Carmen Sevilla
Zwei Hexen
Nur eine schöne Nacht
Erzählung
"Wahre Kunst enthält immer etwas Hexenzauber."
Tania Blixen, Briefe aus Afrika
„Gloria, es gefiel mir, wie du sprachst, und ich fand dich wunderschön. Das habe ich dir ja schon öfter gesagt, dass du die Schönste von allen bist.“ antwortete Andy. „Und du bist der Liebste, aber mit der Liebe das ist, glaube ich, etwas ganz Komplexes. Es ist wie ein Universum. Die Beziehung der beiden Liebenden bildet das Magma des Sterns, und dann gibt es ganz viele Planeten, die ihn umkreisen, große, kleine, nahe, ferne. Wir beide kennen nichts voneinander. Da ist kein Stern, kein Universum. Wir sind uns zufällig begegnet wie zwei Sternschnuppen auf völlig verschiedenen Bahnen.“ erklärte ich. „Wir müssten uns besser kennenlernen, meinst du, und dann würden wir feststellen, dass aus uns nie ein Stern werden kann.“ vermutete Andy. „Andy, du bist ja schon mein Stern. Willst du morgen auch noch bleiben?“ schlug ich vor. „Nein, du musst morgen zuerst nach Hause und zur Uni, und am Abend zum Abendbrot kommst du wieder, sollen wir's so machen?“ Was machte ich da bloß? Ein bisschen durcheinander musste ich sein. Morgen würde ich mir etwas überlegen, wie wir uns zufriedenstellend für uns beide trennen könnten. Ich wollte nicht, dass Andy ein übles Bild von mir hatte. Coole Frau, was ist das denn überhaupt. Eine, die nüchtern rational denkt? Eine dominante, harte Frau, oder eine, die kühl, gefühllos und kaltherzig ist? Das war ich doch nicht, das wollte ich nicht sein. Ich wollte nur selbstbestimmt leben, schon von Kindheit an, wollte selbst mein eigenes Leben führen. Das war doch mein Leben, es gehörte mir, es gab nur eine Chefin, und die war ich. Mich an jemand anders binden, mich von ihm abhängig machen, auf ihn Rücksicht nehmen müssen, seinen Ansprüchen entsprechen, nie mehr allein sein? Und dann noch ein Mann? Niemals! Aber Andy sollte mich als die sensible, weiche, einfühlsame Frau, die er liebte, sehen. Ich wollte heute Nacht besonders nett zu ihm sein. Aber Andy lachte immer nur. Ich glaube, Andy lachte einfach, weil er sich freute, bei mir zu sein, und ich nett zu ihm war.
Zwei Hexen - Inhalt
Zwei Hexen 3
Gloria, Anniese, Dagny 3
Dagny, die Französin und L'amour 3
Andy, Geschlechtstrieb und Liebe 5
Immer die Gloria allein 8
Rattige Elster 10
Wolke 11
Andersartig 13
Angst 15
Langeweile und Träume 16
Depressionen 17
Andys neues Leben 19
Perspektiven und Pläne 20
Immer etwas Despotisches 22
Liebeslied 24
Schon wieder? 25
Essen mit Glück 25
Egoistin 28
French Lover 28
Zwei Hexen waren wir schon. Wir hatten keine Reisigbesen, rieben uns nicht mit Hexensalbe ein, die Fee Morgana brauchte bei unserem Anblick nicht zu erschrecken, wie Heinrich Heine befürchtete. Wir flogen auch nicht über den Blocksberg, dafür aber über alles andere sonst. Du hast eine glückliche Kindheit, wenn dir jeglicher Stress aus dem Wege geräumt wird, und man jeden Tag für dich die Sonne scheinen lässt, sagt man. Ob ich eine glückliche Kindheit hatte, weiß ich nicht, aber dass andere alles für mich aus dem Wege geräumt hätten, das würde mir sicher nicht gefallen haben. Solange ich mich erinnern kann, weiß ich nur, dass ich selbst leben wollte. Ich selbst, das war ich aber nicht allein, sondern dazu gehörte auch meine jüngere Schwester Anniese. Sie wurde geboren als ich vier Jahre alt war und stellte für mich vom ersten Tag an das Wunder dieser Welt dar. Sie sah es wohl umgekehrt bald nicht anders, denn ich, Gloria, bildete für sie den zentralen Anker- und Anlaufpunkt dieser Welt und nicht meine Eltern. Das ist die Grundposition unseres Verhältnisses zueinander geblieben. Ich liebe meine Eltern, zweifellos, aber Anniese befindet sich eben auf einer höheren emotionalen Wolke. In der Grundschule wurde ich auf ein Mädchen aufmerksam, das Dagny hieß. Meine Eltern hatten mir viel Grimms Märchen erzählt oder vorgelesen, aber Dagny kannte Geschichten von Pippi Langstrumpf und Nils Holgersson. Sie fuhr mit ihren Eltern immer im Urlaub nach Schweden. Dagny kannte die Welt, ich kannte nur unser Nest, so kam es mir damals vor. Natürlich mussten wir jetzt Pippi Langstrumpf lesen, und Dagny kam öfter zum Spielen zu uns. Durch Dagny, was sie kannte und wusste und Pippi Langstrumpf veränderte sich auch meine Welt. Anniese und ich, das war meine Welt, jetzt gehörte auch Dagny dazu. Mittlerweile waren wir auf dem Gymnasium und schwebten gemeinsam wie Nils Holgersson über den Dorfbanalitäten unserer Mitschülerinnen und Mitschüler. Wir fühlten uns schon erwachsen, bevor die Pubertät begann. Dagnys Eltern meinten, dass es für ihre Entwicklung wichtig sei, die Welt kennenzulernen und an einem Schüleraustausch teilzunehmen. Dagny vermutete, dass sie nach Schweden solle, weil ihre Eltern totale Schwedenfans seien, aber Vater und Mutter meinten, dass so etwas vielleicht ganz nett sei, aber für Dagny nichts bringe. USA oder Frankreich kamen in Frage. Dagny wollte überhaupt nicht weg, weil wir doch von hieraus alles im Griff hätten, aber vor den USA hatte sie Angst, weil man da nie wisse, was einen erwarte. Außerdem war Frankreich näher, und sie käme sich nicht so ganz weit weg vor.
Dagnys Abwesenheit verursachte ein Loch, sowohl für mich als auch für Anniese. Sie gehörte einfach dazu, ohne sie war unsere Welt nicht komplett. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn andere liebe Freunde nicht mehr da wären, aber so wie Dagny gab es ja niemanden. Wenn meine Mutter oder mein Vater sterben würden, aber das konnte ich gar nicht weiterdenken. Und Anniese, wenn sie durch eine Krankheit oder einen Unfall ums Leben käme, dann wollte ich auch nicht mehr leben, ohne sie hätte mein Leben keinen Sinn. Aber Dagny war ja nicht gestorben. Sie schrieb immer E-Mails und würde wiederkommen, auch wenn es lange dauerte. Dagny kam zurück, nur es war nicht wie vorher. Dagny hatte sich enorm verändert. Aus der Schwedin war eine Französin geworden, die von allem Französischen total fasziniert war. Jetzt schwebten wir mit unserer Gans noch ein paar Meilen höher über den Dingen als vorher, und Anniese war begeistert, flog mit und versuchte, nicht an Höhe zu verlieren. Savoir vivre, französische Kultur und französischer Stil genossen bei uns hohes Ansehen. Wir amüsierten uns über das kleinbürgerliche und triviale Denken und Handeln unserer Mitschülerinnen und Mitschüler. Über Jungs hatten wir unterschiedliche Ansichten. Dass die Jungs aus unserer Klasse indiskutabel waren, stand für uns beide fest, aber l'amour war für die Französin unverzichtbar. Meinen Vater und einen Cousin fand ich ganz nett, aber sonst sah ich es eher so, dass Männer zu Frauen oder Mädchen im Grunde gar nicht passen würden. Sie seien von ihrer gesamten Grundstruktur her so unterschiedliche Wesen, dass es nur zu speziellen Gemeinsamkeiten von begrenzter Dauer kommen könne. Einige feministische Literatur hatte ich mir schon angeeignet, aber ich fand keine Bestätigung für meine Position, und ich war auch nicht zur kämpferischen Feministin avanciert. Natürlich studierte Dagny Französisch. Dazu wähnte ich mich jedoch nicht in der Lage und sah keine Chance. Jura würde viele Möglichkeiten eröffnen, auch wenn mir das absehbare, stupide Pauken während des Studiums nicht zusagte. Dagny hatte während der Schulzeit einen Freund, aber die angeblich große Liebe war auch schnell verflogen. Jetzt hatte sie einen Franzosen kennengelernt. Er war Austauschstudent, ob die Liebe da zu Ende war, wenn er zum Semesterschluss nach Montpellier zurück musste. Ich glaubte nicht an die Große Liebe zwischen Frau und Mann und wollte damit nichts zu tun haben. Ich wollte meine Freiheit über den Wolken behalten und meine Tage selbst gestalten. Wenn du zu Hause bist, ist immer ein Mann anwesend. Du kommst morgens in die Küche, steht da ein Mann. Wie grässlich, diese Vorstellung. In einer Frauen WG zu leben, das konnte auch keine Wunschvorstellung sein. Wie schön wäre es, mit Dagny zusammen eine gemeinsame Wohnung zu haben. Die Vorstellung bereitete mir Wohlempfinden, nur sie hatte ja ihren Freund. Ich war keineswegs eine Misandrie-Apologetin. Dass es mit einem Mann im Bett ganz angenehm sein kann, wird ja keine Frau bestreiten. Das hört sich so selbstverständlich an, nur ist es äußerst schwer zu realisieren. Über die Hälfte der Männer kommen wegen ihres Erscheinungsbildes oder Verhaltens nicht in Frage. Die anderen mit passablem Aussehen und angenehmen Umgangsformen leben meistens in festen Beziehungen. Im Grunde war es ein Glücksfall, jemanden kennenzulernen, der für angenehme Stunden im Bett in Frage kam. Dabei war es ja auch nicht leicht, das Gespräch so zu lenken, dass es dazu kommen konnte. Eine einfache, kurzfristige, lockere Freude, war es jedenfalls nicht. Ich überlegte schon, ob ich mir nicht doch einen Freund zulegen sollte, mit dem ich nicht zusammen wohnte, und man sich nur traf, wenn das gemeinsame Bedürfnis bestand. Aber ich wollte diese Fixierung auf einen Mann nicht.
„Andy, halt die Klappe, sag so etwas nicht. Wenn du weiter von Liebe schwafelst, fliegst du gleich raus.“ herrschte ich Andreas, der auch André, jetzt aber Andy hieß an. Wir hatten uns in der Uni kennengelernt und ganz nett gefunden. Eine wundervolle Nacht und einen herrlichen Tag hatten wir gemeinsam verbracht, deshalb durfte Andy auch diese Nacht noch bleiben. „Nein, nein, wenn du das Wort nicht hören möchtest, sag ich es natürlich nicht.“ Andy darauf. „Wir mögen uns gut leiden, verstehen uns gut und sind glücklich miteinander gewesen. Das ist doch schon viel. Reicht das denn nicht?“ fragte ich. „Du hast Recht, ich finde auch, dass das sehr viel ist, nur findest du nicht auch, dass es eine sehr oberflächliche Beschreibung ist?“ vermutete Andy. „Und wo kannst du das Tiefgründige erkennen?“ wollte ich wissen. „Gloria, wir zwei, die sich vorher gar nicht kannten, sind uns im Gespräch ein wenig näher gekommen. Dann sind wir gemeinsam ins Bett gegangen und haben uns voll füreinander geöffnet. Wir haben uns gegenseitig mit Streicheln und Liebkosungen verwöhnt. Wenn es auch keine Liebe war, so haben wir doch so getan als ob. Wir haben uns erregt, sind gemeinsam versunken zu unserem Höhepunkt auf einem anderen Stern. Wir kamen zurück und waren glücklich, miteinander und übereinender. Ich war dir so nah, wie ich einem anderen Menschen nur sein konnte. Glücklich haben wir beide uns gemacht und haben es den ganzen Tag durch den Austausch von Zärtlichkeiten unterstrichen. Gefühle von Liebe darf man darin nicht erkennen?“ fragte Andy. „Ich liebe Anniese, meine Schwester, ich liebe Dagny, meine Freundin, und ich liebe meine Eltern. Uns verbindet jahrelanges gemeinsames liebevolles Handeln. Und was verbindet uns? Die Bedürfnisse unseres Geschlechtstriebes, sonst nichts.“ erwiderte ich. „Ich finde dich sehr schön und schaue dich gern an. Ich höre dich gern sprechen und folge gespannt deiner Mimik und Gestik. Ich freue mich, wenn du nach dem Küssen bezaubernd lächelst. Ich liebe es, dir an der Kaffeemaschine über den Rücken zu streicheln, und durch deine lächelnde Reaktion belohnt zu werden, ich liebe es, dich zu erleben, wie du dich wohlfühlst. Alles Befriedigung des Geschlechtstriebes? Wenn du sagst, dass alles was dir gefällt, letztendlich auf der Libido basiert, magst du ja Recht haben.“ erklärte Andy. Wenn eine Frau immer nur für eine Nacht mit einem Mann ins Bett geht, denkt man, dass sie viel sexuellen Kontakt mit wechselnden Männern hat. Das wird es schon geben, wenn der Mann der Frau ziemlich gleichgültig ist. Bei mir kam es eher höchst selten vor. Trotz aller Zärtlichkeiten bestand da auch immer das Empfinden, dass der Mann der andere ist, dass eine gewisse Distanz aufgrund der unterschiedlichen Rollen immer bestehen blieb. Auch wenn es noch so schön gewesen war, war ich doch anschließend auch froh, dass der Mann wieder ging. Bei Andy hatte sich das anders entwickelt. Wir hatten gelacht und Spaß gehabt wie alberne Kinder. Ich konnte kein Wort sagen, ohne Andy dadurch zum Lachen zu bringen, und umgekehrt war es nicht anders. Was hätten wir für gute Freunde werden können, wenn wir nicht miteinander ins Bett gewollt hätten. Natürlich war Andy ein Mann, aber ich habe ihn gar nicht in den mir geläufigen Männerrollenklischees erlebt. Er kam mir eher vor wie ein Bruder, ein Cousin, einfach ein offener Freund. Zum Sex kam es daher erst weit nach Mitternacht. Wir hatten immer wieder Lust daran, uns gegenseitig zu liebkosen und zu streicheln, vor allem aber zu erleben, wie der andere es wonnevoll genoss. Zauberhaft war es mit Andy schon gewesen. „Wenn ein Mann und eine Frau zusammenkommen, weil sie ficken wollen, ist die motivationale Basis immer der Geschlechtstrieb, das wirst du doch nicht leugnen wollen.“ reagierte ich. „Ich will doch den Geschlechtstrieb nicht leugnen, aber ich will auch die Person Gloria nicht leugnen. Du hast mich nicht gefragt, ob ich mit zu dir käme, weil du gern mit mir ficken möchtest. Du machtest einen taffen, dominanten, energischen Eindruck. Mir gefallen solche Frauen. Ich habe kein Chauvigen und muss als der Hahn bewundert werden. Mir imponieren eher starke Frauen. Das bist du sicher auch, aber es war sehr schnell zu erkennen, dass es sich dabei nur um eine der Frauen handelt, die in dir wohnen. Die andere ist warm und feinfühlig, liebt das Zarte und Sanfte, sucht das Glück und Wohlempfinden. Ich fand dich faszinierend und war gespannt darauf, was sich zwischen uns entwickeln würde. Keine Spur eines Gedankens an Sex.“ erklärte Andy. „Du hast dich also gleich in mich verliebt?“ wollte ich wissen. „Ach Quatsch, du gefielst mir, und ich mochte dich, und dass hat enorm zugenommen.“ antwortete Andy. „Sodass es sich jetzt zur Liebe gesteigert hat?“ wollte ich wissen. „Gloria, ich weiß es doch auch nicht genau, ab wann man Gefühle und Bedürfnisse als Liebe bezeichnen sollte. Nur ich glaube, du belügst dich selbst. Als was kann man das denn bezeichnen, was wir gemacht haben? Wir haben uns exakt so verhalten, als ob wir uns liebten. Du hast nicht gesagt: „Lass das! Küss mich nicht, streichele mich nicht! Das ist alles nur gelogen!“, nein, du hast es genossen, als ob es Liebe wäre. Du hast das 'Als ob' wie richtiges Liebesverhalten akzeptiert. Wir sind permanent zärtlich zueinander gewesen und dir hat es gefallen. Was du suchst, ist nicht die Befriedigung deines Geschlechtstriebes, das vielleicht auch, aber was du primär suchst, ist Liebe.“ wusste Andy. „Bei meiner Schwester und meiner Freundin, das ist Liebe, aber wie käme ich darauf, bei dir Liebe zu suchen? Ich kenne dich doch überhaupt nicht.“ entgegnete ich. „Liebe ist Mangel. Sie entsteht aus einem Bedürfnis, einem Verlangen nach dem, was dir fehlt.“ erklärte Andy. „Also, mir mangelt es an Liebe, und bevor ich gar keine bekomme, nehme ich mit dem 'als ob' vorlieb?“ vermutete ich. „Was ist daran so ungewöhnlich, Gloria? Glaubst du, dass es sich bei allen Paaren um tiefgründige und fundamentale Liebe handelt? Ist es nicht oft nur der Wunsch nach Liebe, was immer sich die Einzelnen darunter vorstellen. Und dann verhält man sich eben so, als ob es Liebe wäre, und glaubt, das sie es ist.“ stellte Andy es dar. „Bei dir ist es aber umgekehrt, nicht wahr? Du liebst mich wirklich, und da fällt es dir nicht schwer, so zu tun, als ob es Liebe wäre.“ vermutete ich. Andy lächelte zwar, sagte aber dann: „Gloria, es mag ja sein, dass es für mache triviale Alltagsbanalitäten sind, was wir gemeinsam erleben, ich weiß nur, dass es für mich nicht so ist und bin mir fast sicher, dass es sich auch für dich anders darstellt. Wer ist denn derjenige, zu dem du freundlich bist, den du anlächelst, den du zärtlich streichelst und küsst? Das ist doch kein Klotz. Du äußerst doch deine Zuneigung und siehst den Menschen, dem du sie schenkst.“ „Ist schon klar, Andy, ich habe ja auch keinen Affen eingeladen. Ich mag dich schon und habe dir ja auch viel Nettigkeiten gesagt.“ ich darauf. „Nettigkeiten? Also ich weiß nicht. Wir haben uns gegenseitig geöffnet, sind uns sehr nahe gekommen, gemeinsam im Rausch versunken, den ganzen Tag über zärtlich zueinander gewesen, das soll nur nett gewesen sein?“ kritisierte Andy. „Du schaust so nachdenklich. Stimmt etwas nicht?“ wollte Andy wissen. Dass ich keine feste Beziehung zu einem Mann wollte, war für Dagny und auch Anniese nichts Besonderes, aber immer nur einen für eine Nacht? „Also ich könnte das nicht. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, aber das machen ja wohl mehrere.“ war Dagnys Ansicht. Anniese hielt es für unmenschlich. „So etwas macht man nicht.“ sagte sie, „ich finde das gar nicht moralisch, aber du hast doch dadurch eine tiefe Beziehung zu dem Menschen, und das siehst du gar nicht. Natürlich kannst du andere Menschen gebrauchen, aber das hätte ich von dir nicht gedacht. Das ist unmenschlich.“ So kam ich mir nicht vor. Die Männer wollten es ja auch so, was sollte daran unmenschlich sein. Nur Andreas der redete jetzt so komisch, aber mit ihm gefiel es mir herrlich. Wenn ich mich erinnerte, dann war es sonst schon befriedigend gewesen, aber das große Glück hatte ich nicht verspürt. „Andy, weißt du was, du erzählst mir jetzt eine Geschichte, so wie sie Eltern ihren Kindern erzählen, dass ich mich gut entspannen kann. Dann kommen die Schlafhormone, senken mir die Augenlieder und ich schlafe ein.“ schlug ich vor. Andy lachte erst mal wieder. Fast immer lachten wir, wenn der andere etwas gesagt hatte. Das Bild vom fremden Mann, bei dem ich mich freuen würde, wenn er morgen wieder ginge, kam bei Andy gar nicht auf. Wie Spielkameraden, nur eben erwachsen, kamen wir uns vor. „Andy, das ist keine Einschlafgeschichte. Das ist eine lustige Geschichte. Du willst mich zum Lachen bringen. Und außerdem kenne ich die Geschichte schon.“ reagierte ich auf Andy, der angefangen hatte zu erzählen. Schlafen wollten wir sicher nicht. Wir hatten Lust aufeinander und wollten etwas erleben. Trotz aller Zärtlichkeiten und Küsse bin ich überzeugt, dass Andy mich im Grunde widerlich fand. Er hatte zwar gesagt, dass ihm die coole, taffe Frau gefallen habe, aber seine Zuneigung und sein Begehren galt der anderen, der sensiblen, weichen, milden Frau, dass sie sich strickt allen Annäherungen und Liebesbezeugungen widersetzte, behagte ihm gewiss überhaupt nicht. „Andy, du starrst mich an und träumst, träumst von Liebe, nicht wahr? Tu das nicht, Andy, das ist nicht gut für dich.“ erklärte ich. „Gloria, es gefiel mir, wie du sprachst, und ich fand dich wunderschön. Das habe ich dir ja schon öfter gesagt, dass du die Schönste von allen bist.“ antwortete Andy. „Und du bist der Liebste, aber mit der Liebe das ist, glaube ich, etwas ganz Komplexes. Es ist wie ein Universum. Die Beziehung der beiden Liebenden bildet das Magma des Sterns, und dann gibt es ganz viele Planeten, die ihn umkreisen, große, kleine, nahe, ferne. Wir beide kennen nichts voneinander. Da ist kein Stern, kein Universum. Wir sind uns zufällig begegnet wie zwei Sternschnuppen auf völlig verschiedenen Bahnen.“ erklärte ich. „Wir müssten uns besser kennenlernen, meinst du, und dann würden wir feststellen, dass aus uns nie ein Stern werden kann.“ vermutete Andy. „Andy, du bist ja schon mein Stern. Willst du morgen auch noch bleiben?“ schlug ich vor. „Nein, du musst morgen zuerst nach Hause und zur Uni, und am Abend zum Abendbrot kommst du wieder, sollen wir's so machen?“ Was machte ich da bloß? Ein bisschen durcheinander musste ich sein. Morgen würde ich mir etwas überlegen, wie wir uns zufriedenstellend für uns beide trennen könnten. Ich wollte nicht, dass Andy ein übles Bild von mir hatte. Coole Frau, was ist das denn überhaupt. Eine, die nüchtern rational denkt? Eine dominante, harte Frau, oder eine, die kühl, gefühllos und kaltherzig ist? Das war ich doch nicht, das wollte ich nicht sein. Ich wollte nur selbstbestimmt leben, schon von Kindheit an, wollte selbst mein eigenes Leben führen. Das war doch mein Leben, es gehörte mir, es gab nur eine Chefin, und die war ich. Mich an jemand anders binden, mich von ihm abhängig machen, auf ihn Rücksicht nehmen müssen, seinen Ansprüchen entsprechen, nie mehr allein sein? Und dann noch ein Mann? Niemals! Aber Andy sollte mich als die sensible, weiche, einfühlsame Frau, die er liebte, sehen. Ich wollte heute Nacht besonders nett zu ihm sein. Aber Andy lachte immer nur. Wenn ich zum Beispiel sagte: „Andy, ich finde dein Schulterblatt wunderschön. Die sanften Wölbungen, wie gut es sich anfühlt und die zarte Haut.“ Es war ja auch Blödsinn, aber, ich glaube, Andy lachte einfach, weil er sich freute, bei mir zu sein, und ich nett zu ihm war. Vorspiel, dieses widerliche Wort. Unsere Session im Bett war eine sinnliche, körperliche und verbale Kommunikation, die wir lange genossen. Irgendwann führte sie zur Erregung und mündete im sexuellen Rausch. Heute mussten wir auf einem besonders schönen Stern gewesen sein. Eine Gutenachtgeschichte brauchte Andy jetzt nicht mehr zu erzählen. Ich fühlte mich glücklich, total entspannt und war geschafft. Bessere Voraussetzungen, um an Andy gekuschelt einzuschlafen, konnte es nicht geben. Andy roch gut. Sein Schlafduft streichelte mit blumig, molligen Tönen meine Riechschleimhaut.
Mir Gedanken über unsere Trennung zu machen, das verdrängte ich. Ich grübelte den ganzen Tag darüber, was da eigentlich mit mir geschah und was ich machte. Mein Vater zum Beispiel, der war ein typischer Mann, aber ich kam ja auch nicht auf die Idee, ihn vertreiben zu wollen. Im Gegenteil, ich liebte ihn, aber er war auch besonders nett und verständnisvoll, hörte zu und ließ sich etwas sagen. Meinem Großvater war die Männerrolle auf Grund seines Alters schon abhanden gekommen, oder er hatte sie abgelegt, weil er sie nicht mehr brauchte. Jedenfalls habe ich bei ihm nie an so etwas gedacht. Ich liebte und verehrte ihn. Er war für mich der Archetyp eines weisen, verständnisvollen und gutmütigen Menschen. Vielleicht entdeckte ich ja unbewusst Affinitäten bei Andy und deshalb gefiel er mir so gut. Aber nein, beide waren völlig andere Charaktere. Mein Großvater lachte auch gern, aber er war gesetzt und ruhig, während Andy lebhaft und albern war. Ich spürte, dass ich Andy im Grunde auch gar nicht fortschicken konnte. Wenn ich es trotzdem entgegen meiner eigenen Gefühlslage cool machen würde, ihm sagen: „Heute war das letzte mal. Komm morgen nicht wieder.“, würde er bestimmt zusammenbrechen und weinen. Das könnte ich nicht ertragen. Hatte ich ihn doch schon lieb gewonnen? In gewisser Hinsicht, bestimmt. Für Andy nahm ich bestimmt immer zu an Einzigartigkeit und Schönheit. Schönheit? Anniese und ich, wir sahen schon ein wenig ungewöhnlich aus. Das lag an unseren Eltern. Meine Mutter hatte südländische Züge, während mein Vater ein blonder Westfale war. Anniese und ich hatten auch blonde Haare wie mein Vater, aber dunkle Augen, markante Gesichtszüge und dicke Lippen. Ich freute mich schon, als Andy am Abend kam, aber er begrüßte mich, als ob ich für viele Jahre in einem sibirischen Gefangenenlager verschollen gewesen wäre. „Andy, was hast du gemacht? Mach das weg! Wasch dich!“ fuhr ich ihn an. Völlig verstörte, große Augen sagten, dass er nichts verstand. „Ich will Andy sehen, Andy hören, Andy fühlen und auch Andy riechen. Aber das bist du nicht. Mag ja sein, dass diese Odeurs aus den Phiolen auch schon mal ganz gut riechen können, aber du riechst viel besser.“ erklärte ich. „Ich wollte dich betören, dich verführen.“ sagte er mit schon grinsendem Gesicht. Einer Antwort bedurfte es nicht. Er bekam einen Boxhieb mit der Aufforderung: „Ab ins Bad!“. Jetzt roch er nach meiner Seife. Andy musste mich ja schon verführt haben, aber ich wusste nicht, wozu denn genau, weil mir gar nicht klar war, was ich da machte, nicht wusste, was da eigentlich geschah, was ich mit mir geschehen lies. Ich hätte ihn nicht bitten dürfen, auch am zweiten Tag noch zu bleiben, weil's so schön war. Und jetzt war's weiterhin nur schön. Andy störte mich ja nicht, behinderte mich bei nichts, stellte keine Ansprüche, war mir bei nichts im Wege. Im Gegenteil, seine Anwesenheit löste Gefühle des Wohlempfindens bei mir aus. Beim Abendbrot hatte ich während des Essens meistens die Zeitung gelesen, eine monotone Angelegenheit, jetzt gestaltete es sich zu einem freudigen Ereignis. Gemeinsam zu essen, war immer schön, ein sozial dichtes, kommunikatives Erlebnis. Auch wenn ich eingeladen war, störten doch anwesende Männer nicht. Aber allein mit einem mir relativ fremden Mann, das hätte eine reserviert freundliche Distanz bewirkt. Nur mit Andy war die Stimmung nicht viel anders, als ob Dagny zum Essen da wäre. Warum? Dafür gab es keine Erklärung. Ein Mann war er ja zweifellos, aber vielleicht war sein Wesen viel entscheidender als seine Biologie. Zu den Frauen, zu dem was man so gemeinhin als Frau bezeichnete, fühlte ich mich ja auch nicht unbedingt identisch verbunden. Meine Mutter hatte mir als Kind mal gesagt: „Du kannst viele Freundinnen haben, das ist schön, aber irgendwo bist und bleibst du doch auch immer die Gloria allein. Du bist allein verantwortlich für dich und dein Leben, das wird immer so sein. Anders war es nur als kleines Baby und als du noch bei mir im Bauch warst.“ Gloria allein, das war ich, und nicht ein Wesen aus der Kohorte derer, die man als Frau bezeichnete. Vielleicht gehörte Andy ja auch gar nicht zu denen, die man meinte, wenn man von Mann sprach. Vielleicht brauchte ich von Andy ein neues, spezielles Bild, das bei meinen Vorstellungen von Männerbildern und -klischees noch nicht existierte. Sehr feinfühlig war er zweifellos, er liebte es freundlich zu sein und zu lachen. Aber das sind nur grobe Konturen, das Filigrane befindet sich ständig im Wandel. Das Bild von Andy könnte nie fertig werden, weil es durch unseren permanenten Austausch immer neuer Farbnuancen und Impressionen bedürfte. Bei Anniese und Dagny war es nicht anders. Von ihnen hatte ich auch kein starres Bild, das aufleuchtete, wenn ich sie traf. Ich war gespannt darauf, sie zu erleben, mich mit ihnen auszutauschen. Am Abend sprachen wir über Liebe allgemein, weniger über unsere spezielle Situation. „Bei meinen Eltern, das ist auch nicht mehr die große Liebe. Sie mögen sich, und es gefällt ihnen miteinander, aber Vater sagt, Mutter habe ihn wohl im Laufe der Zeit aus dem Auge verloren. Alles sei immer wichtiger geworden und das Verlangen nach ihm verblasst.“ berichtete ich. „Wie das genau bei meinen Eltern ist, das weiß ich gar nicht. Nur wenn sie irgendwann auf die Idee kämen, sich trennen zu wollen, das würde ich ihnen verbieten. Sie leben ja schließlich nicht allein. Ich kann ja auch nicht plötzlich beschließen, nicht mehr ihr Sohn sein zu wollen.“ erklärte Andy. „Na siehst du, das ist ja das Hauptproblem bei der großen Liebe. Du bindest dich, gehst Verpflichtungen ein, kannst nie mehr für dich allein sein. Bist von deiner Liebe und was sich daraus ergibt abhängig und dafür verantwortlich. Verantwortlich bin ich nur mir selbst gegenüber, und das soll immer so bleiben.“ konstatierte ich. „Dass du keine einengende Liebe willst, kann ich gut nachempfinden, aber dass nur du allein über dich bestimmen willst, halte ich für eine Illusion. Gloria selbst allein gibt es nicht. Du bist wie alle anderen Menschen auch immer in irgendwelche Zusammenhänge eingebunden. Einen absolut freien Willen gibt es nicht, das ist eine Chimäre.“ wusste Andy. „Hah, ich halte es aber schon für einen gewaltigen Unterschied, ob du irgendetwas tust, weil alle es so machen, oder ob du dich fragst: „Will ich das wirklich? Passt das zu mir?“ entgegnete ich. „Und jetzt? Dass wir zusammensein können, willst du das wirklich, passt das zu dir?“ provozierte Andy. „Mein Liebster,“ oh je, wie sprach ich denn? „du weißt genau, dass ich das im Prinzip nicht will. Du sagst, es läge daran, weil es mir an Liebe mangele und ich sie suche. Ich glaube eher, dass ich nicht Liebe suche, sondern einen Teddybär mit kommunikativen und sexuellen Kompetenzen.“ stellte ich klar. „Du gebrauchst mich also, immer noch, nur kam mir das nie so vor? Du suchst keine Liebe? Mag ja sein, dass du eine besondere Varietät des Homo sapiens bist, aber alle Menschen suchen Liebe.“ reagierte Andy. „Oh je, Andy, das war doch nie so. Ich habe dich von Anfang an gemocht und gemeinsam Freude mit dir gehabt. Gebraucht habe ich dich nie. Mit der Liebe, da magst du ja Recht haben, aber ich bin doch kein ungeliebter Mensch. Ich könnte dir aufzählen, wer mich alles liebt.“ korrigierte ich. „Ja schon, deine Schwester oder deine Freundin. Gewiss handelt es sich dabei um Liebe, aber die Liebe zu einem Mann ist nochmal etwas anderes.“ meinte Andy. „Ja, sie befriedigt die Bedürfnisse des Geschlechtstriebes.“ stellte ich klar. „Mag ja sein, dass du es so sehen willst und so siehst, aber mir gefällt es einfach, wenn wir miteinander reden, mir gefällt es, wenn du dich freust und glücklich bist, mir gefällt es wenn du lachst, besonders gefällt mir, dass es dir Wohlempfinden bereitet, wenn ich mich freue. Für mich sind das großartige Ausdrucksformen von Menschlichkeit in der Beziehung untereinander.“ erklärte Andy. Andy verwirrte mich. So hätte ich es ja auch gern gesehen, aber wären das nicht Ausdrucksformen starker Zuneigung oder sogar Liebe.
Am nächsten Morgen fragte Andy nur: „Bis heute Abend?“ Ich nickte noch halb im Schlaf ein zustimmendes „Mhm“. Was sollte ich denn dagegen haben, wenn Andy mich bei nichts störte oder behinderte, sondern es mir nur Wohlempfinden bereitete. Der Gebrauch von Aftershave oder Eau de Cologne schien für Andy jetzt permanent aus dem Verhaltensrepertoire des Alltags verbannt. Am dritten Abend hatte ich vorher noch gedacht, dass wir überlegen würden, ob wir wieder miteinander ins Bett gingen, aber in Andys Anwesenheit waren alle Zweifel schnell verschwunden. Anniese und ich, wir hatten als Kinder auch gern in einem Bett geschlafen, bis Mutter erklärte wir seien zu alt dafür, und jeder müsse für sich selbst leben. Vielleicht war es gar nicht nur der Geschlechtstrieb, der mich motivierte, die Nacht mit einem Mann zu verbringen, sondern auch diese geliebte Erfahrung aus Kindertagen, die sich in meinem Unbewussten eingenistet hatte. Und mit Andy zu schmusen und an ihn gekuschelt zu schlafen, vermittelte eben eine besondere Zufriedenheit und starke Wonnegefühle. „Andy, ich will das nicht, ich brauch das nicht. Jeden Abend schlafen wir miteinander. Ich bin doch keine rattige Elster, die immer nur ficken will. Ich brauch das nicht und will das nicht.“ erklärte ich am Abend, als wir ins Bett gingen. „Aber, Gloria,“ Andy darauf entrüstet, „ich doch erst recht nicht. Dass wir zusammen ins Bett gehen würden, damit hatte ich doch gar nicht gerechnet. Ich bin völlig unschuldig. Es hat sich einfach immer so entwickelt.“ „Sollen wir uns heute Abend mal liebevoll unterhalten, dabei ein wenig schmusen und streicheln, irgendwann müde werden und einschlafen?“ schlug ich vor. Natürlich, so wollten wir's machen. Ich wusste nur nicht, dass Andy offensichtlich einen Schalter für das Aufkommen erotisch lustvollen Begehrens besaß. Letztendlich verlief alles genauso wie am Abend zuvor. Mein Bild von dem Mann für eine Nacht war brüchig geworden. Mit Sicherheit suchte ich keine Liebe oder die Möglichkeit einer längerfristigen Beziehung, aber mir ging es auch nicht nur darum, einen Koitus zu erleben. Bei Andy hatte ich auch keineswegs an eine Beziehung gedacht, aber jetzt war er eben einfach jeden Abend da, und es gefiel mir. „Weißt du, Andy, ich lese abends immer im Bett. Meine ganze belletristische Literatur lese ich im Bett. Du siehst die Bücher dort. Sollen wir heute Abend nicht auch mal etwas lesen? Du nimmst dir auch ein Buch, und anschließend können wir uns davon erzählen.“ schlug ich vor. O. k., wir lasen und lächelten uns dabei manchmal zu. Ich lag noch auf dem Bauch vor meinem Buch und berichtete über mein Lesen. Andy strich mir dabei mit der Hand über Rücken und Po. „Andy, du bist es.“ fuhr ich auf, „Wenn du mir über den Rücken streichelst, dann ist das nicht nur eine Hand, die mir über den Rücken fährt. Ich spüre dann Andy, den ganzen Andy, dann empfinde ich dich komplett gegenwärtig. Alles ist von dir da, dein Körper, deine Empfindungen, deine Gedanken. Es ist nicht anders, als ob du mich voll umfangen würdest. Wir dürfen uns nicht mehr anfassen.“ „Am besten, einen Zaun oder eine Mauer im Bett errichten.“ schlug Andy vor. Ich warf mich auf Andy. „Ach, Andy, mir gefällt es doch. Ich möchte nur, dass wir einen Weg finden, vernünftig damit umzugehen. Wir werden ja noch sexsüchtig.“ befürchtete ich. Den fanden wir auch. Bedeutsam war, worüber wir sprachen. Themen aus Wirtschaft und Politik waren generell nicht sehr lustanregend. Besonders wirksam aber war es, über die Probleme dieser Welt, die wir beheben oder mildern wollten zu sprechen. Die Notlage arbeitsloser Menschen lag dem Empfinden lustvoller Gefühle offensichtlich sehr fern.
Es dauerte nicht lange, bis auch Dagny und Anniese es wussten, dass jetzt Andy immer abends bei mir war. Dagny konnte es gar nicht fassen. „Aber du musst dir doch mal Gedanken darüber gemacht haben, was daraus werden soll.“ behauptete sie, nur ich konnte doch nichts erklären. „Andy ist heute da, ist morgen da, ist übermorgen da und dann?“ fragte Dagny. „Ich weiß es doch auch nicht, Dagny. Andy ist heute da, und das ist wunderschön, und ich möchte, dass es morgen nicht weniger schön ist. Mehr kann ich nicht sagen. Ich bin eine ganz dumme Nudel, nicht wahr? Ich will nicht mit einem Mann zusammenleben. Es sollte nur eine schöne Nacht werden, und jetzt ist er einfach immer da.“ versuchte ich zu erklären. „Aber da entsteht doch zwischenmenschlich etwas, wenn ihr jeden Abend und vor allem jede Nacht miteinander verbringt.“ erklärte Dagny. „Ja natürlich, du bist dir ganz nah, ganz dicht beieinander. Größte Verbundenheit und absolutes Verständnis. Es kommt mir manchmal vor, als ob wir ein altes Ehepaar wären, wir brauchen kaum Worte, verstehen uns auch so. Nur was das ist, und wie ich es benennen soll, das weiß ich auch nicht?“ antwortete ich. „Kann es nicht sein, dass man Liebe dazu sagen könnte?“ schlug Dagny vor. „Liebe? Eine sonderbare Liebe. Ich habe mich nie verlieben wollen, nie ein Bedürfnis danach verspürt. Nie auf Andy gewartet, nie Sehnsucht nach ihm gehabt. Ich habe keinen Mangel empfunden, nur jetzt ist er einfach da und das gefällt mir.“ erläuterte ich nochmal. „Gloria, dir ist doch klar, dass das alles sehr unbedacht ist. Hast du keine Angst, dass sich plötzlich herausstellen könnte: „Alles nur eine Illusion. Und alles zerplatzt wie eine Seifenblase?“ befürchtete Dagny. „Ah ha, alles planen und durchdenken, vor allem die Liebe, dann währt alles ewig. Dagny, das ist die größte Illusion. Die Welt ist viel größer, komplexer und facettenreicher als du sie in deinen Gedanken abbilden kannst. Es ist so unsinnig, es ist so unverständlich, es ist so unglaublich, aber es ist, wie es ist.“ erklärte ich. Natürlich waren Dagny und ich andere Menschen, aber in unserer Persönlichkeitsstruktur und in unseren Ansichten gab es viel Übereinstimmendes. Klar, dass sie auch ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben führen wollte, und ihr Freund? Ich sah darin einen Widerspruch. Auf einem durchdachten, rationalen Beschluss konnte das nicht basieren. Bei Anniese brauchte ich gar nicht viel zu reden, für sie stand fest, dass es Liebe sein müsse. „Du freust dich darauf, dass er abends kommt. Es ist ein glücklicher Abend, wenn Andy da ist, und vor allem, du verbringst die ganze Nacht gemeinsam mit ihm im Bett. Was soll das denn anders sein als Liebe? Wenn es keine Liebe wäre, würdest du es doch nicht machen.“ erklärte es Anniese. „Ich glaube eher, es lag an der ersten Nacht. Dass ich sexuell einem Mann begegnet bin, spielt nur eine marginale Rolle. Wir haben uns gegenseitig total geöffnet, gegenseitig unsere Persönlichkeiten durchdrungen und verwoben, und am nächsten Morgen klebten wir zusammen und kommen seitdem nicht mehr voneinander los.“ versuchte ich es zu erklären. „Da hast du wahrscheinlich viel von Andy erkannt, den wirklichen Andy pur, den Menschen an sich.“ vermutete Anniese. „So wie Gott ihn sieht, habe ich ihn gesehen, nicht war? Das ist Quatsch Anniese. Das gibt es nicht. Der Mensch an sich ist nur ein theoretisches Konstrukt. Jeder ist immer das, was sein Leben ihm bis zu diesem Zeitpunkt vermittelt hat, jeder ist seine Geschichte, die ihn bis heute geformt hat.“ entgegnete ich. „Ha, es gibt doch Unterschiede. Da ist zum Beispiel der Herr Ingenieur. Er lebt so, wie es zur Rolle eines guten Ingenieurs passt. Er lacht, worüber Ingenieure zu lachen haben. Er ist ein Geschöpf der Allgemeinheit und der Alltagsroutine. Seine wirklichen Bedürfnisse kennt er gar nicht mehr. Oder jemand kennt seine wirklichen Gefühle und Bedürfnisse, sucht sie zu beachten und sein Leben an ihnen zu orientieren. Das sind doch völlig unterschiedliche Menschen.“ erläuterte Anniese. „Du vermutest, ich hätte Andy meine wirklichen Gefühle gezeigt. Ich glaube, das tue ich immer, und Andy zeigt mir noch viel mehr. Er zeigt mir auch seine Wünsche, Träume und Gedanken. Ob ich mich deshalb so wohl fühle?“ wollte ich wissen. „Ich kenne Andy ja nicht, aber er wird einen tiefen Traum, ein tiefes Verlangen in dir berühren und es zu befriedigen versprechen.“ meinte Anniese. „Na ja, mittlerweile kenne ich ja mehr von ihm, aber es scheint mir, dass das unbedeutend ist, denn es war von Anfang an so.“ antwortete ich. „Die Liebe, du freust dich, wenn Andy da ist. Sich freuen, das ist Liebe.“ Anniese darauf. „Mutter wird mich lieben, solange sie lebt. Zwischen uns beiden wird es nicht anders sein, endless love. Bei der Liebe zwischen Männern und Frauen ist das aber nicht so, sie nimmt ab, verwelkt oder vergeht sogar ganz. Hat das mit dem Sex zu tun, was meinst du?“ suchte ich Klärung. Anniese beschäftigte sich nämlich ausgiebig mit der großen Liebe, las alles Mögliche dazu und war begeistert, obwohl sie selbst davon bislang noch nicht befallen worden war. Sie lachte über meine Frage und meinte: „Liebe, das Wort ist eher ein Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Formen. Nur ob die Liebe ewig dauert, hängt nicht davon ab, ob es sich um Frau und Mann handelt. Es gibt genauso gut endlose Liebe unter Paaren. Nur generell gilt doch, dass du dich freust, wenn du mit Andy zusammen bist, und da möchtest du, dass dieser Zustand ewig so erhalten bliebe.“ erklärte Anniese. „Aber, das ist doch grundsätzlich immer so. Wenn du dich wohlfühlst, möchtest du, dass es immer so bleibt, auch wenn die Möglichkeit dazu gar nicht besteht. Selbst beim Ficken möchtest du, das es nie endet.“ meinte ich dazu. Anniese lachte. Aber es gibt Myriaden von Gründen, weshalb sich die Freude über den Liebsten oder die Liebste verringern kann. Sie wird immer weniger, bis überhaupt keine Freude mehr aufkommt, dann ist die Liebe verschwunden.“ erläuterte Anniese. „Vivienne,“ eine Freundin von mir meint, „dass es nicht darum gehe, dass die Frau einen Mann brauche, aber jeder Mensch brauche Liebe, müsse erfahren, dass er geliebt werde. Das sei ein essentielles Bedürfnis. Wenn das nicht befriedigt werde, fehle dem Menschen etwas Entscheidendes, so dass er sogar krank daran werden könne.“ erzählte ich. „Du fühlst dich aber wohl, hast nicht das Empfinden, dass dir etwas Entscheidendes fehlen könnte?“ vermutete Anniese. „Nein, es ist schon so, dass ich mir etwas wünsche, was ich gar nicht benennen kann. Das Jurastudium war eine rationale Entscheidung, das bin ich nicht, das lebe ich nicht. Ich habe es rational akzeptiert und mache es ja auch. Ich könnte deshalb missgelaunt sein und wenig Lust haben. Aber wenn Andy da ist, sorgt das für eine freudige Hintergrundstimmung, die nicht sofort verschwindet, wenn er geht. Weißt du, Anniese, wir haben sonst alles mit Nils Holgersson von oben betrachtet, jetzt kommt es mir vor, als ob ich auf einer Wolke schweben würde und mich über vieles, worüber sich andere echauffieren, nur amüsieren könnte.“ antwortete ich.
Bei Andy war es nicht anders als bei mir. Er hatte sich während der Schulzeit für alles Mögliche interessiert, besonders für Politik und Philosophie, aber was er studieren sollte, war ihm unklar. Also studierte er wie ich Jura. Andy war Anarchist, er lehnte Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Mensch in jeder Form ab. Dabei handele es sich um eine originär falsche Entscheidung in der Organisation des Zusammenlebens der Menschen untereinander. Mich bezeichnete Andy manchmal als Feminista. Das war keineswegs abschätzig zu verstehen. Natürlich vertrat ich, wie jede vernünftige Frau, feministische Ideen, war aber keineswegs eine extensiv agierende Feministin. Andy hatte für alles eine eindeutige Erklärung. Schuld am Patriarchat, an Kriegen und Lust an Herrschaft in jeglicher Form sei das Testosteron, es sei ein Aggressionshormon. Ich schlug vor, dass es da doch eine einfache Lösung gäbe, so wie die Frauen die Pille nähmen, sollten Männer Pillen zur Testosteronhemmung nehmen. Andy bezweifelte, dass ich es immer wünschen würde. „Na ja, wenn eindeutig klar ist, dass du keine Lust am Kriegführen, Herrschen und Kämpfen hast, kannst du die Pille ja auch schon mal weglassen.“ meinte ich. „Es geht doch nicht um Patriarchat oder Matriarchat. Frauen sollen auch nicht herrschen. Es gibt indigene Völker von denen wir es lernen könnten. Niemand hat das Recht, über dich oder mich zu herrschen. Wir sind geboren, um frei zu sein, nicht wahr?“ erklärte Andy. So klar und politisch hatte ich es nie formuliert, aber vielleicht war das ein Grund, weshalb wir uns so gut verstanden, denn dass niemand über mich zu bestimmen hätte, war mein Grundempfinden von klein an. „Wo wir uns finden, bei Glorias Linden zum Abendbrot.“ empfing ich Andy singend. Andy stutzte grinsend. Ich musste es erklären. Meine Mutter trällerte zu Hause den ganzen Tag. Am liebsten Arien, die sie auf ihre Stimmkapazitäten zurecht gestutzt hatte. Sie sang aber auch Volkslieder. Als Mädchen hatte sie in einem Chor gesungen, was wohl grundsätzliche Lust am Singen geprägt hatte. Wir empfanden es keineswegs als störend. Singende Menschen sind glückliche Menschen, außer wenn sie Klagelieder singen. Aber die Lust zu singen ist etwas genuin Menschliches. Uns steckte Mutter damit an, nur gab es so wenig Singbares. Gretchen Parlato gefiel mir sehr gut, aber das war Jazzgesang und das musste man lernen. Myriaden von Gründe könne es geben, weshalb die Freude am anderen abnähme und die Liebe verblasse, zum Beispiel, wenn der andere Verhaltensweisen zeige, die man nicht erwartet hätte, oder die einem nicht gefielen. Wenn man sich also in ihm getäuscht hatte. Andy und ich stellten öfter fest, dass wir uns getäuscht hatten, nur beeinträchtigte das die Freude keineswegs, sondern steigerte eher das Interesse. Andy war zum Beispiel taub. Er hörte schon Geräusche und Klänge, aber sein inneres Ohr konnte die Harmonien und Melodien klassischer Musik nicht entschlüsseln, dass es ihm ein genussvolles Erlebnis bereitete. „Meine Musiklehrerin ist Schuld daran.“ erklärte er, „Sie war ein Mensch, den du nur hassen konntest. Ein Ausbund aller Widerlichkeiten unserer Alltagsroutinen. Da kannst du ihre Werke oder wofür sie steht, auch nur hassen. Klassisch Musik ist für mich seitdem mit Gefühlen von Widerlichkeiten verbunden.“ Ein Feind klassischer Musik könnte eigentlich nicht mein Freund sein. Würde sich deshalb meine Freude an Andy verringern? „Andy, wollen wir versuchen, dich von allen Widerlichkeiten zu befreien? Denn es handelt sich bei dir um ein schweres Leiden.“ erklärte ich und Andy lachte. „Musik gehört zum Menschen und ist in jedem Menschen gegenwärtig. Deine Sprache hat einen Rhythmus und eine Melodie, das gefällt dir. Auch Gedichte haben eine große Nähe zur Musik. Schon Konfuzius wusste, dass Erziehung durch Musik vollendet wird und die Vervollkommnung der menschlichen Kultur fördert.“ fügte ich hinzu. „Du meinst, in meinem kulturellen Dasein befindet sich ein großes Loch. Hättest du denn Lust, mir dabei zu helfen, es zu stopfen und auszubessern?“ fragte Andy. „Weißt du, wir gehen in ein Konzert, und dann erteilst du allem, was sich in deinem Gedächtnis an Musik von der Schule befindet, Auftrittsverbot und denkst nur an mich, hältst meine Hand und versenkst dich in das Orchester.“ schlug ich vor. Ein Händelabend. Beim Largo flüsterte ich ihm zu, dass er jetzt eigentlich vor Rührung weinen müsse. Andy weinte nicht, sondern freute sich und gab mir mitten im Konzert einen Kuss. „Dass ist etwas völlig anderes, so hab ich es noch nie gehört. Es ist dann deine Musik. Die Musik ist Gloria, und dann klingt sie wunderschön.“ erklärte Andy nach dem Konzert. Geringere Liebe? Wir freuten uns an unserer Andersartigkeit.
Eine wundervolle Zeit. Ich schwamm in Glück und Freude, nur ich bekam auch immer öfter Angst. Es sollte sich nie etwas ändern an diesen freudigen Tagen. Aber warum sollte es ausgerechnet bei uns anders sein, als bei den übrigen Leuten, zumal wir doch nie etwas aktiv für dieses Leben getan hatten. Es hatte sich einfach so entwickelt. Glückskinder mussten wir sein, aber darauf konnte man sich nicht verlassen. Ich kannte ja die Myriaden von Gründen nicht, von denen Anniese gesprochen hatte, aber die Vorstellung, dass Andy und ich uns nicht mehr übereinender freuen würden, konnte ich nicht ertragen, ein so grässliches Bild, dass ich mich weigerte, es zu malen. Sicher verhindern ließ es sich nur, wenn man den potentiellen Entwicklungen keine Chance bot. Wenn wir sagten: „Wie es jetzt ist, macht es uns beide glücklich. So soll unsere gemeinsame Zeit in unserem Gedächtnis erhalten bleiben. Wir gehen keine Risiken ein und beenden unser Verhältnis jetzt.“ Das war im Grunde auch unvorstellbar, aber sicher wäre es gewesen. Was soll denn daraus werden? Wohin soll das denn führen? Dagny hatte absolut Recht. Selbst wenn es immer so glücklich bleiben sollte, eine Perspektive hatte ich nicht. Ich wollte nicht mit einem Mann zusammenleben, Andy war und blieb aber trotz allem ein Mann. War mein Beschluss dadurch, dass ich Andy kennengelernt hatte, plötzlich belangloses Gewäsch von gestern? Keinesfalls, es war und blieb meine begründete und fundierte Einstellung. Sollte ich sagen: „Ja, aber mit Andy das ist eine Ausnahme, da ist alles anderes.“ Warum denn, weil es uns jetzt so gut gefiel? Da würde es nicht lange dauern, bis Andy und ich voll zusammenlebten. Vielleicht kämen wir irgendwann auf die Idee zu heiraten. Dann würde es nicht lange dauern, bis sich die Frage nach Kindern stellte. Nein, nein, nein! Das wollte ich nicht. So konnte mein Leben nicht aussehen, auch mit Andy nicht. Ich würde mal mit Andy darüber reden. „Aber bislang ist doch alles wundervoll gelaufen. Siehst du denn irgendwelche Anhaltspunkte, dass sich da etwas verändern könnte?“ fragte Andy. „Nein, konkret nicht, aber dass es bislang so glücklich war, ist Zufall. Vielleicht hat es auch daran gelegen, dass unsere Beziehung von Anfang an eine vernünftige Liebe war. Den oberflächlichen, leidenschaftlichen Rausch des Verliebtseins hat es bei uns nie gegeben. Wir haben gleich von Anfang an das Wunder des anderen Menschen in uns gesehen und tiefer zu ergründen versucht.“ erklärte ich. „Und du hast Angst, dass wir das in Zukunft nicht mehr tun könnten?“ erkundigte sich Andy. „Andy, wir sind ganz normale Menschen. Wir wissen nicht, warum es so ist, dass wir zur Zeit so glücklich sind, warum sollte bei uns nicht etwas auftreten, wie es bei den meisten Menschen üblich ist, was dazu führt, dass die Liebe verblasst. Das erleben zu müssen, könnte ich nicht ertragen.“ erklärte ich. „Was willst du tun? Unser jetziges Glück konservieren, es einfrieren? Das wird nicht gehen. Unsere Freude aneinander ist kein Zustand, den man unabänderlich festhalten könnte, es ist unser Leben, unser tägliches Zusammensein, ein Prozess, der sich immer fortentwickelt.“ verdeutlichte Andy. Wir unterhielten uns noch weiter, und ich machte Andy klar, dass es keine andere Möglichkeit gebe, dem Verwelken der Liebe zu entgehen, als dass wir uns trennten und unser Zusammensein als die wunderschönste Zeit unseres Lebens in unserem Gedächtnis behielten. Immer hatten wir bei Diskussionen letztendlich zu einem gemeinsamen Nenner gefunden, jetzt war es zum ersten mal nicht so. „Gloria, das ist deine Sicht, die ich nicht teile, sondern für falsch halte. Es gäbe tausend Möglichkeiten, bei ersten Anzeichen von Problemen etwas zu unternehmen. Was du willst, ist ein anderes Leben, ein Leben ohne unsere Liebe. Und mit den schönen Erinnerungen, mit Verlaub, Gloria, aber darüber kann ich nur lachen. Wenn du es allerdings so willst, kann ich mich dem nicht widersetzen. Ich kann dir nicht vorschreiben, was du zu tun und zu denken hast.“ verdeutlichte Andy seine Sicht. Das war schon kein Gespräch mehr, das in unserer Liebe stattfand. Ich war zu einer wirklichen Diskussion gar nicht bereit. Ich sah nur mich, und was ich für mich beschlossen hatte. Natürlich blieb ich bei meiner Ansicht, ich hatte Angst um meine eigene Zukunft, und das ließ alle Liebesgefühle für Andy verblassen. Vorerst wollten wir uns noch an den Wochenenden treffen, um es langsam ganz auslaufen zu lassen. Diese Wochenenden waren entsetzlich. Wir taten, als ob alles wie früher sei, nur war das total verlogen. Eine gewisse Freude war schon da, wenn Andy kam, aber alle Zärtlichkeiten und Liebesbezeugungen hatten auch den süßsaueren Beigeschmack, dass es bald zu Ende sei. Wenn Andy gegangen war, kamen mir oft die Tränen. Aber ich wollte es so, das stand fest, und ein Zurück gab es da nicht. Im Grunde war ich auch froh, als die unangenehme Zeit mit den Wochenenden vorbei war, aber jetzt war gar nichts mehr. Jetzt sah ich Andy überhaupt nicht mehr, Andy existierte nicht mehr für mich. Ich wollte ihn keineswegs vergessen, in meinen Erinnerungen würde unsere wundervolle Zeit den ersten Platz belegen.
Zunächst war ich sogar ganz stolz. Ich war jetzt wieder völlig frei und selbständig. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Nur was ich tun wollte, das wusste ich oft gar nicht. Ich tat dies und jenes, um dieses Gefühl nicht aufkommen zu lassen. Ein Gefühl, von dem ich in meinem bisherigen Leben verschont geblieben war, das ich nicht kannte. Ich hatte Langeweile. Ich konnte gar nicht mehr selbständig und eigenverantwortlich leben. Offensichtlich hatte ich unseren Tagesrhythmus voll internalisiert. Tagsüber tat ich das, was zu erledigen war, und abends kam Andy. Aber Andy kam nicht mehr. Das brachte auch am Tag alles durcheinander und abends im Bett sowie so. „Ich habe doch immer allein gelebt, warum soll es denn jetzt auf einmal Probleme geben?“ versuchte ich mir einzureden. Aber beim Lesen abends im Bett dauerte es nicht lange, bis die Gedanken abschweiften und bei Situationen zwischen Andy und mir landeten. Jedoch nicht nur abends im Bett, ständig konnte es passieren, dass ich mich beim Lesen nicht konzentrieren konnte, und meine Gedanken zu Erinnerungen an Andy und mich flogen. Meine Erinnerungen an die Zeit zwischen Andy und mir konnten sich nicht nur in den Sektoren des Gehirns befinden, in denen das Gedächtnis seinen Sitz hat, sie mussten überall in mir verteilt sein, konnten sich zu jeder Zeit und an jedem Ort melden. „Haut ab!“ schimpfte ich wütend, „ich will doch nichts vergessen, aber ihr könnt mich doch nicht permanent belästigen und stören.“ Dagny und Anniese hatten mir abgeraten, es so zu machen, aber es war ja mein Leben, für das ich ganz allein verantwortlich war. „Ich habe deine Argumente gehört und auch verstanden, aber mit deinem Handeln stimme ich nicht überein. Du kannst Liebe nicht per Beschluss beenden. Das wird dich verfolgen, möglicherweise über lange Zeit.“ hatte Dagny erklärt. Anniese meinte: „Du hast Angst, dass eure Liebe verblassen könnte. Du musst sie schützen und hüten, sie ist das höchste Gut, das den Menschen gegeben ist, aber du zerbrichst sie. Sagst einfach: „Jetzt ist Schluss.“ Das bleibt nicht ohne Folgen.“ Die Folgen spürte ich ja schon, aber ich ging davon aus, dass die ständigen Gedanken an unsere gemeinsame Zeit langsam seltener auftauchen würden.
Dagny war aus Frankreich zurück. Sie hatte ihren Freund Luc nach Hause gebracht und war einige Wochen in Montpellier geblieben. Luc wollte ihr alles zeigen, und seine Eltern hatten Vorbehalte gegen eine deutsche Freundin. „Es ist schon wunderbar da.“ begann Dagny, „Das Wetter, die Umgebung, immer sofort am Mittelmeer, immer Urlaub. Aber auch das Leben in der Stadt, formidable. Beinahe wäre ich da geblieben. Lucs Eltern haben enorm versucht, mich zu überreden. Allerdings je länger ich zurück bin, umso deutlicher wird mir, wie gut es ist, dass ich nicht dort geblieben bin. Luc hat in Montpellier seine Kreise, kennt sich aus, ist dort zu Hause. Und ich? Total isoliert wäre ich gewesen. Komplett abhängig von Luc und seiner Familie. Um Himmels willen, da hätte ich ihn auch gleich heiraten können.“ „Das wolltest du aber nicht. Ich denke er ist dein Liebster.“ provozierte ich leicht. „Gloria, ich mag Luc schon, aber an Heiraten, denkst du denn daran? Warum hast du Andy nicht geheiratet, dann hättest ihr bei Problemen immer zur Eheberatung gehen können.“ sagte Dagny und lachte. „Und was hieltest du davon, wenn wir beiden freien Hexen uns eine Wohnung für uns beide suchen würden?“ schlug ich vor. „Oh ja, wundervoll, da bin ich noch gar nicht drauf gekommen. Ist das nicht ein alter Traum von uns?“ reagierte Dagny. Natürlich wäre ich gern mit Dagny zusammen, aber ich war auch froh, dann nicht immer allein zu sein. Für Andy als Mann würde es keinen Ersatz geben, aber es war auch das Leben mit Andy, für das ich bislang noch keinen Ersatz gefunden hatte. Selbstbestimmt und eigenständig, was heißt das denn, eine hole Floskel, eine Chimäre ist es. Es kommt darauf an, womit du es füllst, und da war für mich immer noch nichts anderes vorstellbar, als meine Abende und Nächte glücklich mit Andy zu verbringen. Ich fühllte mich nicht selten allein. Gefühle von Einsamkeit tauchten auf. „Mit der Trennung von Andy, hast du das denn halbwegs überwunden?“ fragte Dagny. „Na, nicht so richtig. Es tut manchmal noch sehr weh.“ antwortete ich nur lapidar. Jetzt war es zunächst mal besser. Wir waren mit konkreten Aufgaben beschäftigt, die uns Freude bereiteten. Das schien Andy zu verstehen, und er störte nicht mehr so oft. Wir mussten uns eine Wohnung besorgen, die Umzüge organisieren und umziehen. Damit waren wir beide involviert und gut gelaunt beschäftigt. Dagny hatte viele Bekannte. Wenn sie sich trafen, wurde oft viel gelacht. Ich hielt mich meistens lieber zurück. „Du hast dich verändert.“ hatte Dagny erklärt, als sie aus Montpellier zurückkam. Das musste sie natürlich erläutern. „Sonst sprudeltest du vor Lebensfreude, warst gar nicht zu bremsen. Jetzt bist du ruhiger, introvertierter, nachdenklicher geworden.“ meinte Dagny. „Liegt bestimmt am Alter, bringt das Alter eben mit sich, die Weisheit.“ scherzte ich. Ich hatte mir die Bettdecke wieder über den Kopf gezogen. Aufstehen würde ich heute nicht. Es war alles so sinnlos. Ich wühlte und agierte herum, paukte und ging zum Repetitor, damit ich später vielleicht mal Rechtsanwältin werden könnte? Wozu das alles? Wollte ich das denn? War das der Sinn des Lebens? Wo war er denn überhaupt zu finden? Ein gottgefälliges Leben führen, damit man später mal in den Himmel käme? Über so etwas konnte ich nicht mehr lachen. Jeden Tag ein wenig die Freude vermehren, um in den Zustand der Eudeimonia zu gelangen, hatten die Griechen empfohlen. Freude mehren? Welche Freude sollte ich denn mehren? Worüber sollte ich mich denn freuen? Grau waren die Tage wie heute. Alles mit einer trüben Wolkendecke überzogen. Kein Fünkchen Licht oder Freude zu erkennen. Am Nachmittag kam Dagny rein. „Geht's dir nicht gut? Hast du was? Bist du krank?“ fragte sie. „Ich fühl mich heute nicht so gut.“ antwortete ich gelassen. „Gloria, ich weiß ja nicht, aber das ist doch heute nicht das erste mal. Es gibt Tage, da läufst du ständig nur im Morgenmantel rum, ziehst dich gar nicht an. Sag doch, wenn dich irgendetwas quält oder bedrückt. Wem willst du es denn sonst sagen.“ forderte mich Dagny auf. „Weißt du, Dagny, mit Andy das ist gar nicht erledigt. Seitdem stimmt die Welt nicht mehr. Nichts funktioniert mehr normal, und manchmal weiß ich gar nicht was das alles soll. Alles erscheint mir dann völlig sinnlos.“ erklärte ich. „Du wünscht dir immer, dass Andy jetzt bei dir sein könnte, dann hätte alles wieder einen Sinn.“ vermutete Dagny. „Nein, Andy ist nicht der Sinn des Lebens, und es geht auch nicht um einen Mann, es geht nur darum, dass es jemanden gibt, der dir sagt: „Es freut mich, dich zu sehen. Es macht mich glücklich, dass es dich gibt.“ sagt meine Freundin Vivienne. „Das ist es, was dir fehlt, die Liebe. Dann könnte das Leben wieder einen Sinn für dich haben.“ mutmaßte Dagny. „Ja, Liebe ist Freude, und ohne Liebe ist alles, worüber du dich freuen könntest, wertlos.“ antwortete ich. „Gloria, wenn du ganze Tage mit Tristesse im Bett liegen bleibst, mache ich mir Sorgen um dich. Das ist nicht üblich und normal. Ich denke, du solltest unbedingt eine Ärztin oder einen Arzt konsultieren.“ ermahnte mich Dagny. „Depressionen denkst du, nicht war? Du denkst ich hätte Depressionen, daran habe ich auch schon gedacht, aber ich gehe nicht zum Arzt und lass mir Glückspillen verschreiben.“ stellte ich klar. „Nein, aber Depressionen können sich ganz böse entwickeln und je eher du sie behandeln lässt, umso besser sind die Erfolgsaussichten.“ wusste Dagny. Ich ging auch zu einem Psychotherapeuten, erklärte ihm gleich, dass ich Depressionen hätte und auch wisse warum. Er lachte, hörte sich aber die ganze Geschichte mit Andy aufmerksam an. „Eine Beziehungsgeschichte wie von einem anderen Stern.“ sagte er, „In der Regel sind Ansätze zum Verblassen der Liebe in jeder Beziehung schon von Anfang an enthalten. Aber sie haben sich selbst psychisch vergewaltigt, sie haben sich für etwas entschieden, was sie psychisch gar nicht verkraften können. Ich sehe zwei Möglichkeiten. Sie sollten ihre Beziehung auf jeden Fall wieder herstellen, soweit das eben möglich ist, aber andererseits würde ich ihnen auch eine Analyse empfehlen, damit sie demnächst mit so gravierenden Problemen besser zurecht kommen.“ Die Pillen, die ich verschrieben bekam, wollte ich nicht. Der Arzt hat mir aber erklärt, wie sie wirkten, dass sie dringend erforderlich seien, und es sich nicht um euphorisierende Psychopharmaka handele. Natürlich musste ich Dagny alles genau erklären. „Na, dann ruf Andy doch mal an. Sag ihm er solle alles vergessen, es wäre jetzt wieder wie früher.“ meinte sie. Wir lachten. „Ich weiß gar nicht, was mit Andy los ist. Bei den Juristen sehe ich ihn nie mehr. Er wird doch nicht irgendeinen Unsinn gemacht haben.“ erklärte ich. Wir überlegten, wie Dagny mir am besten helfen könne. Ich sollte es nie für mich behalten, wenn ich mich mies fühlte. „Du musst wissen, dass Dagny dir immer gern zuhört, wenn du dich über die Sinnlosigkeit dieser Welt zu beklagen hast. Hinterher steckst du mich noch an. Ich sehe es auch so wie du, und verfalle selbst in die Melancholia.“ scherzte Dagny, „Nach der glücklichsten Zeit in deinem Leben erlebst du jetzt die schwärzesten Tage.“ Wir wollten so viel wie möglich gemeinsam machen. „Aber übrigens, Gloria, ich freue mich doch auch dass es dich gibt, oder lieben wir uns nicht?“ wollte Dagny wissen. Zum ersten mal spürte ich im Bauch, wie gut es mir tat, mit Dagny zusammen zu sein. Waren das die ersten Funken von Freude und Glück?
„Ich traue mich gar nicht, Andy anzurufen. „Hallo Andy, hier ist Gloria.“ und dann? Ich möchte nur gern wissen, was mit ihm ist, wo er steckt. Wenn ich seine Eltern anrufe, die werden mich wahrscheinlich verfluchen und zum Teufel wünschen.“ befürchtete ich. Überall in der Fakultät erkundigte ich mich, entweder keine Auskunft oder ein Andreas Speemann war nicht bekannt. Er besuchte ja trotz aller Vorbehalte Donnerstagsabends immer einen Arbeitskreis der Grünen. Wir hatten oft darüber diskutiert. „Es gibt auch heute sicher genügend Anarchisten, die Gewalt ablehnen, nur sie tauchen nirgendwo mehr auf. Anarchismus wird immer mit Gewalt gleichgesetzt, und bei den Gruppen, die ich hier kenne, ist das auch so.“ hatte Andy erklärt. Deshalb wollte er wenigstens bei den Grünen auf lokaler Ebene, die schlimmsten Auswüchse des kapitalistischen Systems zu verhindern versuchen, um politisch nicht völlig untätig zu sein. Bei den Grünen bestätigte man mir, dass André am Donnerstagabend an dem Arbeitskreis teilnehme, und eigentlich kommen müsse, wenn er nicht verhindert sei. Was ich genau wollte, wusste ich gar nicht. Auf jeden Fall wollte ich ihn einmal sehen. Ich wartete etwa zwanzig Meter neben dem Eingang zur Geschäftsstelle der Grünen, denn erkennen wollte ich ihn schon. Als Andy ziemlich hastig kam, blickte er noch einmal zur Seite, bevor er das Haus betrat. Er erkannte mich. „Gloria?“ kam er fragend auf mich zu. „Ich wollte dich nur noch einmal sehen.“ stotterte ich. „Wo steckst du? Ich seh dich nie mehr.“ erklärte ich, „Du hast doch nicht das Studium abgebrochen?“ erkundigte ich mich. „Ach, das ist eine komplizierte Geschichte.“ antwortete Andy nur. Es war kalt und Andy hatte nur eine dünne Jacke an. Ich öffnete meinen Mantel und bot mich Andy an. Er kam lächelnd auf mich zu und ließ sich von mir mit dem Mantel umfangen. Unsere Mimik lächelte, aber es lag auch etwas Fragendes darin. Im Moment hatte ich das Empfinden: „Es ist alles wie früher.“ Ich hatte meinen Andy umschlungen. „Musst du nicht da rein?“ erkundigte ich mich. „Wenn meine Gloria draußen steht, muss ich nirgendwo rein.“ erwiderte Andy. Wir gingen in ein Restaurant und tranken ein Glas Wein. „Wie hast du alles überstanden? Bist du gut damit fertig geworden?“ erkundigte sich Andy. „Nein, so gut nicht. Ich musste immer an uns denken. Und du, wie geht’s dir?“ fragte ich und beendete damit die Diskussion über meinen Zustand. „Mich hat es fast aus der Bahn geworfen. Ich habe über die ganze Welt und vor allem über mein Leben nachgedacht. Die Entscheidung, Jura zu studieren, war ein wenig durchdachter, theoretischer Beschluss, der überhaupt nicht zu mir passte. Ich habe alles abgebrochen.“ erklärte Andy. „Wie, alles was du bislang gemacht hattest, für den Wind? Und was machst du jetzt?“ wollte ich wissen. „Ich habe mein ganzes bisheriges Leben durchdacht, ein neues Leben begonnen, und in dem studiere ich jetzt Philosophie. Es ist viel mehr Arbeit als Jura, aber es macht mir Spaß.“ erklärte Andy. „In gewisser weise habe ich auch ein neues Leben begonnen. Ich wohne nämlich jetzt mit Dagny zusammen.“ berichtete ich. „Dann kann man dich gar nicht mehr besuchen.“ stellte Andy fest. „So ein Quatsch. Warum denn nicht? Wann willst du denn kommen?“ entgegnete ich. Wir machten einen Termin aus, wann Andy mich besuchen kommen wolle. „Ein neues Leben hat er begonnen.“ berichtete ich Dagny, „So ein Unsinn. Das gibt es nicht. Du kannst vielleicht vieles ändern, aber das alte Leben nimmst du immer mit. Nachträglich etwas ungeschehen machen, das gibt es nicht. Was du erlebt hast, gehört auch zu deinem neuen Leben.“ „Na ja, du hast vielleicht Recht, aber du kannst doch schon an den Strukturen etwas ändern, und dann bekommt dein Leben schon ein ganz neues Gesicht. Ob du es als neues Leben oder neue Lebensphase bezeichnest, ist dann doch schließlich egal.“ meinte Dagny. „Mein Psychotherapeut hat mir vorgeschlagen, eine Psychoanalyse zu machen. Ich glaube nicht, dass ich das will. Er wird aus mir einen anderen Menschen machen, mir ein neues Leben verschaffen. Dass will ich aber gar nicht. Ich will die bleiben, die ich immer war.“ erklärte ich. „Auch die, die bei beendeter Liebe in Depressionen verfällt?“ zweifelte Dagny. „Im Grunde hast du Recht. Ich habe mich immer für eine starke Frau gehalten, die über allem schwebt, alles geregelt bekommt, mit allem fertig wird. Jetzt merke ich, wie schwach und empfindlich ich bin. Andy, der mir immer wie so ein zartes Pflänzchen erschien, denkt über alles nach und beginnt ein neues Leben. Ich finde keinen Weg und zerbreche daran.“ reagierte ich.
Als Andy am frühen Abend kam, plauderten wir zunächst ein wenig zu dritt in der Küche. „Zwei Single Frauen, da kann jeder Mann etwas finden. Aber du bist gar nicht auf der Suche, nicht wahr?“ scherzte Dagny leicht provokant, aber Andy ging gar nicht darauf ein, sondern grinste nur. Andy und ich gingen in mein Zimmer. Zunächst unterhielten wir uns noch ein wenig über Allgemeines. Dann erklärte ich: „Andy, mit unserer Trennung, da bin ich überhaupt nicht fertig geworden. Neues Leben und so, das hat nicht funktioniert. Ich bin richtig krank daran geworden, und bin in ärztlicher Behandlung. Mein Therapeut sagt, es sei für mich dringend erforderlich, die alte Beziehung wieder herzustellen.“ erläuterte ich. „Oh, Gloria, jetzt sollen wir einfach so tun, als wenn alles wieder wie früher wäre, aus therapeutischen Gründen, als Pharmazeutikum für dich? Was wirklich mit uns ist, spielt keine Rolle. Oh, nein, Gloria, wie stellst du dir das denn vor?“ Andy entsetzt. „Ich mein ja nur.“ mehr brachte ich als Reaktion auf Andys schroffe Ablehnung nicht hervor. „Ich meine nur, unsere Liebe war ja da, wir haben nur unsere Beziehung beendet, damit unsere Liebe keinen Schaden nähme.“ erklärte ich. „Gloria, ich habe und will niemals etwas von dem vergessen, was zwischen uns war, aber ich habe unsere Trennung akzeptiert. Das Kapitel ist abgeschlossen, ich habe ein neues Leben begonnen, und darin kommt eine Gloria nicht vor.“ sagte Andy. „Du lügst, die Gloria ist da. Sie sitzt dir gegenüber, fass sie mal an. Oder gehört der Moment, den du jetzt erlebst, nicht zu deinem neuen Leben?“ warf ich Andy vor. „Ja o. k., seit ich dich getroffen habe, gehört Gloria auch zu meinem neuen Leben.“ gestand Andy grinsend ein. „Sag etwas Liebes zu Gloria!“ forderte ich ihn auf. „Du bist die Schönste von allen.“ sagte Andy lächelnd. „Das ist nix Liebes.“ widersprach ich, „Ich freu mich, dass ...“ half ich ihm formulieren. „Nein, Gloria, das kann ich nicht. So ist es nicht. Das war mal, das sind meine Erinnerungen, aber heute sind wir andere Menschen.“ weigerte sich Andy. „Und die anderen Menschen, könnten die denn auch ein Interesse daran haben, sich näher kennenzulernen, was meinst du? Du sollst sogar deine Feinde lieben, steht in der Bibel, von außer Gloria steht nix dabei.“ erkundigte ich mich. Andy schmunzelte. „Wie sollte das funktionieren?“ fragte er. „Wir könnten uns einfach mal öfter unterhalten.“ schlug ich vor. Das wollten wir tun, uns einmal in der Woche zu einem Gespräch treffen. Ich berichtete Dagny: „Er will es nicht. Unsere Beziehung befände sich in seinem Gedächtnis, aber in seinem neuen Leben käme ich nicht vor. Ich finde das ziemlich kurios. Dein Gedächtnis ist doch keine Schatztruhe, die du verschließen kannst, es ist doch ein aktiver und immer präsenter Teil in deinem Leben. Dein Denken und deine Entscheidungen werden doch immer auch von deinem Gedächtnis bestimmt. Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch will. Das sogenannte neue Leben hat ihn zu einem sonderbaren Typen gemacht. Liebesgefühle für mich verspürt er jedenfalls nicht mehr.“ berichtete ich. „Du für ihn aber schon?“ vermutete Dagny. „Ich bin mir nicht sicher. Manchmal kommt er mir in der Tat sehr entfernt und fremd vor, aber andererseits verkörpert er auch immer das Sinnbild meiner Sehnsucht.“ antwortete ich, „Ich glaube, wie früher kann es sowieso niemals mehr werden. Ich weiß gar nicht, was ich will. Du musst mir sagen: „Sei tapfer, Gloria, sei eine starke Frau.“, aber wenn starke Frau bedeutet, sich gegen seine Gefühle zu entscheiden, dann will ich das gar nicht mehr. Ich brauchte auch ein neues Leben, ein Leben, in dem es Freude geben kann ohne Andreas. Freude gibt dir Macht und Kraft, gibt dir mehr Leben, Trauer vermindert es, macht dich schwach und kraftlos. Ich will in Freude über mein Leben herrschen können.“ Sonderbar mutete es mich bei unserem nächsten Treffen an. Da saß Andy, der für mich monatelang die Welt gewesen war, und da saß dieser Philosophiestudent, den ich bei den Grünen getroffen hatte, mit seinem neuen Leben. „Hast du schon Pläne für dein neues Leben, gibt es eine Perspektive?“ erkundigte ich mich. Andy erklärt, dass er alles tiefgründiger durchdenken wolle, damit es nicht mehr zu so falschen Entscheidungen an der Oberfläche käme. „Ja und konkret. Was hast du vor außer dem neuen Studium? Gibt es schon dezidierte Pläne? Zum Beispiel eine neue Freundin? Eine Frau, das braucht der Mann doch. Der Mann braucht doch eine Frau, ich meine, wegen des Geschlechtstriebes.“ erklärte ich. Andy antwortete nicht. Er grinste nur und kniff mir in den Oberarm. Ob das ein Zeichen von Zuneigung, von gegenseitigem Einverständnis war? Ob er mich immer noch als die Frau an sich sah, er sich keine Beziehung zu einer anderen Frau vorstellen könnte, er mir auch in seinem neuen Leben nicht untreu werden würde? „Was in Zukunft alles auf mich zukommen wird, das kann ich doch im Voraus nicht wissen. Ich weiß nur, dass ich im Moment viel zu arbeiten habe, aber es gefällt mir, es macht mir Freude.“ reagierte Andy. Freude, die sich aus der Entscheidung für das richtige Studium ergab? Brauchte Freude nicht immer die glückliche Beziehung unter Menschen als Basis? Andy erzählte noch etwas davon, womit er sich gerade beschäftigte. Wir hatten früher auch öfter über philosophische Themen gesprochen. Jetzt schaute ich mir Andy genau an, wollte sehen, ob ich in seier Mimik, Gestik und Körpersprache mehr von dem alten Andy, als von dem mit dem neuen Leben erkannte. Es befriedigte mich zu erleben, dass er darin ganz der alte Andy geblieben war, einen neuen schien es da nicht zu geben. Ich erzählte noch ein wenig von dem unsinnigen Pauken bei den Juristen, und dann verabschiedete sich Andy. Als er gegangen war, setzte ich mich an den Küchentisch und fing an zu heulen. Vor Wut trommelte ich mit den Fäusten auf den Tisch. So eine perverse Situation. Die Welt waren wir uns füreinander gewesen, es gab keine größere Offenheit und Nähe als zwischen uns beiden, und jetzt unterhielten wir uns beinahe wie zwei Fremde. Ich grübelte, wie so etwas möglich sein könnte. Andy hat Angst. Er meint mit allem fertig geworden zu sein und hat höllische Angst, dass alles wieder aufgewühlt werden könnte, er zu dem zurück käme, was ihn fast aus der Bahn geworfen hatte. Er sperrte sich und wollte sich auf nichts mehr einlassen. Offensichtlich ist Angst das stärkste Gefühl, auch stärker als die Liebe. Ich überlegte, ob ich diesen Zirkus nochmal mitmachen sollte, oder Andy sagen, ich hätte keine Lust mehr, er müsse in seinem neuen Leben allein zurecht kommen, denn meinen wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen entsprach das nicht. Vielleicht sollte ich selbst mal Kontakt zu einem anderen, netten Mann aufnehmen, der nicht durch ein neues Leben belastet war. Ich kannte ja genug, aber da standen meine Erfahrungen mit Andy immer noch wie eine unüberwindliche Barriere im Wege. „Was du zu deinen Erinnerungen nehmen wolltest, hat sich eher zu einer fixen Idee verfestigt.“ hatte Dagny mal diagnostiziert, „Du hast wundervolle Gefühle im Zusammensein mit Andy erlebt, aber Gefühle sind nicht unverbrüchlich starr, sie verändern sich. Wirklich ist immer nur das Gefühl, das du jetzt hast. Du hast dir aber von eurem Zusammensein ein Bild gemalt, das du verehrst, und das durch nichts verändert oder beschädigt werden darf.“
„Andy, wir diskutieren miteinander, weil wir herausfinden wollen, wie es möglich wäre, dass wir beide Interesse aneinander fänden.“ erklärte ich zu Beginn unseres nächsten Treffens, „Aber wir sitzen herum wie zwei Kaffeetanten. Tauschen im Smalltalk Belanglosigkeiten aus. Ich dachte du tätest nur noch, was deinen wirklichen Bedürfnissen entsprechen würde. Wo liegt denn da dein wirkliches Bedürfnis?“ Andy machte eine Pause, zögerte und grinste leicht verlegen, wenn er rot werden könnte, wäre es jetzt sicher angezeigt. „Gloria,“ begann er dann stotternd, „ich kann mich dem nicht entziehen, aber es ist einfach immer noch wundervoll, dich betrachten zu können.“ „Na ja, kein Wunder bei der schönsten Frau der Welt,“ scherzte ich, „aber wenn du etwas siehst, etwas hörst, etwas wahrnimmst, hast du immer auch Assoziationen, hast Empfindungen, hast Gefühle. Die hast du bei mir aber nicht, oder?“ wollte ich wissen. „Gloria, du quälst mich. Wenn ich dich betrachte, sehe ich natürlich nicht nur die Frau, deren Aussehen mir gefällt, sondern immer auch die Frau, die ich geliebt habe, wie keinen anderen Menschen jemals in meinem Leben. Aber das soll doch vorbei sein. Ich weiß daher gar nicht, ob es gut ist, dass wir uns treffen.“ antwortete Andy. „Kann es ein Leben geben, in dem es nicht gut sein soll, sich an Liebe zu erinnern? Wie passt das zu deinem neuen Leben, in dem es um deine wirklichen Bedürfnisse und Gefühle gehen soll. Wäre es nicht besser, wir wären uns selbst gegenüber offen und ehrlich und würden über das reden, woran wir bei dem anderen denken?“ schlug ich vor. Andy zögerte und formte eine skeptische Mimik. „Und wie stellst du dir das vor?“ wollte er wissen. „Na, wir können einfach offen und unbefangen über das sprechen, was wir gemeinsam Schönes erlebt haben.“ erklärte ich. Andy war zwar einverstanden, aber als er ging machte er den Eindruck, sich nicht schlüssig darüber zu sein, worauf er sich da eingelassen hatte. Aber ich war glücklich. Jetzt konnten wir offen darüber reden, was wir erlebt hatten, und das würde mit Sicherheit auch Andy nicht kalt lassen. So geschah es auch, und wir lachten viel. Aber trotz der schönsten und lustigsten Erinnerungen gab es da eine Wand, die alles trennte. Unsere momentane Situation durfte davon nicht berührt werden, konnte keinen Zugang zur Verbindung mit den Erinnerungen finden. Wir konnten uns die schönsten und intimsten Bettgeschichten erzählen, aber das wir auf die Idee gekommen wären, uns zu küssen, war unvorstellbar. „Andy, es gefällt mir, ich finde es wundervoll und es hilft mir sehr, dass wir beide über unsere gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen miteinander reden können. Vor allem gefällt mir, wie offen und ehrlich wir dabei sind, völlig selbstverständlich, schön, nur habe ich trotzdem das Gefühl, dass es zwischen uns eine unüberwindliche Distanz gäbe.“ erklärte ich. „Irgendwie sehe ich das auch so. Unsere Diskussion ist ein Haus, aber zwischen uns beiden gibt es ein undurchdringliches Stacheldrahtgatter. Unsere Liebe ist auch in dem Haus. Sie stört der Stacheldraht nicht. Sie möchte, dass wir zusammenkommen, aber wir können nicht.“ erläuterte Andy. „Und siehst du einen Weg, die Stacheldrahtsperre zu überwinden oder zu entfernen?“ fragte ich ihn. „Man könnte immer ein kleines Stückchen herausschneiden und entfernen, bis die Öffnung so groß wäre, dass wir zusammenkommen könnten.“ schlug Andy vor. „Das mit den kleinen Stückchen gefällt mir. Also jedes mal, wenn wir uns treffen, ein wenig von der Distanz abbauen.“ interpretierte ich. Mir ging es schon viel besser. Antidepressiva brauchte ich nicht mehr. Was der Psychotherapeut machte, war mir mittlerweile ziemlich gleichgültig. Mein übersteigertes Ego in früher Kindheit sei eine Reaktion auf erfahrenes Unrecht, Liebesentzug oder sonstige gravierende Kränkungen. Na und? Dann war das eben so. Ungerechtigkeit hielt ich auch heute noch für ein Grundübel dieser Welt und keineswegs, weil ich Jura studierte. Auch wenn Andy mir versucht hatte, zu erklären, das Gerechtigkeit ein theoretischer Begriff sei, der für die Anwendung in der Alltagspraxis wertlos wäre. Übersteigertes Ego? So ein Schwachsinn. Die meisten Frauen könnten viel mehr davon gebrauchen. War mein Ego durch den Liebesentzug von Andy gekränkt? Nicht unmöglich, aber das Problem lag nicht in mir und meiner Kindheit, der Übeltäter war Andy. Ich hatte mich nicht selbst beschädigt, sondern die übermäßige Liebe zu Andy. Er war das Problem, er müsste mal zum Therapeuten, wie am besten die meisten Männer. Diese Ansicht verfestigte sich immer mehr in mir. Dagny meinte auch, dass es keine schlechte Idee sei, Männer generell zum Therapeuten zu schicken, bevor man sie auf Frauen losließe, denn selbst der bravste und biederste Mann berge untergründig auch immer etwas Despotisches in sich. Mit dem Testosteron würde Andy es erklären. Jedes mal etwas von der Distanz abbauen? Wie ging das denn?
Ich wartete gespannt darauf, was geschehen würde, wenn die Öffnung im Stacheldrahtzaun groß genug wäre. Aber es ging nur langsam voran. Oft konnte ich gar nicht erkennen, wie groß das entfernte Stückchen denn sein sollte. Andy schien nichts zu drängen, ihn plagte offensichtlich ehr die Angst davor, dass es zu schnell gehen könne. „Andy, ich mach das nicht mehr mit. Mit der Öffnung das wird doch wohl nie etwas. Ich will nicht ewig warten. Tu, was du willst, komm, wenn es dir passt und bleib, solange du Lust hast.“ erklärte ich strikt. Ich hatte ja nichts beendet, nur ich wollte den mühsamen Weg der äußerst langsamen Entwicklung nicht mehr mitmachen. Zärtlichkeiten hatten wir längst wieder untereinander ausgetauscht und zu Küssen kam es auch. Es war ein gemütlicher Abend. Wir hatten gemeinsam gescherzt und gelacht. Andy und ich waren zu mir ins Zimmer gegangen und hatten noch ein Glas Wein mit genommen. Wir liebkosten uns und waren zärtlich zueinander wie in früherer Zeit. „Ich will jetzt ins Bett, Andy.“ verkündigte ich als Aufbruchsignal für ihn. „Oder noch ein Glas Wein?“ fragte Andy. Ich holte die Weinflasche. Andy war glücklich. „Gloria, alles, was ich dir jemals gesagt habe, bleibt immer gültig und bestehen und trifft in jedem Moment zu. Du bist und bleibst der wundervollste Mensch, mit dem ich je in meinem Leben zu tun hatte, und unsere Liebe war nicht nur das Schönste, sondern das Tiefste und Ergreifendste, was ich je erlebt habe. Nichts hat mich jemals so bewegt.“ erklärte Andy. Ich küsste und herzte ihn. „Du weißt, dass es für mich nicht anders ist, trotzdem ist es wundervoll, zu hören, wie du es sagst, mit deiner Stimme. In meinen Ohren klingt es wie ein Liebeslied.“ ich darauf. „So soll es auch sein. Liebe ist nicht abzuschließen oder zu beenden. Sie ist einfach da und fragt dich gar nicht, was du willst.“ erklärte Andy. „Jetzt muss ich aber wirklich ins Bett.“ konstatierte ich nochmal. „Ich auch.“ sagte Andy. Ich stutzte, befürchtete schon, dass er mit mir ins Bett wollte. „Dann musst du aber ganz schnell nach Hause fahren.“ riet ich. „Gloria, ich wünsche mir, dass wir beide zusammen ins Bett gehen.“ erklärte Andy. Jetzt gab es nichts mehr zu deuteln. Andy hatte es explizit gesagt. „Ich weiß aber gar nicht, ob ich das will.“ monierte ich. Andy begann zu reden, warum wir das doch machen könnten. „Hör auf, Andy, ich will das nicht hören. Ich liebe dich doch, und davon wie schön es wäre, wenn wir wieder gemeinsam im Bett liegen könnten, habe ich geträumt, aber trotz allem kann nicht alles einfach wie früher sein.“ stoppte ich Andys Erklärungsdrang. Ich kam mir richtig schüchtern vor, als ob ich mit einem mir fremden Mann ins Bett ginge. Da war nicht einfach der alte Andy, zu ihm gehörte jetzt auch immer das Bild von dem Mann mit dem neuen Leben, der mit mir nichts mehr zu tun haben wollte. Ich verspürte gar keine Lust auf den Körper dieses Mannes. Wir sprachen sehr lange miteinander, aber Gespräche haben eine andere Wirkung, wenn du dabei im Bett liegst und dich gegenseitig streicheln kannst. Der fremde Mann verschwand immer mehr, es war einfach herrlich mit Andy zu schmusen. Beim Sex wollte ich offensichtlich den ganzen Frust der Vergangenheit austoben und das alte Bündnis wiederherstellen. Wir lächelten uns an und Andy versuchte mir überall die Schweißperlen weg zu küssen. Ob Andy noch etwas gesagt hat, weiß ich nicht, denn ich schlief sofort völlig erschöpft in seinen Armen ein.
Ich war schon aufgestanden. Dagny warf mir einen fragenden Blick zu. „Ich weiß nicht, man wird sehen.“ sagte ich nur knapp. Ich wusste es auch wirklich nicht, fragte mich selbst, ob die gemeinsame Nacht einen Auftakt zu einer neuen Beziehung zwischen uns darstellen würde, oder ob es bei dem einmaligen Erlebnis bliebe. Eine schlichte Fortsetzung unserer alten Liebe war es auf keinen Fall. Wir waren trotz aller Erinnerungen und Bezüge zu damals andere Menschen. „Ich glaube, er ist ein ganz Netter.“ sagte ich, und Dagny lachte sich schief. „Ich denke er ist dein Traum, deine Liebe, deine Sehnsucht.“ sagte sie. „Mag auch sein, aber das war das Alte. So ist er ja auch ein bisschen, aber er ist auch ein neuer Mann. Ich glaube, ich will den alten gar nicht mehr zurück haben. Ich möchte mit dem neuen von hier und jetzt versuchen glücklich zu werden.“ erklärte ich. Anniese meinte: „Das ist doch klar. Du kannst niemals heute etwas beenden und es ein halbes Jahr später an dem gleichen Punkt wieder aufnehmen. Alles verändert sich, alles ist in immer in Bewegung, alles fließt. Kein Tag ist wie der vorherige, jeder Tag ist neu und du bist jeden Tag eine andere.“ „Du meinst, auch wenn Andy sofort bereit gewesen wäre, es wieder fortzusetzen, wäre es trotzdem anders gewesen?“ vermutete ich. „Na klar, überleg mal, was du in der Zwischenzeit alles erlebt hast, das gehört jetzt auch ständig zu dir, ist zu einem Teil von dir geworden, den es früher nicht gab.“ antwortete Anniese. „Ja richtig, ich bin bestimmt ruhiger und abgeklärter geworden und nicht mehr so quirlig lebhaft wie sonst.“ bestätigte ich und fügte hinzu, „Ich denke schon, dass sich tiefgründig etwas in mir verändert hat. Sonst habe ich mein Leben ausgebreitet, immer mehr Raum zu ergreifen versucht, jetzt nehme ich mich oft zurück und freue mich über meine Sanftmütigkeit.“ Als Andy aufgestanden war, sprach er kaum. Er lächelte immer nur glückstrunken. „Gloria,“ sagte er immer sanft, strich mir mit den Fingerkuppen zart über die Wange und mit der Hand über den Arm. Dann folgte noch ein Attribut, das mich pries oder seine Bewunderung und Liebe ausdrückte. Andy war gefüllt mit Empfindungen von Liebe und Wonne. Einmal fügte er dem noch hinzu: „Eine wilde Hexe bist du geworden.“ Dafür gab's einen Klaps auf den Po und ein mahnendes: „Andy!“. Beim Frühstück boten wir uns gegenseitig an, dies oder jenes doch mal zu probieren, weil es so lecker sei, mütterliche Fürsorge für das physiologische Wohlergehen der Sprösslinge, bis wir schließlich über unser Verhalten zu lachen begannen. Andy wollte schon am Samstag wiederkommen. „Oh, und wieder über Nacht?“ fragte ich erstaunt. „Ist das nicht ein bisschen sehr schnell und überstürzt?“ gab ich zu Bedenken. Was ich genau meinte oder befürchtete, war mir gar nicht klar, nur dass Andy jetzt einfach wieder selbstverständlich jeden Abend käme, das wollte ich nicht. Es sollte sich langsam etwas Neues Entwickeln, das stand für mich fest. „Ich weiß nicht, ob es am Samstag geht. Ich muss zunächst mal mit Dagny sprechen, ob die schon etwas vorhat.“ erklärte ich.
Dagny erkundigte sich nochmal genau, wie es denn jetzt zwischen mir und Andy stehe. Dann machte sie den Vorschlag, für uns drei ein Abendessen auszugeben. Sie wolle etwas bestellen bei einem Catering Service. Ich rief Andy an, teilte ihm das mit und erklärte, dass er auch eingeladen sei. Am Spätnachmittag war Vivienne bei uns. Wir baten sie zum Abendessen zu bleiben, die Foodlieferanten brächten meistens so viel, dass es auch für mehrere reichen würde. Wir gaben einige Schoten über Männer zum Besten und lachten uns schief. Obwohl über Andy nichts erzählt worden war, meinte er: „Ich weiß gar nicht, wo ich hier bin. Offensichtlich auf einem Misandrie Kongress.“ Zunächst wieder allgemeines Gelächter, dann aber mahnende Worte von Vivienne: „Lieber Andy, du bist hier mit drei Frauen zusammen, die alle Männer lieben, wie kannst du so sprechen?“ „Über die Schönheit von Männern zu reden, finde ich allerdings schon pervers. Das ist so, als ob das Huhn dem Hahn die Federn absprechen wollte. Es ist eben einfach so, dass bei den Menschen die Frauen den ästhetisch und erotisch ansprechenderen Körper haben. Bei den Männern kannst du nur den guten Menschen oder die schöne Seele bewundern, und wo findest du die denn schon?“ erklärte Dagny. „Hat Andy denn eine schöne Seele?“ erkundigte sich Vivienne grinsend. „Ich weiß nicht genau. Mit Seelenbegutachtung und Seelenwanderung kenne ich mich nicht so richtig aus, aber ein guter Mensch ist er bestimmt, nicht wahr, Andy?“ antwortete ich. Andy grinste nur. „Ja, ist er so barmherzig und caritativ?“ fragte Dagny. „Nein, so nicht, er lebt voll als Mensch, will sich an seinen wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen orientieren, will als der Mensch leben, der er wirklich ist, nicht wahr, Andy?“ erwiderte ich. „Wenn ich das mal wüsste, wer ich wirklich bin. Da kannst du dich selbst noch so oft fragen und deine Geschichte analysieren, es bleibt dir immer unklar.“ meinte Vivienne. „Dich selbst erkennst du im anderen.“ wusste ich schlau. „In wem denn? Ich habe sicher eine sehr glückliche Kindheit gehabt. Mir hat es bestimmt an nichts gefehlt, aber darauf kommt es nicht an.“ so Vivienne. Vivienne kam aus einem sehr begüterten Elternhaus. Sie hatte immer eine Menge Knete, hätte sich die tollsten Designerklamotten kaufen können, aber sie lief immer völlig unauffällig in Jeans rum, wie alle anderen auch. „Worauf kommt es in der Kindheit an?“ wollte ich wissen. „Auf die Beziehungen. Ich habe zu unserer Küchenfrau ein besseres Verhältnis gehabt als zu meiner Mutter. Meine Mutter hat ein Herz, das nicht lieben kann. Sie hat sich nie auf mich eingelassen und mich nie an sich ran kommen lassen.“ antwortete Vivienne. „Liebe ist die höchste Form von Menschlichkeit, und Menschlichkeit zeigen, wird oft als Schwäche ausgelegt.“ erklärte ich. „Ja, Adorno,“ sagte Vivienne, „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.“ Schwäche ist für meine Mutter ein Fremdwort. Das durfte ich auch nicht kennen.“ „Deine Mutter ist eine starke Frau?“ vermutete ich. „Starke Frau, ich weiß nicht, das Wort gefällt mir nicht. Es bewegt sich so an der Oberfläche.“ reagierte Vivienne. „Wer seinen Feind besiegt hat Kraft, stark ist, wer sich selbst besiegt.“ altes chinesisches Sprichwort.“ brachte Dagny ein. „Ach, ich weiß nicht, starke Frau ist ein dummes Wort, schwache Frau allerdings nicht weniger. Ich mag diese ganzen Bezeichnungen stark und schwach, sowie bekämpfen und besiegen in Beziehungen unter Menschen nicht, würde sie am liebsten aus meinem Wortschatz tilgen.“ erklärte ich. „Mich hast du aber mit geschickten, strategischen Zügen besiegt, sodass ich jetzt genau das tue, was ich vorher keinesfalls wollte. Und ich bin dir übermäßig dankbar dafür.“ erklärte Andy. „Andy, willst du mich böse machen? Wie sprichst du? Wie denkst du? Vielleicht hätte ein Mann so denken können, aber nicht eine Frau, die liebt. Ich habe mich trotz allem auf dich eingelassen, um dich verstehen zu können, und dagegen konntest du dich letzten Endes nicht widersetzen. Du weißt doch mein Liebster: „Die Liebe ist eine Himmelsmacht.““ erklärte ich. „Ja, stimmt, du hast erzählt, Andy liebt jetzt Händel, Bach und Beethoven, den Zigeunerbaron auch?“ erkundigte sich Dagny und lachte. Es gab ständig etwas zu lachen, auch wenn wir jetzt keine Witze über Männer mehr machten. Es wurde spät und mit Viviennes Hilfe hatten wir das meiste von dem Menu verspeist. Vivienne fuhr auch nicht mehr nach Hause, sondern schlief im Gästebett. Andy freute sich besonders, dass die drei Hexen in akzeptiert hatten, und er selbstverständlich mit dazu gehört hatte. Ein wundervoller Abend. Wir quollen über vor Wärme und Glückseligkeit. Im Bett waren wir einfach nur froh, dass wir einander hatten und so glücklich beieinander sein konnten. Andy fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, kitzelte meinen Nacken und strich mir über die Wange. Er war glücklich, dass es mich für ihn gab. Ich fühlte mich wohl und geborgen wie ein Kind auf Mutters Arm. Wir schmusten, streichelten und liebkosten uns. Nur das Glück unserer Gemeinsamkeit genießen, wollten wir. Von erotischen Bedürfnissen und sexuellem Begehren keine Spur. Ich war glücklich über Andy und er über mich. So schliefen wir aneinander gekuschelt ein. Am Morgen schmusten wir uns gegenseitig wach. Aber das Glück der Nacht war noch gegenwärtig. Wir machten alberne Späße und begannen zu balgen wie übermütige Kinder. Zwischendurch mussten wir immer Pausen einlegen, weil wir vor Lachen nicht mehr konnten. Mit diesem Abend und dieser Nacht hatte sich die Beziehung zwischen Andy und mir entscheidend verändert. Wir hatten nicht miteinander geschlafen, hatten gar kein Bedürfnis danach verspürt. Das war etwas Besonderes, aber was hatte sich denn positiv verändert? Wir waren uns so selbstverständlich, offen und persönlich so nah gewesen wie auch früher noch nie. Die Liebe, etwas Transzendentales? Wir hatten sie in der letzten Nacht so praktisch greifbar direkt erfahren, hatten in Liebe pur gesuhlt. In der Küche und im Bad schon musste ich singen. Alles Mögliche trällerte ich. Eine Strophe kannte ich noch, wandelte sie ab und verjazzte sie ein wenig:
„My Vivienne was a
cotton picker and
My Andy was field hand.
My Vivienne had the
face of an angel and
My Andy was a mighty man.”
„Oh, haben wir die neue Gloria Fitzgerald gehört?“ fragte Vivienne. „Ja, direkt von den Cotton Fields in Louisiana. Ich möchte so etwas so gerne können, aber ich kann nix. Dieses bekloppte Jurastudium macht dich zu einem stupiden Menschen.“ antwortete ich. „Singen, würde ich auch gerne können, aber das kann ich überhaupt nicht. Weltberühmte Sopranistin möchte ich sein, aber ich kann sie mir nur anhören und dabei schmelzen mir alle Gefühle.“ erklärte Vivienne. „Andy, sing du mal was.“ forderte Dagny ihn auf. Andy stutzte, lächelte und begann dann: „Roses are red my love, ...“ „Oh, nein!“ wurde er von allen gestoppt. „Aus welcher Mottenkiste hast du das denn geholt?“ wollte Dagny wissen. „Das ist ein Liebeslied.“ rechtfertigte sich Andy lachend. Ich konnte mir gut vorstellen, dass wir vier in einer WG wohnten. Ganz ernst würde es da sicher nie werden. Und glücklich? Das wären wir bestimmt. Wir wollten das gemeinsame Essen wiederholen. Vivienne wollte es spendieren, nur müsse es bei uns stattfinden, weil wir bei ihr nicht alle schlafen könnten.
Ich hatte meine Therapie beendet, obwohl mir der Psychotherapeut geraten hatte, sie fortzusetzen. Eine Analyse kann nie schaden? Ganz so sah ich das nicht. Auch wenn ich keinen Schaden befürchtete, sah ich doch keinen Nutzen, keinen Bedarf mehr. Ich war glücklich. Wie sich die Beziehung mit Andy entwickeln würde, konnte ich ja letztendlich nicht wissen, aber ich wähnte mich gefestigt genug, mit potentiellen Problemen umgehen zu können. Ein übermäßig starkes Ego hätte ich in meiner Kindheit entwickelt. Hatte ich das immer noch? War ich egoistisch? Bei Anniese und Dagny traf das sicher nicht zu, da konnte ich mich zurücknehmen und hatte es immer gekonnt. Bei Anniese machte es mich von Anfang an als Baby glücklich, ihr meine Liebe zu geben. Dagny war später in das Verhältnis mit aufgenommen worden. Aber sonst? Es war schon so, dass in meinem Weltbild, in meiner Sichtweise anderer Menschen ich im Mittelpunkt stand. Ich war toll, ich gefiel mir, warum? Das kann ich gar nicht genau benennen. Narzisstisch das war ich bestimmt. Ich konnte nur nehmen, aber anderen geben, das lag für mich außerhalb meiner Sichtweite. Natürlich kann man sagen: „Ich will nicht mit einem Mann zusammenleben wegen der Männerklischees, die ich habe.“, aber bei mir war es sicher auch dadurch motiviert, dass ich keinen anderen Menschen neben mir haben wollte. Ich konnte sie nicht so sehen, wie ich mich sah und konnte mich nicht so sehen, wie ich sie sah. Ich konnte wegen meiner narzisstischen Selbstverliebtheit gar keinen anderen Menschen lieben. Durch Andy wurde diese Blockade durchbrochen, er hat mir gezeigt, dass ich ein anderer Mensch sein kann. Er hat mir gezeigt, dass ich einen anderen Menschen lieben kann, ohne dass es durch meinen Egoismus blockiert wird. Durch ihn habe ich erfahren, dass es mir Freude machen kann, einem anderen zu geben, und mich selbst zurückzunehmen. Das hatte ich durch die Trennung verloren, die Erfahrung, dass ich auch ein anderer Mensch sein kann. Ich habe immer von Andy und unseren schönen Situationen geträumt, nur ich hatte etwas von mir selbst verloren. Kein Wunder, dass sich da keine Freude entwickeln konnte, wieder die alte, egoistische, dominante Persönlichkeit zu sein. Das Leiden nach der Trennung hat mir deutlich gemacht, dass dieses Selbstbild der starken egoistischen Frau ein Trugbild war. Ich bin genauso schwach und leidensfähig wie jede andere Frau auch. Nur hatte das alles keine Bedeutung mehr. Bei dem Weg, der uns wieder zusammengebracht hat, wirkte es sich aber voll aus. Meine Sichtweise aller anderer Menschen hatte sich geändert. Ich konnte mich selbst in der gleichen Banalität und Trivialität sehen, wie ich früher nur sie gesehen hatte. Ich war eine Gleiche unter Gleichen geworden und konnte gebende Beziehungen eingehen.
Dagny hatte in einem Seminar Paul Vernon, einen Assistenten kennengelernt. Eine gemeinsame Tasse Kaffee, und Dagny hatte ihn gleich zu uns zum Essen eingeladen. Diesmal wollten wir aber selbst kochen. Als Paul kam, war das Essen noch nicht fertig. Er sollte sich mit einem Glas Wein an den Tisch setzen, aber Paul wollte lieber beim Kochen mithelfen. Vielleicht könne er noch einige Tipps geben. „Na, hör mal! Weißt du mit wem du sprichst? Einer lang geübten Köchin im Kochen französischer Gerichte. Paul Bocuse würde mich bestimmt gern als Partnerin akzeptieren.“ stellte Dagny fest. Absoluter Schwachsinn. Ein wenig konnte sie schon, aber besser konnte sie es im Kochbuch nachlesen. Er habe in seiner Kindheit und Jugend nur französische Gerichte gegessen, erklärte Paul. Er war in Paris aufgewachsen, seine Eltern waren im diplomatischen Dienst. Wir scherzten und lachten schon beim Kochen. Beim Essen erzählte Dagny Bewunderndes von Montpellier, was Paul mit seinen Erlebnisse aus Paris beantwortete. „Es ist so schade, Paris ist so nah, und da geschieht immer etwas Phantastisches.“ erklärte Paul. Er war vor kurzen auf einem Jacques Tati Festival gewesen und war begeistert. Da kannte ich ja auch einige Filme. Zunächst redete man weiter über französisches Cinema, dann kamen Dagny und Paul auf Literatur zu sprechen. Da stand ich absolut außen vor. Ich ärgerte mich wieder über meine biedere Bildung und mein vermaledeites Jurastudium. Auch wenn sich nicht wenige Juristen als die einzigen vorkamen, die logisch denken, und sie die einzigen seien, die die Welt erklären könnten, hatte ich diese arrogante Überheblichkeit nie geteilt. Ich musste da raus. Es quälte mich genauso wie Andy. Vielleicht mit Anniese gemeinsam etwas Neues beginnen? Anniese würde bestimmt auch Philosophie studieren. Da war die Liebe ja seit Platon durchgängiges Thema. Nein, aber kulturelle Bezüge würde es schon haben müssen, was ich in Zukunft machen wollte, damit ich aus der technologisierten Alltagswelt mit seinem pensée unique herauskäme und sich mir neue Sichtweisen öffneten. Paul machte zwar einen relativ biederen Eindruck, aber dass er dem pensée unique fern stand, war auch sehr schnell klar. Er war ein außerordentlich charmanter Mann. Andy war sicher nicht engstirnig und von deutscher Verklemmtheit, aber ihm fehlte dieser weltbürgerliche Charme. Ob Paul ein Narziss war? Konnte gut sein, aber Dagny hat an dem ganzen Abend kein Wort darüber verloren, dass sie in Montpellier einen Freund habe. Paul wollte uns beide zu einem Essen in einem französischen Restaurant einladen, aber ich habe verzichtet und gemeint, er und Dagny hätten sicher mehr gemeinsamen Gesprächsstoff. Andy und ich besuchten gemeinsam Anniese. Offensichtlich wollte Anniese genau herausfinden, was denn jetzt das Neue an Andy wäre, aber das konnte ich ja selbst nicht mal benennen. „Er ist so handsome geworden.“ sagte ich und lachte. „Das war er sonst nicht?“ Anniese erstaunt. „Schon auch, aber jetzt ist er so sanftmütig.“ erklärte ich. Jetzt lachte Andy. Stärker war Anniese jedoch an dem Philosophiestudium interessiert. Andy wollte sie warnen. „Ein Drittel der Leute brechen zwischendurch ab, es ist eine tierische Paukerei. Ich weiß gar nicht warum sie die Anforderungen so hoch schrauben. Ob sie Angst haben, sie könnten mittelmäßige Philosophen produzieren?“ sagte er. „Na, wenn es sich rumspricht, dass es irgendwo leichter ist, rennen bestimmt alle dahin.“ vermutete Anniese. „Ich will dir keine Angst machen, Anniese. Du bist so eine taffe, energische Frau du stehst das bestimmt durch.“ erklärte Andy. „Ich weiß nicht, ob das reicht.“ gab Anniese zu Bedenken, „deine Harmonien müssen stimmen, das ist entscheidend.“ „Oh, das ist mehr chinesisch. Ich beschäftige mich gerade mit den Vorsokratikern, die kennen solche Wörter nicht.“ meinte Andy. „Na, mag sein, das die Griechen nicht von Harmonien sprechen, aber was ist das denn anderes, was Epikur mit seiner Eudeimonia meint?“ erwiderte Anniese. Dann waren sie schnell bei Platon und seinem Gastmal und da natürlich bei der Liebe. Anniese war ja noch nicht fertig, und obwohl sie es noch offen ließ, stand es für mich fest, dass sie Philosophie studieren würde. Vielleicht sollte ich mich mal mehr mit den chinesischen Weisheiten zum Seelenleben beschäftigen, mal Laotse lesen, denn nach meinen Harmonien hatte ich mich nie gefragt. Ausgeglichen waren sie bestimmt fast nie gewesen, aber jetzt kam es mir so vor. Einem langen Sommer des Egoismus und der Selbstverliebtheit hatte mein Leben geglichen, bis die ungewollte Liebe mir andere, aber die herrlichsten Sommertage schenkte. Gefolgt wurden sie allerdings von einem stürmischen Herbst mit dunklem, kalten Wetter und Tagen voller Tristesse. Eine Sonnenwende schien dafür zu sorgen, dass es wieder länger hell wurde und auf einen neuen Frühling zuging, in dem egoistische Ambitionen völlig deplatziert wären. Hatte unsere neue Beziehung auch für ausgeglichene Harmonien gesorgt? Brauchte ich nicht mehr alles aus einer höheren Warte betrachten, konnte leben wie alle Menschen und brauchte nicht mehr als Hexe alles zu überfliegen?
FIN
"Wahre Kunst enthält immer etwas Hexenzauber."
Tania Blixen, Briefe aus Afrika
„Gloria, es gefiel mir, wie du sprachst, und ich fand dich wunderschön. Das habe ich dir ja schon öfter gesagt, dass du die Schönste von allen bist.“ antwortete Andy. „Und du bist der Liebste, aber mit der Liebe das ist, glaube ich, etwas ganz Komplexes. Es ist wie ein Universum. Die Beziehung der beiden Liebenden bildet das Magma des Sterns, und dann gibt es ganz viele Planeten, die ihn umkreisen, große, kleine, nahe, ferne. Wir beide kennen nichts voneinander. Da ist kein Stern, kein Universum. Wir sind uns zufällig begegnet wie zwei Sternschnuppen auf völlig verschiedenen Bahnen.“ erklärte ich. „Wir müssten uns besser kennenlernen, meinst du, und dann würden wir feststellen, dass aus uns nie ein Stern werden kann.“ vermutete Andy. „Andy, du bist ja schon mein Stern. Willst du morgen auch noch bleiben?“ schlug ich vor. „Nein, du musst morgen zuerst nach Hause und zur Uni, und am Abend zum Abendbrot kommst du wieder, sollen wir's so machen?“ Was machte ich da bloß? Ein bisschen durcheinander musste ich sein. Morgen würde ich mir etwas überlegen, wie wir uns zufriedenstellend für uns beide trennen könnten. Ich wollte nicht, dass Andy ein übles Bild von mir hatte. Coole Frau, was ist das denn überhaupt. Eine, die nüchtern rational denkt? Eine dominante, harte Frau, oder eine, die kühl, gefühllos und kaltherzig ist? Das war ich doch nicht, das wollte ich nicht sein. Ich wollte nur selbstbestimmt leben, schon von Kindheit an, wollte selbst mein eigenes Leben führen. Das war doch mein Leben, es gehörte mir, es gab nur eine Chefin, und die war ich. Mich an jemand anders binden, mich von ihm abhängig machen, auf ihn Rücksicht nehmen müssen, seinen Ansprüchen entsprechen, nie mehr allein sein? Und dann noch ein Mann? Niemals! Aber Andy sollte mich als die sensible, weiche, einfühlsame Frau, die er liebte, sehen. Ich wollte heute Nacht besonders nett zu ihm sein. Aber Andy lachte immer nur. Ich glaube, Andy lachte einfach, weil er sich freute, bei mir zu sein, und ich nett zu ihm war.
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2015
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