Carmen Sevilla
Carolin Alles Lüge
Jenseits von Gut und Böse?
Erzählung
Selbst, wenn du mich fragst, ob ich dich liebe, und ich sag ja,
weiß ich manchmal nicht genau, ist das nun Lüge oder wahr,
weil ich oft gar nicht mehr weiß, was das ist: Liebe.
Rio Reiser, Alles Lüge
Eine immer vorhandene Fessel, die ich gar nicht wahrnehmen wollte, war gesprengt worden. Ich war frei, alle Zwänge mit wenigen Worten beseitigt, übermütig fühlte ich mich. „Aber Liebe, Georg, das ist doch Lust und Leidenschaft,“ erklärte ich, „davon hab ich bei deinem Kuss jedoch nicht viel gespürt.“ Georg lachte immer nur. Bei ihm hatte unser Gespräch wahrscheinlich zu einem Zustand der Dauerglückseligkeit geführt. Beim zweiten Kuss war ich so stürmisch, dass ich Georg auf die Couch warf. „Carolin, wann hast du das zuletzt erlebt? Noch nie.“ schoss es mir durch den Kopf. „Ich geh aber nicht mit dir ins Bett. Das kann ich nicht. Ach, was rede ich für ein Gewäsch, vergiss es.“ sagte ich völlig aufgeregt und durcheinander. In meinem Innersten hatten die beiden miteinander kämpfenden Drachen offensichtlich nicht sofort ihre Waffen niedergelegt. Georg, den fremden Mann, wie meinen Liebsten behandeln, was musste ich denn da tun? Ich hätte es ja immer schon getan, sagte Georg, nur vor mir selbst verleugnet. Also brauchte ich nichts zu tun, doch ich musste es offen zeigen. Ich kletterte auf Georgs Schoß und setzte mich breitbeinig vor ihn. Eine bislang ebenso undenkbare Geste und ich musste lachen. „Georg, wenn es so ist, dass es öffentlich und vor allem vor uns selbst so sein darf, dass wir uns lieben, müssen wir da nicht manches verändern?“ vermutete ich. „Und woran denkst du da konkret außer Küssen und Zärtlichkeiten?“ wollte Georg wissen. „Na ja, eine Frau und ein Mann, die sich lieben, gehen doch auch miteinander ins Bett. Aber das kann ich noch nicht. Bewahre, was rede ich für einen Schrott, alles aus der großen Halde des Alltagsmülls generiert. Ich bin ein wenig nervös, Georg, und da plappere ich einfach drauf los, was ich eigentlich gar nicht will. Was ich wirklich will, das weiß ich gar nicht genau. Ich glaube schon, dass ich dich ganz möchte, auch körperlich, aber ohne Sex. Sex hat immer so etwas Aggressives, nicht wahr?“ erklärte ich, und wir lachten uns schief. „Georg, es ist nicht einfach so, dass ich freudig und beglückt bin, das bin ich schon, aber da ist noch so viel Verworrenes, Ungeklärtes. Ich glaube, ich muss mich in unseren Zustand erst langsam einleben.“ erklärte ich. Wir hatten die ganze Zeit mit Kaffee in der Küche verbracht. Georg schlug vor, einen kleinen Spaziergang zu machen, das kühle ab und beruhige. „Und am Teich werden die Enten mir zuschnattern: „Was der Georg erzählt, alles nur Lüge.“ versuchte ich zu scherzen.
Carolin Alles Lüge Inhalt
Carolin – Alles Lüge 4
Die Trennung 4
Betty 4
Wer bin ich? 5
Reemda 6
Derrida Seminar 9
Reemdas Freund 11
Georgs Promotion 12
Wonnegefühle 14
Wegelagerer 15
Genussmensch 15
Pallas Athena 17
Rigorosum 18
Nicht hier, Georg 20
Habilitation 20
Keine Lügen mehr 22
Verliebt 24
Verheiratet 25
Er hatte ja nichts gemacht, war nicht bösartig, nicht gewalttätig, betrog mich nicht und war nicht widerspenstig. Er musste nur meine Wut über mich selbst ertragen, dass ich so eine blinde Idiotin gewesen war und mir mein Leben ruiniert hatte. Letztendlich durchschauen kannst du andere nie, na gut, aber ein wenig unter der Oberfläche wirst du doch schon etwas erkennen können. „Was sollte ich denn machen? Dir raten: „Lass die Finger von dem. Der ist nicht viel wert.““ sagte meine Freundin Betty, als ich ihr vorwarf, mich nicht gewarnt zu haben. „Jetzt hast du auch einen, der dir gehört.“ so dumm, simpel muss ich damals gedacht haben, war noch mächtig stolz darauf und habe es zur Liebe deklariert. Dass er nur Ingenieur war, spielte ja keine Rolle. Dieses Bild, dass die Welt jetzt für mich in Ordnung sei, habe ich immer aufrecht zu halten versucht. Bin sogar schwanger geworden. Heute kann ich es nicht mehr verstehen, warum mir nicht früher bewusst geworden ist, dass dieser Mensch überhaupt nichts mit mir, mit meiner Persönlichkeit zu tun hat. Er ist ein Mann, ein mir fremder Mann, ein Mann, wie die meisten Männer wohl sind. Er wollte zwar immer nett und freundlich zu mir sein, aber verstehen konnte er mich nie. Es ist ja nicht schlimm, Fußball zu schauen, aber in den Fernseher zu starren und das Geschehen selbst involviert, emphatisch mitzuerleben und laut zu bejubeln, das kann ich nicht ertragen. Übliche Verhaltensweisen, die mir zu Anfang überhaupt nicht aufgefallen sind, oder die ich übersehen wollte. Alles wollte ich übersehen, was mein Bild vom glücklichen Ehepaar und dem trauten Familienleben hätte trüben können. Aber es geschah ja und machte mir nach und nach deutlich, dass dies nicht meine Welt war. Immer diese Leere, die mich umfing. Ich starrte zum Fenster und sah nichts, sah auch sonst nichts. Wut, ich hätte irgendwo gegen treten können, alles zerschlagen. Ich musste heraus aus meiner Haut, sie passte mir nicht mehr. Das war nicht meine Haut, die Alltagswelt, die mich jetzt umgab. Zudem gab es überhaupt keine Kommunikationsbasis zwischen uns außer dem Reden über Alltagsbanalitäten. Für mich wurde es immer unerträglicher und meine Wut, dass ich auf diesen Manntrottel reingefallen war, steigerte sich. Schließlich sah ich keinen anderen Weg mehr als die Trennung.
Jetzt fühlte ich mich befreit, aber frei war ich noch nicht. Darüber, wie mir das hatte passieren können, grübelte ich noch weiter. Ich war doch keine schlichte, ungebildete Frau, hatte unendlich viel gelesen und meinte alle Arten menschlicher Charaktere zu kennen. Viele Freunde hatte ich jedoch nicht. Ich kannte viele Menschen, war beliebt und kam mit allen im Institut gut aus, aber wenn mich jemand privat besuchen kam, jemand mit dem ich über Persönliches reden konnte, war da nur Betty. Wir hatten uns schon während des Studiums kennengelernt, gemeinsame Urlaube erlebt und mehr. Wir besuchten uns gegenseitig und telefonierten öfter. Ein wenig kam mir Betty wie eine Mutter vor. Sie war ein weicher, aufgeschlossener Mensch, der lieber zuzuhören als Ratschläge zu erteilen schien. „Du, deine Persönlichkeit, das ist die angesehene, geachtete und beliebte Germanistikprofessorin. Dieses Persönlichkeitsbild ist für dich verehrungswürdig. Ich bewundere dich ja auch. Ich weiß nicht, ob ich so etwas geschafft hätte, mir war es einfach zu mühsam, zu lästig, aber du stehst das durch, du lebst darin, das bist du. Nur ganz stimmt das nicht. In deinem Bild fehlt etwas. Niemand besteht nur aus seinem Beruf.“ sagte Betty. „Und was hat das mit Kevin zu tun?“ wollte ich wissen. „Ich bin ja keine Therapeutin, aber ich denke, dass dein Leben als Mensch, dein Privatleben, in deiner Persönlichkeit nur einen geringen Stellenwert hat.“ antwortete Betty. „Und da mache ich einfach irgendeinen Schwachsinn, weil mir das alles nicht so wichtig ist?“ vermutete ich. „Nein, so simpel, banal würde ich das nicht sehen. Wir alle haben doch unsere Kultur von der Allgemeinheit übernommen, haben sie uns angeeignet und zu unserer eigenen gemacht. Anders ginge es ja auch nicht. Das umfasst vieles. Nicht wenige Menschen denken und handeln nur, wie man es eben so tut, folgen dem Mainstream in allem. Für dich ist das in allem, was Germanistik, Deutsch, Literatur betrifft natürlich nicht so. Da bist du ein selbstständiger, eigenverantwortlich denkender und handelnder Mensch. Aber das trifft nicht automatisch für alles andere auch zu, wenn du eine gebildete Frau bist.“ sah es Betty. „Und du meinst, meine Entscheidung für Kevin, Familie und Kinderkriegen das war bitterer Mainstream?“ vermutete ich. „Carolin, warum du es gemacht hast, kann dir letztendlich wohl nur die Psychotherapeutin sagen. Aber hast du dich vorher denn mal irgendwo über Beziehungen und mögliche Probleme informiert? Du hast es einfach so gemacht, weil man es so macht, weil alle es so machen. Was es konkret mit dir, mit deinem Selbst zu tun hatte, danach hast du gar nicht gefragt. Und Menschenkenntnis, woher wolltest du die denn haben? Alle Literatur kann nicht die praktische Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen ersetzen.“ erklärte Betty. „Du meinst, auch die gebildete Frau muss immer damit rechnen, dass sie sich in bestimmten Dingen sehr dumm verhalten kann.“ hatte ich Betty verstanden. „Und jetzt, was machst du jetzt? Suchst dir schnell einen neuen, damit Lenny wieder einen Vater hat.“ vermutete Betty und lachte. „Betty, Betty!“ mahnte ich, „Ich habe schon verstanden. Ganz so blöd bin ich ja auch nicht. Das wird mir nie wieder passieren, allein schon weil ich mir selbst überhaupt nicht mehr trauen kann.“
In gewisser weise hatte Bettina ja Recht. Ich selbst, meine Emotionen, meine Gefühle, wann machte ich mir darüber denn mal Gedanken? Nie. Es geschah eben, wie es geschah. Da gab es vieles in meinem Leben, das so unreflektiert lief, weil es eben so lief. Das musste sich ändern, ab sofort war ich selbst die zentrale und entscheidende, handlungsbestimmende Person. Es war doch in Ordnung, weil alle es so machten, weil man es eben so machte? Alles Lüge. In Zukunft verbotene, total obsolete Argumente. Gar nicht so einfach, versuch mal bei der Essenszubereitung es nicht so zu machen, weil man es eben gemeinhin so macht, sondern dich bei der Zubereitung des Abendbrotes persönlich einzubringen, dich selbst zu verwirklichen. Noch schlimmer war es bei den Klamotten. Da hattest du den Mainstream voll internalisiert, was man so allgemein für schick und tragbar ansah, hieltest du für deinen Geschmack. Im Laufe der Zeit änderte sich jedoch mein Style und mein Outfit kolossal. Mit Lenny zusammen zu sein, hatte mir immer gefallen, jetzt nahm ich jedoch die Freude bewusst als mein Gefühl wahr. Ich begann mich zu spüren, ich spürte, wie der Mensch Carolin in mir lebendig wurde. Keine Menschenkenntnis, wie konnte Betty denn so etwas sagen? Sie wusste doch, dass ich den ganzen Tag von Menschen umgeben war. Allerdings im Hinblick auf persönliche Beziehungen zu Männern traf das schon zu. Ich hatte auch in der Schule keinen Freund. Ich habe nicht nur viel gelesen, sondern mein Interesse hatte sich auf Kultur insgesamt ausgedehnt. Als die Mädchen alle jemanden haben mussten, mit dem sie gingen, interessierte mich das nicht. Keineswegs habe ich alles immer so gemacht wie die anderen. Im Gegenteil, ich war eher eine Nonkonformistin. Überlegen fühlte ich mich. Das, womit ich mich beschäftige, erschien mir höherwertiger und wertvoller als die allgemeinen Bedürfnisse meiner Mitschülerinnen. Meine Interessen, mein Beruf stellte für mich immer das Höherwertige dar. So ist es immer geblieben, bis ich meinen Mann kennenlernte. Er war ja ein lieber, netter Mensch, der mich verehrte, und ich meinte, dass es mit Ehe und Familie langsam Zeit würde. Liebe kannte ich in allen Schattierungen. In welchem Roman oder Drama kam sie nicht vor, aber für mich selbst wusste ich gar nicht, was Liebe eigentlich war. Für mich reichte es, dass ich Kevin ganz nett fand, und ich selbst bin ja auch ein umgänglicher Mensch. Freundlich und verständnisvoll bin ich bestimmt auch, sonst wäre ich nicht so beliebt bei den Studentinnen und Studenten, aber mehr kann ich zu mir selbst gar nicht sagen. Wer ich bin in meiner sozialen und kommunikativen Funktion, das weiß ich gar nicht. Ich müsste mich dringend selbst erforschen, herausfinden, für wen ich mich automatisch in meinem Unbewussten halte, entdecken und erkennen, wer ich wirklich bin.
In einem Seminar hielt eine Studentin ein Referat über die Rolle einer Frau in einem Roman. Sie hatte sich aber nicht nur auf die Beziehungen und Funktionen der Frau in diesem Roman beschränkt, sondern hatte es in den kulturellen Zusammenhang jener Zeit gestellt, hatte allgemeine Aussagen zur Rolle der Frau und der jeweiligen Kultur überhaupt gemacht und war zu dem Schluss gekommen, dass der Begriff Frau nur ein Produkt des jeweiligen soziokulturellen Zusammenhanges sei. Natürlich kannte ich mich aus, aber leider eben nur, was man allgemein hin so weiß, dass wir im Patriarchat leben, Frauen das unterdrückte Geschlecht sind, dass sie weniger verdienen und ihnen die höherrangigen Jobs verwehrt werden. Ich persönlich hielt mich für davon nicht betroffen. Was die Studentin in ihrem Referat dargelegt hatte, weckte mich jedoch auf. Intellektuell verstanden hatte ich es schon, aber es waren alles neue Gedanken, von denen ich bislang keine Ahnung hatte. Ich las es zu Hause noch einmal durch. Ich wusste bislang nicht, wer ich selbst war, aber wer ich als Frau war, wusste ich erst Recht nicht. Ich sprach die Studentin in der nächsten Woche an. Ihr Referat habe mir sehr gefallen, ich hätte aber noch einige Fragen, ob wir uns im Anschluss an das Seminar kurz unterhalten könnten. Was die Studentin sagte, erklärte nicht einfach, sondern sie tat damit auch neue Felder auf. „Woher wissen sie das alles? Studieren sie noch etwas anderes?“ erkundigte ich mich. Sie lächelte und sagte: „Nein, wieso? Ich bin eben eine Frau, und da muss man sich mit sich selbst doch wohl ein wenig auskennen.“ Als ungemein spannend empfand ich es. Unbegrenzt hätte ich weiter nachfragen und diskutieren können. „Eigentlich müsste ich jetzt in ein Seminar, oder sollte ich es ausfallen lassen?“ fragte die Studentin. „Nein, keinesfalls, aber ich würde mich freuen, wenn ich sie mal zum Kaffee zu mir nach Hause einladen dürfte. Mein Sohn ist dann zwar da, aber der wird uns nicht stören.“ schlug ich vor, und die Studentin war einverstanden. „Carolin, nennen sie mich einfach Carolin. Frau Professor Dr. Wiegand, das würde doch jetzt stören.“ erklärte ich, als die Studentin kam. „Reemda Tienens, Titel braucht man da keine wegzulassen.“ sagte die Studentin und lachte. „Das kommt bestimmt noch. Da bin ich mir sicher.“ reagierte ich darauf. Thilda Stegmann, die Tagesmutter, brachte Lenny. Thilda berichtete kurz noch etwas. „Ich dummes Weib, das ihn gezeugt hat, bin nicht viel wert. Lenny hat nichts gegen mich, aber Thilda ist seine Herzensdame. Gegen die habe ich keine Chance.“ sagte ich an Reemda gewandt. Reemda schmunzelte. „Na ja, wie kann eine Mutter bei so einem kleinen Kind auch arbeiten, anstatt ihren Mutterpflichten nachzukommen.“ scherzte Reemda. „Mutter, wenn ich wüsste, warum ich das werden wollte. Ich will es ja auch heute nicht sein, nur Lenny gefällt mir ganz gut.“ erklärte ich. Wir sprachen über mich, wie verrückt ich gewesen war, mit Reemda einer jungen Frau, die ich überhaupt nicht kannte. Wir sprachen auch über die Allgemeinheit und das Verhalten der Frauen heute, kamen aber schnell wieder zu Themen, die allgemein feministisch ausgerichtet waren oder sich im Bereich feministischer Philosophie bewegten. „Diese ganzen Genderforschungen bringen ja vielleicht einige temporär brauchbare Ergebnisse, aber sie gehen von dem falschen Ansatz aus.“ erklärte Reemda. Das wollte ich natürlich erläutert haben. „Sie gehen von der Grundlage aus, dass es die Frau an sich gibt. Das ist aber ein Irrtum.“ meinte Reemda. „Sondern wer ist die Frau, von der man spricht?“ wollte ich wissen. „Wie vieles von dem, was wir als Wirklichkeit ansehen, ist die Bezeichnung Frau ein von Sprache geschaffener Begriff. Es gibt immer nur eine konkrete, individuelle als Frau bezeichnete Person.“ erläuterte Reemda. Das ließ mich nachdenken und führte unsere Diskussion auf erkenntnistheoretische Bahnen und zur Sprachphilosophie, in der ich zwar nicht bewandert war, mich aber ein wenig besser auskannte. „Was ich weiß, habe ich mir alles autodidaktisch angeeignet, es macht mir Spaß, mich mit dir zu unterhalten. So etwas habe ich sonst nicht, und ich merke jetzt, wie sehr es mir eigentlich fehlt.“ erklärte Reemda. „Mir ist deutlich geworden, dass ich im Hinblick auf Feminismus auch nur ein tumbes Gewächs der Allgemeinheit war. Mich selbst zu sehen, heißt jetzt in erster Linie, mich als Frau zu sehen. Unabhängig davon ist es ja so belebend und gehaltvoll, mit dir zu diskutieren, dass ich erstaunt bin, was ich alles dazu lernen kann.“ meinte ich zu unseren Gesprächen. Lenny kam, und Reemda meinte: „Hast du früher immer Lustgefühle entwickelt, wenn du getadelt oder bestraft wurdest?“ Ich lachte auf. „Keineswegs. Das gab es gar nicht. Ich war die Blume, deren Aufgabe es war, dafür zu sorgen, dass sie immer gut gepflegt wurde und prächtig blühte.“ erwiderte ich. „Und warum ergehst du dich jetzt lustvoll in deinen Selbstvorwürfen? Kannst du diese Sichtweise denn nicht vergessen? Sieh es doch so, dass es eine Fügung des Schicksals war, um der Welt diesen prächtigen jungen Menschen Lenny schenken zu können.“ schlug Reemda vor. Meine Menschenkenntnis sagte mir, dass Reemda eine Freundin sein müsse, und ich erklärte: „Reemda, meine Tür ist immer offen für dich. Ich würde mich freuen, wenn du möglichst oft Lust und Zeit hättest, uns besuchen zu kommen.“ Das kam zunächst zwar relativ selten vor, aber Reemda fühlte sich offensichtlich wohl und kam immer öfter. Unsere Gespräche waren meistens Anlass, sich anschließend mit einzelnen Themen oder Personen noch näher zu beschäftigen. Wenn ich noch dringend etwas zu erledigen hatte, spielte Reemda mit Lenny. Er hatte sie gefragt, ob sie auch eine Eisenbahn hätte. „Siehst du, Carolin, so fängt das schon in frühesten Kindertagen an.“ erklärte Reemda, „Warum hatte ich keine Eisenbahn, sondern Puppen, Plüschtiere und einen Herd mit Töpfen, auf den ich mächtig stolz war. Die künftige Hausfrau und liebevolle Mutter wird dir schon als Kleinkind beim Gehirnwachstum eingepflanzt.“ „Ja klar, 'Vater, Mutter Kind' wurde doch immer gespielt. So war die Welt, und so hat sie zu sein, und so machst du's auch.“ kommentierte ich. Reemda hatte nichts gegen Männer oder einen Freund. „Nur bisher war mir alles zu trivial, Carolin. So intensive Gefühle von Liebe oder so habe ich bislang noch nicht verspürt. Und einfach einen nehmen, weil er ganz nett ist, das doch lieber nicht.“ erklärte Reemda und ließ uns beide lachen. „Reemda, sag mal,“ begann ich, „für eine Frau und einen Mann gibt es doch soziokulturell bedingte unterschiedliche Bilder, mit denen sie sich identifizieren. Dazu gehört alles, auch die emotionale Gesamtdisposition. Könnte es da nicht sein, dass diese Typen so unterschiedlich sind, dass ein Mann und eine Frau sich niemals wirklich tiefgreifend verstehen können?“ Reemda lachte sich schief. „Kann schon sein,“ meinte sie, „mich hat ja auch noch nie einer wirklich verstanden. Aber ich denke, es liegt weniger an Mann und Frau, sondern eher daran, dass alle Menschen tiefgreifend verschieden sind. Der andere bleibt immer der andere und wird niemals mit dir identisch. Wie groß die Distanz ist, kann natürlich jeweils sehr unterschiedlich sein. Bei der Liebe ist, glaube ich, alles nochmal ganz anders.“ „Na klar, dann imaginierst du etwas und glaubst daran, weil du es gern so sehen möchtest, belügst dich selbst.“ wusste ich. „Carolin, bitte, hör doch endlich auf mit diesen Selbstvorwürfen. Da ist es schon besser, wenn Männer und Frauen sich prinzipiell nicht verstehen können.“ kommentierte Reemda. „Zum Nachwuchs zeugen können sie sich ja mal treffen, aber zusammen wohnen, besser nicht. Ich würde zum Beispiel viel lieber mit dir zusammenleben, was soll der Irrsinn,, dass mir unsere Kultur empfiehlt, eine Frau müsse einen Mann haben?“ lautete meine Ansicht. „Vielleicht triffst du ja mal auf einen Outcast, der sich zwar als Mann bezeichnet, aber überhaupt nicht in das gängige Rollenklischee von einem Mann heute passt.“ mutmaßte Reemda. „Und der würde mich dann bis in die tiefsten Winkel meiner Seele verstehen.“ reagierte ich und lachte. Unsere Gespräche führten dazu, dass ich immer stärker der Ansicht war, Reemda müsse sich offiziell mit dem auseinandersetzen, worüber wir redeten, und Germanistik decke das nicht ab. Es handele sich eindeutig primär um Philosophie und Sprachphilosophie. Reemda überlegte lange und informierte sich gründlich, entschloss sich dann aber doch, im nächsten Semester mit einem Philosophiestudium zu beginnen. Natürlich ging es dabei nicht um feministische Philosophie, darauf konnte sie sich später spezialisieren. Zunächst mal brachte es ein schier unüberwindliches Maß an Arbeit mit sich, sodass Reemda kaum noch Zeit hatte, uns besuchen zu kommen.
Ich wollte mich ja überall selbst verwirklichen. An der Uni tat ich das doch auch. Sonst hatte ich vornehmlich Vorlesungen und Seminare zu neuerer deutscher Literatur gehalten, mein persönliches Interesse hatte sich aber vor allem durch die Gespräche mit Reemda mehr in den Bereich der Sprachphilosophie verschoben. Ob ich es mal wagen sollte, im nächsten Semester ein Seminar zu Jaques Derrida anzubieten? Germanistik war das nicht explizit, aber seine Theorien betrafen ja den Gebrauch und das Verständnis von Sprache allgemein. Stolz und mutig kam ich mir vor, nur bedeutete das auch viel Arbeit, denn absolut firm war ich da ja keineswegs. Ich war gespannt darauf, selbst viel zu lernen. Völlig involviert war ich und musste mich total konzentrieren. Ein Student hatte ein Referat zur Grammatologie, Zeichen, Text, Schrift von Derrida gehalten. Hatte erklärt, dass und warum eine Äußerung Kontext und Bezüge ihres Verstehens und damit auch ihre eigene Bedeutung prinzipiell nicht sicherstellen kann. Dass ich begeistert war, muss er gemerkt haben. Mit glänzenden Augen kam er anschließend auf mich zu. „Können sie nicht mal ein Seminar über Roland Barthes anbieten?“ fragte er. „Das möchtest du gern, nicht wahr? Ich auch. Nur wir können doch hier nicht eine semiologische Abteilung einrichten. Derrida, das überschreitet schon die Grenze.“ reagierte ich. „Ich finde sie klasse.“ meinte der Student, wozu meine Augen natürlich Erläuterndes verlangten. „Normaler weise bewegen sich alle in ihren gängigen Rahmen, bieten mal dies und mal jenes an.“ erklärte der Student. „Aber ich sprenge alle Ketten und bewege mich wild und frei im Raum?“ bot ich als Vermutung an. Der Student lachte. „Nein, sie probieren Ungewohntes, für sie selbst neues. Man merkt, dass es ihnen Spaß macht und dass sie es enthusiastisch miterleben. Das ist wundervoll, so wünschte ich mir alle Dozentinnen und Dozenten.“ erklärte der Student. Ein Kompliment für mich, wie ich es mir nicht genüsslicher hätte vorstellen können. Ja, das war ich, Carolin, so wollte ich sein und nicht nur in diesem Seminar.
Lenny fragte öfter nach Reemda. Ich sprach mit Thilda darüber. Mit Thilda war er ja auch allein, aber die machte alles mit ihm zusammen, als ob sie für ihn lebe. Das konnte ich ja nicht. Lenny brauche mehr Gesellschaft, meinten wir. Andere Kinder? Ich kannte keine. Eine zusätzliche Frau für nachmittags bei uns? Das konnte ich gar nicht bezahlen. Thilda meinte: „Christine, meine Schwester, ist total in den kleinen vernarrt, die würde das bestimmt gern machen, aber sie hat selbst eine Tochter. Die ist dabei eine Frau zu werden. Ich kann Christine ja mal fragen.“ Christine kam, wir unterhielten uns. „Sie können tun und lassen, was sie wollen. Meinetwegen sind sie eine zusätzliche Hausfrau, es geht nur darum, dass für Lenny mehr Leben im Haus ist, dass er in einer bunteren Welt aufwächst.“ erklärte ich. „Hätten sie denn was dagegen, wenn ich Lena, meine Tochter, auch mal mitbringen würde? Und könnte es auch mal ausfallen, wenn mir etwas dazwischen käme?“ fragte Christine noch. Christine kam jetzt montags bis donnerstags jeweils für zwei Stunden am Nachmittag. Die kuriosesten Endwicklungen ergaben sich. Christine machte alle möglichen Haushaltsarbeiten, von Bügeln, über Putzen, Kuchen backen, Waschen bis Einkaufen und Lenny war immer hoch involviert beteilig, außer wenn Lena mitkam und sie balgen, toben oder sonst etwas spielen mussten. Es konnte aber auch sein, dass Lenny sagte, er könne jetzt nicht, er müsse arbeiten. Christine brauchte keinesfalls das Geld und Zeit hatte sie eigentlich auch kaum, aber es bedeutete ihr emotional so viel, Lenny beim Aufwachsen zu erleben, dass sie es trotzdem machte. Mich faszinierte Christines Verhalten, sie handelte ja nicht irrational, aber räumte ihren Gefühlen große Wichtigkeit ein. Wenn ich Lenny gefragt hätte, ob er Tilda und mich liebe, hätte er wahrscheinlich pauschal „Ja“ gesagt, nur das bedeutete ja nicht viel. Thilda, Christine, Reemda und ich waren Bestandteile seines Lebens, wir gehörten zu ihm, zu seiner Persönlichkeit, auch wenn er uns sicher als andere Menschen wahrnahm. Sollte ich sagen, ich liebte Betty, die Gespräche mit Reemda und die lustvollen Unterhaltungen mit Christine, oder war es nicht richtiger zu sagen, sie gehörten zu mir, zu meiner Persönlichkeit? Ich, das waren auch Betty, Reemda und Christine? Eine bereicherndere Sicht meiner selbst.
Im Institut traf ich häufiger den Studenten aus dem Derrida-Seminar. Zufall? Könnte so mein erwachsener Sohn sein? Wünschte ich mir Lenny so? Unsinn. Ich kannte den Studenten ja überhaupt nicht. Er hatte ein hervorragendes Referat gehalten und mir anschließend ein paar schmeichelnde Worte gesagt, sonst nichts. Wenn ich Eric traf, den Kollegen, der sich vornehmlich mit der Romantik beschäftigte, verursachte es immer ein belebend freundliches Gefühl. Wir hatten mal bei einer Feier nebeneinander gesessen und unendlich viel gelacht. So ähnlich empfand ich bei dem Studenten, aber zwischen uns gab es absolut gar nichts, keine gemeinsam durchtanzte Nacht, nichts. Elementar unterschiedlich kann sich die Kommunikation unter Menschen gestalten. Mag sein, dass du über bedeutsame Texte miteinander sprichst, aber die Welt ist nach dem Gespräch keine andere als vorher auch. Du kommunizierst in ritualisiert vorgegebenen Gesprächsformationen, deinen Gesprächspartner selbst nimmst du kaum persönlich war, eine Kommunikation an der Oberfläche, wie es gewöhnlich der Fall ist. Oder du siehst primär den anderen Menschen und die Begegnung mit ihm lässt ein Licht aufleuchten, das wärmt und deine Gefühle belebt. Primär sagst du oberflächlich: „Weil ihr befreundet seid.“ aber die wirklichen Ursachen liegen tiefer, da wo dein Bewusstsein sie nicht genau erkennen kann. Sie sind mit Wünschen, Hoffnungen, Träumen, Visionen und Geistern verbunden. Warum ich mich jedes mal freute, den Studenten zu treffen, dafür gab es keine Erklärung. Vielleicht ist es auch so, dass du beim ersten Blick mehr erkennst als den möglichen Geschlechtsparter oder den bedrohlichen Feind, vielleicht gibt es auch Signale in seiner Mimik, in seinem gesamten körperlichen Ausdruck, die dir Hinweise auf seine Menschlichkeit vermitteln. Die Menschen haben sich tot darüber diskutiert, ob es Gesetze über denen das Staates gibt, aber für mich steht Antigone als Siinnbild für Menschlichkeit, die Göttin der Menschlichkeit. Könnte es nicht sein, dass ich bei Georg auf den ersten Blick erkannte, dass er ganz viel Antigone in sich trug? Er wusste immer einige Sentenzen, meistens über Roland Barthes, die er so erzählte, dass es mich lachen ließ. Als ob sich zwei vertraute, gute Bekannte träfen, so kam es mir vor, dabei hatten wir konkret nichts miteinander zu tun. Auf dem Flur redeten wir uns mittlerweile auch mit Vornamen an. Georg, so hieß der Student, wollte im nächsten Semester sein Examen machen. „Ich wollte mal fragen, ob ich meine Examensarbeit bei dir schreiben könnte?“ fragte er. „Natürlich, worüber willst du den schreiben?“ erkundigte ich mich. „Roland Barthes.“ so Georg. „Oh, nein! Barthes ist kein Germanist, er hat keine deutschen Romane, Erzählungen oder Gedichte geschrieben. Da wirst du dir aber etwas einfallen lassen müssen, wie du die Biege hinbekommen willst. Aber du wirst es schon schaffen. Lass es mich wissen.“ empfahl ich. Ich hielt es für akzeptabel, wie er es machen wollte. Georg berichtete aber nicht nur über die geplante Struktur seiner Arbeit, sondern er fragte mich immer wieder zu allem und jedem. „Nein, nein, nein, Georg, so läuft das nicht. Ich bin nicht die Mutti, die ihrem Jungen bei den Hausaufgaben hilft. Wie soll ich das denn hinterher bewerten, wenn wir die Arbeit quasi gemeinsam machen. Das ist deine Examensarbeit, und du ganz allein musst sie schreiben wie alle anderen Studenten auch. Im Übrigen kennst du dich doch mit Barthes selbst viel besser aus als ich. Wenn es mal essentielle Probleme geben sollte, kommst du in die Sprechstunde, und dann reden wir darüber.“ wies ich Georg zurecht. Das ging nun wirklich nicht, dass wir, während er die Arbeit schrieb, immer alles gemeinsam berieten. Obwohl, gestört hätte es mich nicht, ich hätte es eher selbst interessant gefunden, denn durch seine Bemerkungen hatte mich Georg auch schon mit dem Barthes-Virus infiziert.
Wir alberten und blödelten. „Unter den vielen neuen Männern, die du kennengelernt hast, wird doch einer sein, der Reemda für etwas Einzigartiges hält.“ juxte ich. „Hör auf, Carolin, genauso wenig, wie es die Gesellschaft etwas angeht, ob Carolin einen Mann braucht, kann Reemda ebenfalls sehr gut darauf verzichten.“ entgegnete Reemda. „Aber die neuen Leute, die du kennenlernst, gefallen dir doch unterschiedlich. Das läuft doch automatisch ab, das kannst du doch gar nicht verhindern.“ meinte ich weiter scherzend. „Na ja, Till, der Grieche, der ist ganz süß. Ach, Quatsch, Till ist ganz nett, meine ich.“ sagte Reemda. „Der Grieche?“ fragte ich nach. „Ja, Till hat einen Tick für griechische Philosophie. Von Platon und Sokrates wird er wohl alles auswendig können. Er kann dir belegen, das alles was du denkst und tust, letztendlich auf griechischen Wurzeln basiert.“ erklärte Reemda. „Und davon bist du so fasziniert?“ erkundigte ich mich. „Überhaupt nicht. Till ist eigentlich gar kein richtiger Mann. Er stinkt zwar wie ein Mann.“ begann Reemda. „Geht ihr schon miteinander ins Bett?“ warf ich ein, und wurde mit einem mahnenden „Carolin!“ belehrt. „Nein er ist irgendwie so kurios, so anders. Ich hab immer Lust, zu lachen, wenn ich mit ihm zusammen bin. Wir haben uns nach einem Seminar in der Kneipe kennengelernt. Die anderen waren alle schon gegangen, und Till meinte, dass wir glücklichere Menschen wären, wenn wir von den Göttern Griechenlands an der Freude leichtem Gängelband geführt würden, als unter der Knute der trostlosen monotheistischen Christenreligion dahin zu vegetieren. Darüber haben wir den ganzen Abend gesponnen und uns dabei schief gelacht. Seitdem kommt Till mich öfter besuchen.“ erklärte Reemda. „Was dir aber überhaupt nicht passt.“ wagte ich zu vermuten. Reemda lachte. „Das ist es ja gerade, es gefällt mir viel zu gut. Wenn Till da ist, kommt es mir vor, als ob die Welt jetzt für mich in Ordnung sei. Dann fühle ich mich in der Welt, so wie sie für Reemda geschaffen ist. Eine herrliche Wohlfühlatmosphäre. Ich möchte das am liebsten viel öfter, aber das geht ja nicht. Ich habe für so etwas doch gar keine Zeit, und wer weiß, wohin das noch führen wird. Ich werde Schluss machen und Till sagen, dass er nicht mehr kommen soll.“ prognostizierte Reemda. „Ah ja, du, das ist die coole, taffe, hochintellektuelle angehende Wissenschaftlerin. Mit Empfindungen und Gefühlen hat die nichts zu tun. Die stören nur und gehören nicht zu ihrer Persönlichkeit.“ schlug ich Reemda ein Bild von ihr vor. „Nein, aber es gibt schon eindeutige Prioritäten für mich.“ entgegnete Reemda. „So, mit der ich mich immer so wundervoll unterhalten habe, das war die kluge, scharf denkende Reemda, aber geliebt habe ich die Frau, die Freude daran hatte mit Lenny zu spielen, die sich mild und sanft auf meine Ansichten einließ, die offensichtlich Gefallen an mir fand. Das war die emotionale Reemda. Sieh dich selbst doch nicht so geringschätzig, deine Gefühle und deine Leidenschaften sind genauso viel wert wie deine klugen rationalen Gedanken.“ ermahnte ich. „Aber mit einem Mann? Da weiß man doch nie, wohin das führen kann.“ so Reemda. „Liebe und so etwas meinst du, und davor hast du Angst, nicht wahr?“ vermutete ich. „Liebe? Tiefstes Verstehen, innigste Zuneigung, grenzenloses Vertrauen ...“ begann Reemda. „Alles nur Lüge, nicht wahr?.“ schlug ich vor. „Nein, aber es sind deine Visionen, deine Vorstellungen, deine Fantasien, und das kann eine große Selbsttäuschung sein.“ befürchtete Reemda. „Du magst ja Recht haben, dass es nicht selten so zutrifft. Aber wenn du Lust hast, mit Lenny zu spielen, bereitet es dir ein gutes Gefühl, nicht anders ist es, wenn wir uns unterhalten, und das Gefühl, für jemand anders einzigartig zu sein, um seiner selbst geliebt zu werden, ist das stärkste, großartigste Gefühl, dass es geben kann. Aber du willst dir die Möglichkeit dazu verbieten, weil du eigentlich für so einen Plunder gar keine Zeit hast?“ zweifelte ich. „Carolin, ich will und brauche keine Liebesbeziehung zu einem Mann. Ich werde mein Leben selbstständig und eigenverantwortlich gestalten. Ich will mit meiner Zukunft vernünftig umgehen, ich selbst will sie gestalten, das ist meine Zukunft, sie gehört mir. Es gibt doch Untersuchungen, die belegen, dass sich dein Gehirn im Liebesrausch physiologisch verändert.“ so Reemda. „Die neuesten Untersuchungen sagen alle, dass man es auch nicht so ganz genau weiß.“ erklärte ich. „Vielleicht sollte ich die Begegnungen mit Till nicht beenden, sondern darauf achten, dass sie in einem vernünftigen Rahmen bleiben.“ erklärte Reemda. Aus meiner Sicht hatte sich Reemda längst in Till verliebt, und der Vorgang des sich selbst Belügens bestand darin, diese Gefühle nicht zugeben zu wollen. Im Grunde verhielt es sich bei Reemda nicht viel anders, als es bei mir gewesen war, sie räumte sich selbst mit ihren wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen einen zu geringen Stellenwert in ihrem eigenen Persönlichkeitsbild ein. Sie gehörte zu den Menschen, die zu klug sind, um weise sein zu können.
Georgs Arbeit war ausgezeichnet, äußerst wissenschaftlich für eine Examensarbeit. Wenn er bei der Prüfung in einem anderen Bereich versagte, musste es sich um Schlampigkeit handeln, was nicht geschah. Georg bestand mit sehr gut. Glückwunsch und eine Umarmung hatte es natürlich nach der Prüfung in der Uni schon gegeben, aber jetzt war Georg zu einem Kaffee zu uns eingeladen. Betty war auch da. Ich sagte scherzend einige Worte zu Bettys Großartigkeit und Georg lobte mich. So ein Unsinn. Er kannte mich doch überhaupt nicht, meinte meine Persönlichkeit sei für ihn das Movens seiner Aktivitäten gewesen, nur durch mich sei alles möglich geworden. „Georg, hör auf mit so einem Stuss. Was immer du dir einredest, du selbst bist es gewesen, und ich bin ein ganz normaler Mensch ohne irgendwelche Verhaltensauffälligkeiten.“ wies ich ihn zurecht. Betty fragte Georg einiges und war fasziniert. „Siehst du, Carolin, Georg ist einer von den Menschen, die das Zeug haben, neue Kontinente zu entdecken. Er braucht dazu keine Schiffe wie James Cook, er entdeckt neue Kontinente unseres Denkens und der Verständigung unter den Menschen, wundervoll. Kennst du noch mehr so prächtige junge Männer wie Georg?“ fragte sie. „Würde dir Georg nicht ausreichen? Er ist ungebunden und du suchst doch immer etwas für längerfristig.“ ironisierte ich. „Lass es, Carolin, fang jetzt nicht damit an. Wir haben uns schon oft genug darüber amüsiert.“ reagierte Betty. Sie hatte immer nur kurzfristige Beziehungen, bei denen man schon beim ersten Wortwechsel heraushörte, wie gering der Wert war, den sie der Beziehung mit diesem Mann beimaß. Wahrscheinlich litt sie unter Bindungsangst, denn im Grunde wollte sie gar nicht allein sein, aber sie litt unter entsetzlichen Problemen mit ihren Vorstellungen zur Liebe. Sie hatte schon öfter vom Therapeuten gesprochen. Aber jetzt stand der wundervolle Georg im Vordergrund. Wäre Betty seine Mutter gewesen, sie hätte ihn bestimmt verprügelt, wenn er es abgelehnt hätte, zu promovieren. Nur das sahen ja alle so, dass es dazu keine vernünftige Alternative gäbe. Folglich bestimmten Dissertation und Promotion das weitere Gespräch. Natürlich wäre ich die Doktormutter, die auf das vom Doktoranden Georg Bremer vorgeschlagene Thema für seine Dissertation wartete. Womit sollte sich die Dissertation anders befassen als mit Roland Barthes? In der Uni gab es viel Organisatorisches zu regeln, bis alles geklärt war, und Georg mit seinem Promotionsstudium beginnen konnte. Wir trafen uns öfter und Georg fragte mal dies und jenes. Jetzt blockierte er schon zum zweiten mal die Sprechstunde. „Georg, das nervt. Ich unterhalte mich gern mit dir, auch länger, das weißt du, aber wir können nicht immer die Sprechstunde blockieren, sie ist für alle da, sie gehört allen. Ich habe eine Idee, wenn du wieder etwas besprechen möchtest, rufst du mich einfach an und kommst zu uns nach Hause. Am Spätnachmittag geht es meistens.“ erklärte ich. So wollten wir es machen. Georg kam auch, zunächst recht selten, aber dann häufte es sich. Oft hatte er gar keine direkten Fragen, sondern wollte nur mal etwas mit mir besprechen. Mir gefiel das, ich war ja mittlerweile auch von Barthes fasziniert. „Warum willst du gehen? Lenny würde sich auch freuen, wenn wir zu dritt sind. Oder hast du Angst, dass dir das Abendbrot bei uns nicht schmecken könnte?“ fragte ich scherzend. „Weißt du, ich habe ein Pferd und eine ganz lange Lanze, die stoße ich dem Drachen ins Herz, dann fällt er um und ist tot. Georg, das ist nämlich der Drachentöter.“ verkündete Georg beim Abendbrot. Nach wenigen Fragen und Kommentaren stand für Lenny fest, Georg solle die Drachen doch lieber am Leben lassen. „Lenny, Drachen, die gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Das denken sich die Menschen nur aus.“ erklärte Georg. „Dinos meinen die, nicht wahr?“ suchte Lenny Bestätigung. „Dinos gibt es auch nicht. Kein Mensch hat jemals einen gesehen. Als die ersten Menschen kamen, waren die Dinosaurier schon Millionen Jahre verschwunden.“ erläuterte Georg. Das wühlte Lenny kolossal auf. Die Welt, das war in seinem Weltbild eine Welt mit Menschen. Etwas anderes existierte nicht. „Und die Menschen, die ersten Menschen, wo kamen die her?“ wollte er von Georg wissen. „Von den Affen.“ antwortete Georg nur lapidar. Er hatte aber den Ausgangspunkt für eine endlose Geschichte geschaffen, die mit evolutionären Grundlagen begann, bald aber die ganze Welt in ihrer Allgemeinheit und all ihren Spezifikationen einbezog. In Lennys Selbstwertschätzung nahmen die Gespräche mit Georg bald einen wichtigeren Stellenwert ein als all sein Wissen über Wäsche waschen und Kuchen backen. Georg hatte sich gewandelt vom Drachentöter zum Sieger im Kampf gegen das Unwissen. Auch wenn Georg mal etwas nicht erklären konnte, dem Bild der Ikone des Wissenden konnte das keinen Kratzer zufügen. Bald war Georg selbstverständlich jeden Nachmittag von montags bis donnerstags bei uns. Dass er zum Abendbrot blieb stand außer Frage. Manchmal blieb er auch noch länger. Begonnen hatte es damit, dass ich vorgeschlagen hatte, sich etwas gemeinsam auf arte anzuschauen. Jetzt kam es auch schon mal vor, dass wir uns einfach über irgendetwas unterhielten. „Wenn ich zum Beispiel dich und Betty erlebe, so nahe könnte ich einem anderen Menschen nie kommen. Mich über ihn lustig machen und wissen, dass es ihn nicht verletz, unvorstellbar.“ erklärte Georg. „Wieso, hast du keine Freunde?“ fragte ich nach. „Doch schon, mit Tom und Justin komme ich zum Beispiel prima aus, aber du spürst, oder ich empfinde es so, dass da irgendwo eine Grenze ist, da geht’s nicht weiter, da wird’s nicht tiefer. Mit Madeleine ist das genauso. Wir mögen uns gut leiden, sind gute Freunde, aber dass ich sie lieben, sie anfassen könnte, unvorstellbar.“ erkläre Georg. „Oh, Georg, das ist doch kein technischer Vorgang, bei dem ich dir raten könnte, tu dies oder besser jenes. Das sind doch deine Wünsch, deine Emotionen, deine Leidenschaften. Die sind immer und überall beteiligt. Wenn du dir nicht vorstellen kannst, Madeleine zu lieben, dann wird sie dein Innerstes nicht so in Wallungen versetzen wie die Semiotik, der du dich mit voller Hingabe ergeben hast. Ich kann dir nur raten, keine Fehler bei dir zu suchen, persönliche Beziehungen sind immer ein Spiel von Wechselwirkungen.“ lautete meine Ansicht.
Im Grunde hatte sich ja nichts verändert. Die Tage verliefen wie sonst auch, nur dass Georg an vier Tagen in Kevins ehemaligem Zimmer saß und wir jetzt beim Abendbrot immer zu dritt waren. Aber die Tage waren doch ganz andere geworden. Wenn ich nach Hause kam, war da nicht nur Lenny, auf den ich mich freute, da war auch immer dieses Wesen, von dem durch das Wissen um seine Anwesenheit, meine Stimmung angehoben wurde. Wenn Georg mal verhindert war, trübte es meine Laune. Vor allem waren es die Abende, die dem Reich der Träume, Visionen und Wünsche ihre Tore öffneten. Ich wollte das nicht, niemals davon träumen, mit einem Mann glücklich zu sein. Ich brauchte das nicht, und trotzdem schlich es sich immer wieder ein. Na ja, zu dem, was ich mir unter Mann vorstellte und ja auch leidvoll selbst erfahren hatte, passte Georg absolut nicht. Seine wissenschaftliche Arbeit hatte für ihn einen hohen Stellenwert und zweifelsohne würde er sich auch primär darüber definieren, aber da war auch der andere, der Lust hatte mit Lenny zu quatschen und mit ihm Blödsinn zu machen. Da war auch der, der mich mit sanfter Stimme nach etwas fragte, was er sich selbst wahrscheinlich viel besser hätte beantworten können, nur weil er Lust hatte, mit mir zu reden. Da war auch der, der abends offen mit mir persönlich Intimes besprach, worüber er sich mit seiner Mutter wahrscheinlich nicht getraut hätte zu reden. Da war auch der, der vermittelte, dass er sich bei mir vertrauensvoll, wohl und geborgen fühlte. Barrieren, die nicht zu überwinden waren, wo wollte Georg die zwischen uns denn ausfindig machen? Wir gingen auch gemeinsam ins Konzert. Allein schon mit Georg die Philharmonie zu betreten hob meinen Gefühlslevel. Die Musik erlebte ich beglückend. Wie in meinem Katzenkörbchen liegend hätte ich vor Wonnegefühlen schnurren können. So ein Unsinn, nur weil dieser Georg neben mir saß, sollte alles ganz anders sein, aber ich erlebte es so. Ob Georg auch wohl von mir träumte? Ob er mich gern geküsst hätte? Genau weiß ich das natürlich nicht, aber seine Beachtung und Anerkennung war grenzenlos.
Reemda und Till hatte es doch zusammen geführt. Aber sie waren kein Paar, bei dem Mann und Frau aus Liebe ihr Leben gemeinsam führen wollten. Zwei Wegelagerern glichen sie, waren aufeinander getroffen und kamen nicht wieder voneinander los. Reemda dominierte sanft. Wenn sie Till etwas fragte, konnte der es oft nicht direkt beantworten, aber das war völlig unerheblich. Das Gespräch war entscheidend, vor allem, dass es immer mit einer ironischen oder satirischen Bemerkung enden musste, oder beide lachen ließ. Dabei handelte es sich um eine unausgesprochene Übereinkunft, die aber immer streng beachtet wurde. Die beiden hatten einfach Lust aufeinander, und sie lebten zusammen, um diese Lust zu fördern oder zu steigern. Lust aufeinander. Auf wen hatte ich denn Lust? Auf Lenny, das war schon so, wenn er sonntags morgens zu mir ins Bett kam, um mich zu trösten, damit ich nicht so allein wäre. Das konnte manchmal schon sehr früh sein, aber nur sehr selten schliefen wir gemeinsam wieder ein. In der Regel wurde dann die Nabelschnur neu geknüpft, mental und emotional. Wir waren uns so nahe, wie Menschen es nur sein können. Dass ich erwachsene Mutter und er Kind war, gehörte zur Entourage der Alltagsansichten, jetzt existierten nur wir bede selbst als reine Menschen, die sich Liebkosungen, Neckisches und Intimes zuwisperten. So nah konnte eine Beziehung zu einem anderen Menschen nicht sein, zu einem fremden Mann erst recht nicht. Vielleicht bekäme Lenny später Schwierigkeiten, wenn sich diese Erlebnisse bei ihm einprägten, und er eine Freundin suchte, die ihm Ähnliches vermittelte. Aber ein wenig Ähnliches musste er auch schon wohl bei seiner Omi erleben. Bei ihr durfte er nämlich mit im Bett schlafen, das absolut Wundervollste. Vielleicht entspricht es einem genuinen Bedürfnis des Menschen, aneinander gekuschelt einzuschlafen, die Wärme des anderen zu spüren, aber sogar Tiere tun es ja auch. Man sagt, wegen der Wärme, aber es ist das Empfinden von Schutz und Geborgenheit, das Gefühl von Sicherheit durch den anderen, das Ausgeglichenheit und Entspannung vermittelt, die zum Wohlempfinden fürs Einschlafen führt. Haptische Sinnesfreude einfach schon durch den Körperkontakt mit einem geliebten Menschen.
Haptische Sinnesfreuden, so etwas könnte es zwischen Georg und mir niemals geben. Die Beziehung zwischen Georg, dem Mann, und Carolin, der Frau, war absolut fern jeder Anmutung, die ihre Basis in etwas mit libidinösen Vorstellungen finden könnte. Georg gehörte einfach dazu, so wie Lenny dazu gehörte, wie Christine und ich selbst. Ein wenig anders war es allerdings schon. Das gemeinsame Abendbrot schaffte eine vertrauensvollere Atmosphäre, die stärkere Verbundenheit ausstrahlte. Bei unseren Gesprächen handelte es sich ja nicht ausschließlich um wissenschaftlich relevante Sachverhalte, es war auch immer ein Zusammensein, das von Freundlichkeit und Zuneigung geprägt war. Hinzu kam, dass es mittlerweile keinen Winkel in unserem Gedächtnis über unsere Entwicklung mehr gab, von dem wir nicht einander erzählt hätten, es diskutiert und eingeschätzt hätten. Wir kannten alles von uns, hatten Lust uns auszutauschen und möglichst alles genau vom anderen zu erfahren. In allem hatten wir uns geöffnet. Georgs Handeln oder Denken wertend zu beurteilen, konnte nicht mehr geschehen. Wenn es Unklares gab, versuchten wir es zu verstehen. Ein träumerisch, versonnener, isolierter Mensch war Georg nie gewesen, aber er war auch kein extrovertierter Massenjunkie. Durch sein Klavierspiel sei ihm immer schon eine gewisse Außenseiterrolle zugekommen. Andere hätten auch ein Instrument gespielt, aber bei ihm habe es großes Interesse für klassische Musik allgemein geweckt. „Hinzu kam, dass mir jede Art von Kampfsport wesensfremd war, und Sport ist immer Kampf, wenn auch letztlich nur gegen dich selbst. Ich bin ein Genussmensch, finde es wundervoll, das viele Schöne, das uns umgibt, oder das geschaffen wurde, zu genießen.“ erklärte Georg. „Genau, darin liegt alles Übel dieser Welt, dass die Menschen offensichtlich über ein Gen verfügen, dass sie zum Kämpfen, Siegen und Gewinnen wollen drängt.“ kommentierte ich. „Na, ob es das allein ist? Die Menschen sind eindeutig keine Idealwesen ihrer Spezies. Sie belügen und betrügen sich, bringen sich sogar gegenseitig um und lassen sich alles Unerdenkliche einfallen, um die friedliche Kommunikation und das glückliche Miteinander zu stören.“ erwiderte Georg. „Träumst du von einer besseren Welt?“ fragte ich schlicht. „Wer tut das nicht? Das haben die Menschen getan, solange sie sich und ihr Leben kritisch reflektieren können. Glücklicher soll das Leben für dich sein. Jeden Tag sollst du etwas tun, was dein Wohlempfinden steigert, haben die Griechen gesagt. Ist das für dich so?“ fragte Georg. „Fühlst du dich nicht wohl? Empfindest du nicht, dass unser Leben insgesamt ziemlich glücklich ist. Ich steigere mein Wohlempfinden dadurch, dass ich jeden Tag von dir Freundlichkeiten erwarte.“ erklärte ich und lachte. Georg schmunzelte. Lenny hatte Georg gefragt, warum er keine Frau oder Freundin habe. „Da muss man ja eine Frau kennen, in die man verliebt ist.“ hatte Georg erklärt. „Reemda, die wäre klasse, aber die hat jetzt schon den Till. Aber du hast schon Recht. Man braucht ja nicht unbedingt einen Mann oder eine Frau. Omi hat keinen Mann, und der geht’s gut, und uns geht’s doch viel besser, wenn du hier bist, als wenn Kevin, mein Vater, immer hier wäre.“ hatte er sinniert. Dass Georg für Lenny unentbehrlich war, freute mich außerordentlich. Sein Ansinnen über eine Freundschaft mit Reemda, wäre jedoch absolut unrealisierbar gewesen. Verstehen konnte ich es nicht. Georg und Reemda konnten sich hoch intellektuell unterhalten und es war auch gewiss für beide nicht uninteressant, aber es fehlte das, was ich als das wärmende Licht bei der Kommunikation miteinander bezeichnete. Die beiden verstanden ihre Worte, aber sich gegenseitig nicht. Und ich konnte Georg nicht verstehen. Er wusste doch alles. Gab es eine bessere Schule als Barthes? Aber alles Wissen scheint nichts wert. Genauso wie die Zuneigung sich aus Tiefen des Unbewussten generiert, müssen auch wohl die Barrieren, die sich zwischen Menschen auftun, hier ihre Wurzeln haben. In Georgs Verhalten gegenüber Reemda wurde das deutlich, wovon er bei seinen Freunden gesprochen hatte. Eine tiefer gehende Beziehung würde es nie geben können. Dabei war Georg keineswegs verschlossen und zurückhaltend, sondern eher offen und aufgeschlossen, aber außer seiner Beziehung zu Lenny und mir bewegte sich die Kommunikation auch wohl meistens an der Oberfläche. Bei mir war es in weiten Bereichen fast zwangsläufig nicht anders gewesen. So kommunizierte man eben miteinander. Aber seit meinem Wissen über Roland Barthes wollte ich das möglichst weitgehend ändern. Die Besucherin in der Sprechstunde spürte, dass du sie sahst, Interesse an ihrer Person hattest, und es kam zu den ungewöhnlichsten Gesprächssituationen. Dass etwas zum Problem wurde, lag häufig nicht an den Texten oder dem Konzept der Arbeit, sondern vielfach in der Persönlichkeit des Rat suchenden. Nur so konnte etwas zum Ausdruck kommen, etwas verändert werden, während ich sonst in banalen Strukturen an der Oberfläche diskutierte hätte. Bei uns zu Hause war zum Beispiel das Tischdecken zum Abendbrot auch eine Aktivität, die wenig Tiefgang hatte, sondern eher der Oberfläche verhaftet war. Trotzdem war es keineswegs bedeutungslos. Mit Georg gemeinsam die erforderlichen Handlungen durchzuführen, verlieh der banalen Aktivität einen freudigen Schimmer. Immer war es so, wenn wir etwas gemeinsam machten. Anerkennung gab es dafür ja nicht, aber es machte einfach mehr Spaß, mit Georg gemeinsam die Spülmaschine einzuräumen. Es fühlte sich gut an, wenn Georg da war. Es war eine glückliche, belebende Zeit für uns. Die meiste Zeit verbrachte Georg aber bei sich zu Hause. Hinzu kam, dass er das Doktorandenkolloquium besuchen musste und selbst eine Übung anzubieten hatte. Ich konnte die Texte von Barthes und die Sekundärliteratur im Original nicht lesen. Dazu reichte mein Schulfranzösisch nicht aus. Georg hatte das zweite Semester in Lyon studiert, obwohl er doch Germanistikstudent war. „Ich hatte im Abitur eine eins in Musik, aber was willst du damit machen, wenn du nur mäßig Klavier spielst? Musiktheoretiker werden? Die alten Opern neu interpretieren? So etwas war für mich keine Perspektive. An Philosophie war ich ziemlich interessiert, aber mein Leben mit Kant und Hegel und Schopenhauer zu verbringen, war auch nicht wünschenswert. Ich verehre die Sprache und bewundere sie. Schriftsteller und Dichter sind für mich Künstler, die denen in den bildenden Künsten nicht nachstehen. Ich liebe ihre Werke. Also kam nur Germanistik in Frage. Mein philosophisches Interesse war aber nicht verschwunden. Als ich von Gil Deleuze und seinen umwerfenden Ideen hörte, wollte ich sie unbedingt im Original lesen können. Deleuze war längst nicht mehr in Lyon, als ich kam, aber ich lernte ihn verstehen und lernte Französisch. Na, und so bin ich bei den Poststrukturalisten hängen geblieben.“ erklärte Georg. „Und von denen hast du deine ganze Persönlichkeit okkupieren lassen.“ versuchte ich leicht zu provozieren. Georg schmunzelte. „Gibt es da nichts anderes, was dir vielleicht auch ersichtlich werden könnte?“ fragte er. Was mir ersichtlich wurde, nahmen meine Gefühle wahr, und die sollten eigentlich schweigen.
Wenn wir nicht explizit etwas zu besprechen hatten, verbrachte Georg die meiste Zeit mit der Dissertation in seinem Zimmer. Manchmal kam er in die Küche, um unter Menschen zu sein und dabei einen Kaffee zu trinken. Christine war der Ansicht, er müsse unbedingt in die Schule gehen. Er sei eine ideale Lehrerpersönlichkeit. Solche Menschen, wie Georg, brauchten die Schülerinnen und Schüler. Aber dann hätte er anders studieren müssen. Lena, Christines Töchterchen, hatte sich gleich beim ersten Kontakt in Georg verliebt. Sie sah ihn forthin nur mit glänzenden Augen an. Georg habe sie angelächelt, das sei affengeil gewesen und er habe sich richtig voll ernst mit ihr unterhalten. Sie habe die ganze Nacht von Georg geträumt. Lena erweckte sonst gar nicht den Eindruck einer jungen Frau der es an Anerkennung als junge Erwachsene mangelte. Sie liebte eher die übermütigen Späße mit Lenny. Wenn ich ihr diese Anerkennung vermittelt und sie supercool angelächelt hätte, ob sie dann auch von mir geträumt hätte. Es ist zum Verzweifeln, wie schon bei kleinen Mädchen in der Pubertät sich die Libido einmischt, oder wie selbstverständlich es ist, dass Klischeebilder der Allgemeinheit übernommen werden. Georg gehörte eben nicht einfach dazu. Ich war noch nie einem anderen Menschen so nahe gewesen, hatte mich noch nie einem anderen Menschen so selbstverständlich in allem offenbart wie Georg. „Der andere bleibt immer der andere.“ hatte Reemda gesagt. Das galt für Georg, den Mann, äußerst strikt, aber andererseits passte es nicht zu der Distanz, die so hauchdünn war, dass ich sie oft nicht wahrnehmen konnte. Wir machten uns schon Komplimente, aber sie mussten feinsinnig und versteckt sein. Nichts wäre mehr daneben gewesen als grobschlächtige Lobhudeleien und platte, banale Komplimente. Georg gefiel mein Aussehen, mir selbst weniger. Mein Gesicht entsprach keineswegs den Regeln des goldenen Schnitts, es war viel zu lang. Ich wirkte dadurch eher ernst und nüchtern, aber Georg erkannte darin die griechisch Göttin der Weisheit, deren Anblick die Menschen beglücke. „Pallas Athēnâ war aber auch die Göttin des Kampfes. Siehst du diese Wesensmerkmale auch in mir?“ wollte ich von Georg wissen. Georg antwortete nicht. „Hältst du mich für eine Kämpferin. Sag es, ich will es wissen.“ forderte ich ihn scherzend auf. Georg zierte sich. „Wir kennen einander so gut wie sonst niemanden auf der Welt, aber alles können wir letztendlich nicht wissen. Du weißt ja selbst über dich nicht einmal alles. Ich vermute, dass es in dir etwas gibt, das kämpft. Der Kampf findet gegen etwas anderes statt, das auch zu dir gehört. Du bist eine sehr ausgeglichene, harmonische, glückliche Frau, aber es gibt auch einen Punkt der Disharmonie.“ erläuterte Georg seine Ansicht.
Disharmonien die gab es schon, aber nur abends, wenn sich meine Träume in verbotenes Terrain bewegten. Nein, nein, nein, was auch immer geschah, die Vorstellung vom glücklichen Zusammenleben mit einem Mann war ein für alle mal verbannt aus meinem Leben. Lenny kam in die Schule. Wegen seiner Allgemeinbildung und seines umfangreichen Wissens hätte er gleich zum Gymnasium gehen können, aber Lesen und Schreiben waren eben unverzichtbar. Mir tat es außerordentlich leid für Thilda Stegmann. Sie war die eigentliche Mutter. Mit ihr war Lenny aufgewachsen, mit ihr hatte er gelebt, und sie hatte für ihn gelebt. Sie gehörte zu Lenny, war beim Gehirnwachstum in seinen Bahnen verankert und würde ihn nie wieder verlassen können. Thilda war nicht nur schlicht die Tagesmutter, auf eine spezifische Art waren wir Freundinnen geworden. Ich bat sie, uns so oft wie möglich zu besuchen, aber die kurzen, täglichen Gespräche über Lenny würden mir fehlen. Lennys Schuleintritt veränderte unsere Welt. Georg wurde erneut in die Kunst des fein ziselierten Buchstabenmalens eingeführt. Was nach Lennys Ansicht unbedingt erforderlich war. Georg hatte ihm etwas von seinen handschriftlichen Notizen gezeigt, und Lenny wollte es mit zur Schule nehmen, um es mal seiner Lehrerin zu zeigen. Trotz Lennys Schulbeginn kam Georg dem Ende seiner Arbeit immer näher. Da häufte sich die Arbeit noch einmal. Er fragte mich, ob ich sie nicht Korrektur lesen könne. „Georg, du spinnst wohl. Ich weiß nicht, ob das nicht sowieso schon unzulässig ist, dass wir alles immer besprochen haben, aber dafür gibt es ja keine Präzedenzfälle, und letztendlich hast du ja geschrieben, was du wolltest. Aber du sollst beweisen, dass du selbständig wissenschaftlich arbeiten kannst, ich muss es beurteilen und soll es mir vorher durchlesen? Dann kann es nur unsere gemeinsame Arbeit sein, aber bei wem reichen wir sie dann ein.“ scherzte ich. Es dauerte, die Arbeit musste druckreif abgeliefert werden und dann brauchte es seine Zeit, bis der Coleser und ich die Arbeit gelesen und ein Gutachten verfasst hatten. Natürlich waren die Gutachten ausgezeichnet, aber obwohl wir sehr unterschiedliche Schwerpunkte sahen und hervorhoben, wurde kein Drittleser beauftragt. Ein Termin für's Rigorosum wurde anberaumt. In der Regel stellt das Rigorosum kein Problem dar, aber Georg war ja Germanist, und da konnte man nicht sicher sein, ob es nicht jemanden gab, dem die ganze Richtung nicht passte. Die Situation drehte sich aber um. Nicht Georg musste seine Arbeit verteidigen, sondern es glich eher einem Seminar, das Georg hielt, in dem er die Fragen der interessierten Professoren beantwortete. „Summa cum laude“ hatte das als Ergebnis zur Folge. Was wollte ein Doktorand mehr erreichen? Dr. Georg Bremer durfte er sich aber erst nennen, wenn seine Arbeit veröffentlicht und die Urkunde durch die Universität verliehen war. Bei Georg zu Hause gab es eine kleine Feier. Die Eltern hatten aber niemanden sonst eingeladen, weil sie die Freude mit Georg allein genießen wollten. „Und dein Klavierspiel, wie oft kommst du denn noch zum Klavierspielen?“ wollte seine Mutter wissen. Andere hielten Georgs Virtuosität am Klavier nicht für besonders anerkennenswert, aber seine Eltern waren immer begeistert. Für Georgs Mutter war Georgs Persönlichkeitsbild mit seinem Interesse an Musik verbunden. Trotz aller wissenschaftlicher Erfolge konnte sie es nicht verwinden, das Musik heute nicht mehr Georgs Leben dominierte. Ein großes Geschenk sollte es aber schon geben. Eine Weltreise oder ein Auto oder etwas anderes in der Preislage. Am liebsten hätte Georg gesagt, dass ihm materielle Geschenke nicht viel bedeuteten, aber das konnte er seinen Eltern nicht zumuten. Außerdem, was sollten sie ihm denn sonst schenken? Da war diese Barriere, bei der einem nichts anderes mehr einfällt, als durch materielle Geschenke seine Zuneigung auszudrücken. Und bei uns? Da sollte der Zuneigung durch eine Party Ausdruck verliehen werden. Alle sollten kommen. Christine und Thilda sollten auch ihre Männer mitbringen, die Georg noch nie gesehen, vielleicht sogar noch nie von ihm gehört hatten. Vielleicht würde die Partylaune ja auch die Stimmung zwischen Georg und Reemda beeinflussen können. Aber alles kam ganz anders. Till und Georg diskutierten den ganzen Abend über Poststrukturalismus, während Christine und Thilda hoch interessiert Reemdas Vorstellungen lauschten, warum sich eine Frau selbstverständlich als Feministin verstehen müsse. Ich tanzte mit ihren Männern und lachte mich schief. Gerry und Rafael, Christines und Thildas Männer, waren eigentlich ganz nette Typen. Ich konnte mit ihnen lachen und mich amüsieren. Ob ich geheilt war von dem Horrorimago des Männerbildes. Georg war und blieb ja schließlich auch ein Mann, aber so wollte und durfte ich ihn nicht sehen. Der Mann als Schreckensbild existierte für mich wohl nur im Hinblick auf das gemeinsame Leben mit einem Mann, denn in der Uni gab es doch auch Männer, die ich ganz nett fand, und zu Eric gab es einen freundschaftlichen Draht. Reemda und Georg fanden nicht zueinander, aber Reemda war begeistert vom Gespräch mit ihren überaus interessierten Partnerinnen, die sie ja oberflächlich kannte. Gerry und Rafael waren begeistert von der lustigen Frau Professor, und Till war der Ansicht, dass es keinen kompetenteren Gesprächspartner als Georg für ihn gebe.
Zunächst musste Georg aber noch mein Gesprächspartner sein. Sein 'summa cum' Erfolg öffnete ihm gewiss viele Möglichkeiten, aber im Grunde gab es nur eine sinnvolle Konsequenz, sich zu habilitieren. Und das weiter so wie bisher? Sich hier habilitieren und bei uns seine Arbeit schreiben. Faktisch hatte Georg schon wie mein Mann gelebt. Es gab gewiss nur wenige Paare, die so vertraut miteinander waren, aber es zu beenden, dazu hatte mir bislang die Kraft und der Wille gefehlt. „Georg, ich muss etwas mit dir besprechen, was du sicher nicht verstehen wirst. Es wird dich schmerzen und traurig machen. Du weißt, dass ich das nicht will, aber es gibt ein oberstes Gebot für mich, und das befürchte ich, nicht einhalten zu können. Ich war verheiratet, habe mit einem Mann zusammen gelebt, das weißt du. Mein oberster Grundsatz lautet seitdem, ich werde mein Leben führen, werde allein bestimmen, was geschehen wird und zu geschehen hat und mich niemals mehr vom Zusammenleben mit einem Mann abhängig machen.“ erklärte ich. „Aber, Carolin, was hat das denn mit mir zu tun?“ wollte Georg wissen. „Georg, faktisch ist es doch so, als ob wir ein Paar wären. Wir gehen zwar nicht miteinander ins Bett und vermeiden alle Liebesäußerungen, aber emotional und gefühlsmäßig sind wir uns außergewöhnlich eng verbunden.“ erklärte ich. „Und was folgt für dich daraus?“ fragte Georg. „Georg, ich will das nicht und will es keinesfalls weiter intensivieren. Ich will mein leben allein für mich gestalten. Wenn dich hier habilitierst und deine Habilitationsschrift hier bei uns verfasst, wird das nicht möglich sein.“ stellte ich klar. „Was denkst du dir, wie ich deinem Wunsch entsprechen könnte?“ fragte Georg. „Ganz einfach, du musst sie anderswo schreiben. Das wird doch kein Problem darstellen.“ antwortete ich. Ob Georg jetzt zu Hause weinte? Bei mir waren die Tränen auch nicht fern, aber ich war auch gleichzeitig froh, dass ich es geschafft hatte, dies Problem zu klären. Georg musste mich sehr lieben. Ich hörte keine Vorwürfe oder Versuche meine Argumentation zu entkräften, Georg folgte mir und erkundigte sich in Köln.
Ich bin kein Mensch, der zu Depressionen oder melancholischen Anwandlungen neigt, aber den Tagen ohne Georg fehlte etwas Entscheidendes. An Sonnentagen verleiht die Sonne allem leuchtende Farben, während an grauen, wolkenverhangenen Tagen der Dunst eines Grauschleiers der Alltagsrealität alles überzieht. An Tagen ohne Georg fehlte das Leuchten. Es lag ja nur an mir, war nur mein Wunsch, dass Georg sich anderswo habilitieren sollte. Ich hatte es zwar erklärt, warum ich es so sah, aber nachempfinden konnte Georg es für sich nicht. Trotzdem tat er es, weil ich es wünschte und beklagte es mit keinem Wort. Jetzt kam Georg öfter an den Wochenenden. Er hatte das Autogeschenk angenommen. Georg kam schon am späten Freitagnachmittag und fuhr erst wieder am Montagmorgen. Ich konnte und wollte meine Freude nicht verbergen, wenn Georg am Freitag kam. Eine französische Begrüßung mit Umarmung und Wangenkuss war selbstverständlich. Georgs Anwesenheit gestaltete sich jetzt völlig anders als sonst. Er saß nicht mehr in Kevins Zimmer und hatte zu arbeiten, die Wochenenden gehörten mit jeder Sekunde voll uns. Ob es Lenny die höheren Bildungsweihen vermittelte, weiß ich nicht, aber wir nahmen ihn immer mit in alle möglichen Ausstellungen. Beklagt, dass es langweilig sei oder es ihn nicht interessiere, hat er sich jedenfalls nie. Wenn wir abends in die Oper, ins Konzert oder ins Kino gingen, konnte Lenny auch schon mal allein bleiben. Er hatte ein Handy, mit dem er uns im Notfall anrufen konnte, aber lieber ging er immer noch zur Omi, was für mich auch beruhigender war. Wenn Georg jetzt bei uns war, lebten wir wirklich voll zusammen, wie eine Familie an Urlaubstagen. Wir hatten gemeinsam Lortzings „Zar und Zimmerman“ besucht, hatten gelacht und in den romantischen Arien und Tänzen geschwelgt. Anschließend waren wir Essen gegangen und hatten es genossen, uns face to face gegenüber zu sitzen und dem anderen lächelnd tiefe Blicke zu schenken. Sinnliche, gefühlvolle Momente, in denen wir das gegenseitige Verlangen lustvoll spüren konnten, es aber nicht benennen durften. Wegen meiner Disharmonien, weil sich in mir nicht die Vorstellung eines glücklichen Lebens mit Georg, dem Mann, entwickeln sollte, wollte ich nicht, dass Georg seine Habilitationsschrift bei uns verfasste, jetzt gestaltete sich die Beziehung zwischen Georg und mir, wenn er an den Wochenenden kam, wesentlich deutlicher und intensiver als vorher. Wir sprachen auch über Georgs Habilitation, aber in der Regel befassten wir uns nur mit unserem gemeinsamen Leben hier und jetzt, was wir jetzt gemeinsam tun konnten, um unser Wohlempfinden und Glücksgefühl zu steigern. Als ich mit Kevin verheiratet war, hatte meine Mutter ihre Besuche bei uns auf ein Minimum reduziert. Sie hat nie etwas gegen Kevin gesagt, das machte man eben nicht, aber er entsprach keineswegs ihrem Geschmack. Als wir uns getrennt hatten, normalisierte sich alles, und sie war sichtlich zufrieden. Dass Georg ständig bei uns war, musste ihr doch zu Vermutungen Anlass geben, aber gesagt hat sie nie etwas. In Liebesverhältnisse anderer mischte man sich grundsätzlich nicht ein. Dass sie Georg gern mochte, war nicht nur an ihrer innigen, langen Umarmung nach der Promotion zu erkennen, sie brachte es auch öfter in lobenden Erwähnungen zum Ausdruck, aber mir etwas im Hinblick auf meine Beziehung zu Georg zu empfehlen, dessen enthielt sie sich strikt. Georg hatte zu uns gehört. Ich wollte es nicht weiter fortsetzen, weil ich Befürchtungen für meine Entscheidungsfähigkeit sah und Angst hatte, es könnte zur Verletzung meines wichtigsten Grundsatzes führen, jetzt gehörten Georg und ich an den Wochenenden viel deutlicher zusammen, wir führten ein gemeinsames Leben, nur alles Libidinöse war weiterhin einer unausgesprochenen Übereinkunft gleich, strikt tabu.
Georgs Habilitation wurde angenommen, und er erhielt eine befristete Stelle als Privatdozent an der Uni in Köln. Jetzt musste er sich im gesamten deutschsprachigen Raum von Innsbruck bis Kiel um eine Professur bewerben. Seine Chancen waren nicht schlecht, denn Bewerber mit ähnlichen Qualifikationen waren nicht sehr zahlreich. „Carolin, ich hab es ertragen all die Jahre, weil du es so wolltest. Habe es sogar manchmal selbst für die Realität gehalten, mich selbst belogen. Sollen wir nicht endlich Schluss machen damit.“ erklärte Georg ernst und getragen. „Womit sollen wir Schluss machen? Womit hast du dich selbst belogen?“ wollte ich wissen. „Es gibt dieses unaussprechliche Wort, das wir nicht nennen dürfen. Es ist deine Setzung, ist mit deinen Gespenstern verbunden, aber die Wirklichkeit schert sich nicht darum. Es ist einfach gekommen, hat sich selbst einen Weg gebahnt und ist allgegenwärtig. Zu sagen, es gäbe keine Liebe zwischen uns, das entspricht nicht der Wahrheit, sondern ist Selbstbetrug.“ erklärte Georg. „Liebe, Liebe, was soll ich damit anfangen? Es sind deine Gefühle, deine Emotionen, deine Visionen. Was habe ich damit zu tun? Vielleicht sind sie wahr, vielleicht ist aber auch alles nur gelogen. Wie dem auch sei, es sind keine Fakten, sondern deine Gefühle, die ich dir glauben kann. Und selbst wenn ich es glaube, verstehe ich es nicht, weil es nicht meine Gefühle sind.“ reagierte ich. „Carolin, es ist doch nicht nur so, dass ich dich für einen wundervollen Menschen halte, für mich gibt es fast seit unserer ersten Begegnung kein anderes Bild für Liebe zu einer Frau als dich. Liebe, das kann nichts anderes für mich sein, als Liebe mit Carolin.“ antwortete Georg. „Es mag ja sein, dass du von mir fasziniert bist, aus welchem Grunde auch immer, das hast du ja öfter durchblicken lassen. Aber Liebe muss doch ein Prozess sein, der auf Gegenseitigkeit beruht. Ich habe einmal erklärt, dass ich verliebt sei, und das war total gelogen. So etwas soll mir nie wieder geschehen.“ erklärte ich. „Du siehst die Wirklichkeit so, dass ich erkläre, dich zu lieben, aber bei dir ist es so, dass du mich nicht liebst?“ vermutete Georg. Ganz ernst bleiben konnte ich nicht. „Du meinst, das wäre gelogen. Und woran willst du merken, dass ich dich liebe? Habe ich jemals ein Wort davon gesagt?“ fragte ich. „Nein, das nicht, aber die Liebe ist viel älter als unsere Worte, sie drückt sich in allem aus, was du tust und was du denkst. Wenn du am Freitag freudig darauf wartest, dass ich komme, wenn du glücklich bist, mich bei der Ankunft umarmen zu können, wenn es dich freut, gemeinsam ein Konzert zu besuchen, wenn dir alles, was wir gemeinsam tun, Wohlempfinden bereitet, worum handelt es sich denn dann?“ fragte Georg. „War das jetzt der ultimative Liebesbeweis?“ wollte ich wissen. Wir blickten uns an und schwiegen lächelnd. „Georg, es ist ja in der Tat so, dass ich dich äußerst gern mag und dass du ganz tief in meinem Herzen wohnst, aber da ist auch immer noch das andere, das sagt: „Er ist ein Mann, trotz allem ein Mann, und das wolltest du doch nie wieder.““ erklärte ich. „Du sagst ja selbst, das es sich bei Liebe um Empfindungen und Gefühle handelt. Die sind aber Befehlen oder rationalen Willensbekundungen unzugänglich. Du kannst dir nicht befehlen, dass dir das Essen gut schmecken soll, genauso wenig kannst du dir befehlen, dass du Georg nicht lieben sollst. Du tust es einfach, weil du nicht anders kannst.“ erläuterte Georg. „Du meinst, die Wahrheit ist, dass wir uns lieben, alles andere wäre Lüge. Das müssen wir einfach so akzeptieren, weil es so ist, weil sich die Liebe trotz aller Abschottungen einen Weg zu uns gebahnt hat?“ vermutete ich. Gehört hatte ich es ja, was ich verstanden hatte, war mir nicht ganz klar, jedenfalls würde es länger dauern, bis es voll in den Besitz meines Denkens und Handelns übergegangen wäre. Georg wäre jetzt nicht mehr der fremde Mann, sondern er müsste mein Liebster sein. Ich dachte daran und musste lachen. Unsere Welt würde sich verändern. Klar erkennen konnte ich zunächst mal nichts, ich kam mir nur konsterniert vor. „Und jetzt, was ist jetzt, was machen wir jetzt?“ wollte ich hilflos wissen. Aber Georg zuckte nur mit den Schultern. Direkte Handlungskonsequenzen aus unserem Gespräch schien er wohl nicht zu sehen. „Wir haben es uns ja jetzt gesagt und glauben es auch, müssten wir uns da nicht eigentlich zuerst mal einen Kuss geben?“ schlug ich vor. Es dauerte, unsere Gesichter waren ganz dicht voreinander, wir mussten zunächst mal Wangen, Stirn und Augen des anderen touchieren, was ja auch völlig neu war. Schließlich berührte ich Georgs Lippen und wir ließen sie sanft zusammenkommen. Wir glänzten uns an. Bestimmt gehörte es zu den umwerfendsten Ereignissen der letzten Jahre, dass wir uns gegenseitig mit den Lippen berührt hatten. Nie wieder wollte ich mich emotional einem Mann verbunden fühlen, und jetzt hatte sich die Liebe ihren eigenen Weg gebahnt und all meine Barrikaden überwunden. Wir befühlten unsere Gesichter kostbaren Edelsteinen gleich, die wir jetzt zum ersten mal berühren durften. Es war ja nichts geschehen. Wir hatten uns nur zugestanden, das benennen zu dürfen, was lange schon Wirklichkeit war. Trotzdem empfand ich es, als ob sich für mich die Welt verändert hätte. Eine immer vorhandene Fessel, die ich gar nicht wahrnehmen wollte, war gesprengt worden. Ich war frei, alle Zwänge mit wenigen Worten beseitigt, übermütig fühlte ich mich. „Aber Liebe, Georg, das ist doch Lust und Leidenschaft,“ erklärte ich, „davon hab ich bei deinem Kuss jedoch nicht viel gespürt.“ Georg lachte immer nur. Bei ihm hatte unser Gespräch wahrscheinlich zu einem Zustand der Dauerglückseligkeit geführt. Beim zweiten Kuss war ich so stürmisch, dass ich Georg auf die Couch warf. „Carolin, wann hast du das zuletzt erlebt? Noch nie.“ schoss es mir durch den Kopf. „Ich geh aber nicht mit dir ins Bett. Das kann ich nicht. Ach, was rede ich für ein Gewäsch, vergiss es.“ sagte ich völlig aufgeregt und durcheinander. In meinem Innersten hatten die beiden miteinander kämpfenden Drachen offensichtlich nicht sofort ihre Waffen niedergelegt. Georg, den Fremden Mann, wie meinen Liebsten behandeln, was musste ich denn da tun? Ich hätte es ja immer schon getan, sagte Georg, nur vor mir selbst verleugnet. Also brauchte ich nichts zu tun, doch ich musste es offen zeigen. Ich kletterte auf Georgs Schoß und setzte mich breitbeinig vor ihn. Eine bislang ebenso undenkbare Geste und ich musste lachen. „Georg, wenn es so ist, dass es öffentlich und vor allem vor uns selbst so sein darf, dass wir uns lieben, müssen wir da nicht manches verändern?“ vermutete ich. „Und woran denkst du da konkret außer Küssen und Zärtlichkeiten?“ wollte Georg wissen. „Na ja, eine Frau und ein Mann, die sich lieben, gehen doch auch miteinander ins Bett. Aber das kann ich noch nicht. Bewahre, was rede ich für einen Schrott, alles aus der großen Halde des Alltagsmülls generiert. Ich bin ein wenig nervös, Georg, und da plappere ich einfach drauf los, was ich eigentlich gar nicht will. Was ich wirklich will, das weiß ich gar nicht genau. Ich glaube schon, dass ich dich ganz möchte, auch körperlich, aber ohne Sex. Sex hat immer so etwas Aggressives, nicht wahr?“ erklärte ich, und wir lachten uns schief. „Georg, es ist nicht einfach so, dass ich freudig und beglückt bin, das bin ich schon, aber da ist noch so viel Verworrenes, Ungeklärtes. Ich glaube, ich muss mich in unseren Zustand erst langsam einleben.“ erklärte ich. Wir hatten die ganze Zeit mit Kaffee in der Küche verbracht. Georg schlug vor, einen kleinen Spaziergang zu machen, das kühle ab und beruhige. „Und am Teich werden die Enten mir zuschnattern: „Was der Georg erzählt, alles nur Lüge.“ versuchte ich zu scherzen.
Als wir zurückkamen empfing Lenny uns. „Weißt du, Lenny, Georg und ich sind jetzt richtig befreundet.“ erklärte ich. Das ließ ihn kalt, es wahr ja nichts neues. „Lenny, ich meine so richtig. Der Georg ist mein Freund und ich bin seine Freundin, wir lieben uns.“ verdeutlichte ich nochmal. Liebe ließ Lenny aufhorchen. „So richtig mit Küssen und so?“ wollte er wissen. Ich nickte ein bestätigendes „Mhm“. „Lasst mal sehen!“ forderte Lenny. „Boah, Georg.“ staunte Lenny nach vollzogener Demonstration. Warum nur Georgs Verhalten einer Bewertung unterzogen wurde, war nicht ersichtlich. Am Abend schmusten, streichelten und tändelten wir bei etwas Wein. „Wenn ich gleich ins Bett gehe, und du schläfst allein im Gästezimmer, das wäre doch auch komisch nicht wahr?“ schnitt ich es an. „Du musst wissen, was du dir zutraust, was du möchtest, und so machen wir's dann.“ entschied Georg. „Georg, ich möchte heute nacht nicht allein sein. Mit dir zusammen zu sein ist für mich eine wundervolle Vorstellung, aber ich möchte nicht, wohin das führt. Ich möchte nur Schmusen und sanft streicheln. Ich weiß, ich ziehe ein Negligé an, dann kann nichts passieren.“ erklärte ich. Negligé? Ich hatte gar keine Negligés, weil ich immer nackt schlief. Nur noch ein ganz altes Nachthemd aus der Schulzeit hatte ich noch. Bestimmt hatten wir gegenseitig Lust an unseren Körpern, nur wir waren eben sehr zaghaft und vorsichtig. Bislang nicht gekannte Zonen meines Dekolletees schienen für Georg sakrosanktes Terrain zu sein. Entsetzlich dieses Nachthemd. Ich kam aus dem Bad und legte mich lachend ins Bett. Georg zupfte am Krägelchen und scherzte: „Ist das die Schutzkleidung?“ „Ja, mein Männerabschreckungsdress.“ meinte ich, richtete mich auf, streifte das Nachthemd über den Kopf und warf es neben das Bett. Mit der Erklärung: „Das ist doch albern. Wir sind doch erwachsene Menschen, wir wissen doch wie eine Frau und ein Mann aussieht.“ warf ich mich auf Georg, der auf dem Rücken lag. Das allgemeine Erscheinungsbild von Frau und Mann kannten wir zweifellos, und Carolin wusste auch genau, wer Georg war, nur seinen Körper kannte sie nicht. Nicht anders war es für Georg. Er fand mein Aussehen bezaubernd, nur alles andere von mir kannte er nicht. Wir liebten es uns auszutauschen, uns gegenseitig zu erkunden, die gleiche Lust und Liebe schien jetzt unseren Körpern zuzukommen. Jeder Quadratzentimeter musste ertastet, geküsst und besprochen werden. Wir hatten Lust aufeinander, Lust auf unsere Körper, was wir immer neu entdecken konnten und wie es möglich war körperliches Wohlempfinden zu bereiten. Wir sprachen, lachten und waren glücklich dabei. Offensichtlich gehörte zur umfassenden Eudeimonia auch das körperliche Wohlempfinden. Von Sex sprach niemand. Aber auch, wenn wir es nicht explizit benannten, schien sich das libidinöse Verlangen mit der Zeit wohl genauso wie die Liebe von selbst einen Weg zu bahnen. Aus den liebevollen Zärtlichkeiten wurden erregende Streicheleien und Massagen, die nach Steigerung verlangten. Was ich mir verboten und für nicht möglich gehalten hatte, jetzt wollte ich nichts anderes. Es führte uns auf eine Reise in ein anderes Land, in dem der übliche, uns umgebende Alltag nicht existierte. Jetzt war ich nur ich selbst, absolut voll ich selbst und das gemeinsam mit Georg. Als wir zurückkamen konnte ich nur Georg mit all meinen Kräften umarmen. „Georg, ich sag mal was, aber nicht jetzt. Jetzt musst du mich nur träumen lassen.“ wünschte ich. Ich lag schräg an Georg gelehnt und hatte meinen Kopf auf seine Schulter gelegt. Ein Bild, das es nie wieder geben könnte, alles Lüge musste das sein. Erleben konnte ich es, aber von außen betrachtet, hätte ich es nicht geglaubt. „Das machen wir aber nie wieder, nicht wahr? Wir haben doch deutlich gesagt, dass wir so etwas nicht wollten.“ versuchte ich am Morgen beim Aufwachen zu scherzen. „Das macht den Weisen aus, dass er in der Lage ist, seine Ansicht zu ändern.“ kommentierte Georg. „Du hältst mich für weise, das hört sich sehr gut an, danke, Georg.“ reagierte ich auf das Kompliment. „Ich habe dich schon immer für eine weise und kluge aber auch für eine gefühlsbetonte, lustvolle Frau gehalten. Bislang konnte ich es nur vermuten, jetzt weiß ich es.“ erklärte Georg. „Gar nichts weißt du. Meine Gefühle und meine Lust gehören nur mir, nur ich selbst kann etwas dazu sagen, alles was du dazu sagst ist Lüge.“ erwiderte ich. „Aber deine Gefühle und meine Gefühle haben zusammen unser gemeinsames Glück geschaffen, auch wenn jeder seine eigenen Gefühle spezifisch anders empfindet.“ Georg darauf. „Du meinst, es wäre ratsam, in Zukunft unsere Gefühle häufiger zusammenkommen zu lassen, damit sie unser gemeinsames Glück vermehren?“ interpretierte ich Georg.
Lenny öffnete die Tür, sah uns gemeinsam im Bett liegen und ging sofort wieder. Ich sprang auf und rannte ihm nach. Er sollte sich nichts Krummes zusammenreimen. „Komisch, nicht wahr? Aber Georg und ich wir sind jetzt verheiratet, und da ist es ja dann schon mal so, dass der Mann und die Frau zusammen im Bett liegen.“ erklärte ich. „Verheiratet? Aber es war doch gar keine Hochzeit.“ monierte Lenny. „Hochzeit gibt es nur, wenn man im Rathaus mit Papieren und unterschreiben und so heiratet. Wir haben heimlich geheiratet, sodass man nichts davon merkt.“ erläuterte ich. „Und wann habt ihr geheiratet?“ wollte Lenny noch wissen. „Heute Nacht, als du tief geschlafen hast.“ antwortete ich. Überlegen würde Lenny bestimmt noch, aber fünf Minuten später rief meine Mutter an. „Carolin, was höre ich da für wilde Sachen?“ sagte sie und lachte. Ich klärte sie auf. „Carolin, es mag sein dass du es mir nicht glaubst, aber es gibt für mich kein größeres Glück, als das zu hören. Dein Leben und dein Glück ist immer auch mein eigenes geblieben. Auch wenn du absolut eigenständig bist, bleibst du doch ein Teil von mir. Ich will euer Glück keineswegs stören, aber weißt du, wonach es mich ganz stark drängt, mal kurz eben vorbeizukommen und euch beide zu umarmen.“ sagte Mutter. „Georg, wir müssen aufstehen, Mutter kommt gleich. Sie will uns umarmen.“ trieb ich Georg aus dem Bett. Er lachte sich schief, als er die Geschichte hörte. „Dann werden es die anderen auch bald wissen.“ vermutete Georg. „Bin ich denn jetzt Carolins Mann, oder ist Carolin Georgs Frau?“ versuchte Georg zu scherzen. „Nein, Georg, wie kannst du so einen Schwachsinn reden. Das ist die erste Lektion, dass es keine Besitzverhältnisse unter Personen gibt.“ antwortete ich. „Und trotzdem wird man öffentlich wohl bis in Ewigkeit jemanden als die Frau von bezeichnen.“ mutmaßte Georg. Die Frau meines Vaters kam mit vor Freude glänzendem Gesicht. Nein, nicht an der Tür kurz umarmen, wir mussten uns ins Wohnzimmer stellen und dann schlang Mutter einen Arm um meinen und einen um Georgs Hals. Anschließend wurden wir beide nochmal einzeln gedrückt und geherzt. „Bei Beziehungen zwischen anderen Menschen weißt du ja nie, wie sich was gestaltet, aber ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass ihr beide, trotz deines strikten Verdikts, zusammenfinden möchtet. „Und warum hast dir das so dringend gewünscht?“ wollte ich wissen. „Carolin, erspare mir doch die ganzen Lobhudeleien. Ich spüre einfach, dass es etwas tief Verbindendes zwischen euch gibt. Ich mag Georg ja auch sehr gern, vielleicht ist das eine Gefühlsströmung, die du von mir geerbt hast.“ sagte Mutter. Das war allerhand, denn ich dachte eher sie hätte mir etwas von ihrer Misandrie vererbt. Den Männern kommt ja bei unserer Spezies nicht die Funktion zu, ästhetische Glanzlichter darzustellen, aber sie erkannte bei jedem Mann im Fernsehen aus seinem Auftreten und Verhalten Grundzüge seines Wesens und Charakters, und das war meistens übel. Nach ihrer Scheidung war ein altes Büchlein "Der Mann als logische und sittliche Unmöglichkeit und als Fluch der Welt" zu ihrer Bibel geworden. Zum Feminismus hatte sie sich aber nicht durchgerungen. Dass ich keinen Mann mehr wollte, konnte sie gut verstehen, und dass sie sich jetzt über Georg für mich freute, war höchst verwunderlich. Vielleicht gibt es ja doch etwas genetisch, biologisches, das Männer und Frauen nicht nur zum Sex miteinander motiviert, sondern sie auch animiert, miteinander gemeinsam glücklich sein zu wollen. Georg hatte Recht, es dauerte nicht lange, bis alle Bekannten über unsere vermeintliche Verehelichung informiert waren. Im Grunde nicht schlecht, so musste und konnte ich allen erklären, wie es sich zwischen uns verhielt. Am meisten erstaunt war Reemda. „Reemda, ich habe doch nicht den Feminismus verraten. Es gibt einfach etwas in dir, das lässt sich nicht befehlen. Ich habe es lange versucht, aber was ich mir ausgedacht habe, war Lüge. Ich habe mich selbst belogen.“ erklärte ich. „Und jetzt, was wird jetzt aus eurem Glück, wenn Georg in Freiburg oder Rostock eine Professur angeboten bekommt? Wird er sie ablehnen wegen der Liebe?“ fragte Reemda. Darüber hatten wir noch gar nicht nachgedacht, hatten einfach nur in unserem Glück geschwelgt. Georg kam jetzt jeden Abend von Köln. Er hatte sich noch nirgendwo beworben. „Bislang war auch keine passende Stelle ausgeschrieben. Wir bekommen einige neue Stellen, und ich habe schon mit Gott und der Welt geredet, um ihnen klar zu machen, wie lukrativ und dringend es wäre, die befristete Dozentenstelle in eine ordentliche Professur umzuwandeln.“ erklärte Georg. „Wie steht es, warst du bislang erfolgreich?“ wollte ich wissen. „Davon erfährst du ja nichts. Es kommt darauf an, wie intensiv sich die Leute dann in den Gremien dafür einsetzen, oder ob sie sich doch von anderen Argumenten überzeugen lassen.“ erklärte Georg dazu. Das hieß, vorläufig warten, bis die Entscheidungen gefallen waren. Eine Atmosphäre des Wartens kam aber nie auf. Jeder Tag war ein neuer Tag der Ewigkeit. Dass ich jetzt früher aufwachen musste, störte nicht, denn ich wollte mit Georg gemeinsam den neuen Tag begrüßen. Auch wenn es draußen wolkenverhangen war, ließen wir beim gemeinsamen Frühstück die Sonne aufgehen für diesen, unseren Tag. Alle kamen uns besuchen, weil sie das neue Glück life erleben wollten. „Das hätte ich von dir nie gedacht.“ klagte Betty, „erkannt, dass es Liebe ist.“ Du bist doch sonst eine ganz vernünftige Frau. Liebe, was ist das denn? Keiner weiß es, aber alle benutzen es inflationär. Eine Chimäre ist das. Männer und Frauen suchen sich danach aus, für wie brauchbar sie sich gegenseitig halten, und dann tun sie so, als ob es Liebe wäre. Alles Lüge ist das.“ „Mein Empfinden für Lenny und mein Verlangen nach Lenny darf ich das auch nicht als Liebe bezeichnen, weil ich gar nicht weiß, was Liebe eigentlich ist. Ist Liebe etwas Transzendentales, das sich in der Alltagswelt gar nicht konkretisiert? Das stimmt nicht, Betty, es sind Gefühle, Verlangen, Bedürfnisse, Wünsche, die tatsächlich in dir vorhanden sind, und dies zu leugnen, was ich ja lange versucht habe, ist Lüge.“ erwiderte ich. „Liebe ist das Tiefste und Bedeutsamste, worüber der Mensch verfügt.“ erklärte Christine, „Schon Augustinus hat gesagt „Liebe und tue, was du willst.“. Wer aus Liebe handelt, braucht keine Moral. In der Liebe offenbart sich unsere Menschlichkeit am deutlichsten. Sogar Nietzsche hat erklärt: „Was aus Liebe getan wird, geschieht jenseits von Gut und Böse.“ Thilda hatte es immer schon gewusst: „Du kannst es nicht verbergen, wenn da Hass und Zorn ist, aber dass da Liebe ist, kannst du auch nicht verheimlichen. Nicht nur deine Mimik, vor allem dein Handeln und dein Umgang miteinander zeigen es. Du selbst bist wahrscheinlich die letzte, die es erkannt, nein zugegeben hat.“ Ein wenig jenseits von Gut und Böse komme ich mir auch vor. Ich bin Carolin, die ihr Leben selbständig, allein gestalten will. Abhängigkeiten von nichts und niemandem mehr akzeptiert. Das war doch nicht geplappert, das hatte doch seinen Sinn. Jetzt soll das plötzlich alles Müll sein? Keinesfalls. Ich wollte mich selbst erkennen, wissen, wer ich wirklich war. Daran sollte sich mein Leben orientieren. Nur du stellst schnell fest, dass es sich bei vielem, was du von dir selbst erkennst, um Mutmaßungen oder Wünsche handelt. Selbsterkenntnis ohne ein Gegenüber, das praktisch wie ein Spiegel wirkt, ist nicht möglich. Selbsterkenntnis braucht immer den anderen.Georg sagt, dass die Liebe in Wirklichkeit schon immer anwesend war. Sie hat in keinem Bereich für mich zur Selbstaufgabe geführt. Die Frau, die nie wieder einen Mann lieben wollte, jetzt aber mit Georg zusammen glücklich ist, wird immer ihre unabhängige, eigenständige Persönlichkeit behalten und in Georg den Partner haben, der ihr zu tieferer Selbsterkenntnis verhilft.
FIN
Selbst, wenn du mich fragst, ob ich dich liebe, und ich sag ja,
weiß ich manchmal nicht genau, ist das nun Lüge oder wahr,
weil ich oft gar nicht mehr weiß, was das ist: Liebe.
Rio Reiser, Alles Lüge
Eine immer vorhandene Fessel, die ich gar nicht wahrnehmen wollte, war gesprengt worden. Ich war frei, alle Zwänge mit wenigen Worten beseitigt, übermütig fühlte ich mich. „Aber Liebe, Georg, das ist doch Lust und Leidenschaft,“ erklärte ich, „davon hab ich bei deinem Kuss jedoch nicht viel gespürt.“ Georg lachte immer nur. Bei ihm hatte unser Gespräch wahrscheinlich zu einem Zustand der Dauerglückseligkeit geführt. Beim zweiten Kuss war ich so stürmisch, dass ich Georg auf die Couch warf. „Carolin, wann hast du das zuletzt erlebt? Noch nie.“ schoss es mir durch den Kopf. „Ich geh aber nicht mit dir ins Bett. Das kann ich nicht. Ach, was rede ich für ein Gewäsch, vergiss es.“ sagte ich völlig aufgeregt und durcheinander. In meinem Innersten hatten die beiden miteinander kämpfenden Drachen offensichtlich nicht sofort ihre Waffen niedergelegt. Georg, den fremden Mann, wie meinen Liebsten behandeln, was musste ich denn da tun? Ich hätte es ja immer schon getan, sagte Georg, nur vor mir selbst verleugnet. Also brauchte ich nichts zu tun, doch ich musste es offen zeigen. Ich kletterte auf Georgs Schoß und setzte mich breitbeinig vor ihn. Eine bislang ebenso undenkbare Geste und ich musste lachen. „Georg, wenn es so ist, dass es öffentlich und vor allem vor uns selbst so sein darf, dass wir uns lieben, müssen wir da nicht manches verändern?“ vermutete ich. „Und woran denkst du da konkret außer Küssen und Zärtlichkeiten?“ wollte Georg wissen. „Na ja, eine Frau und ein Mann, die sich lieben, gehen doch auch miteinander ins Bett. Aber das kann ich noch nicht. Bewahre, was rede ich für einen Schrott, alles aus der großen Halde des Alltagsmülls generiert. Ich bin ein wenig nervös, Georg, und da plappere ich einfach drauf los, was ich eigentlich gar nicht will. Was ich wirklich will, das weiß ich gar nicht genau. Ich glaube schon, dass ich dich ganz möchte, auch körperlich, aber ohne Sex. Sex hat immer so etwas Aggressives, nicht wahr?“ erklärte ich, und wir lachten uns schief. „Georg, es ist nicht einfach so, dass ich freudig und beglückt bin, das bin ich schon, aber da ist noch so viel Verworrenes, Ungeklärtes. Ich glaube, ich muss mich in unseren Zustand erst langsam einleben.“ erklärte ich. Wir hatten die ganze Zeit mit Kaffee in der Küche verbracht. Georg schlug vor, einen kleinen Spaziergang zu machen, das kühle ab und beruhige. „Und am Teich werden die Enten mir zuschnattern: „Was der Georg erzählt, alles nur Lüge.“ versuchte ich zu scherzen.
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2015
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