfen nichts zu tun. Wellenreiten haben sie früher dazu gesagt. Wo sind denn auf dem Baggersee Wellen? Segeln mit einem Brett ist das eher. Die nutzen den Wind aber nicht die Wellen.“ erklärte Hélène. Ich erzählte, dass mir die Ur­laube mit meinen Eltern nicht so viel gegeben hätten. Ich wäre lieber mit mei­nen Freunden unterwegs gewesen. Einmal hätten wir uns sogar ein richtiges Baumhaus gebaut, bis ein Förster im Herbst erklärt hatte, er könne das nicht zulassen. Entweder wir machten es selbst weg, sonst ließ er es beseitigen, was aber unsere Eltern bezahlen müssten. Das wäre ja das Schlimmste gewesen. Das Baumhaus war doch unser Geheimnisschloss, von dem niemand etwas wissen durfte. Wir erzählten uns noch einiges Lustiges aus unserer Kindheit und Jugend und hatten dabei Lust zu lachen und zu spinnen. Es wurde deut­lich, das das Verhalten von Hélènes Eltern gewiss korrekt und freundlich war, dass ihr aber so eine enge Bindung, wie ich sie zu meiner Mutter hatte, fehlte. Ihre herzlichste Beziehung war die zu ihrer Kinderfrau gewesen. Wir kamen auf die verrückte Idee, einen gemeinsamen Ausflug zu machen. Ich wollte Hélène zeigen, in welchem Baum im Stadtwald sich unser Baumhaus befunden hatte und Hélène wollte mit mir zum Baggersee fahren, damit ich mal versuchen könne, auf einem Surfbrett zu stehen. Wann wir das machten, wollten wir telefonisch absprechen.


Liebe als ob

Wir unterhielten uns auch über Liebe. Alle möglichen Aspekte waren inter­essant, nur mit uns persönlich hatte das nichts zu tun. Ich erzählte von einer Bekannten, von der ehemaligen Freundin war Vera schon zu einer Bekannten degradiert, denn ich hielt sie für unmenschlich. Alles zu ignorieren und alle ge­meinsamen Erfahrungen zu missachten, schien mir für ein menschlich fühlen­des Wesen nicht möglich. Hélène konnte sich das mit der Freundschaft auch nicht vorstellen, aber was Liebe wirklich sei, wisse sie auch nicht so richtig. Ich erzählte von Mutter und Sam, die es beide eigentlich nicht gewollt hätten, aber von der Liebe überwältigt worden seien. Mutter fühle sich außerordentlich stark, und die Liebe gäbe ihr die Kraft, ihr wirkliches Leben als Frau zu leben, das bislang in ihrem Unbewussten gefangen gewesen sei. Wir sprachen auch über das Zerbrechen von Liebe und die Trennung meiner Eltern. Ich war der Ansicht, das sogenannte Liebe heute häufig wie ein Geschäft behandelt werde. Man suche sich nach vermeintlicher Brauchbarkeit aus und erkläre es dann zur Liebe. „Wenn so etwas nicht lang hält, brauchst du dich nicht zu wundern.“ be­hauptete ich. „Du meinst, wirkliche Liebe ist da im Grunde gar nicht vorhan­den. Sie wünschen es sich nur und tun, als ob es so wäre?“ vermutete Hélène. „Ja, ich vermute, dass es häufig so ist, aber wirkliche Liebe gibt es natürlich auch.“ antwortete ich. „Und woran erkennt man die wirkliche Liebe, die nicht sofort zerbricht?“ wollte Hélène wissen. „Ich bin doch kein Liebesberater. Aber ich denke das verliebtes Schwärmen sich an der Oberfläche bewegt und keine Voraussetzung für eine dauerhafte Beziehung ist. Ein tiefgründiges Interesse an der Person des oder der anderen sollte bestehen, verbunden mit dem Be­dürfnis sich immer besser kennenzulernen. Dann meine ich, dass die Liebe auch komplex sein sollte und versucht, den anderen möglichst umfänglich in allem zu erfassen.“ lautete mein Ratschlag. „Du bist ein kluger Junge. Weißt du das auch alles von deiner Mutter?“ fragte Hélène. „Ich weiß nicht alles von meiner Mutter. Das ist Quatsch. Ich bin auch Mica, ein eigenständiger Mensch.“ bekam Hélène zur Antwort. „Trotzdem würde ich deine Mutter gern mal ken­nenlernen.“ wünschte Hélène. „Ruf in der Kanzlei an und lass dir einen Termin geben.“ empfahl ich ihr. „Mischu, du spinnst. Du kannst mich doch einfach mal mitnehmen, wenn du nach Hause fährst.“ wünschte Hélène. „Ja, soll ich meiner Mutter die zukünftige Schwiegertochter vorstellen?“ wollte ich geklärt haben. „Unsinn, wir können ihr doch klar machen, dass wir kein Paar sind, sondern uns nur von Unterhaltungen kennen. Das Gespräch über Liebe war völlig losge­löst von uns selbst geführt worden, aber trotzdem waren meine Gedanken im­mer bei Hélène. Ihre Mimik ließ erkennen, dass manches Hélène offensichtlich sehr beschäftigte. Mir kam es vor, dass wir uns durch das Gespräch über Liebe um vieles näher gekommen waren. Auch wenn wir nicht direkt über uns selbst gesprochen hatten, kam es mir doch sehr offen und vertrauensvoll vor.


Mit Hélène bei Mutter

„Mica, du bist wohl verrückt geworden. Schleppst einfach eine fremde Frau an und stellst sie hier hin. Was soll ich denn jetzt machen? Den Hexentanz auffüh­ren oder was?“ beschwerte sich Mutter, als ich Hélène mitgebracht hatte. „Mi­chael ist völlig unschuldig. Ich bin die Schlimme.“ versuchte Hélène es zu er­klären. „Er hat mir von ihnen erzählt, und das fand ich so interessant, dass ich gedacht habe, die Frau würde ich gern mal kennenlernen.“ „Tscha, aber was wollen sie denn von mir wissen oder kennenlernen. Ich bin eine ganz normale Frau, wie alle anderen auch.“ erklärte Mutter. „Das kann nicht sein. Sie haben einen prächtigen Sohn, und er hat gesagt, dass sich das alles aus Gesprächen mit ihnen entwickelt hat. Meine Mutter hat mit mir keine philosophischen Dis­kussionen geführt.“ stellte Hélène klar. Dann unterhielten sich die beiden unter sich. Ich hörte noch, wie sie über Liebe sprachen. „Du kannst sie nicht bestel­len oder suchen. Sie kommt wann sie will, und dann nimmt sie dich an die Hand. Sie führt dich auf Wege, die dir unbekannt sind. Es sind aber deine Wege, die immer in deinem Unbewussten verborgen waren, weil du sie bislang nicht gehen durftest. Die Kraft der Liebe aber macht dich stark, das Unbewuss­te von dir zu leben.“ erklärte Mutter. Die beiden hatten viel Spaß miteinander. Sie lachten häufig. „Es gibt ja Jungs, die sich Mütter als Schwiegersohn für ihre Tochter wünschen. Wäre Mica da nicht auch so jemand?“ wollte Mutter wissen und lachte. „Von Schwiegertöchtern kenn ich das gar nicht, aber ich habe Hélè­ne schon gesagt, dass es mich freuen würde, sie öfter zu sehen.“ „Mutter, was kannst du für einen Stuss reden. Da lässt dich die Liebe wohl wieder das alber­ne Kind spielen.“ deutete ich Mutters Ansichten. „Bevor wir zu deiner Mutter fuhren, genoss sie bei mir hohes Ansehen. Jetzt weiß ich gar nicht, was ich sa­gen soll. Ich glaube sie hat mich völlig okkupiert. Sie ist nicht nur eine äußerst kluge Frau, sie ist auch voller Poesie. Ist dir das noch nie aufgefallen.“ schwärmte Hélène. „Vielleicht, so genau kann ich es gar nicht sagen.“ reagierte ich lapidar. Mir schwirrte nur immer der 'prächtige Sohn' im Kopf herum, als den Hélène mich bezeichnet hatte. Wie sie wohl darauf gekommen war? Ob sie nur meiner Mutter schmeicheln wollte oder dabei auch an mich gedacht hatte? Ob sie mich für prächtig hielt, weil ich ihrer Ansicht nach viel wusste, oder ob ich dabei war, in ihren Empfindungen für mich an Pracht zu gewinnen? Wir tra­fen uns jetzt immer bei mir, das war gemütlicher. Dazu war mein Bett gut ge­eignet, aber zu allem anderen taugte es nicht. Nach meinem USA Aufenthalt musste ich unbedingt so ein Bett haben, weil alle dort so ein Bett hatten. Spä­ter habe ich in einem Test gelesen, dass es bei diesen Betten für alles nur schlechte Bewertungen gab. So entscheiden eben die oberflächlichen Menschen aus der Allgemeinheit. Auf meinen Original Handmade Amish Quilt war und blieb ich aber stolz. Hélène hatte sich schon aufs Bett gelegt, während ich das Tablett mit dem Kaffee holte. Hélène machte eine ernste Mine und erklärte zö­gernd, fast stotternd: „Mischu, weißt du, wir wollten uns ja nur unterhalten. Das haben wir ja auch getan, aber dabei hat sich für mich auch gezeigt, dass ich dich als Mensch sehr nett finde.“ Ich wusste nicht, was daraus werden soll­te. „Na klar, wir mögen uns doch beide gut leiden, deshalb verstehen wir uns ja auch so gut.“ kommentierte ich verallgemeinernd. „Na ja, ich glaube, es ist schon mehr. Ich denke, dass ich für dich starke Gefühle habe. Empfindest du so etwas auch für mich?“ wollte Hélène wissen. Erwartete sie jetzt eine Liebes­erklärung von mir? Ich wollte alles zunächst mal hinauszögern. „Was sagt denn dein Freund dazu, wenn du starke Gefühle für mich hast?“ erkundigte ich mich. „Jörg und ich, wir haben uns getrennt. Wir waren uns einig, dass es keine Liebesgefühle waren, die uns verbanden. Das wurde mir besonders deutlich, als ich spürte, wie sich die Liebesgefühle für dich entwickelten.“ berichtete Hélène. „Du willst also sagen, dass du dich in mich verliebt hast. Bedarf es zur Liebe denn nicht immer zwei Personen. Beruht denn Liebe nicht auf Gegenseitigkeit?“ fragt ich. „Du liebst mich also nicht?“ vermutete Hélène, „Ich weiß ja auch nicht, ob es wirklich Liebe ist, nur sind es immer sehr angenehme Gefühle, wenn ich an dich denke.“ „Hélène, die angenehmen Gefühle habe ich auch, besonders wenn wir uns treffen und miteinander reden. Aber sollen wir nicht lieber mal ein wenig warten, bis wir uns sicher sind, dass es die Liebe ist, die uns verbindet?“ schlug ich vor. Ich war ein Feigling. Ich mochte Hélène über die Maßen, träumte von ihr, wünschte mir bei allem Erdenklichen, wie schön wäre es, wenn Hélène jetzt hier wäre, aber ihr zu sagen, dass ich sie liebe, traute ich mich nicht. Einerseits hatte ich Angst vor allen denkbaren und undenkbaren Katastrophen, die Liebe immer in sich bergen konnte, siehe Vera, und andererseits schwebten mir auch die gewohnten Konsequenzen vor, von denen ich eigentlich nichts wissen wollte. Heiraten, Schwiegertochter, Familie, Kinder kriegen. Das war mir alles so fern. Freuen konnte ich mich darauf keinesfalls. Wir fassten uns aber schon mal an und streichelten uns sanft die Wänglein. Das durfte man auch, wenn man nicht genau wusste, ob es Liebe war. „Und die große Liebe, wann werden wir wissen, ob sie es ist?“ suchte Hélène Klärung. „Das spürst du doch, sie erfasst dich voll und tief, und der andere wird zum Zentrum der Welt für dich.“ wusste ich. Das Zentrum der Welt war Vera für mich gewiss nicht gewesen, aber dass es Liebe war, was ich für sie empfunden hatte, dessen war ich mir sicher. Vielleicht gibt es die Liebe gar nicht, es wird eine Sammelbezeichnung für viele unterschiedliche Formen der Zuneigung sein. Aber es handelt sich immer um eine sehr intensive Form der Zuneigung mit starker emotionaler Beteiligung. Und ob das bei Hélène so war, das wusste ich noch nicht? Ich war ein Idiot. Hélène hatte mich fasziniert fast vom ersten Moment an, als ich sie noch gar nicht kannte. Ihr Gesichtsausdruck, ihr Verhalten ihre Stimme lösten Glücksgefühle in mir aus. Wenn wir uns getroffen hatten, war auch der Rest des Tages wundervoll. Das ich sie liebte, stand für mich im Unbewussten schon lange fest, nur an eine Realisierung war eben nicht zu denken. Da gab es eben die Barriere mit dem festen Freund. Dass sich jetzt alles mit zwei Worten aufgelöst hatte, war für mich vielleicht auch so plötzlich und überraschend gekommen, dass ich es sofort gar nicht voll erfassen konnte. Natürlich war ich der Geliebte und hatte eine Liebende, wie ich sie mir nicht wundervoller wünschen konnte, aber wir mussten erst noch warten, bis wir es wirklich wussten. Bei der Abschiedsumarmung legten wir unsere Wangen aneinander. Wir blickten uns an mit den Augen fast direkt voreinander. Unsere Lippen suchten sich zu einem Kuss. Hélène und ich, wir hatten uns geküsst. Die Freude darüber würde wahrscheinlich eine ganze Woche anhalten.


Hélène am Baggersee

Wir wollten unsere Exkursion machen. Ich wunderte mich, dass ich nach so langen Jahren im Stadtwald sofort den Baum wiederfand, in dem wir unser Baumhaus gehabt hatten. „Oh je!“ entfuhr es Hélène. „Ja, heute wäre jeder Sturz mit Sicherheit tödlich, aber auch was wir damals gemacht haben, kam mir im Nachhinein kriminell gefährlich vor. Wir haben riesiges Glück gehabt, dass nichts passiert ist.“ erklärte ich. „Früher haben die frommen Leute ge­sagt: „Kinder haben einen guten Schutzengel.“ wusste Hélène. „So wird es bei uns auch gewesen sein.“ vermutete ich. „Wundervoll, diese großen alten Bäu­me. Ich würde hier gern mal spazieren gehen. Gehst du häufig spazieren?“ fragte Hélène. „Leider nein. Als Kinder waren wir immer in der Natur unter­wegs, und heute komme ich gar nicht auf den Gedanken.“ erklärte ich. Am Baggersee empfing uns eine völlig andere Vegetation, am Strand nur Sand und dahinter Kiefern. Hélène hatte einen speziellen Dachgepäckträger für ihr Surf­brett. Ein riesiges Gerät wie mir schien. Vielleicht benötigte man so etwas für die gewaltigen Wellen im Golf von Biskaya, nur mit ihrem Auto würde ich die Fahrt dahin lieber nicht wagen. Es war ein heißer Sommertag. Viele Menschen badeten. Wir hatten uns einen Platz ein wenig abseits gesucht, aber Badesa­chen brauchten wir auch, besonders ich, der damit rechnen musste, öfter ins Wasser zu fallen. Ich war verrückt. Irgendetwas aufgefallen war mir an Hélè­nes Gang schon. Noch nie hatte ich Frauen wegen ihrer Brüste oder ihres Hin­terns aufregend gefunden. Vielleicht registrierte es mein Unbewusstes ja doch wie bei anderen Männern auch automatisch, und mir wäre es nur peinlich ge­wesen, mir so etwas bewusst werden zu lassen. Aber Hélènes Po fesselte mei­nen Blick. Ich wollte es gar nicht wahrhaben, aber ich musste ständig hin­schauen, als sie an ihr Surfbrett gelehnt auf den See starrte. Offensichtlich war ihr Becken besonders weit nach hinten gebogen und die ausladenden Pobacken zierten ihre Rückansicht. Genau beschreiben kann ich es gar nicht, weil ich nicht weiß, wie es normaler weise sein müsste, aber Hélènes Po war göttlich. Es war mir peinlich, dass ich so etwas empfand, aber es ließ mich nicht los. Es dauerte lange und wir lachten viel, bis ich es endlich geschafft hatte, auf das Surfbrett zu klettern und darauf stehen zu bleiben. Hélène gab dem Brett einen Schubs auf den See, und ich landete natürlich sofort wieder im Wasser. Dass es mir gelingen könnte, stehend auf den Kämmen der Wellen zu reiten, schien mir etwas Menschenunmögliches. Bei Hélène konnte ich es mir aller­dings sehr gut vorstellen. Ihre Körperhaltung schien mir dafür prädestiniert. Vielleicht hatte sie sich ja auch durch das Surfen so entwickelt. Sie hatte keine dicken Beine, aber kräftige Muskeln an Ober- und Unterschenkel. Hélènes Kör­per irritierte und faszinierte mich. Auch als wir nach Haus fuhren, musste ich immer an ihren Po denken. Es war mir völlig unerklärlich. Ich wühlte in mei­nem Gedächtnis und wollte erkunden, ob mir früher schon mal so etwas pas­siert war, aber mir viel nichts ein. Na ja, es gab ja alles Mögliche im Hinblick auf erotische Erregung, aber ich hielt es für einen intellektuellen Menschen als unwürdig, auf die sekundären Geschlechtsmerkmale einer Frau zu reagieren. Tat ich das denn? Nein, ich liebte Hélène doch, und da war mir ihre Rückan­sicht eben besonders aufgefallen. Es war etwas, das mir an ihr gefiel, von dem ich aber gar nicht genau wusste, warum. Vielleicht sollte ich mal etwas nachle­sen über die erotische Wirkung des weiblichen Hinterns, da gäbe es doch be­stimmt Untersuchungen. Aber das Allgemeine war mir ja gleichgültig, mich in­teressierte nur Hélène. Ich wollte es vergessen, aber wenn ich an Hélène dach­te, war da jetzt auch immer das Bild vom Baggersee, mit ihrem Bikinihöschen und den wundervollen Pobacken. Als wir uns das nächste mal trafen, fragte Hélène: „Warum grinst du immer?“ Jetzt wurde mir erst bewusst, dass ich wohl immer ein Schmunzeln auf den Lippen trug. „Reitest du gern?“ fragte ich unvermittelt. „Nein, wieso? Überhaupt nicht. Wie kommst du darauf?“ wollte Hélène wissen. „Mädchen haben doch häufig eine besondere Liebe zu Pferden, und es könnte doch auch sein, dass dein Biologiestudium darauf basierte.“ argumentierte ich. Hélène blickte mich an und grinste skeptisch. Sie glaubte mir nicht. „Sag, was es wirklich ist.“ forderte sie mich auf. Dein Gang ist ein bisschen ungewöhnlich. Auf mich wirkt er so, als ob du ein Cowgirl wärst, das jahrelang im Sattel gesessen hätte.“ erklärte ich. „Und neben John Wayne für Gerechtigkeit in dieser Welt gesorgt hätte.“ komplettierte Hélène, „Aber warum fällt dir das erst jetzt auf?“ Was sollte ich denn darauf sagen? Lügen? Irgendwelche Ausreden erfinden? „Hélène, du quälst mich. Es ist mir unendlich peinlich. Ich habe mich noch nie von den Möpsen einer Frau oder ihrem Hintern beeindrucken lassen, aber als wir am Baggersee waren, musste ich immer deinen Hintern anstarren. Und das Bild gehört jetzt zu dir, immer wenn ich dich sehe.“ erklärte ich. „Und das macht dich traurig?“ wollte Hélène wissen. „Nein, aber es ist doch eine total sexistische Ansicht. Stört dich das denn nicht?“ fragte ich. „Es hat doch nicht irgendjemand gerufen, „Schau mal, was die Alte für einen geilen Arsch hat.“ Was soll ich denn dagegen haben, wenn du meinen Hintern schön findest?“ argumentierte Hélène. „Na, das hat doch mit Liebe und Zuneigung nichts zu tun.“ erklärte ich. „Ist es nicht immer die körperliche Faszination, wenn ein Mann eine Frau begehrt?“ vermutete Hélène. „Aber meine Liebe, leider ist es heute nicht selten so, aber für mich müsste das Begehren sich eindeutig aus der Liebe entwickeln.“ „Auch das körperliche? Das liegt doch am Geschlechtstrieb.“ fragte Hélène grinsend. „Aber natürlich, in der Liebe trennst du das doch nicht. Du liebst einen Mann mit deinem Herzen und deinem Körper.“ erklärte ich.


Neue Initiativen

Auch wenn die Atmosphäre sich völlig verändert hatte, wir glichen ehr einem Ehepaar, das sich bis ins Letzte versteht. Wir konnten alles tun, denken, ver­muten und behaupten, beurteilt wurde nichts. Wir versuchten nur uns immer besser und tiefer zu verstehen. Trotzdem entwickelte sich vieles. Hélène wollte eine andere Frau leben, nicht mehr eine, die in das phallokratisch dominierte Bild der Allgemeinheit passt. Sie telefonierte oft mit Mutter. Hélène hatte be­gonnen, eine Art Tagebuch zu schreiben, aber eher in offener, essayhafter Form. Sie schreibe sich selbst, nannte sie es. Mutter hatte Hélène geraten, „Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butler“ zu lesen. Ich hatte es zum Teil schon gelesen, jetzt lasen wir es gemeinsam nochmal. Etwas Wunder­volleres konnte es zur Förderung der Liebe und des Intellekts nicht geben. Wir trafen uns, sooft es nur ging. Absolut spannend waren wir füreinander gewor­den. Die äußerlichen Zeichen einer Liebe hielten sich aber weiter in Grenzen. Zur Begrüßung und zum Abschied gab es Küsschen, aber sonst hatte sich nichts verändert. Warum das so sein musste, war mir auch nicht mehr klar. Wir unterhielten uns viel übers Studium, aber alles konnte Thema sein. Hélène erklärte, dass sie unbedingt noch für ein Semester raus müsse. „Wegen Biolo­gie wollte ich wenigstens ein Semester in die USA, aber jetzt kann ich auch hier irgendwo bleiben.“ erklärte sie. „Hélène, du kannst doch nicht einfach für ein Semester verschwinden. Ich werde vor Einsamkeit sterben ohne dich.“ bewertete ich es. „Ich werde mein Leben lang eine dumme Nudel bleiben, wenn ich nichts anderes kenne als die Uni hier. Wir können uns ja Mails schreiben und telefonieren, und so lange wird es doch nicht dauern.“ erklärte Hélène. „Und wenn du in Heidelberg einen Studenten oder anderen Mann kennenlernst, der dir noch viel besser gefällt als ich?“ wollte ich erfahren. „Mischu, du machst mich böse. Redest einfach so einen Unsinn daher. Mein Leben, das ist mein Leben mit dir. Kannst du bei mir eine Tendenz erkennen, dass ich mein Leben zerstören wollte?“ reagierte Hélène leicht ärgerlich. „Dummes Allerweltsgewäsch, Entschuldigung. Ich gehöre zu deinem Leben?“ wollte ich etwas Genaueres erfahren. „Michael, ich war sicher nicht dumm und ungebildet, aber seitdem wir uns kennen, haben sich für mich neue Welten aufgetan, die zuvor im Dunkel des Unzugänglichen lagen. Was ich erfahren und gelernt habe hat mich verändert, hat aus mir eine andere Frau gemacht. Eine Frau, die sich mag, die anders lebt, die ihre Perspektive sieht. Es kommt mir vor, dass ich erst richtig erwachsen geworden bin, seit wir uns kennen.“ erläuterte Hélène. All mein Betteln half nicht, Hélènes Entschluss, die Welt in Heidelberg kennen zu lernen, stand unverrückbar fest. Mitzugehen, das kam mir albern vor, außerdem hätte ich nicht gewusst, was mich persönlich nach Heidelberg locken sollte. Folglich war ich im Wintersemester einsam und Hélène in Heidelberg.


Auswärts in Heidelberg

Hélène schien es in Heidelberg zu gefallen. Auf Anraten Julias, die auch in Hei­delberg gewesen war, aber mittlerweile in Boston studierte, hatte sie sich für Heidelberg entschieden. Sie schrieb mir von Frauenforschungsprojekten an der Uni und nannte ein Buch, dass wir unbedingt lesen müssten. Alles schien toll in Heidelberg, sogar das Wetter im Herbst. Hinterher käme es noch dazu, dass sie in Heidelberg bleiben wolle. Ich wusste gar nicht was ich immer schreiben sollte. Meine Mutter und Sam luden mich schon mal zum Essen ein. Das waren meine freudigsten Erlebnisse. Mutter erzählte, dass es in vieler Hinsicht tat­sächlich ein neues Leben sei. Sie lebe jetzt vieles völlig selbstverständlich, was das frühere Verständnis von sich als Frau ihr unmöglich gemacht hätte. Dass sie wieder mit einem Mann ins Bett gehen könne, hätte sie für unvorstellbar gehalten, aber mit Sammy sei alles anders gewesen. Sie seien wie neugierige Kinder gewesen, die gegenseitig alles an sich erforschen wollten. „Ja, neugierig wie die Kinder sind wir immer auf uns. Auf Körper und Seele, auf alles.“ er­gänzte Sam. „So kam ich mir auch hinterher vor, wie ein Mädchen, das zum ersten mal mit einem Mann geschlafen hat.“ bekräftigte Mutter. „Victoria hat durch die Liebe eine Chance bekommen, ihr wirkliches Leben noch einmal neu zu beginnen.“ interpretierte ich es. „Ja, weil ich eine andere Frau geworden bin, eine Frau, die nicht mehr unwissend in den Tag lebt, eine Frau, die sich selbst in allem voll einbringen will.“ erklärte Mutter. Aber ich konnte Hélène ja nicht nur von meinen Gesprächen mit Mutter und Sam berichten. Ansonsten kamen mir die Tage ohne Hélène schon ziemlich öde vor. Ich brauchte es, sie sprechen zu erleben, ich brauchte ihre Stimme und ihre Gedanken und Fragen, ich brauchte ihre Lustigkeit, ich brauchte ihre Augen. Hélène war in mir, und da fehlte sie jetzt. Natürlich schrieb ich ihr, wie sehr sie mir fehlte, aber ich wollte ihr ja nicht durch das Lesen meiner Mails jedes mal die Stimmung verderben, indem ich über meine Qualen jammerte. Eines Tages kam von ihr ein Brief:


„Lieber, allerliebster Mischu,
es fällt mir schwer, aber ich muss es tun, auch wenn es dich schmerzt. Das permanente Lügen kann ich nicht mehr ertragen, und außerdem sollst du auch wissen, wie es mir wirklich geht, wenn nicht du, wer sonst. Nichts ist schön an Heidelberg. Für mich ist alles nur widerlich, zum Kotzen und es nervt mich. An der Uni mag es ja noch ganz gute Forschungen geben, mit denen ich aber nichts zu tun habe. Die Stadt selbst wirkt auf mich wie ein Konglomerat aus der Anhäufung des Bedürfnisses nach bourgeoisen Sentimentalitäten. Aber das ist ja noch nicht einmal das Schlimmste. Ich bin allein. Von dem, was ich bis­lang gemacht habe, habe ich nichts aufgegeben, aber trotzdem kommt es mir manchmal alles so sinnlos vor ohne dich. Eine Freundin zu finden, die ähnlich denkt wie ich, habe ich schon aufgegeben. Mein Innerstes ist auf dich angewie­sen, mein Leben braucht deins, um sinnvoll zu sein. Deine Mutter ist mir eine große Hilfe. So etwas hätte meine Mutter mir gar nicht erklären können. Deine Mutter hat mir aufgezeigt, warum der Sinn meines Lebens letztlich ich selbst sei, und warum und wie ich mich selbst als Frau lieben müsse. Keine Sorge, ich werde es überleben. Am meisten freue ich mich auf Weihnachten, wenn wir uns sehen werden.
In Liebe und Verlangen, deine allerliebst Hélène“


Bis Weihnachten das würde ich ja noch aushalten können. Ich hatte im ersten Moment gedacht, sofort nach Heidelberg zu fahren und Hélène zu besuchen und zu trösten. Ich schrieb ihr, dass ich mich in gleicher weise nach ihr sehne. „Ich habe mir mal Gedanken über meinen nächsten Urlaub gemacht und wollte mal hören, was du dazu meinst. Biarritz, den alten Charme der Belle Epoque, würde ich auch gern mal erleben, und der Atlantik ist in der Biscaya natürlich imposant.“ schrieb ich. „Ha,ha, du Schelm. Du kannst doch gar nicht surfen. Du willst nur meinen Hintern anstarren. Aber nein, das wäre natürlich ein wun­dervolles Geschenk, und wenn du nicht völlig unbeweglich bist, kannst du es ja lernen.“ bekam ich als Antwort.


Weihnachtsferien

Ihre Mutter war auch am Bahnhof, um sie abzuholen, aber Hélène wollte zu­nächst zu mir. Wir hätten uns so vieles zu erzählen, erklärte sie. Das stimmte ja auch, aber zunächst mussten wir bei mir die Begrüßungsumarmung noch einmal ausführlich wiederholen. „Ich habe überlegt, was mir von dir am meis­ten fehlte, deine Stimme, deine Augen, deine Worte und Gedanken, aber ich konnte es nicht herausfinden. Es war alles von dir. Ich habe dich wahrschein­lich mit allem völlig in mich aufgenommen. Ist das nicht gefährlich, und jetzt kann ich wie ein kleines Kind ohne dich gar nicht mehr leben.“ erklärte Hélène. „Ja, es ist verrückt, als wenn du immer und ständig bei mir gewesen wärest. Überall fehltest du mir jetzt, auch da wo du sonst gar nicht dabei warst.“ be­stätigte ich es von mir. Bei der Begrüßung hatten wir uns immer wieder neu umschlungen, gedrückt und zärtlich unsere Gesichter gestreichelt, unser kost­barstes Gut hatten wir zurück erhallten, das wir jetzt nie wieder hergeben wür­den. So lagen wir auch auf dem Bett, küssten uns, befühlten unsere Gesichter, drückten und streichelten uns. Das war früher nie vorgekommen, jetzt schien es uns wie unabdingbar und selbstverständlich. Wenn ich Hélène über den Po streichelte, bekam ich immer ein freundliches Schmunzeln. „Weißt du, Mischu, vergiss doch diese Selbstvorwürfe von Sexismus mit meinem Po, das ist doch albern. Wenn dir mein Ohr gefällt, findest du es schön und begehrenswert, mit meinem Hals ist es nicht anders. Bei allem von mir wird es so sein.“ erklärte Hélène. „Nein, umgekehrt ist es. Ich liebe dich, und deshalb bist du für mich wunderschön und begehrenswert. Ich liebe alles an dir und finde es begeh­renswert, weil du es bist, meine Liebste.“ erwiderte ich. „Also, mein Po ist kein auf einen Mann sexistisch animierend wirkendes Symbol, sondern ich bin es, die schöne Rückansicht deiner schönen Geliebten.“ sagte Hélène, der offen­sichtlich meine Bewunderung für ihren Po Spaß machte, und lachte. Die Tren­nung und das Wiedersehen nach der Trennung hatte uns um vieles näher zu­sammen gebracht. Dass wir uns als Liebste und Liebsten bezeichneten war schon in den Mails selbstverständlich, wir wollten und konnten nicht ohne die oder den anderen sein, aber direkt wurde über den Stand der Entwicklung un­serer Liebe nicht gesprochen. Wir wollten ja noch ein wenig warten, bis wir es wirklich wussten, aber wie sollte man sich denn sicherer sein. Mir gefiel es so auch wunderbar. Zu erfahren, das Hélène mich aus tiefstem Herzen liebte und meine Liebe sie glücklich machte, was wollte ich denn mehr? Mit Hélène ins Bett gehen und Sex mit ihr haben? Danach spürte ich gar kein direktes Verlan­gen. Es kam mir eher wie etwa Triviales vor, bei dem ich Angst hatte, es könne das Bild der schönen, edlen, von mir geliebten Hélène beschädigen. Ich hatte bei Hélène nochmal erlebt, welches Wunder der Mensch sein kann. Es kam mir vor, als ob ich ihre Menschlichkeit direkt erlebt hätte, so wie sie sich selbst gar nicht sehen konnte. Bei meiner Mutter war mir mal Ähnliches wie in einer Art Trance erschienen, als ob mir das Gute in ihr, die lebendige Mutterliebe, der Engel in ihr sichtbar geworden wäre. Hélène und ich waren jetzt ständig zu­sammen. Das gemeinsame Lesen hatten wir fantastisch gefunden. Jetzt lasten wir etwas über Widerspenstigkeit aus einem Buch, das Hélène mitgebracht hatte. Am Heiligabend musste Hélène selbstverständlich nach Hause. Wir über­legten, ob ich mitkommen solle, aber Hélène war davon auch nicht begeistert. Mir gefiel es auch besser, Weihnachten mit Mutter und Sam, der sich mittler­weile von seiner Frau getrennt hatte, zu verbringen. Mutter hatte Hélène und mich zu einem Essen eingeladen. Sie war von Hélène wahrscheinlich bestens über unsere Situation informiert. Wenn das Gespräch auf meine 'gute Bekann­te' kam, schmunzelte sie nur. Einmal hatte sie gemeint: „Komische Leute seid ihr. Willst du jetzt vor der Liebe davon laufen?“ „Du hast Recht. Ein Feigling bin ich, nicht wahr?“ hatte ich reagiert. Beim Weihnachtsessen stellte Mutter zu­nächst mal klar, das sie für alle nur Victoria sei und Frau Gerstmann nicht mehr hören wolle. Hélène machte ihr zunächst eine Art Liebeserklärung. „Mi­chael hat erklärt, das du für ihn der wichtigste Mensch auf der Welt bist. Das kann ich gut nachvollziehen. Für mich ist es fast nicht anders, nur im Moment empfinde ich es so, dass Michael noch vor dir kommt.“ erklärte Hélène. „Danke schön, so richtig weiß ich nicht, wodurch ich das verdient habe, aber der wich­tigste Mensch solltest du dir immer nur selbst sein. Es ist dein Leben, es gehört nur dir. Erkenne es und koste es aus.“ reagierte Mutter. „Ich habe schon ver­standen, das hast du mir ja auch erklärt, aber allein ist der Mensch doch nichts. Die Mutterliebe öffnet ihm das Tor zur Welt. Die Mutterliebe zeigt ihm was Liebe ist und macht ihn für sein Leben lang süchtig danach. Ich glaube, dass die Liebe mehr ist als die Liebe zu einem Menschen. Sie wird zu einem Wesensmerkmal von dir, mit dem du der Welt begegnest.“ erklärte Hélène. „Ich glaube schon, dass es wesentlich ist, wie junge Menschen Liebe erfahren, aber ich denke, das das Bedürfnis nach Liebe in jedem Menschen genetisch verankert ist. Unabhängig von allen Kulturen suchen alle Menschen überall auf der Welt nach Liebe. Wahrscheinlich konnte sich unser aller Urmutter nur deshalb evolutionär durchsetzen, weil sie über ein Liebesgen verfügte.“ meinte Mutter dazu. „Hat man das Gen denn schon gefunden und weiß man, ob es bei Männern und Frauen in gleicher weise vorkommt?“ wollte Hélène wissen. Mutter lachte. „Da ist wahrscheinlich die Sozialisation entscheidend. Die Frau kann sich mit allem, was sie ist, völlig in die Liebe versenken, ihr Leben ist die Liebe, während den Männern ihre Sozialisation sagt, dass man sich besser nicht mit voller Leidenschaft hingibt, dass es cool ist, immer Distanz wahren zu können.“ interpretierte sie. „Ja, ist das bei dir so, Mischu?“ fragte Hélène. Ich glaube, dass ich rot geworden bin. Fühlte mich durchschaut, der Vorschlag zu warten, kam ja von mir. „Es mag ja sein, dass du Recht hast, Victoria, in der Regel wird es sich gewiss so oder ähnlich verhalten. Aber fehlende Leidenschaft? Ich wäre doch fast gestorben als Hélène nicht da war.“ antwortete ich. Warum wir uns nicht einfach direkt sagen konnten, wie stark unsere Liebe füreinander war, wurde mir immer unerklärlicher. Hélènes Eltern hatten ein gemeinsames Skiwochenende vorgeschlagen, aber Hélène war nichts wichtiger als möglichst jeden freien Moment mit mir zu verbringen. Sie wollten auch mit Hélène essen gehen, aber Hélène hatte sich ausbedungen, dass ich auch eingeladen werden müsste. Langweilig war es. Ich wurde als der potentielle, zukünftige Schwiegersohn getestet. Kulturwissenschaften das hielten sie ja auch bei Hélène schon für eine brotlose Kunst, aber dass ich Politik studierte, fanden sie gut. Ich hatte keine Lust, mich näher darauf einzulassen. Mir war direkt klar, dass sie kein gesteigertes Interesse haben würden, mich wirklich verstehen zu wollen. Sie hätten ein festgefügtes Weltbild und das läge im Common Sense der Allgemeinheit, das war mir nach den ersten Sätzen deutlich geworden. Aber auch die Sprache von Hélènes Mutter machte in ihrer gesamten Ausprägung deutlich, dass da nicht die Frau mit ihrem eigenen Leben, mit ihrem eigenen Körper sprach, sondern dass es das Zerrbild war, das sie selbst von sich hatte. Hélène war in wohlbehüteten Verhältnissen aufgewachsen, aber woher sie ihre Liebesfähigkeit, ihre Anmut, ihre Würde hatte, konnte ich mir kaum vorstellen. Wahrscheinlich suchen Kinder sich automatisch andere Quellen, wenn die Mutter dazu nicht ausreicht. Sie haben von Anfang an ein Verlangen danach, in Liebe und Harmonie aufzuwachsen und suchen sie. Das Gute, das jeder Mensch in sich trägt, kann durch so vieles beschädigt und unkenntlich gemacht werden, aber bei einer Frau verschwindet es nie. In ihrem Unbewussten bleibt es immer präsent, auch wenn sie es zur Zeit auf Grund ihres Welt- und Selbstbildnisses nicht leben kann. Die kurzen Weihnachtsferien hatten Hélènes Psyche wieder repariert, und uns beide stark gemacht, dass wir den Rest des Wintersemesters überstehen würden.


Die wilde Frau

Was mit mir selbst war, wusste ich gar nicht genau. Natürlich war ich tiefstens verliebt, natürlich war jeder Moment mit Hélène wonnevoll, aber mit Hélène zusammenzuleben? Wollte ich das wirklich? Wir redeten viel darüber, als Hélè­ne zurückkam. Letztendlich kamen wir zu dem Schluss, dass es nichts Wunder­volleres gebe, als wenn wir zusammen sein könnten, dass wir aber doch die Freiheit behalten wollten, für uns selbst unser eigenes Leben zu führen. Hélène war jetzt ständig bei mir. Uns schienen die Bedingungen bei mir günstiger. Hélène schlief auch bei mir auf der Schlafcouch. Dass wir zusammen ins Bett gehen könnten, auf den Gedanken kamen wir gar nicht. Es hätte ja auch sein können, dass Hélène ein Verlangen danach verspürt hätte, aber sie machte nie irgendwelche Andeutungen in diese Richtung. Wir schmusten, küssten und streichelten uns nur ständig. An einem heißen Tag im Mai lagen wir beide schmusend auf meinem Bett. Wir hatten beide nur ein Hemd und einen Slip an. „Mischou, denkst du nicht auch, dass das was wir tun, dahin führen könnte, dass wir tun, was wir erst machen wollten, wenn wir wissen, ob wir uns wirk­lich lieben?“ stoppte Hélène mein Streicheln. „Und, was sollen wir machen? Möchtest du dir gern etwas Wärmeres anziehen?“ fragte ich. Hélène lachte nur und ich grinste auch. „Mischu, ich liebe dich doch. Ich möchte alles mit dir ma­chen. Am liebsten würde ich dich auffressen. Nicht nur mein Herz, alles in mir verlangt nach dir.“ erklärte Hélène. „Vielleicht ist es ja auch so, dass die Liebe, so voll wie sie nur sein kann, längst da ist. Wir wissen es nur noch nicht. Wir spüren sie in unserem Unbewussten, nur unser Bewusstsein ist noch nicht auf­geklärt.“ vermutete ich. Hélène lachte. „Ich glaube, in meinem Unbewussten ist noch viel mehr. Ich möchte leben, mich voll ausleben in unserer Liebe.“ sagte sie. Hélène begann zu raufen, zog mir das Hemd aus und sich ihr eige­nes aus. „Ich bin wild. Eine wilde Frau, kennst du die?“ fragte sie, „Alles in mir lebt und will sich ausleben. Ich bin jetzt schon ganz high.“ Früher war Hélène mir immer lebenslustig, quirlig erschienen, das hatte sich aber im Laufe unse­res Zusammenseins und durch die Zeit in Heidelberg verändert. Sie war zwar immer noch gern lustig, aber in ihre Grundhaltung hatte sich etwas verändert. Sie strahlte Beschaulichkeit und Nachdenklichkeit aus. Das junge Mädchen Hélène hatte sich in eine weise Frau verwandelt. Davon war allerdings jetzt nichts mehr zu spüren. Wahrscheinlich war für sie jetzt die Phase ausgebro­chen, in der sie ihre verdrängte Kindheit neu ausleben wollte. „Mischu, ich wer­de verrückt, ich bin nicht mehr ganz hier. Alles von mir will dich, meine ganze Liebe mit meinem Körper. Ich will alles von dir, ich will dich ganz.“ erklärte Hélène noch, bevor es zur wilden Liebe kam. Die völlig verschwitze Hélène griff nach meiner Hand, als ob sie nach einer Bestätigung dafür suche, dass wir wieder in dieser Welt mit ihren üblichen Alltagsgedanken angekommen seien. „War das die wundervollste Reise unseres Lebens?“ fragte ich. „Sprich nicht. Ich liebe es wenn du sprichst, aber jetzt musst du schweigen, Mischu.“ Hélène darauf. Hélène glänzte wonneversunken und ließ sich von mir die Schweißper­len vom Gesicht küssen. Mir kam es mit Hélène so vor, als ob Frauen tatsäch­lich in der Lage seien, intensiver zu erleben und tiefer zu genießen. Hélène war einfach glücklich und strahle es aus. Wir deckten uns mit einer leichten Decke zu. Wahrscheinlich würden wir später wieder aufstehen. Es war ja noch früher Abend. Das Schmusen und Streicheln war zu etwas völlig anderem geworden, nicht nur weil wir jetzt nackt waren. Wir hatten uns gegenseitig aufs Tiefste er­lebt, waren gemeinsam auf einem anderen Stern gewesen, einen anderen Menschen als Hélène gab es für mich jetzt auf dieser Welt nicht mehr. Wir wa­ren eingeschlafen, wachten aber schon nach kurzer Zeit wieder auf. „Meinst du, wir wissen es jetzt wirklich, dass es die Liebe ist, die uns verbindet?“ fragte Hélène mit schelmischem Grinsen. „Ich könnte mir vorstellen, dass es so ist.“ antwortete ich lächelnd, „Weist du, ich hatte immer befürchtet, dass Sex unse­re Beziehung beschädigen könne. Was man sich nur alles für einen Unsinn aus­denken kann, nicht wahr.“ „Mischu, wir werden jetzt überhaupt nicht mehr nach den Beschlüssen unseres Bewusstseins leben, sondern uns nur noch dar­an orientieren, was uns unser Unbewusstes empfiehlt. Da soll bei mir als Frau noch unendlich vieles schlummern, sagt Victoria. Die Liebe gebe ihr die Kraft, zu entdecken, wer sie wirklich sei. Unsere Liebe, das war, glaube ich, schon der Anfang dazu. Die brave Studentin Hélène macht so etwas nicht.“ erklärte Hélène. „Du meinst, wir sollten exaltierter leben?“ vermutete ich. „Nein, damit hat das überhaupt nichts zu tun. Fast alles in dieser Welt ist an phallokrati­schen Vorstellungen und Strukturen ausgerichtet und orientiert, die auch dein Leben als Mann einengen. Ich möchte wo es geht als freie Frau, unabhängig von diesen Sichtweisen leben. Victoria sagt, dass ihr die Liebe die Kraft dazu gäbe. Ich brauche deine Liebe, um mich selbst als Frau, die ich wirklich bin, le­ben zu können.“ stellte Hélène es dar. Wir standen nicht mehr auf, um etwas zu essen oder Dergleichen. Wir redeten und schmusten weiter im Bett. Ein völ­lig neues Lebensgefühl war es.


Neue Zeit

An Hélènes Po hatte ich bei aller Liebe nicht ein einziges mal gedacht. Jetzt schlief Hélène natürlich nicht mehr auf der Couch. Sonst gestaltete sich die Ze­remonie des Zubettgehens immer, als ob wir uns für eine lange Reise verab­schieden würden. Wir wollten uns einander als Begleiter für die Traumreisen empfehlen. Jetzt gingen wir einfach gemeinsam ins Bett. Hélène blieb da lie­gen, blieb immer dort, die ganze Nacht. Eine neue, wundervolle Zeit war für mich angebrochen. Damals mit Vera war ich ja auch schon mal eine Nacht über zusammen gewesen, aber von alldem wollte ich jetzt nichts mehr wissen, hätte es am liebsten aus meinem Gedächtnis gelöscht. Jetzt hatte auch für mich ein neues Leben begonnen. Gemeinsam mit Hélène im Bett liegen, ihre Wärme spüren, mit ihr reden, sich streicheln und sich lieben und nebeneinander auf­wachen, das war leben in einer Welt, in der alle Glückshörner voll ausgeschüt­tet sein mussten. „Manchmal kommt es mir vor, als ob wir uns völlig mit Kör­per und Geist zu einer Person vereinigen würden.“ meinte Hélène. „Du meinst, wie die zwei Hälften, von denen Platon im Gastmal den Aristophanes erzählen lässt, die sich gefunden haben und Dank Eros jetzt wiedervereint sind?“ schlug ich vor, „Bist du nicht auch eher der Ansicht, dass wir beide auch bei all unse­rer Liebe zwei einzelne Menschen geblieben sind, die jeweils für sich die oder der andere sind. Ich denke, durch unsere Liebe ist eine weitere Person ent­standen, die wir beide ist. Sie ist nicht von dieser Welt, wir können mit ihr nicht streiten, nicht böse mit ihr sein, sie ist etwas Transzendentales, das aber trotzdem existiert, und die in allem aus uns beiden besteht.“ „Ja, und wenn unsere Liebe jemals zerbrechen sollte, dann stirbt diese Person, die wir beide sind, nicht wahr?“ vermutete Hélène. „Wollen wir nicht dafür sorgen, dass sie immer am leben bleibt?“ fragte ich nach. „Das wäre das Prächtigste und Beste, was wir machen könnten, aber genau das tun wir doch auch.“ antwortete Hélène.


Begegnung mit dem Du

Jetzt, da wir uns unserer Liebe sicher waren, würde auch der geplante Urlaub in Biarritz billiger. Wir brauchten nicht mehr zwei getrennte Einzelzimmer. Die Fahrt dorthin kam allerdings einer Reise ans Ende der Welt gleich. Wir mieden Autobahn, trotzdem meinte ich, dass junge Frauen wohl auch einen besonde­ren Schutzengel haben müssten. Jeder Händler hätte Hélène für ihr Auto wahr­scheinlich den Schrottplatz empfohlen, aber Hélène schien über besondere Nerven zu verfügen, die mit den Innereien ihres Vehikels in Verbindung stan­den. Jedoch die Fahrt gestaltete sich gleichzeitig auch als wundervoll gemüt­lich. Die direkte Begegnung mit den Landschaften und die vielen Pausen an den kleinen Bar-Tabacs. Mit meinen Eltern war ich ja auch schon öfter am Mit­telmeer gewesen. Es war nicht schlecht, aber für umwerfend hatte ich es nie gehalten. Die alten Häuser von Biarritz hätte ich sonst vielleicht auch als ganz nett angesehen, aber jetzt kam mir alles fantastisch vor. Das alte Hotel, die Stadt und der wilde Atlantic mit seinen prächtigen Wellen. Ich sah alles mit an­deren Augen. Hélène veränderte meine Wahrnehmung. Mit Hélène war alles prächtig. Ich glaube, ich liebte nicht nur Hélène, sondern ich begann mit ihr die Welt zu lieben, mit und durch Hélène. Sie meinte, dass sie mir zwar auch eini­ges zeigen könne, aber dass es günstiger für mich sei, an einem Surfkurs teil­zunehmen. Ich bezweifelte, dass ich es jemals lernen würde. Hélène drängte selbst darauf und ich wollte sie natürlich auch gern sehen. Sie musste weit aufs Meer hinaus paddeln, bis sie in den Bereich der höheren Wellen kam. Wundervoll, Hélène war eine Göttin, wie sie sie sich bog und wieder auf den Wellenkamm schwang. Sie war die einzige Frau, sonst sah man nur Männer. Ich lobte und bewunderte ihre Kunst, als sie zurückkam. „Das Surfen selbst ist fantastisch, aber das Klima unter den Surfern ist nicht meine Welt. Es gibt auch vereinzelt Frauen, aber größtenteils ist es von Männern dominiert, die sich alle großartig und schön vorkommen.“ erklärte Hélène. „Es gibt dir ein Ge­fühl, als ob du fliegen würdest. Du kommst dir völlig frei vor, obwohl du ja to­tal abhängig bist von der Welle, aber das Wundervollste beim Surfen ist, dass du dich voll einbringen musst, mit deinem ganzen Körper und unter absoluter Anspannung. So ähnlich erlebt es vielleicht auch eine Ballerina.“ meinte Hélè­ne. „Ich erlebe dich meistens so, nicht nur beim Surfen. Zum Beispiel, wenn du sprichst, dann spricht nicht nur dein Sprachzentrum und deine Sprechwerkzeu­ge, dann spricht die gesamte Hélène, mit ihrem ganzen Körper und ihren Emp­findungen. Dann erlebe ich dich, Hélène, und nicht nur klingende Wörter.“ wusste ich dazu. „Du siehst und du erlebst viel mehr von mir als die die Bedeu­tung des Inhalts meiner Wörter. Das ist wunderschön, und ich sehe es auch so, aber du musst gut zuhören, beziehungsweise beobachten.“ ergänzte Hélène. Das taten wir immer. Dass der Mensch sich erst in der Begegnung mit dem Du verwirkliche, hatte Martin Buber gesagt, und so sahen wir es auch. Das konnte schon mal dazu führen, dass die Begegnung mit dem Du uns wichtiger erschi­en als mein aktueller Surftermin. Trotzdem lernte ich es wider Erwarten auf dem Brett zu stehen und kleine Wellen zu überwinden, während Hélène gleich­zeitig in der Ferne auf den Kämmen segelte. Zwei Frauen habe ich auch gese­hen. Sie trugen enge Lycra Badeanzüge, das war wohl in, während Hélène mit ihrem Bikinihöschen und dem T-Shirt bestimmt als Gammellook galt. Genau konnte ich es sicher nicht bewerten, aber mir kam Hélènes Wellenakrobatik kein bisschen schlechter vor als die ihrer mitsurfenden Männerheroen. Dass Mutter Lust hatte, ihre verdrängte Kindheit nachzuleben, konnte ich gut ver­stehen. Wir fühlten uns auch oft wie die Kinder. Ob es an der Liebe lag, die ein solches Bedürfnis suggerierte, oder einfach daran, dass es nichts gab, was uns auf irgendeine Art einengte. Wir hatten keine Termine, brauchten nicht einzu­kaufen, nichts drängte uns. Das freie Glück in Biarritz. Trotzdem waren wir froh, als wir wieder nach Hause fahren konnten. Sollten wir jetzt zusammen le­ben? In Biarritz war es ja so gewesen, und nichts hatte uns gestört. Sam hatte sich auch gewünscht, mit Mutter zusammenzuleben, aber Mutter hatte es ab­gelehnt. Die größte Liebe sollte nicht zum Aufgeben der eigenen Person führen. Selbständigkeit sei für jeden Menschen ein hohes Gut, dass er nicht veräußern dürfe, hatte sie argumentiert. So wollten Hélène und ich es auch halten, und vertraten die Ansicht, dass es unserer Liebe dienlicher sei, wenn wir beide die Möglichkeit hätten, unser eigenes Leben zu leben. Nur in der Praxis zeigte sich davon nicht viel. Hélène lebte ihr eigenes Leben vornehmlich bei mir, aber ide­ell existierte ein großer Vorteil. Wir akzeptierten uns gegenseitig als die Andere oder den Anderen und Gedanken oder Bestrebungen sich gegenseitig okkupie­ren zu wollen kamen nicht auf. Wir waren uns gegenseitig die wichtigsten an­deren Menschen und versuchten möglichst intensiv, uns in der Begegnung mit dem Du, zum wirklichen Menschen zu entwickeln.

 

 

FIN

 

 

"Si la non-violence est la loi de l'humanité, l'avenir appartient aux femmes. Qui peut faire appel au coeur des hommes avec plus d'efficacité que la femme ? "

 

Mahatma Gandhi

 

Mutter kam aus dem Bad. Mit glänzendem Gesicht kam sie auf mich zu, umarmte und küsste mich. „Das ist er. Jetzt ist er da. Ist das nicht wundervoll?“ sagte sie und zeigte dabei auf Sam. „Mutter, du bist ein Kind.“ erklärte ich. „Das denke ich auch manchmal.“ bestätigte Sam, „nein, nicht ein Kind, wie eine junge Frau ist sie, offen, unbeschwert, lebhaft und lustig. Wundervoll, Victoria.“ „Das ist das normale Leben einer Frau, das sie nicht leben kann, weil sie die Ordnungshüter des Geschlechts daran hindern. Sie schreiben vor, wie eine Frau zu sein hat. Das Drängen nach ihrem wirklichen Leben steckt aber in jeder Frau, auch wenn man noch so massiv versucht hat, ihr die Erinnerung an die Kindheit auszutreiben. Die Frau will sich selbst leben und die Kraft der Liebe verleiht ihr die Macht dazu.“ interpretierte es Mutter. „Die Liebe befähigt dich, das zu leben, was immer in dir war, aber wegen der Ordnungen für die Frauen in deinem Unbewussten verborgen bleiben musste? Dazu gehört auch die Erinnerung an das vergessene Mädchen Victoria?“ fragte ich nach. „Ja, es gibt vieles, was bei einer Frau im Unbewussten verborgen bleiben muss, was eingefroren ist und nicht zum Vorschein kommen darf, und die Liebe ist etwas Extraordinäres. Sie nimmt dich auf den Arm und lässt dich Ungeglaubtes leben.“ bestätigte Mutter. „Hast du keine Angst davor, dass es sich nicht immer zu deinem Vorteil entwickeln könnte?“ fragte ich Sam. Der lachte und meinte: „Sie wird immer die bonne sauvage bleiben, da bin ich sicher, und die erlebe ich jetzt auch schon.“ Meine Mutter, die gute Wilde? Als natürlich und echt war sie mir schon immer erschienen, aber dass sie aus sich herausgehen und ihre Gefühle offen ausleben konnte, schien mir für die arrivierte, distinguierte, ältere Anwältin unglaublich, aber ich hatte ja ihre Kindereien durch die offene Schlafzimmertür mitbekommen.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.06.2015

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