Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

 

Allein

 

Dominique und Thommys Mutter

 

 

Erzählung

 

 

Für die Welt bist du irgendjemand,
aber für irgendjemand bist du die Welt.”

 

Erich Fried

 

Beim Kaffee bestand Beatrix nochmal darauf: „Ich fühle mich aber in der Tat anders. Du kannst zwar das Alter nicht ändern, aber das Empfinden ist nicht starr. Sollen wir gleich wieder ins Bett gehen? Es ist alles so neu, so faszinierend, oder hast du keine Lust, mit so einer alten Frau zu schmusen?“ „Be-a-trix!“ fauchte ich, „Was soll das? Du tust mir weh, wenn du so redest. Oder möchtest du das gern?“ „Dominique, ich weiß doch, dass du mich über alles in der Welt liebst, aber mein Körper ist eben nicht mehr der jüngste, attraktivste, das ist einfach so.“ entgegnete Beatrix. „Du spinnst, Bea, dein Körper ist für mich der schönste und attraktivste auf der Welt, weil du es bist, weil es keinen Menschen geben kann, der schöner wäre als meine geliebte Beatrix.“ erklärte ich. „Ich kann es alles gar nicht fassen. Träumen oder wünschen konnte ich das nicht, und dann ist es einfach so geschehen. Meinst du, die Wirklichkeit ist stärker als alle Phantasie?“ fragte Beatrix. „Du meinst, wir haben nicht Träume und Phantasien zu verwirklichen versucht, sondern sind unseren wirklichen Gefühlen und Bedürfnissen gefolgt und haben dadurch eine neue Wirklichkeit geschaffen.“ interpretierte ich es. „Werden wir es in Zukunft immer so halten, Dominique, stets viele neue Wirklichkeiten schaffen?“ fragte Beatrix. Ich signalisierte Einverständnis, in dem ich lächelte und meine Finger mit Beas Haar spielen ließ.

 

 

Allein - Inhalt

Allein 3

Dominiques Selbständigkeit 3

Gaby 4

Thommys Geburtstag 5

Beatrix und Thommys Liebe 8

Frida Kahlo Ausstellung 10

Juliane und Lilo 13

Landeplatz für Aphrodite 15

Einladung zum Opernbesuche 16

„Una voce poco fa“ 18

Besuche bei Beatrix 20

Liebesverbot 21

Wut 22

Trauer 24

Beatrix Trennung 26

Versöhnungsgespräch 27

Mit Mutter an der See 29

Beatrix Besuch bei mir 31

Neue Vorschläge 33

Mein Zimmer bei Beatrix 35

Wesensverbundenheit 37

Neue Wirklichkeiten 37

 

 

Allein - Dominiques Selbständigkeit

In der Bibel steht ja, dass es nicht gut sei für den Menschen, allein zu sein. Gott sollte das gesagt haben, aber es waren wohl Menschen, die es so gesehen und aufgeschrieben hatten. Ich seh' das heute nicht anders, obwohl es ja selbstverständlich ist, dass Menschen allein leben und gerade unter Studenten, da ist es sogar die Regel. Mein selbständiges Leben beginne jetzt, hatte meine Mutter erklärt, ich solle stolz darauf sein und mich darüber freuen. Darüber, dass ich jetzt allein einkaufen, putzen und waschen musste, darüber sollte ich mich freuen? Alles andere war durch die Studienordnung vorgeschrieben und von anderen für mich geregelt. Ich musste dem nur folgen. Das war nicht mei­ne Welt. So hatte mein Leben, mit dem ich glücklich und zufrieden war, nie ausgesehen. Allein war ich noch nie gewesen. Einsamkeit soll die Menschen psychisch und in ihrem Sozialverhalten verändern, hatte ich gelesen. Ich war mit den Bedingungen so nicht einverstanden, aber Anfälle von depressiver Tristesse hatten mich bislang verschont. In einem Seminar lernte ich Tommy kennen. Warum genau kann ich gar nicht benennen, aber nach ein paar launi­gen Worten spürten wir, dass wir wohl in etwa auf der gleichen Wellenlänge lagen. „Allein? Was ist das denn für ein Problem? Ich bin mein ganzes Leben allein gewesen.“ erklärte er. „Na klar, Freunde, Verwandte und Bekannte hatte ich schon. Insofern bist du, glaube ich, nie allein. Es liegt an dir, wie du deine Welt gestaltest.“ fügte er hinzu und lud mich zum Kaffee zu sich ein, dann sei ich für den Moment schon mal nicht einsam und allein. Jesus und Mohammed waren allein in der Wüste gewesen und hatten große Weltreligionen erfunden, und es gibt ja auch heute noch Apologeten, die die Kraft der Stille und Abge­schiedenheit preisen. Sie sprechen nicht meine Sprache, und eine neue Religi­on stiften wollte ich erst recht nicht. Der Mensch ist ein Wesen, das aus seiner Kommunikation besteht, vom ersten Tage seines Lebens an. Ich hatte keine soziokommunikativen Störungen, wie sie durch Einsamkeit entstehen könnten, mir passte es einfach nicht, dass meine Welt nicht so war, wie früher. Vor al­lem fehlte mir meine Schwester. Es erschien mir jetzt so, als ob ich nie selb­ständig für mich gelebt hätte, sondern nur im Verbund mit meiner Schwester existierte. Eigenständige Menschen waren waren wir schon, aber wir gehörten zu einem Urwerk, das nicht funktioniert, wenn einer fehlt. Sie gehörte zu mir und ich wohl ebenso zu ihr. Sie besuchte mich zwar öfter, aber was war das gegen ihre permanente Anwesenheit. Als ich bei Tommy zum Kaffee war, er­klärte er, dass ihn gleich seine Mutter besuchen käme. Sie wolle ihm nur etwas bringen, und ich solle deshalb nicht gehen. Tommys Mutter war eine elegante Frau zwischen vierzig und fünfzig. Sie lächelte freundlich, als Thommy mich vorstellte. „Biochemie studieren sie? Muss man da nicht viel pauken?“ fragte sie. „Das ist heute fast überall so.“ erklärte ich, „Mit dem locker, lustigen Stu­dieren ist es seit Bologna vorbei. Alles verschult und vorgeschrieben.“ „Also, oh, alte Burschenherrlichkeit, das gibt es heute nicht mehr?“ erkundigte sich Thommys Mutter. Was sie auch sagte, sie sprach mit dezenter, sonorer Stimme, dass es fast gravitätisch wirkte, wobei ihre Mimik mir immer ein Lächeln zeigte. „Eine wunderschöne Frau ist deine Mutter.“ erklärte ich Thommy, als sie gegangen war. „Oh, das muss ich ihr sagen, da wird sie sich freuen.“ meinte Thommy. „Nein, bloß nicht. Schön, ich weiß nicht. Sie ist ja schließlich nicht mehr die Jüngste, aber in ihrem Ausdruck liegt etwas ungemein Faszinierendes.“ erklärte ich. „Und was ist das Faszinierende? Hast dich etwa gleich verliebt?“ wollte Thommy wissen, und wir lachten beide. Von Liebe und der Beziehung zu Frauen wollte ich nämlich überhaupt nichts wissen. Mir war völlig unklar, was das denn überhaupt wohl sein könnte. Bestimmt litt ich unter einer psychischen Beziehungsstörung. Mit fünfzehn hatte meine Schwester schon apodiktisch erklärt, dass ich unbedingt eine Freundin brauche. Meine Schwester und ich waren uns gegenseitig die wichtigsten Berater in allen Lebenslagen, gleichgültig ob es sich um Krankheiten oder politische Ansichten handelte. „Und warum, bitte, brauche ich eine Freundin?“ wollte ich wissen. „Das ist doch natürlich so. Immer und überall suchen sich Männer und Frauen. Das liegt am Geschlechtstrieb.“ erläuterte sie. „So ein Quatsch. Ich will doch gar nicht mit anderen Mädchen ficken.“ reagierte ich. „Du Blödmann, um Liebe geht es doch. Du willst eine Frau lieben und möchtest, dass sie dich liebt.“ erklärte sie. Sie hatte ja Recht, bei uns in der Klasse war das ja so. Nein, überhaupt nicht. Da gab es Jungs, von denen ich mir nicht vorstellen konnte, wie eine Frau jemals an einen solchen Typen Gefallen finden könnte. Dann gab es aber auch eine andere Gruppe, in der man über nichts anderes redete, als über Beziehungen und Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen. Ich gehörte zu den Indifferenten, bei denen das Thema keine Rolle zu spielen schien. Ein Verlangen, zu lieben oder geliebt zu werden, konnte ich auch bei mir nicht verspüren. Ich wusste ja im Grunde gar nicht, was das war. Natürlich ging es in Filmen, Büchern und überall um die Liebe, aber sollte ich so einen Fake, den die Schauspielerinnen und Schauspieler inszenierten, nachmachen. Lilo, meine Schwester hatte gemeint, Natascha, ihre Freundin, würde mich, zum Beispiel, sehr nett finden. Ich mochte Natascha ja auch. Sie war ein sehr nettes Mädchen, aber sollte ich wegen Natascha in einen Liebesrausch verfallen? So ein Unsinn. Ich fand auch andere Mädchen ganz nett und verstand mich gut mit ihnen, aber dass eine von ihnen mich verzücken und in einen anderen Bewusstseinszustand versetzen könnte, darüber konnte ich nur lachen. Wenn es Liebe und verliebt sein gab, dann musstest du es erleben, vorstellen oder planen ließ sich so etwas nicht. Ein ständiges Drängen verspürte ich jedenfalls nicht. Wie hätte mich auch eine fremde Frau oder ein fremdes Mädchen mehr lieben sollen als meine Schwester. Ich kannte keinen Bedarf nach Liebe und fremden Frauen, auch wenn ich ihre Gesellschaft immer als sehr angenehm empfand.

 

Gaby

Im ersten Semester nahm ich an einer Exkursion nach Prag teil. Ein wunder­volles Erlebnis für alle. Man veranstalte eine kleine Feier und ich tanzte mit ei­ner Frau. Dreimal nacheinander tanzten wir. Worüber wir uns dabei unterhiel­ten, weiß ich nicht mehr, jedenfalls löste es bei uns beiden das Bedürfnis aus, vor die Saaltür zu gehen und sich zu küssen. Es ist mir gar nicht bewusst ge­worden, was das Küssen und berühren der fremden Frau in mir auslöste. Das Küssen und Befühlen wurde wohl intensiver, sodass es wie selbstverständlich erschien, dass die Frau am Abend zu mir ins Hotelzimmer kam. Ebenso am nächsten und übernächsten Abend. Ich kann mich an die Frau nur noch sche­menhaft erinnern, sogar ihr Name war mir lange Zeit nicht gegenwärtig. Neu­lich fiel es mir durch Zufall wieder ein, dass sie Gaby hieß. Als wir wieder zu Hause waren, kam Gaby mich am Wochenende besuchen. Sie wohnte in einer anderen Stadt. Es dauerte nicht lange, bis wir wieder im Bett lagen und fick­ten. Über irgendetwas werden wir auch sicher geredet haben, nur ich kann mich an nichts mehr erinnern. Gaby war keine Frau, die irgendein Interesse in mir weckte, ich meine nur noch zu wissen, wie deutlich es mir war, das Gaby nicht auf meiner Wellenlänge lag. Gaby wollte nur ficken. Ich war noch jung, und mir wurde später klar, wie potent ich wohl gewesen sein musste. Was ich von Gaby wollte, außer zu ficken? Da gibt es nichts. Der pure Geschlechtstrieb, dem es nur darum geht, möglichst ausgiebig zu koitieren, hatte mich im Griff. Was Gaby empfand, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass es ihr nie zuviel werden konnte. Aber sie muss auch noch wohl etwas anderes gesehen haben. Irgend­wann wurde mir deutlich, wie verrückt das alles war, was sich da zwischen uns abspielte. Ich wollte nicht mehr und erklärte es Gaby. Ich weiß noch, dass ich einen Redeschwall über mich ergehen ließ. Am nächsten Wochenende schellte sie zur üblichen Zeit. Gaby kam wohl irgendwie ins Haus und klopfte an meine Tür. Ich hatte keine Lust, mich auf Gaby einzulassen, das war sie mir nicht wert. Meine Mutter erklärte mir kurz darauf, dass sie einen langen Brief von meiner Freundin erhalten habe, sie wollte ihn mir aber nicht zeigen, da er an sie gerichtet gewesen sei. Sie werde auch nicht darauf reagieren, das müsse ich selbst in Ordnung bringen. Vielleicht hatte Gaby ja auch Obszönes ge­schrieben, und Mutter traute sich nicht. Aber nein, das konnte nicht sein. Gaby wirkte äußerst bieder und reaktionär. Wer weiß, vielleicht basiert die äußere Erscheinung grundsätzlich immer auf einem Trugwunschbild. Eine ekelige Be­gebenheit in meinem Leben, die mir vor mir selbst im Nachhinein außerordent­lich peinlich ist. Es hatte sich einfach so ereignet, und ich war nicht in der Lage gewesen, damit halbwegs vernünftig umzugehen. Ich hatte es einfach so ge­schehen lassen. Warum ich alles so schnell total vergessen hatte? Gern hätte ich es gezielt vergessen, wenn das ginge, aber mein Unbewusstes musste die Erinnerungen daran wohl so schnell eliminiert haben, weil die Ereignisse über­haupt nicht zu meiner Persönlichkeit passten. In der Schule vergisst du so schnell etwas, weil es dich nicht emotional tangiert, vielleicht bedingen die Vor­gehensweisen nach dem Geschlechtstrieb auch nicht zwingend emotionale Beteiligung. Ich glaube zwar keineswegs, das alle Frauen nur ficken wollen, aber ich war nicht in der Lage gewesen, es zu verhindern, obwohl mir von An­fang an klar war, dass es zu keiner persönlichen Beziehung mit Gaby kommen würde. Wenn ein Mann und eine Frau zusammen kommen, kann es sich immer gefährlich entwickeln, oder zumindest so, wie du es dir nicht gewünscht hät­test. Liebe und Liebesglück, das sind zunächst mal deine Imaginationen und Träume, wie du sie aus der Beschreibung und Darstellung von anderen kennst. Ich traute dem nicht und hatte eher Angst davor.


Thommys Geburtstag

Thommy kam zu mir, weil wir anschließend gemeinsam ins Kino gehen wollten. „Meine Mutter war schon wieder da. Sie wollte wissen, was du denn für ein ko­mischer Typ seist. Du hättest sie immer so angestarrt. Aber ich konnte ihr nicht viel sagen, ich weiß ja auch nichts von dir. Ich habe ihr nur erklärt, dass du sie gut leiden möchtest. War das zuviel?“ fragte Thommy. Im Kino quatsch­ten wir immer, machten uns lustig über die Darsteller und lachten uns schief, sodass sich andere Zuschauer schon gestört fühlten. Thommy meinte, man solle sich Filme grundsätzlich zu zweit ansehen, damit man über dem Gesche­hen stehe und sich nicht bewusstlos einlullen lasse. „Dann wirst du nie das Ge­fühl haben, selbst dabei gewesen zu sein.“ monierte ich. „Bist du ja auch nicht, das soll dir nur suggeriert werden.“ bestätigte Thommy. „Also die Filmemacher letztendlich alles Phantasten und Illusionisten?“ vermutete ich. Thommy nickte Zustimmung. „Aber du kannst an einem großen Realitätsevent teilnehmen. Ab­soluter Quatsch. Ich habe in vierzehn Tagen Geburtstag, aber ich mache keine Fète. Nur meine Mutter, eine Freundin und meine Lieblingscousine kommen zum Kaffee. Mein Vater ist verhindert. Wir kennen uns zwar kaum, aber ich würde mich freuen, wenn du auch kämst.“ erklärte Thommy. Näheres hatte ich nicht erklärt, ich hatte nur gesagt, dass ich im Moment kein Interesse an Frau­en hätte. Thommy selbst hatte gerade eine kurze Beziehung beendet, die er je­doch schon bald mehr qualvoll als beglückend erlebt hatte. Wollte Thommy mich etwa verkuppeln? Nein, das glaubte ich keinesfalls, nachdem er mir seine Beziehung zu den beiden Frauen erklärt hatte. Wie kann eine junge Frau wir­ken, als ob sie eine angehende Wissenschaftlerin sei, aber Juliane, Thommys Cousine, sah einfach so aus. Ihre Gesichtszüge und ihre Mimik ließen keine an­dere Vermutung zu. Ich merkte, wie ich selbst von diesen Klischees geprägt war, die im Gesicht der Frau etwas Liebliches, Anmutiges zu sehen wünschten. Juliane entsprach dem überhaupt nicht. Hässlich oder dergleichen war sie kei­nesfalls, und ich merkte, dass mir Julianes Gesicht außerordentlich gefiel. Thommy stellte mich kurz vor, und erklärte dass wir uns zwar noch nicht lange kennen würden, er mich aber eingeladen habe, weil ich oft so einsam sei. „Oh,“ meinte Juliane erstaunt, „ist der Junge allein und verlassen, weil die Mami nicht mehr da ist?“ und lachte laut. Ich antwortete nicht direkt und Thommys Mutter erklärte: „Für die anderen bin ich Beatrix oder Bea oder Mami. Mami geht ja für dich schlecht, aber wenn du mich auch Beatrix oder Bea nennen würdest, das wäre mir lieber als wenn du mich als einziger mit Frau Möller anredest.“ „Dass ich der Dominique bin, das wissen sie ja schon.“ erklärte ich. „Weißt du.“ korrigierte mich Beatrix. „Und was machst du da? Rufst du öfter die Telefonseelsorge an? Hallo, hier ist Dominique, ich bin so einsam.“ wollte Juliane lachend wissen. Ihrem ernsten, nachdenklichen Gesicht wollte Juliane heute wohl in ihrem Verhalten in keiner weise entsprechen. „Nein, Juliane, wenn sich jemand einsam fühlt, kann das doch ein ernstes Pro­blem sein und ist keineswegs lächerlich.“ belehrte Jana, Thommys Freundin, Juliane. „Das streite ich doch gar nicht ab, nur der Dominique erweckt über­haupt nicht den Eindruck, als ob er leidend und von Problemen beladen sei. Weshalb fühlst du dich denn einsam, Dominique?“ wollte Juliane wissen. „Na, das ist doch immer das gleiche, einsame Leute fühlen sich allein, haben keine Freunde und kaum soziale Beziehungen.“ erklärte Beatrix. „Ja, ist das bei dir so?“ fragte Jana ungläubig nach. „Ach wo,“ stellte ich klar, „richtig einsam kann man das eigentlich gar nicht nennen. Mir gefällt es nur so nicht. Früher war immer meine Schwester da, und die fehlt mir heute.“ Juliane und Jana lachten erst mal und Beatrix schmunzelte. „Also kein Muttersöhnchen, sondern ein Schwestersöhnchen, aber nein, das gibt es ja nicht, ein Schwesternjunge, wie süß.“ erklärte Juliane lachend. „Du musst dich mal nach einem anderen Mädchen umschauen, aber ich kann gut nachempfinden, wie schwer das ist. Thommy und ich, wir sind uns schon seit ewigen Zeiten die liebsten Freunde, aber das ist wie bei Bruder und Schwester, irgendwelche erotischen Bedürfnis­se entstehen da nicht. Todestrieb nennt man das, glaub ich.“ erklärte Jana. Jetzt lachten erst mal alle. Nach einer Weile stellte Beatrix klar: „Den soll es zwar auch geben, aber zu dem, was du meinst, sagt man, glaube ich, Inzestta­bu.“ „Ah ja, aber so ganz genau kenne ich mich mit Freud nicht aus. Es ist ja schon bedeutsam. Unser heutiges Bild vom Menschen basiert ja weitgehend auf Freuds Ansichten, nur zum Psychotherapeuten würde ich nicht gehen.“ meinte Jana. „Bei bestimmten Problemen kann das aber schon mal sehr hilf­reich und notwendig sein.“ erklärte Beatrix. „Mag ja sein, aber die wühlen im­mer in dir, deiner Vergangenheit und deiner Kindheit. Du bist das Problem. Da­bei sind meistens andere für die Probleme verantwortlich, dein Mann oder dei­ne Firma. Was hat deine Kindheit denn damit zu tun, wenn du im Büro ge­mobbt wirst? Andere sind die Täter.“ entgegnete Jana. „Aber bei dir zum Bei­spiel, da liegt das Problem doch deutlich bei dir selbst. Thommy kannst du nicht lieben, aber einen anderen willst du auch nicht. Wie kannst du das denn lösen?“ fragte Juliane juxig. „Dir geht’s gut, du fühlst dich wohl, Juliane, nicht wahr.“ erkundigte sich Beatrix. „Klar, wie soll's dir besser gehen, als wenn du nur mit deinen liebsten Menschen zusammen bist? Dem Dominique wird ein­fach mal vertraut. Wir wollen ihm doch helfen, und wie können wir ihn besser über den Verlust seiner Schwester hinwegtrösten, als wenn er gleich mit zwei jungen Frauen zusammen ist. Sind wir denn wenigstens halb so gut wie deine Schwester?“ erklärte Juliane. „Ihr seid zwar anders, aber große klasse.“ be­merkte ich, was wieder Gelächter auslöste. „Willst du dir nicht die Jana zur Freundin nehmen? Das wäre doch eine ideale Komplettlösung. Du bist nicht mehr einsam, und Jana könnte sich immer bei Thommy beschweren, wenn du nicht lieb und brav wärest.“ schlug Juliane vor. „So geht das? Ich suche eine Freundin, und da nehme ich mir die Jana?“ wollte ich wissen. „Ach, Dominique, erringen musst du sie. Dann kannst du deinen Jubel in den Chor des Bundes der Freude einmischen.“ wusste Beatrix. „So machen wir das. Ich bin dann das holde Weib, Ja, will ich das denn überhaupt sein? Und wir singen gemeinsam Beethovens Neunte.“ schlug Jana vor. „Ein holdes Weib. Was man darunter wohl verstanden hat?“ fragte sich Beatrix und antwortete selbst, „Eine liebrei­zende, sittsame, folgsame und biedere zukünftige Mutter.“ „Das ist doch heute nicht anders, zwar hast du nicht die alten Bilder von damals, aber die Frau an sich gibt es nicht.“ erklärte Juliane, „Frau, das ist immer das Bild von dem, was die derzeitige Kultur darunter versteht und sehen möchte.“ stellte Juliane klar. „Schick und sexy, das macht die Frau heute aus, nicht wahr?“ vermutete Jana. Alle lachten. „Ich glaube nicht, dass man es einfach so banal verallgemeinern kann. Es ist schon wesentlich differenzierter und vielschichtiger. Vor allem sind die Frauen ja heute auch wesentlich emanzipierter und klüger.“ entgegnete Beatrix. Auch wenn ich Juliane und Jana für äußerst nett und offen hielt, Lilo, meine Schwester, hätte sich bestimmt gut mit ihnen verstanden, konnte ich meinen Blick doch nicht von Beatrix lassen. Die Assoziationen, die es in mir hervorrief, wenn ich sie anschaute, kann ich gar nicht benennen. Natürlich könnte ich Beatrix beschreiben, und ich fand ihr Erscheinungsbild sowie ihre Sprache schon faszinierend, aber sie musste auch in meinem Unbewussten et­was bewegen, was mir nicht zugänglich war. Bea blickte mich auch öfter an, und wir lächelten freundlich, wenn wir merkten, dass sich unsere Blicke begeg­neten. Julianes Vater kam, um sie abzuholen. Ein biederer, freundlicher Mann, man war auch nett zu ihm und scherzte, aber trotzdem veränderte es die At­mosphäre. Thommys Mutter gehörte ja auch einer anderen Generation an, aber sie störte das selbstverständliche Zusammengehörigkeitsgefühl nicht. Ju­lianes Vater passte da nicht hinein. Alle wollten sich demnächst unbedingt öfter treffen und suchten nach Gelegenheiten. Ich gehöre selbstverständlich dazu. Juliane und Jana schlugen mir vor, sie doch anzurufen, wenn ich meine Schwester mal zu sehr vermissen sollte. Man könne ja dann gemeinsam etwas unternehmen. Beatrix blieb noch. „Ich glaube schon, dass ihr beide gut zusam­men passt.“ sagte Beatrix, „Thommy mangelt es nicht an Freunden, aber du weißt ja wahrscheinlich selbst, wie das unter Männern im Allgemeinen so ist. Und so eine dicke Kumpelfreundschaft, das passt wohl nicht zu Thommy. Ich denke schon, dass er sehr sensibel ist und sich mit Frauen besser versteht. Nur das Problem besteht für ihn ja genauso gut. Keine kann wie Jana sein. Ich den­ke, die beiden haben wirklich einen Tick. Vielleicht sehen sie ja mit sechzig ein, dass es anders doch keinen Zweck hat.“ Ich hätte Beatrix stundenlang zuhören können. „Du starrst mich schon wieder so an. Es stört mich nicht. Dein Blick ist liebevoll, aber warum tust du das? Wirke ich, als ob ich von einem anderen Stern käme?“ fragte Bea. „Ja, ich glaube, das wird es sein. Da bin ich noch gar nicht drauf gekommen. Aber ich muss es schon mal gesehen haben. Vielleicht sind wir uns in unserem früheren Leben mal begegnet, und jetzt treffen wir uns hier wieder.“ spekulierte ich. Bea grinste. „Und du meinst sicher, dass wir den Kontakt aus unserem früheren Leben auch jetzt pflegen sollten, hab ich Recht?“ vermutete Bea. „Das würde mich außerordentlich freuen, aber wie denn?“ antwortete ich. „Aber Dominique, das wird doch immer möglich sein. Zum Beispiel könnte Thommy dich doch informieren, wenn ich ihn besuchen käme.“ schlug Bea vor.


Beatrix und Thommys Liebe

Als ich nach Hause kam, musste ich zunächst mal klären, was sich am Nach­mittag eigentlich abgespielt hatte. Ich hatte zwei junge Frauen kennengelernt, nichts Besonderes. Juliane faszinierte mich außerordentlich. Bestimmt war sie sehr gebildet und klug. Sie würde die Geschehnisse des Alltags nicht einfach auf sich einwirken lassen. Trotzdem war sie zu übermütigen Scherzen aufge­legt. Wie wundervoll müsste es sein, mit so einer Frau zusammenzuleben. Und die Liebe? Aber verlief es so nicht allgemein? Jede und jeder suchte sich seinen Partner nach vermuteter Brauchbarkeit aus, und die Liebe wurde später instal­liert. Einfach sagen: „Juliane, ich finde dich toll. Ich liebe dich.“? Und die Ge­fühle stellten sich dann schon von selbst ein? Vielleicht brauchte ich es ihr auch gar nicht mehr zu sagen, weil ich sie sowieso schon liebte. Spürte ich denn auch solche Gefühle? Welche Gefühle denn? Wie bei meiner Schwester? Doch wenn Juliane meine Freundin sein sollte, müsste es ja schon anders sein. Aber das war ja alles nur mein Bild, meine Assoziationen, Wunschträume vielleicht, die ich mir auf Grund ihrer Erscheinung und ihres Verhaltens an einem Nachmittag entwickelt hatte, und in Wirklichkeit war Juliane ganz anders. Ich sollte ja auch Jana nehmen. Dass es sich zwischen ihr und Thommy so verhielt, wie zwischen mir und meiner Schwester, konnte ich gut nachempfinden. Wenn sie sich unterhielten, klang es genauso wie bei mir und Lilo, die gleiche Diktion in ähnlich gedämpftem, sanften Tonfall. Vielleicht klang die Sprache der Liebe ja immer so, wenn es sich um eine profunde, ernste Beziehung handelte und nicht um schwärmerisches Verliebtheitsgeplänkel an der Oberfläche. Aber was sollte das ganze Sinnieren über die beiden Mädchen? Mir hatte es gefallen. Es war mir fast so vorgekommen, als ob ich mit meiner Schwester spräche. Aber nein, das war etwas anderes, nur war es außergewöhnlich offen und selbstverständlich, als ob wir uns schon immer kennen würden. Das lag aber nicht daran, dass die Mädchen so außerordentlich nett waren, und an mir lag es erst recht nicht. Es lag daran, dass sie mich mit Thommy gleichsetzten, bei dem das ja zutraf. Sie wiederzusehen, wünschte ich mir allerdings schon. Beatrix verwirrte mich jedoch kolossal. Was wollte ich denn von ihr? Was wollte sie denn von mir? Überhaupt nichts. Trotzdem hatte sie auf Grund einer unsinnigen Erklärung von mir sofort vorgeschlagen, dass wir uns ja mal öfter sehen könnten. Ob es ihr wie mir ging? Das konnte nicht sein. Mir bereitete ihre Anwesenheit, sie betrachten zu können, sie reden und sich bewegen zu erleben, ein Gefühl des Wohlempfindens, ein Zustand der Eudamonia breitete sich in mir aus. Mein Unbewusstes könnte vielleicht erklären, woran es lag, aber alle Erklärungsversuche meines rationalen Denkens trafen es nicht. Bei meiner Schwester traf ich das, von dem ich wusste, dass es diese Welt zu einer glücklichen für mich machte. Ob ich meinte, bei Beatrix Ähnliches entdecken zu können. Von der selbstverständlich üblichen Distanziertheit unter Fremden, war bei uns nichts zu spüren, sondern nur das gegenseitige Interesse, mehr vom anderen zu erleben. Es kam mir nicht vor, als ob ich eine Erscheinung gehabt und eine Madonna im Glorienschein gesehen hätte, vielleicht eher eine Fee, die weise und großmütig war mit einem Antlitz, dessen Lächeln über tausend Gesichter verfügte. Für unsichtbar oder verschleiert hielt ich sie aber keinesfalls. Sie war absolut real und gegenwärtig. Nicht wenige fühlen sich ja beim Anblick von Schauspielerinnen oder Schauspielern zutiefst ergriffen und verzaubert, bei mir war das immer noch so, wenn ich Maria Callas singen sah oder hörte. Vielleicht schwang ja in Beatrix Stimme etwas von diesem Timbre mit. Thommy erklärte ich, dass seine Mutter und ich unsere Kontakte aus einem früheren Leben fortsetzen wollten. Er schmunzelte und meinte: „Ich weiß. Meine Mutter findet dich süß. Und wenn sie jetzt schon plötzlich einen zweiten Sohn bekommen habe, wolle sie sie auch beide sehen. Ihr gefällt es, dass wir uns kennengelernt haben. Sie meint, dass du gut zu mir passen würdest.“ Süß! Ich wollte nicht Beatrix süßer Junge, ihr Gigolo, sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Beatrix es so sah. Vielleicht war es ja auch nur einfach so dahin gesagt, aber das machte Beatrix nicht. Sie musste als Rechtsanwältin ja auch harsch und energisch sein, trickreich sich durchsetzen und lügen können, für mich unvorstellbar bei Beatrix. Na klar, ich kannte sie kaum, aber war es gar nicht primär ihre Erscheinung und ihr Auftreten, sondern mein Wunschbild einer faszinierenden Frau? Das Wunschbild einer sanften weisen Mutter, wie ich sie gern gehabt hätte? Dominierend war zwar meine Schwester für mich gewesen, aber ich hatte nie an meiner Mutter etwas auszusetzen oder hätte mir gar eine andere gewünscht. Ich hatte schon ein Faible für starke Frauen, die sich nicht ohnmächtig den Geschicken des Patriarchats auslieferten. Nicht nur Maria Callas Gesang faszinierte mich,, sondern vor allem intellektuelle und politisch engagierte Frauen, wie Susan Sontag oder Naomi Klein bewunderte ich. Ob ich bei Beatrix eine Anlage dazu vermutete? „Deine Mutter meint zu dir und Jana übrigens auch, dass ihr eine Macke hättet.“ eröffnete ich Thommy. „Ah ja, so direkt hat sie mich das allerdings noch nicht wissen lassen. Aber das würde sie auch nicht machen.“ reagierte Thommy. „Ich sehe das nicht viel anders. Umarmt euch doch einfach mal, küsst euch, drückt euch fest aneinander und streichelt euch, dann wirst du schon merken, dass Jana eine Frau ist und das Begehren kommt von selbst.“ schlug ich vor. „Hör auf! Ich kann das nicht hören.“ stoppte Thommy mich. „Entschuldigung, aber erotische Empfindungen und sexuelles Begehren sind etwas höchst konkret Reales aus dieser Welt, aber eure Liebe spielt sich nicht in der Wirklichkeit ab.“ bemerkte ich. „Sondern?“ fragte Thommy nur. „Liebevolles Handeln, das geschieht in der Realität, das kannst du konkret beschreiben, aber die Liebe selbst? Hast du sie schon mal gesehen? Kannst du sie anfassen, berühren? Die Liebe an sich ist etwas Transzendentales genauso wie das Gute oder das Schöne.“ erklärte ich. „Aber wenn ich mit Jana zusammen bin, dann spüre ich doch äußerst konkret und real, dass ich mich wohlfühle. Das sind doch meine Sinneswahrnehmungen, oder sind das alles nur Sinnestäuschungen und ich befinde mich selbst auch schon im Transzendentalen?“ fragte Thommy und lachte. „Du hast ja Recht. Alle Liebesgefühle, ob mit erotischem Begehren verbunden oder nicht, hängen ja schließlich motivational mit der Libido zusammen und die ist doch etwas konkret Reales. Ihr solltet vielleicht einfach mal ein bisschen Körperkontakt wagen.“ schlug ich vor. „Ah, du meinst, etwas schmusen, dann kommt das schon. Wir kämen uns blöd dabei vor.“ erklärte Thommy. „Ich sage dir doch nicht: „Mach es so, oder tu das.“ Ich bin doch kein Liebesberater, aber wenn sich eure Liebe auch nicht im Transzendentalen bewegt, als etwas Edles, Heiliges seht ihr sie schon. Erotisches Begehren, sexuelle Lust, das kommt aus dem banalen Alltag. Für solche Trivialitäten ist dir Jana zu schade. Da steht ihr mit eurer Liebe drüber.“ interpretierte ich. Tommy schmunzelte und meinte: „Zur Liebe gehört dass man sich in allem liebt, auch in seiner ganz alltäglichen und auch körperlichen Banalität, nicht wahr?“ Ich grinste mit all meiner Weisheit in den Liebeskünsten und strich ihm Verbundenheit signalisierend über den Rücken.


Frida Kahlo Ausstellung

Lilo wollte mich immer noch mit Natascha verkuppeln, die habe nur Pech mit den Jungen. Mit mir würde sie bestimmt glücklich. „Weißt du, Lilo, ich kenne jetzt so viele Frauen, dass ich selbst dich bestimmt bald nicht mehr brauche.“ schwafelte ich. Lillo sagte nichts, sondern warf mir nur einen ungläubig zwei­felnden, vor allem aber abschätzigen Blick zu. An Beatrix dachte ich schon je­den Tag. Vielleicht hatte ich in frühesten Kindertagen mal eine Frau kennenge­lernt, die mich glücklich gemacht hatte und die Beatrix glich. Mein Gedächtnis wusste davon nichts, aber auf den Bahnen bei der Gehirnentwicklung in frühes­ter Kindheit hatte es sich eingegraben. Beatrix würde dieses Glück in neuen Farben wieder aufleben lassen. Aber um welches Glück sollte es sich denn handeln, das müsste ich doch schon wissen. Thommy hatte mich lachend informiert. Wir kamen zur gleichen Zeit an und trafen uns schon vorm Haus. Kurze Berührung zur Begrüßung. In der Wohnung gab's eine dicke Umarmung für Thommy. Wir standen uns gegenüber und blickten uns leicht fragend an. Dann schlang Beatrix ihre Arme auch um meinen Hals. Ich spürte die Haut ih­rer Wange an meiner. „Bleib so, bleib immer so.“ dachte ich im Moment. Was für ein Unsinn. Bestimmt fühlte sich die weiche Haut von Beas Wange gut an, aber es lag an Bea, dass sie es war, die mich ihre zarte Haut spüren ließ. „Setzt euch schon mal in die Couch. Ich hol den Kaffee.“ erklärte Tommy. „In die Couch? Nein.“ protestierte Beatrix, „Ich bin nicht hergekommen, um kaf­feetrinkend eine zeitlang die Couch zu besetzen. Lass uns doch etwas machen. Vielleicht hast du noch etwas einzukaufen oder so.“ Thommy überlegte und grinste schelmisch. „Putzen wäre immer nötig, wenn ihr unbedingt etwas zu­sammen machen wollt.“ erklärte er dann und lachte. „Du frecher Junge, man kann dich immer noch nicht allein lassen.“ mahnte Beatrix. „Hat er denn viel Probleme bei der Aufzucht gemacht?“ wollte ich lachend von Bea wissen. „Ach, es ging.“ antwortete die nur grinsend. „Ich, welche Probleme soll ich denn ge­macht haben?“ erkundigte sich Thommy genauer. „Nichts Besonderes,“ meinte Bea, „wie das bei Jungs so üblich ist.“ „Da darf man die Leine nicht zu lang las­sen, nicht wahr?“ suchte ich Zustimmung. „Ja, und hart anfassen muss man euch junge Zöglinge doch auch, damit ihr nicht in Verwirrung geratet, oder?“ ergänzte Beatrix und lachte. „Wenn wir schon Kaffeetrinken müssen, könnt ihr mich wenigstens in ein Café einladen. In der Frida Kahlo Ausstellung wart ihr sicher schon.“ vermutete Beatrix. Als keine Zustimmung erfolgte, meinte Bea­trix erstaunt: „Was ist das denn? Ein absolutes Muss ist das.“ „Da ist es doch immer so voll.“ entschuldigte sich Thommy. „Aber jetzt, mitten in der Woche am Nachmittag, wer geht denn da schon ins Museum?“ erklärte Beatrix. „Nur wir.“ vermutete ich. Tommy und mir war Frida Kahlo keine völlig Unbekannte und wir hatten ja auch von der Ausstellung gehört, aber all zu viel wussten wir nicht. Bea riet uns davon ab, einen Katalog mit in die Ausstellung zu nehmen, das störe nur und beeinträchtige den Genuss. Stattdessen berichteten wir uns gegenseitig, wie wir das Bild wahrnahmen, wie sich das Bild uns vermittelte und welche Assoziationen es bei uns hervorrief. Beatrix hatte damit begonnen und mich dadurch auch animiert. Keinesfalls korrigierten wir einander, meinten etwas anders sehen zu müssen, wir hatten vielmehr unseren Spaß daran, wenn unsere Ansichten überhaupt nicht miteinander korrelierten. Thommy be­teiligte sich nicht, aber zu gefallen schien es ihm doch. Er schmunzelte immer und hörte uns zu. Wir lachten uns oft schief, was eigentlich gar nicht in diese ehrwürdige Ausstellung passte. Wenn meine Schwester und ich kräftig lachten, vielen wir uns manchmal um den Hals, ob Beatrix auch wohl so ein Bedürfnis verspürte? Ich hätte es jedenfalls gern getan. Ob das Bedürfnis, sich lachend in die Arme zu fallen, ein Ausdruck von Verbundenheit ist? Jedenfalls bewirkt gemeinsames Lachen ein tiefes gegenseitiges Empfinden füreinander. „Du hast mir bei jedem Bild gesagt, wie es auf dich wirkt, welche Gedanken und Gefühle es bei dir auslöst, da musst du mir auch sagen, wie das für dich ist, wenn du mich anschaust. Einfach sagen, dass du mich gut leiden magst, reicht nicht.“ forderte mich Beatrix auf. „Ach, Bea, du quälst mich. Ich weiß es doch selbst nicht.“ stöhnte ich. „Das stimmt nicht. Ich glaube dir nicht, du lügst. Du willst es nicht sagen.“ Beatrix darauf. „Bea, ich habe gedacht, du seist eine Göttin, aber ich glaube eher, dass du eine Sadistin bist.“ scherzte ich. „Göttin, aha, und welche da?“ wollte Beatrix wissen. „Eine wiederauferstandene.“ antwortete ich lapidar. „Das gibt es nicht.“ bemerkte Bea, „Göttinnen sind unsterblich.“ „Na, eine ganz alte eben.“ fügte ich an. „Dominique, benimm dich. So etwas sagt man nicht zu einer Frau. Könnte es sein, dass du bei mir an Aphrodite denkst?“ fragte Beatrix und ließ uns beide lachen. „Schaumgeboren, das könnte schon sein, nur das weiß ich ja nicht. Ich dachte eher an eine indische Göttin.“ meinte ich. „Na, da gibt’s ja viele. Die sind aber alle aktiv und lebendig. Den Hinduismus gibt’s ja noch. Und welche wäre ich da?“ wollte Beatrix wissen. „Keine Ahnung, ich weiß nur dass eine Lakshmi heißt. Sie ist für Glück, Liebe, Fruchtbarkeit, Wohlstand, Gesundheit und Schönheit zuständig und hat ganz viele Arme, damit sie alle Menschen vor Glück umarmen kann.“ erklärte ich und schlang meine Arme dabei um Beas Hals. Bea lächelte erstaunt, auch leicht verlegen? Das weiß ich nicht. Bea konnte in vielfältigen Variationen lächeln, die nicht immer direkt verständlich waren. „Du hast ja Recht.“ sagte Beatrix, „unsere Sprache mag schon großartig sein, aber es sind nicht nur Worte, mit denen wir kommunizieren. Das andere verstehen wir auch, aber oft reichen die Wörter, die wir gelernt haben, nicht aus, es zu benennen. Es spricht zu unserem Innersten, zu uns ganz persönlich. Wir spüren es, aber können es nicht beschreiben. Ich mag dich auch sehr, aber wenn du mich fragst warum, kann ich nur Banales, Oberflächliches daher plappern. Unsere wirklichen Gefühle sind unserer Sprache oft unzugänglich, glaube ich.“ erklärte Beatrix. „Klar, unsere Sprache entsteht in einem von Menschen entwickelten Prozess und unser Denken haben die Griechen erfunden. Alles sehr jung und von Menschen geschaffen, unser Menschsein haben wir aber schon von unserer Urmutter vor 200.000 Jahren geerbt.“ meinte ich dazu. „Aha, und du meinst bei mir Ähnlichkeiten mit ihr zu erkennen?“ vermutete Beatrix. „Ach, Quatsch, die haben doch alle Lebewesen, die zur Zeit auf der Erde leben und die man als Menschen bezeichnet. Aber wir haben doch festgestellt, dass du Lakshmi bist.“ antwortete ich. „Die mit den vielen Armen, nicht wahr? Die brauche ich auch schon, wenn ich das mit dem Glück und der Schönheit und so weiter auch noch alles regeln soll.“ scherzte Bea. Wir saßen mittlerweile im Museumscafé, und jetzt gab es doch noch Kaffee und Kuchen. Bea blickte mich grinsend, aber doch tief prüfend an und fragte schelmisch: „Würdest du mich gern Lakshmi nennen?“ „Bea-Lakshmi.“ reagierte ich kurz. Zum Einverständnis bekam ich Beas Hand auf meinen Handrücken gelegt. „Ihr seid verrückte Hühner.“ kommentierte Thommy das Prozedere, „Wie die Kinder würdet ihr am liebsten den ganzen Tag miteinander spielen und jedes Wort, das die oder der andere sagt, aufsaugen.“ „Mein Liebster, du bist doch nicht eifersüchtig? Wie süß. Aber du hast schon Recht, wir könnten dich fast vergessen haben. Dominique, das geht nicht. Wir müssen uns mal mehr um Thommy kümmern.“ reagierte Beatrix. Ich glaube, wir waren wirklich ein wenig irre. „Frida Kahlo hat mich in der Tat absolut fasziniert. Ich denke, ich werde sie in meine Ruhmeshalle der verehrungswürdigen Frauen aufnehmen.“ erklärte ich. „Und Lakshmi? Was ist mit Lakshmi? Bekommt die dort auch einen Platz?“ wollte Beatrix wissen. Ich lachte. Offensichtlich war es zwischen uns beiden jetzt nicht mehr möglich, vernünftig und ernsthaft zu diskutieren. „Aber Bea, ich kenne deine Ruhmestaten doch gar nicht. Gewiss wirst du welche vollbracht haben, du musst mir nur noch erst davon erzählen.“ scherzte ich. „Hast du all das Glück vergessen, das dich in deinem bisherigen Leben begleitet hat, was durch Lakshmis Wirken vermittelt wurde? Hast du die Fruchtbarkeit deiner Mutter vergessen, durch die dir das Leben geschenkt wurde? Kannst du den Anblick nicht erkennen, der die Schönheit deines jugendlichen Gesichtes prägt?“ fragte Beatrix. „Und das hast du alles gemacht?“ wollte ich mich vergewissern. „Na, Lakshmi natürlich, wenn das schon in ihre Zuständigkeit fällt.“ erklärte Beatrix. „Ich glaube, ich werde in Zukunft doch öfter an Bea-Lakshmi denken müssen, wenn sie so wesentlichen Einfluss auf mein Leben hat.“ folgerte ich. Wir lachten und jetzt fielen wir uns doch um den Hals, sodass ich wieder Beas zarte Wange spürte. Ich sollte sie in die Ruhmeshalle aufnehmen wegen der tiefen Bewegung die die Haut ihrer Wange bei mir auslöste. Als wir uns lösten, touchierten meine Fingerkuppen fast wie von selbst Beas Wange. Sie lächelte nur liebevoll. „Ihr seid richtig verliebt, nicht wahr?“ kommentierte Thommy. „Du spinnst. Beatrix ist deine Mutter. Wir mögen uns gut leiden und verstehen uns gut. C'est tout. Sonst nichts, aber das ist doch auch schon was.“ widersprach ich. „Na, ein bisschen Zuneigung, wäre das zuviel, wenn man davon reden würde?“ wollte Beatrix wissen. „Na gut, aber verliebt, der spinnt doch wohl.“ meinte ich. „Aber klar, wie kann man eine so alte Frau lieben. Der Thommy spinnt eben manchmal ein wenig, aber das gefällt uns doch an ihm.“ kommentierte Beatrix. „Bea, wie sprichst du? Vom Alter mag etwas im Pass der Beatrix Möller stehen, aber als Göttin Lakshmi bist du doch zeitlos schön. Göttinnen kennen keine Zeit, für sie existiert nur das Hier und Jetzt.“ mahnte ich. „Du hast Recht, was gestern war, interessiert mich nicht und darum, was morgen sein wird, kümmere ich mich nicht.“ sagte Beatrix und lachte. „Da sähe es aber böse aus bei dir.“ kommentierte Thommy. „Aber zeitlose Schönheit hört sich doch wohl viel besser an als alte Göttin. Du kennst mich wirklich nicht, Dominique. Du musst mich mal besuchen kommen.“ forderte mich Beatrix auf. „Ich? Dich besuchen kommen? Was sagt denn dein Mann dazu?“ staunte ich. „Er wird vor Eifersucht toben und schreien: „Was will der fremde Mann hier. Raus mit ihm!“, wusste Beatrix und ließ uns alle lachen, „Dominique, wie denkst du? Er wird sich freuen, dass der Freund von Thommy uns besuchen kommt.“ Ich kam mir komisch vor. Thommy war mein neuer Freund, was wollte ich denn bei seiner Mutter? Ach wo, ich würde das nicht machen, wohin sollte das denn führen.


Juliane und Lilo

Juliane, die könnte ich mal anrufen und ihr vorschlagen, gemeinsam ins Kino zu gehen. „Gehst du denn einfach so ins Kino, ohne etwas von dem Film zu kennen?“ fragte Juliane erstaunt, „Also ich geh da nicht rein. So etwas schau ich mir nicht an. Ich würde lieber mal deine Schwester kennenlernen. Kannst du sie nicht mal fragen?“ Ich hielt mich auch nicht für einen triefnasigen Aller­weltstrottel, aber Juliane war anscheinend wohl ein wenig genauer und kriti­scher. Nur mit meiner Schwester treffen, das war natürlich eine klasse Idee, auf die ich auch schon gespannt war. Lilo ging natürlich fest davon aus, dass Juliane meine Freundin sei. Ich hatte mit Lilo zwar darüber gesprochen, wie schade es wäre, dass wir nicht mehr zusammen sein könnten, aber dass ich mich deshalb allein und einsam fühle, hatte ich so noch nicht direkt gesagt. Juliane und Lilo klärten das erst mal unter sich auf und lachten sich dabei schief. „Na, die Jungs oder Männer sind da eben ein bisschen holziger und können sich auf neue Situationen nicht so flexibel einstellen.“ erklärte Juliane. „Sie hängen den alten Verhältnissen nach und sind dann ganz traurig, meinst du?“ bestätigte sie Lilo. Dann lobte sie mich aber, und Juliane war äußerst interessiert an dem Verhältnis zwischen uns. „Ja, weißt du,“ sagte sie, „so etwas wünsche ich mir ja auch. Du denkst, du lernst einen Freund kennen, mit dem das so werden könnte, aber das gibt es nicht. Es gibt keinen Mann, der nicht primär deine Titten und deinen Arsch sieht und etwas von dir will.“ Ich war im Grunde von Anfang an überflüssig, aber jetzt erst Recht. Die beiden Frauen, die beide keinen Freund hatten, unterhielten sich über Jungen, Männer und Freundschaften. „Dass es für Mädchen und Jungen andere Sozialisationsbedingungen gibt, ist zwar nicht verständlich aber erklärbar,“ konstatierte Juliane, „aber dass es selbstverständlich ist, dass Mädchen nur Freundinnen und Jungen nur Freunde haben, ist doch der absolute Schwachsinn.“ „Wenn's mal anders wäre, würden die Erwachsen darin schon bei Kindern das Liebespaar sehen.“ scherzte Lilo. „Aber genauso ist das. Bei Thommy und seiner Freundin Jana hat man alles schon vorhergesehen, aber die beiden können gar nicht zusammenkommen.“ Juliane musste erklären, wie das mit Thommy und Jana war. „Der Freud hat das ja erklärt, warum das zwischen Geschwistern und Eltern nicht geht, aber so ist das Stuss. Diese Tabus, das ist doch Moral. Ich denke eher, wenn die Liebe oder die Beziehung in deinem Herzen ganz stark ist, dann willst du da keine sexuellen Gefühle rankommen lassen.“ erklärte Lilo. „Du meinst, man kann nur mit jemandem ins Bett gehen, den man nicht so richtig liebt?“ vermutete Juliane und beide lachten. Damit hatte das Thema „Männer – Beziehungen“ ein Ende gefunden und beide erkundigten sich gegenseitig, womit sich die andere beschäftige. Bestimmt waren es auch tiefgreifende Gespräche, die Lilo und ich geführt hatten, wobei ich sie immer für ein wenig überlegen hielt. Als Feministin bezeichnete sich Lilo auch, aber gegenüber Juliane waren ihre Kenntnisse kaum mehr als dürftig oderoOberflächlich. Juliane befasste sich mit feministischer Philosophie und den erkenntnistheoretischen Grundlagen. „Da wird’s erst richtig spannend.“ sagte sie, „Diese banalen Genderstudies eher überflüssiger Müll. Sie kommen dir vor wie welke Blättchen am Baum, während du an seinen Wurzeln forscht. Lies mal „Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter“. Wenn du das verstanden hast, lässt es dich nicht mehr los. Dann willst du alles wissen, und das nimmt kein Ende.“ „Judith Butler, hat die nicht mal hier einen Preis bekommen?“ vermutete Lilo. „Ja, den Adorno Preis als erste Frau. Wenn du dich mit der befasst hast, ist aus dir eine andere geworden, eine würdige Frau. Nicht mehr ein affirmatives Lottchen sondern eine widerspenstige Ratte, die nichts mehr einfach so unüberdacht akzeptiert.“ erklärte Juliane. Meine schöne Vorstellung von den guten Diskussionsmöglichkeiten schwand dahin. Ich würde mir jeden Tag eine Lektion in Philosophie erteilen lassen können. Lilo bewunderte sie nur. „Und Musik, wie sieht's denn mit Musik bei dir aus?“ versuchte ich einen Themenwechsel. „Ach, das ist so gemischt. Da habe ich keine speziellen Vorlieben.“ antwortete Juliane. „Aber klassische Musik, Konzerte und Opern, da stehst du nicht so drauf, oder?“ erkundigte ich mich. „Ja, doch, sehr. Ich dachte du meintest jetzt U-Musik. Ich habe ja selbst mal Klavierunterricht gehabt. Nur ich komme so selten dazu.“ erklärte Juliane. „Gerade geben sie den 'Barbier von Sevilla' von Gioachino Rossini. Sollen wir da nicht mal gemeinsam reingehen?“ schlug ich vor. „Ja, und Thommy nehmen wir auch noch mit.“ meinte Juliane. „Und seine Mutter, soll ich die auch mal fragen?“ kam mir intuitiv in den Sinn. Damit hätte ich auch einen Anlass, sie zu besuchen, was ich zwar eigentlich nicht wollte, womit meine Vorstellungen aber immer wieder spielten.


Landeplatz für Aphrodite

Beatrix lebte allein mit ihrem Mann in einem viel zu großen Haus. „Ich habe schon am Gänseblümchen abgezählt: 'Er kommt, er kommt nicht' und jetzt beim letzten Blättchen bist du da.“ sagte Beatrix und lachte. „Hast du mich er­wartet?“ erkundigte ich mich. „Mhm,“ nickte Beatrix mit einem Lächeln, das ich nicht verstand, „crazy, nicht wahr? Wie kommt so etwas?“ „Wie, was, ich soll das erklären?“ lachte ich auf. „Na ja, es liegt doch an dir.“ bestätigte Beatrix. „Ich denke, es wird ein Prozess von Wechselwirkungen sein. Ich schau dich an, und der Anblick gefällt mir, stimmt mich freudig. Du erkennst das in meiner Mimik und das bereitet dir auch ein angenehmes Gefühl, was ich in deinem Ge­sichtsausdruck sehe.“ erläuterte ich. „Also angenehme Anblicke mit Wechsel­wirkungen, mit Zuneigung, Liebe oder so etwas hat das nichts zu tun.“ fasste Bea es zusammen und lachte. „Komm erst mal her. Wir haben uns noch gar nicht begrüßt.“ sagte sie. So bewusst war mir das Gefühl, Bea an mich ge­drückt zu halten noch nie gewesen und so lange hatte es auch noch nie gedau­ert. Wenn Omi und die Enkelin sich zeigen wollen, wie lieb sie sich haben, dann drücken sie sich ganz fest. Hatten Bea und ich uns auch ganz lieb? Nein, und irgendwie doch. Nur warum und worin diese Liebe genau bestand, das wusste keiner von uns beiden. Liebe? Völlig abstrus. Aber irgendetwas Besonderes lag schon in der Beziehung zwischen uns beiden, dass wir fast Fremde hätten sein müssen, stimmte nicht. Dein erster Blick auf jemand Fremden, schätzt auto­matisch ab, ob von ihm Bedrohungen ausgehen könnten, er dir vielleicht Un­annehmlichkeiten bereiten würde. An einen skeptischen, abschätzenden Blick konnte ich mich zwischen mir und Beatrix nicht erinnern. Wie ein weiches, warmes Leuchten kam es zu mir, als ich Beatrix erblichte. Ich halte nichts von Auren, medialen Kräften oder Gedankenübertragung, aber da war irgendwas, das uns Gefühle von so etwas Ähnlichem wie einer Wesensverwandtschaft ver­mittelte. Es musste etwas von dem sein, das du, wie Bea sagte, nicht bewusst benennen, aber spüren kannst. „Oh je!“ bemerkte ich erstaunt, „was habt ihr viele Bücher.“ Denn überall waren die Wände mit Regalen voller Bücher be­stückt. „Ihr? Das sind alles meine. Doch, von Kurt stehen auch ein paar Bilder­bücher mit schönen Häusern im Wohnraum.“ erwiderte Beatrix. „Aber das ist doch alles Mögliche und nicht bloß juristische Fachliteratur, wie ich auf den ers­ten Blick sehe.“ stellte ich fest. Beatrix lachte sich schief. „Juristische Bücher gibt’s ihr gar keine, doch schon einige, mit denen ich in der Kanzlei nichts an­fangen kann, wie zum Beispiel dies hier: „Amartya Sen, Globale Gerechtigkeit Mehr als internationale Fairness“. Weißt du, eigentlich bin ich gar keine Rechts­anwältin. Doch natürlich auch. Ich habe eine gespaltene Persönlichkeit, aber in drei Personen. Anwältin, Mutter und Ehefrau bin ich und Assistentin von Aphro­dite.“ erklärte Beatrix, ließ uns lachen, aber natürlich musste sie es näher er­läutern. „Als Schülerin war ich fasziniert von Gerechtigkeit. Sie sei das Wich­tigste im Zusammenleben der Menschen. Wunderbar wäre die Welt, keine Krie­ge und vieles mehr, wenn es überall gerecht zuginge. Aber es herrschte überall Ungerechtigkeit. Für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, dem wollte ich mein Leben widmen. Und was mach ich dumme Nudel, studiere Jura.“ erklärte Beatrix. „Aber als Anwältin setzt du dich doch für Gerechtigkeit ein.“ meinte ich. „Ha!“ lachte Beatrix auf, „ich bin Arbeiterin mit Gesetzestexten und Kommentaren. Gesetzliche Banalitäten, mit der Gerechtigkeit an sich hat das nichts zu tun. Das habe ich aber schon sehr bald im Studium gemerkt, dass Gerechtigkeit ein Wort ist, das so allgemein in der Realität nichts wert ist.“ „Es ist ein Begriff, der im Transzendentalen lebt wie das Gute.“ vermutete ich, „aber warum hast du denn trotz der Enttäuschung weiter gemacht?“ wollte ich wissen. „Domini­que, ich denke, ich habe einen Hang, die Dinge realistisch zu sehen. Ein Fließ­bandarbeiter hat sich seinen Job ja auch nicht als Erfüllung seines Lebenstrau­mes ausgesucht. Auch wenn es meinem Wunsch nach mehr Gerechtigkeit nicht entspricht, zuwider ist mir die Arbeit ja keinesfalls. Ich habe mir überlegt, was denn sonst das Leben ausmacht, was mein Leben ausgemacht hatte, und vor dem Auftreten der Richter war da schon Aphrodite.“ erläuterte Beatrix. „Wel­che Bedeutung hat sie für dich?“ wollte ich wissen. „Nicht nur für mich, für alle. Sie hat den Menschen das Schöne geschenkt und ihr Sohn Eros drängt die Menschen dazu, die Schönheit immer umfänglicher und tiefgreifender zu er­kennen.“ antwortete Beatrix. „Ich dachte, der wäre für etwas anderes zustän­dig.“ vermutete ich. „Ein wenig ungebildet, der Bursche, nicht war. Lies mal Platons Gastmahl, dann wirst du feststellen, dass Sokrates allen empfiehlt, sich in der Kunst des Eros zu üben.“ bemerkte Bea. „Nach deiner Bibliothek wirst du fast alles gelesen haben, was als Buch veröffentlicht ist.“ scherzte ich. „Nein, keineswegs. Ob ein Buch spannend ist oder nicht, interessiert mich nicht. Ein Autor kann mir ja nicht seine Stimmung, seine Gefühle vermitteln, es sind ja immer meine Bilder, meine Vorstellungen, die bei mir entstehen, und wenn es ihm gelingt, bei mir wundervolle Bilder und Assoziationen zu erzeu­gen, dann gefällt mir ein Buch. Wenn dir deine Mutter oder dein Opa als Kind eine Geschichte erzählt hat, entlockt dich das in eine andere Welt, wenn eine Autorin oder ein Autor es schaffen, in mir mit Worten eine andere Welt entste­hen zu lassen, dann fasziniert mich das. Die Schönheit der Literatur ist das für mich, das war schon zur Schulzeit so.“ erläuterte Beatrix.


Einladung zum Opernbesuche

Trotz der vielen Zimmer saßen wir mit dem Kaffee in der relativ kleinen Küche. „Mit Freunden muss man seinen Kaffee in der Küche trinken, finde ich.“ erklär­te Beatrix und lachte. „Wenn es dir aber lieber ist, können wir natürlich auch zu mir oder in den Wohnraum gehen.“ „Nein, nein,“ wehrte ich lachend ab, „es ist nämlich eigentlich ein geschäftlicher Besuch.“ Beatrix grinste ungläubig. „Wir haben mit Juliane und meiner Schwester zusammengesessen, und be­schlossen, gemeinsam in die Oper zu gehen. „Der Barbier von Sevilla“ von Gio­achino Rossini, und da wollten wir dich und Tommy auch zu einladen.“ „Oh, wundervoll, ja sehr schön, aber den missratenen Sohn brauchst du gar nicht zu fragen. Der hält das alles für bourgeoise Scheiße und rät dir, mal Adornos Musikkritik zu lesen.“ erklärte Beatrix und lachte. „Bea, ich glaube, die meisten Menschen haben noch alte Ohren, in denen Beethoven und Rossini besser klingen als Zwölftonmusik.“ bestätigte ich sie. „Ich glaube schon, dass es möglich ist, anders zu hören, aber es wird brauchen, bis du dich von deinen gewohnten Harmonien lösen kannst. Nur will ich das auch gar nicht. Die Libretti sind natürlich für heutige Verhältnisse meistens total daneben, aber da kommt es auf die Regie an, was sie daraus macht.“ erklärte Bea. „Du hast mir fast alle Räume gezeigt, nur dein Sanctuarium habe ich noch nicht gesehen, oder ist das out of bounds?“ bemäkelte ich. Bea grinste nur, stand auf und meinte: „Komm mit.“ Auch wenn das Arbeitszimmer von Kurt, ihrem Mann, nicht danach aussah, als ob er dort viel arbeite, glich Beatrix Zimmer einer anderen Welt. Bücherregale natürlich auch, und einen Schreibtisch gab es schon. Er schien aber mehr als Ablagefläche zu dienen. Dafür gab es in einer Ecke eine riesige Bettlandschaft fast direkt auf dem Boden. Sie war von verschiedenen Kissen und anderen Applikationen umkränzt. Auf dem Bett lag ihr Laptop, ein Handy, ein Block Papier und ein Buch. „Das ist Aphrodites Landeplatz.“ erklärte Beatrix und ließ sich auf's Bett fallen, „Hier kommt sie mich besuchen und hier wird ihr gehuldigt.“ Ich zog meine Schuhe aus und wollte auch auf's Bett. „Oh!“ stöhnte Bea auf, „Das ist eigentlich my absolutely personal area.” Sie blickte mich kritisch prüfend an und meinte: “Komm schon. Wenn wir uns drücken, bist du ja auch ganz nah an mir.” Ich zögerte und wollte nicht mehr. „Komm schon! Ich bin ein bisschen verrückt, nicht wahr? Aber das ist mein Land, in dem ich lebe, in dem ich die Beatrix lebe, die ich wirklich bin und wie sie mir gefällt. Daher ist mir dieser Ort ein bisschen heilig.“ erklärte sie. Ich wagte gar nicht, mich zu bewegen. Im Schneidersitz saßen wir uns gegenüber und blickten uns grinsend glücklich an. „Und woran spürst du, ob Aphrodite gekommen ist?“ wollte ich wissen. „Na, das spürst du doch. Kann es einen Menschen geben, der nicht spürt, wenn ihn Göttliches erfüllt?“ reagierte Bea. „Wenn ich mich mit meiner Göttin treffe, dann kann ich sie visuell wahrnehmen, höre und sehe, wie sie spricht, das ist bei Aphrodite aber nicht so, nein?“ wollte ich wissen. „Mein Liebster, das ist keine Göttin, mit der du dich triffst. Eine ganz normale Frau ist das, zu der du gern Lakshmi sagst.“ klärte mich Bea auf. „Aber Aphrodite hatte doch so einen schrecklichen Mann, den sie permanent mit anderen Männern betrog. Ist das bei dir auch so?“ fragte ich provokant scherzend. Beatrix antwortete mit mokantem Grinsen. „Monsieur, mein Mann ist nicht schrecklich und ich betrüge ihn nicht mit anderen Männer, reicht das.“ sagte sie knapp. Eine amüsierte Stimmung, bei der ich wohl den Eindruck erweckte, als ob ich mehr hören wollte. „Alles andere geht dich nichts an. Das ist mein Privates. Bei Thommy ist mir bewusst geworden, dass es sehr unterschiedliche Arten von Beziehungen geben kann. Thommy gehörte immer direkt zu mir, er hat mich nie verlassen, ist Teil meines Selbst. Natürlich ist er ein selbständiger, eigenverantwortlicher Mensch, das ist ja gerade das Wundervolle, aber ich hatte ihn in so großer Komplexität erfasst, dass ich meinte, das reine Wunder Mensch in ihm zu erkennen. Eine Beziehung, zwischen die nicht der Hauch von etwas Trennendem passt. So etwas kannst du bei noch so großer Liebe zu einem fremden Mann nie erreichen.“ erklärte Beatrix. „So tief kann nur die Liebe zu den eigenen Kindern sein?“ vermutete ich. „Nein, darum geht es nicht. Ein Mann bleibt immer der andere, er bleibt der Mann und du bleibst die Frau, und daraus resultiert eine Art von Distanz, die du nicht abschaffen und nicht leugnen kannst.“ erläuterte Beatrix. „Aber Thommy ist doch auch ein Mann.“ wand ich ein. „Ja, aber das spielte bei ihm keine Rolle. Er war primär mein Mensch.“ antwortete Beatrix. „Aber ich, ich bin doch eindeutig ein Mann. Herrscht zwischen uns auch diese Rollendistanz?“ wollte ich wissen. „Bei dir weiß ich auch nicht. In eins meiner dreitausend Männerklischees passt du nicht hinein. Ich kenne dich ja auch gar nicht. Vielleicht entwickelt sich das erst bei Fortdauer der Beziehung.“ meinte Beatrix. „Also bis jetzt bin ich für dich ein wesenloses, geschlechtsloses Geschöpft, ein Monsieur sans Sexe.“ konstatierte ich. „Dominique, wie sprichst du? Was redest du für einen Unsinn? Erwartest du von mir, dass ich dir jetzt erkläre, welche wundervollen Persönlichkeitszüge ich bei dir erkannt habe und was du für ein prächtiger Mann bist? Das ist Chicken-Talk, Dummsprech. Es gefällt uns doch viel besser, liebevolle Worte miteinander zu wechseln.“ reagierte Beatrix. Wir saßen uns immer noch im Schneidersitz gegenüber. Innerlich waren meine Hände gefesselt. Wie gern hätte ich zu ihr gelangt und ihre Wangen befühlt. „Weiß du, dass du das erste Wesen bist, das dieses Terrain betreten hat? Nein, das stimmt nicht, Thommy war, als er kleiner war, auch öfter hier.“ erklärte Beatrix. „Der Landeplatz der Aphrodite wird doch auch sicher der Ort der Liebe für dich und deinen Mann sein.“ vermutete ich. Bea schaute zur Decke, dann kam ihr Blick mit einem undefinierbaren Grinsen zurück. Sie wischte mir mit der flachen Hand über's Gesicht als ob sie die Jalousien runter ziehen würde. „Dominique, Kurt und ich, wir sind zwei erwachsene, rational denkende Menschen. Wir mögen uns, aber vor allem achten und respektieren wir uns. Wir sind glücklich und zufrieden mit unserem Leben. Keiner von uns möchte es anders. Dass sich einer von uns schwärmerisch in eine andere Frau oder einen anderen Mann verlieben könnte, halten wir für lächerlich. Wir respektieren und mögen uns, aber jeder lebt in seiner eigenen Welt.“ stellte Beatrix die Situation ihrer Ehe dar. „Liebesgefühle braucht ihr nicht, dafür seid ihr zu abgeklärt.“ frage ich leicht provokant. „Dominique, werd nicht frech. Wir können gern darüber reden. Wieso überhaupt, ich mit dir?“ unterbrach Beatrix sich selbst, „aber meine emotionale Basis hatte sich gleich von Anfang an in Richtung Thommy verschoben und ist da immer geblieben. Jetzt ist er weg. Da wo sich meine Emotionen befanden gähnt ein großes Loch. Ich bin es, die allein und einsam ist.“ erklärte Beatrix. „Also ich bin der Monsieur sans Sexe und du die Femme sans Sentiments. Beatrix, das gibt es nicht. Bei allem, was du tust, bei allem, was du dir vorstellst, sind immer auch Emotionen und Gefühle beteiligt. Deine Gefühle für Thommy sind dir sicher das Kostbarste und Wertvollste, weil es sich um tiefe Liebe handelt. Das ist durch nichts zu überbieten oder zu ersetzen.“ erklärte ich. „Du bist ein guter Mensch, und dass wir uns mögen, macht auch schon ein freudiges, warmes Gefühl.“ meinte Beatrix.


„Una voce poco fa“

„Oh, die junge Frau Professor. Wunderschön bist du, Juliane.“ begrüßte ich Ju­liane im Foyer. Was mich veranlasst hatte, so zu sprechen, weiß ich nicht, mein Bewusstsein hätte so etwas nicht formuliert. Abschwächend und erklä­rend sag­te ich zu Beatrix: „Sieht sie nicht toll aus?“ „Ja, aber Lilo sieht auch gut aus. Das ist eben bei den Menschen so, dass die Weibchen die Schöneren sind.“ reagierte Beatrix. Beatrix trug auch eine Brille. Offensichtlich musste man in der Oper intellektuell wirken. Nur Lilo hatte so etwas gar nicht, außer mit dunklen Gläsern für sonnige Tage. „Aber die allerschönste bist natürlich du.“ flüsterte ich Beatrix ins Ohr. Sie verzog ihren Mund zu einer Grinseschnu­te und ihre Mimik sagte: „Na schön, du darfst so einen Unsinn reden.“. „Domi­nique, wenn du so auf die Schönheit der Frauen abfährst, solltest du unbedingt Mer­pati Sukirah kennenlernen. Sie ist die Tochter der einzigen Klienten, mit denen ich befreundet bin. Wenn sie dich morgens wecken würde und du schlü­gest die Augen auf, wärst du für den Rest des Tages erledigt.“ empfahl Beatrix. Sie musste es erklären. „Weil sie ist die Schönheit an sich. Du wärest geblen­det von ihrer Schönheit und für den Rest des Tages nicht zu gebrauchen.“ er­läuterte Beatrix. „Und davor haben alle Männer Angst.“ vermutete ich scherz­haft. „Nein, Merpati will nur Männer mit verbundenen Augen kennenlernen. Sie möchte wegen ihrer Persönlichkeit akzeptiert und anerkannt werden und nicht wegen ihres Aussehens.“ erläuterte Beatrix. „Gute Idee,“ pflichtete ihr Juliane bei, „Männer dürften nur mit verbundenen Augen mit Frauen in Kontakt tre­ten.“ „Aber die Frauen wollen doch von den Männern bewundert werden.“ ent­gegnete Lilo. „Schlimm genug.“ kommentierte Juliane knapp. Mir kam es vor, als ob wir eine Familie wären, eine bunte Familie, in der es keine festgelegten Rollen gab. Ich saß links außen und Beatrix neben mir. Neben Beatrix saß Ju­liane und dann kam Lilo. Beatrix und ich drehten immer unsere Köpfe zueinan­der, um uns ein Lächeln zu schenken. Bei der Kavatine der Rosina „Una voce poco fa“ spürte ich, wie sich Beas Hand langsam auf meinen Handrücken legte. Ich wusste gar nicht, wie intensiv taktile Empfindungen sein können. Als ob ich die Musik nur noch im Hintergrund hörte, konzentrierte ich mich voll auf mei­nen Handrücken, der von Beatrix Hand bedeckt war. Bea hatte ihre Hand auf meine gelegt, und ich spürte es im ganzen Körper. Heilende Kräfte hätte sie so sicher vermitteln können, aber ich kam auf die Idee, meine Hand umzudrehen. Bea nahm ihre rechte Hand und legte sie in meine. Ganz kurz drückten wir, als ob es eine Bestätigung unseres gemeinsam empfundenen Glücks wäre. In der Pause sprachen wir kaum, hörten Juliane und Lilo zu, als ob wir die Erfahrung des Händehaltens schweigend verarbeiten müssten. Auch im zweiten Akt reich­ten wir uns wie selbstverständlich wieder die Hände. Natürlich hatten Juliane und Lilo es mitbekommen, aber beide zogen es vor, nicht nachzufragen, son­dern darüber zu schweigen. Nach der Oper gingen wir etwas essen, das heißt Beatrix und ich wollten nur einen Wein trinken. Beatrix sollte den Wein aussu­chen, mir war nur trockener, aber nicht zu schwerer Rotwein lieb. „Etwas Käse dazu?“ fragte Beatrix. „Da bekommst du Gouda, Edamer oder Emmentaler.“ wusste ich. Beatrix hob die Brauen und fragte den Sommelier. „Zu dem Wein, den sie sich ausgesucht haben, würde ich ihnen vorrangig einen Manchego empfehlen, aber ein Comté oder ein Gruyère gehen auch.“ erklärte der Som­melier. Dass wir nicht in einer Fast Food Bude waren, wusste ich auch, aber Beatrix kannte sich eben besser aus. Juliane und Lilo waren happy. Auch wenn sie nicht satt geworden waren, hatte es doch köstlich geschmeckt. Ich spürte den Wein, aber unsere Zungen hatte er nicht gelöst. Wir nannten meistens nur den Namen des anderen und dann zwei oder drei Worte. Alle empfanden, dass wir einen wundervollen Abend erlebt hätten, und wir so etwas unbedingt bei nächster Gelegenheit wiederholen müssten. Nach dem wundervollen Abend gab's zum Abschied nicht nur eine Umarmung, sondern einen richtigen Kuss. Ich lag im Bett und wollte von mir selbst wissen, was ich erlebt hatte und wie ich es deuten sollte. Waren wir jetzt befreundet, verliebt? Wen küsst man denn, mit wem hält man sich die Hand? Mein Liebster hatte Bea mich ja schon öfter genannt, aber das war mehr scherzhaft. Was war Aufregendes geschehen außer der Oper. Trotzdem konnte ich nicht schlafen, sah immer wieder Szenen. Die schweigende Bea imponierte mir noch mehr, als wenn sie sprach. Ernst oder bedenklich blickte sie keinesfalls. Auch wenn sie eindeutig nachdachte, zeigte ihre Mimik doch träumerische Züge verbunden mit dem Ausdruck des Wohlempfindens. Glücksgefühle beherrschten mich, aber ich empfand mich auch als aufgewühlt.


Besuche bei Beatrix

Was mich warum mit Thommys Mutter verband, war ja völlig von Wolken ver­hüllt, trotzdem machte mich jedes Zeichen von Beatrix, das mir sagte: „Ich mag dich.“ glücklich. Schon bald trafen wir uns nicht mehr bei Thommy, wenn Beatrix ihn besuchte. Bea rief mich öfter an, um mir irgendwelche Informatio­nen zukommen zu lassen. Sie fragte, ob ich mal kurz vorbei kommen könne. Dann erzählte sie mir von einem Buch, das sie gerade gelesen hätte, erklärte mir ein bisschen und gab es mir mit. An Beas Art zu lesen musste ich mich erst gewöhnen. Ich wollte immer wissen, wie es weiter ging, ließ mich von der Spannung lenken. Bea las jedes Buch wie ein Gedicht, konnte in den Assozia­tionen schwelgen und entdeckte neue Welten. Beatrix schlug vor, dass wir doch mehr zusammen machen könnten, zum Beispiel wieder eine Ausstellung besuchen, oder wir könnten doch auch mal einfach spazieren gehen. Sie kenne einen ganz stillen See, da müssten wir allerdings ein wenig rausfahren. Natür­lich fuhren wir zu dem stillen See. Beim Spazierengehen wollte ich nach Beas Hand greifen. „Mhm“ lehnte sie ab. „Aber in der Oper haben wir uns doch auch die Hände gehalten.“ monierte ich. „Schon, das ist auch etwas anderes, aber Händchen haltend spazieren zu gehen, da komme ich mir vor wie ein verliebtes Teenymädchen.“ begründete sie. „Ist es nicht einfach ein Zeichen von Verbun­denheit und Vertrauen, einem anderen Menschen die Hand zu reichen, gleich wo und in welchem Alter?“ argumentierte ich. Bea sinnierte kurz. „Du hast Recht. Es macht immer ein gutes Gefühl, den anderen in der Hand zu haben.“ sagte sie dann. Du sagtest ja nichts und machtest ja nichts, trotzdem stellte es eine intensive Form der Kommunikation dar. Ich drehte mich zu Bea und stoppte das Weitergehen, wollte sie umarmen und Küssen. Bea wehrte ab. „Zur Begrüßung und zum Abschied küssen wir uns. Du möchtest gern öfter, Dominique, aber wir kommen damit schon aus.“ erklärte Beatrix apodiktisch. Offensichtlich wollte sie keine Szenarien, die als Liebesspielereien zu interpre­tieren waren. Bei Bea und mit ihr zu sein, bereitete mir immer ein Gefühl des Wohlempfindens gleichgültig worüber wir sprachen. Sie gab mir auch Tipps, was ich mir unbedingt im Fernsehen anschauen müsse, meistens etwas auf Arte oder 3sat. „Oder hast du Zeit? Dann komm doch einfach her, und wir schauen es uns gemeinsam an.“ schlug Bea vor. Wie selbstverständlich war ich immer auf Beas Terrain, wenn ich bei ihr war. Wir lagen eng aneinander, spür­ten unsere Körper und streichelten uns, nicht nur das gemeinsame Fernsehen, bei dem wir uns kommentierend unterhalten konnten, war großartig, sondern vor allem unsere Nähe und unsere gegenseitigen, schmusenden Berührungen. Liebe sollte das nicht sein, nur enge, gefühlvolle Verbundenheit. „Carmen“ von „Georges Bizet” stand als nächstes auf dem Spielplan. Für uns vier war der gemeinsame Besuch obligatorisch. Diesmal zügelte ich meine Zunge über die Schönheit der Damen, auch wenn mir der Anblick der drei in ihren Opernroben äußerst gut gefiel. Beatrix wusste, dass die Carmen Interpretation von Maria Callas ganz berühmt sei, sie es aber stets abgelehnt hätte, die Carmen auf der Bühne zu spielen. Beatrix und ich warteten nicht mehr bis zur Habanera oder sonst worauf, es war von Anfang an selbstverständlich, dass wir unsere Hände ineinander legten. Unser Schweigen war gewiss Ausdruck der Ergriffenheit beim ersten Händehaltens, jetzt redeten, schwätzten und scherzten wir wie immer. Beatrix wusste noch mehr zu Prosper Mérimée, auf dessen Novelle die Oper basierte, und Juliane erklärte, dass sie von dem oiseau rebelle nicht viel halte. Sie wisse schließlich immer noch, was sie täte. Später wollte es Lilo doch genauer wissen, was sich denn zwischen mir und Beatrix abspiele. Dass wir gute Freunde seien, und wir uns gut leiden möchten, nahm sie mir nicht ab. „Ihr mögt ja reden, wie ihr wollt und euch selbst belügen, aber von außen kann jeder erkennen, dass ihr dick ineinander verliebt seid. Wie stellst du dir das denn weiter vor?“ fragte sie mich. „Lilo, ich stelle mir gar nichts vor. Ich weiß doch selbst nicht, was mit mir ist. Verliebt dürfen wir nicht sein und sind es nicht. Mir mögen uns allerdings schon äußerst gut leiden.“ erklärte ich. Lilo grinste nur skeptisch. „Ja, es ist einfach nur eine sehr freundliche Beziehung, das gefällt uns, und wir versuchen, die Beziehung zu vertiefen. Nicht anders als zwischen dir und mir auch.“ versuchte ich zu erläutern. „Aber wir haben uns nie am Händchen gehalten.“ wand Lilo ein. „Dafür hast du mir mal deine Brüste gezeigt.“ wusste ich zu entgegnen. „Halt die Klappe, du Blödmann.“ bekam ich als Reaktion. Nachträglich hatte ich mich gewundert, ich hatte Lilo damals einfach nur als schön empfunden und gesagt, Tizian hätte sie bestimmt als junge Venus gemalt. Lilo war sich wohl ebenfalls sicher, dass sie bei mir keine erotischen Reaktionen auslösen würde. Für sonderbar hielt ich es schon, aber ich konnte Thommys und Janas Verhalten gut nachempfinden. Die Liebe und der Geschlechtstrieb schienen wirklich in getrennten Häusern zu wohnen, allerdings kamen mir bei Beatrix Zweifel. Entweder es waren keine echten, wirklichen Liebesempfindungen, die ich für sie hegte, oder es hatte mit dem Geschlechtstrieb nichts zu tun, dass ich sie seit unserer ersten Umarmung für eine begehrenswerte Frau hielt. Das konnte ich mir auch nicht ausreden oder zu denken verbieten, es beherrschte mich wie unauslöschbar implantiert.


Liebesverbot

Nach einer gewissen Zeit begannen unsere Kontakte an Häufigkeit abzuneh­men. Es fiel mir auf, und ich machte mir alle möglichen krummen Gedanken. Als Beatrix mich einlud, warf sie mich um, legte ihren Kopf auf meine Brust und sagte: „Dominique, mein aller-, allerliebster Dominique. Wir müssen mit­einander reden. Ich mache Mist.“ Ich streichelte ihr Haar und fragte: „Bea, er­zählst du es mir?“ „Wir treffen uns, weil wir unser Zusammensein als Glückszu­stand empfinden. Unsere Tage werden dadurch glücklicher, wir erhöhen unser Wohlempfinden und kommen dadurch der Eudaimonia immer näher. Das ist wundervoll und das könnten wir ja auch so fortführen, nur für mich hat sich etwas verändert, das ich so nicht will. Es sind nicht nur unsere Treffen, die mich erfreuen, sondern es bist du. Ich warte darauf, dass du kommst, du hier bist, und ich von dir Anerkennung und Zuneigung erfahre. Ich denke an dich, warte auf dich, habe Sehnsucht nach dir, stelle mir vor, dass die Welt eine glückliche ist, wenn du bei mir bist. Und das sogar bei der Arbeit in der Kanzlei. Ich spinne doch wohl. Keineswegs sind das unangenehme Gefühle, aber kannst du dir vorstellen, dass ich so etwas nicht will. Ich kann es mir nicht verbieten, ich habe mich nicht in der Gewalt.“ erklärte Beatrix. „Du hältst das für Liebesempfindungen, nicht wahr? Und du möchtest auf keinen Fall, dass wir uns verlieben.“ interpretierte ich.“Ich brauch das nicht, ich kann das nicht, ich will das nicht. Das weißt du doch.“ betonte Beatrix. „Und du kannst es genau feststellen, ob es noch eine außerordentliche, freundliche Beziehung ist, oder ob es bereits beginnt, Liebe zu werden?“ fragte ich. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass mir so etwas noch passieren könnte, meinte, darüber zu stehen, mich in der Gewalt zu haben, aber dann kommt es einfach doch, ohne dass ich mich wehren kann.“ klagte Beatrix. „Na, was ist denn konkret gekommen? Wogegen kannst du dich nicht wehren. Und wie könnte ich dir dabei helfen?“ wollte ich wissen. „Du, du bist gekommen. Du warst vorher schon in meinem Herzen und da wirst du auch immer bleiben, aber jetzt bist du immer da, immer in meinen Gedanken, und das will ich nicht. Der oiseau rebell existiert offensichtlich doch und will sich bei mir niederlassen, ohne mir genau zu sagen warum.“ erläuterte Brigitta. „Was könnte ich denn tun? Sollte ich vielleicht garstig sein oder so etwas?“ fragte ich. „Gar nichts kannst du tun, Dominique. Du bist ja das Probleme. Wie du genau für mich empfindest, weiß ich ja nicht. Wir haben es ja immer abgestritten, dass wir uns liebten, aber du lässt mich schon spüren, dass ich dir äußerst viel bedeute. Das gefällt mir, aber ich will nicht, dass es mir gefällt. Wenn wir uns umarmen, lässt du mich auch spüren, dass du nicht nur die gute Freundin sondern auch die Frau siehst. Das ist ja nicht schlimm. Es gefällt mir, dass du mich begehrst, aber ich will nicht, dass es mir gefällt.“ erklärte Beatrix. „Und wo siehst du eine Lösung?“ wollte ich von Beatrix wissen. „Es gibt keine Lösung, Dominique. Wenn wir uns weiter treffen wie bisher, wird sich nichts ändern. Mag ja sein, dass du nichts dagegen hättest oder es sogar möchtest, dass wir uns liebten, aber für mich ist das ausgeschlossen. Ich mag dich sehr gern, eben zu gern, aber ich will auf keinen Fall ein Liebesverhältnis. Auch wenn es uns beiden im Moment weh tut, aber da dürfen wir beide uns nicht mehr sehen, anders geht es nicht.“ erklärte Beatrix. Ein Schock, ich konnte es gar nicht glauben, suchte nach Möglichkeiten, es abzuwenden, schlug Treffen in größeren Abständen vor. Ich konnte doch Bea nicht verlieren. Für sie war es wohl ein Entschluss, der schon vorher festgestanden hatte und unumstößlich war. Schließlich ging ich doch. Zur Verabschiedung gab es noch nicht mal einen Kuss sondern nur traurige Augen, in denen auf meiner Seite auch Wut lag.


Wut

Wut, unbändige Wut beherrschte mich, als ob mir schlimmstes Unrecht wider­fahren wäre, und mir mein Liebstes entwendet worden sei. Aber was konnte der arme Schrank dafür, und Bea würde mich auch deshalb bestimmt nicht wieder einladen, wenn ich ihm die Tür eintrat. Völlig ohnmächtig empfand ich mich, musste mich körperlich ausagieren, aber ich hatte niemanden, den ich dafür k. o. schlagen konnte, was ich ja auch sowieso nicht gemacht hätte. Einfach bis zur Bewusstlosigkeit joggen, das brachte es auch nicht. Rastlos, ratlos warf ich mich aufs Bett und begann zu heulen. Wie ein Kind, das seine Mutter verloren hatte, schluchzte ich. So verhielt es sich ja auch. Dass meine Schwester und ich nicht mehr immer zusammen sein würden, war vorauszusehen, sie war ja auch immer noch da. Meine Beziehung zu Beatrix und mein Zusammensein mit Beatrix war zu meinem Leben geworden. Ich musste studieren und für die Uni arbeiten, meinen Lebensunterhalt organisieren, und sonst gab es nur noch Beatrix. Liebe? Was für eine dumme Frage. Ich lebte von ihr und von unserer Beziehung. Meine emotionale Basis war es, wie sie es bei Thommy bezeichnet hatte. Sie hatte beschlossen, dass es auf Liebe hinauslaufe, und da sie das nicht wolle, sollte unsere Beziehung abrupt zu Ende sein. Ich bin doch ein Mensch genauso wie Beatrix selbst auch, merkte sie denn nicht, wie ungeheuerlich es war, was sie tat. Eine wundervolle Beziehung unter zwei Menschen auf Grund theoretischer Überlegungen einfach abbrechen. „Ab jetzt bin ich für dich tot, weil ich befürchte, mich zu verlieben.“ hatte sie damit gesagt. So ein Schwachsinn. Auf jeden Fall wollte ich mit Thommy sprechen, nur musste ich ihm da zunächst einiges erklären. Er wusste nur, dass wir uns manchmal trafen. „Ich weiß das auch nicht so genau, wann und wo die Liebe beginnt. Hinterher weiß man es meistens besser, dass es doch wohl keine richtige Liebe gewesen sein musste.“ erklärte Thommy. „Ich weiß nur, wenn irgendwo für die Bezeichnung Liebe angebracht ist, dann kann es nur die Beziehung zwischen mir und meiner Schwester sein. Na ja, ich glaube, dass man das, was ich für meine Mutter empfinde, auch wohl als Liebe bezeichnen muss, aber sonst? Lieben wir uns denn etwa auch?“ fragte ich scherzend. „Liebe ist eigentlich eine unklare, ungenaue Bezeichnung. Man sollte besser von dem Liebessyndrom sprechen, bei dem es sich in jeder Beziehung um einen unterschiedlich gestalteten Symptomkomplex handelt.“ meinte Thommy. „Ich weiß nicht genau, welche Symptome in der Beziehung zwischen deiner Mutter und mir vorlagen, aber nach dem, wie weh es tut, und wie traurig es mich macht, dass wir uns nicht mehr sehen dürfen, muss es sicherlich so etwas wie Liebe gewesen sein.“ erklärte ich. „Deine Mutter muss doch auch darunter leiden. Kannst du denn nicht mal mit ihr sprechen?“ bat ich Thommy. „Starrköpfig ist sie sicher nicht, und sie lässt sich auch auf das ein, was ich sage, nur wenn sie für sich einmal einen Entschluss gefasst hat, werde ich ihr das nicht einfach ausreden können.“ sagte Thommy. Er sprach auch mit Beatrix sie hatte ihm alles erklärt, aber war dabei geblieben, dass sie unwiderruflich keine Liebesbeziehung wolle. Bei meiner Schwester weinte ich mich aus. „Das kann man doch unter zwei Leuten, die sich zudem noch für besonders menschlich halten nicht machen. Stell dir vor, du würdest mir sagen: „Ab morgen kenne ich dich nicht mehr.“. Kann man sich denn untereinander stärker verletzen?“ fragte ich. „Du hast es ja abgestritten, aber aus dem, was du erzählt hast, geht eindeutig hervor, dass deine Liebste dir gesagt hat: „Ich will dich nicht mehr.“. Das ist in der Tat schlimm und vielleicht kaum zu ertragen. Sie hat ja nicht nur für sich entschieden, sondern dadurch auch dein Leben verändert. Hat sie denn dazu nichts gesagt?“ fragte Lilo. „Ja, schon, sie hat es beklagt und bedauert, aber die Entscheidung für sich war ihr wichtiger.“ antwortete ich. „Dann wird es in Zukunft auch keine Opernbesuche mehr geben.“ stellte Lilo fest. „Oder wir wären nur zu dritt. Aber wir könnten doch Jana mal fragen. Wer sagt denn, dass sie Thommys Ansicht teilt.“ schlug ich vor. Juliane war ganz traurig. „Dass es euch beide erwischt hatte, war mir beim Barbier von Sevilla und danach schon klar. Nicht weil ihr eure Händchen gehalten habt, eure Blicke sagten bei jedem Blickwechsel: „Mein Liebster, ich fühle mich so wohl, weil du bei mir bist.“. Ich fand das absolut toll. Überhaupt nicht nach den oberflächlichen, gängigen Klischees. Jetzt will Brigitta nicht mehr, weil sie Angst hat, sich zu verlieben? Die spinnt doch. Die kennt sich bei sich selbst nicht aus. Verliebt in dich war sie doch schon lange.“ interpretierte es Juliane. Meinen Vorschlag, Jana zu fragen, fand sie toll. „Wir lassen uns doch von der alten Zicke Bea nicht den Spaß verderben.“ erklärte sie. Auch wenn ich unter Beatrix Verhalten litt, dass Juliane sie als alte Zicke bezeichnete, konnte ich doch nicht gut hören. Jana freute sich darauf. Die nächste Oper auf dem Spielplan war Mozarts „Don Giovanni“. Auch wenn die jungen Frauen schön und elegant wie immer waren, für mich stimmte die Atmosphäre nicht. Statt Freude kamen Trauer- und Melancholiegefühle in mir auf, die sich aber bei der Oper legten. Juliane saß jetzt neben mir, was mir schon sehr gut gefiel. „Aber kein Händchenhalten!“ warnte sie vor Beginn scherzend. Bei der Arie „Non mi dir“ flüsterte ich Juliane zu, dass es jetzt Zeit zum Händehalten sei. Sie grinste nur schelmisch und gab mir einen Stups auf die Nase. Gern würde ich Juliane näher kennenlernen, aber wie denn? Nein, nein, so etwas interessierte mich im Moment eigentlich überhaupt nicht. Nach Don Giovanni standen wir im Foyer und blickten uns fragend an. Selbstverständlich wären wir sonst etwas essen gegangen. „Und nu?“ fragte Lilo. „Das Restaurant können wir uns auf keinen Fall leisten. Oder wir gehen essen und lassen die Rechnung an Beatrix schicken.“ schlug Juliane vor. Auf Beatrix war man nicht gut zu sprechen. Als unwürdiges Verhalten wurde es angesehen, wie sie sich benommen hatte. „Ich weiß aus dem Kopf auch keine preisgünstigere Alternative hier in der Nähe. Bleibt nur Frittenbude und ich bestell mir ein Bier.“ scherzte ich. Folglich ging's nach der Oper ohne Restaurantbesuch nach Hause, das machten ja die meisten.


Trauer

Mein Leben hatte sich in der Zeit mit Beatrix stark verändert. Ich versuchte möglichst viel von dem beizubehalten. Ihre Tageszeitung hatte ich jetzt selbst abonniert. Ich las Rezensionen und kaufte mir belletristische Literatur, die mir wertvoll erschien. Bei Arte und 3sat suchte ich mir jetzt selbst Sendungen aus, die ich für bedeutsam hielt. Aber es konnte sein, dass ich beim Zuschauen plötzlich ganz woanders war, und mir begannen die Tränen zu fließen. Das konnte immer und überall geschehen. Die Trauer ist eine entsetzliche Seuche. Ich habe eingekauft, mir einen Kaffee gemacht und sitze am Küchentisch. Plötzlich fang ich an zu heulen. Der schwarze Vogel der Trauer ist wirklich un­zähmbar. Er fragt dich nicht, kommt wann er will und setzt sich auf deine Schulter. Thommy hatte mir schon angeboten, ihn jederzeit besuchen zu kön­nen, und das half wirklich. Wenn du mit anderen lieben Menschen zusammen warst, hielt sich die Trauer fern. Wir trafen uns jetzt auch öfter mit Juliane, Lilo und Jana. Nicht nur zur Oper, sondern einfach so. Man machte es keineswegs ausdrücklich meinetwegen, man hatte etwas Neues entdeckt, das allen gefiel. Kaffeeklatsch mit Smalltalk war es keineswegs. Jemand berichtete über etwas für ihn Bedeutsames, dann vertiefte man es oder kam auch zu anderen Bereichen. Manchmal, wenn es sich ergab, konnte es auch zu einem Seminar in feministischer Erkenntnistheorie kommen. Jana und Lilo regte es oft an und wühlte sie auf, während mir deutlich wurde, wie schwach meine erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen waren. War das überhaupt Wirklichkeit, was ich machte? Noch nie hatte jemand ein Molekül gesehen oder die Verbindung von zweien beobachtet. Die Auswirkungen und der Umgang mit den Formeln nahm allerdings große Teile unserer Wirtschaft und des Lebens überhaupt ein. Ich würde mich nochmal genauer damit beschäftigen müssen. Beatrix hatte sich am Telefon bei Juliane darüber beklagt, dass man sich nur noch so selten sähe. „Wenn wir uns treffen, ist immer Dominique dabei. Da bekämst du doch Panik.“ hatte Juliane gesagt. Beatrix habe angefangen zu reden und alles erklären wollen. Juliane hatte sie gestoppt: „Beatrix, ich will das nicht hören. Du kannst noch so viel erklären und entschuldigen, es war und bleibt ein unmögliches und nicht zu entschuldigendes Verhalten.“ Beatrix hatte aufgelegt. Ein Verhalten, das den Menschen am meisten zu liegen scheint, ist urteilen. Wenn du jemanden kennenlernst, hast du sofort und als erstes ein Urteil über seine Person gebildet. Verhaltensweisen eines anderen als gegeben hinzunehmen, fällt uns schwer, wir beurteilen und werten lieber alles und jedes. Bei Diskussionen mit Beatrix über Gerechtigkeit hatte sie keineswegs die Berechtigung ihres Berufs angezweifelt, aber im Zusammenleben der Menschen sei dieses massive Urteilen völlig unangebracht. In der Regel handele es sich um Vorurteile, weil man die Motivation des anderen für sein Handeln nicht kenne oder verstehe und meistens auch gar nicht verstehen wolle. Wir hatten es uns deshalb abgewöhnt, und bewerteten beim anderen grundsätzlich nichts, sondern fragten nur nach den Gründen. Beatrix hatte ihr Verhalten bei unserer Trennung zwar erklärt, aber nur, dass es für sie einsichtig war. Ob ich es verstand und nachvollziehen konnte, spielte für sie offensichtlich keine Rolle. Ich meinte die wirkliche Bea, so wie sie sich selbst sehen wollte, gut zu kennen. Aber da war ja auch noch ihr Beruf und der Umgang mit ihrem Mann, von dem ich nichts mitbekam. Vielleicht kannte ich Beatrix gar nicht wirklich, sondern nur das Bild, in dem sie mir erschien. Sie hatte gesagt, dass ihr bei Thommy das Bild vom Wunder Mensch deutlich geworden sei, mir kam Beatrix, wenn wir zusammen waren immer wie der wundervolle Mensch an sich selbst vor. Zweifellos hatte ich ein idealisiertes Bild von ihr, weil es mich immer so glücklich stimmte, mit ihr zusammen sein zu können. Aber wie sollte ich das andere, das sie auch war, denn erkennen können, wir trafen uns ja immer nur auf der Aphroditewiese. Woher Phobien rühren, weiß man ja in der Regel nicht, aber offensichtlich existierte bei Beatrix noch ein anderes Ego, in dem diese Liebesphobie angesiedelt war. Sie wollte, dass alles so bliebe, und nichts in ihrem Leben zerstört würde. Im Grunde ein dummer und nicht realisierbarer Wunsch. Alles kann sich verändern und verändert sich auch jeden Tag. Manches kann man schon beeinflussen, aber das Aufkommen von Liebesgefühlen für obsolet und lebensbedrohend zu halten, empfand ich als pervers.


Beatrix Trennung

Wenn es ein Symptom für Liebe ist, dass man immer an die oder den anderen denken muss, dann war ich sicher in Beatrix verliebt gewesen. Immer war sie da, aber ich spürte, dass es besser wurde. Vor allem ließen die Traueranfälle nach. Ich hatte schon fest damit gerechnet, dass ich einen Therapeuten brau­chen würde, aber die Angst, dass wir gar nicht über mein derzeitiges Problem, sondern über meine frühe Kindheit reden würden, hatte mich davon abgehal­ten. Keineswegs empfand ich mich als glücklich und lebensfroh, aber die Allta­ge wurden wieder normal und erträglich. Wir trafen uns bei Juliane und spra­chen über Lilos Oberstufenarbeit. Sie schrieb zum „Ästhetizismus in der Litera­tur um die Jahrhundertwende am Beispiel Hugo von Hoffmannsthals“. Fast alle machten ja diese Oberstufenarbeiten. Einerseits wirkte es sich auf die Abitur­note aus und zum anderen entwickelten die meisten auch Gefallen daran, qua­si wissenschaftlich arbeiten zu können. Julianes Vater kam und fragte, ob wir noch etwas brauchten. „Ach, übrigens, habt ihr schon gehört, dass Kurt und Beatrix sich voraussichtlich trennen werden?“ erzählte er. Keiner sagte etwas, und dann erzählte der Vater von Juliane: „Früher als Kind war sie oft total zer­fahren und flüchtig. „Ach so.“ waren ihre häufigsten Worte, wenn etwas schief gelaufen war. Und in der Pubertät hat sie wohl ein Erweckungserlebnis gehabt. Fast von einem Tag auf den anderen war sie wie ausgewechselt. Genau, akri­bisch, pedantisch, warum und wieso, dazu konnte sie selbst nichts sagen.“ Jetzt konnte Juliane dazu sagen: „Papa, du nervst.“, worauf der Vater sofort schwieg und ging. Für uns war Lilos Ästhetizismus natürlich gegessen. Thema waren jetzt Spekulationen über die Trennung von Beatrix und ihrem Mann. „Vielleicht hat sie jetzt angefangen, sich in ihn zu verlieben.“ bemerkte Juliane sarkastisch. „Ich schätze, dass sie mit eurer Trennung auch nicht fertig gewor­den ist.“ vermutete Jana. Thommy, den ich kurz darauf besuchte, wusste na­türlich Genaueres. Sein Vater hatte eine Beziehung zu einer Projektmanagerin begonnen. „Als er nachts mehrmals gar nicht mehr nach Hause kam, ist es aufgeflogen.“ berichtete Thommy. „Mutter war zerstört.“ erzählte Thommy, „Aber ich glaube, weniger aus Eifersucht, sondern weil das überhaupt nicht in ihr Weltbild passte. Na ja, Liebesgefühle kann wahrscheinlich doch jeder Mensch entwickeln, obwohl mein Vater der letzte ist, dem ich das zutrauen würde.“ Und dann erging sich Thommy in Elogen abschätziger Bemerkungen über seinen Vater. Er habe als Mensch in der Familie überhaupt nicht existiert, sondern nur in seinem Bauwahn gelebt. Es müsse wahrscheinlich die sonder­barsten Formen von Liebe geben, wenn eine Frau das toll finden würde. „Du erkennst die Menschen nie in ihrer Komplexität. Du siehst immer nur das, was du sehen willst.“ versuchte ich es zu erklären. Es dauerte nicht lange, bis Thommy mir erklärte, dass seine Mutter mich gern sehen würde. Warum hatte sie mich nicht selbst angerufen? Nein, ich wollte mit dieser Beatrix nichts mehr zu tun haben. Die Beatrix, um die ich geweint hatte, gab es in Wirklichkeit gar nicht. Sie war eine Traumfrau, wie ich sie mir gewünscht hätte und meinte er­lebt zu haben. Beatrix hatte Thommy gedrängt. Nur einmal wenigstens würde sie gern kurz mit mir sprechen. Ich hatte Angst davor, wollte diese Frau ei­gentlich nie wieder sehen, aber schließlich ließ ich mich doch darauf ein. Als Beatrix kam, wollte sie mich zur Begrüßung umarmen. Ich wich zurück. „Domi­nique, ich versteh dich ja. Ich bin böse und ungerecht zu dir gewesen, nicht wahr?“ erklärte sie. Ich blieb stumm. „Jetzt verachtest du mich, was zwischen uns war, hast du völlig vergessen?“ fragte Beatrix. „Ob ich dich verachte, weiß ich nicht, aber zwischen uns war nichts. Das war eine andere Frau, die zwar auch Beatrix hieß, aber nur in meiner Vorstellung existierte.“ erklärte ich. „Dominique, mein Liebster, komm doch zur Erde zurück. Es war doch diese Hand, die deine gehalten hat. Es war doch dieser Mund, der dich geküsst hat und dieser Kopf, der auf deiner Schulter gelegen hat.“ erklärte Beatrix. „Beatrix, ich bin nicht dein Liebster. Meine Liebste, um die ich viel geweint habe, hätte mich niemals fortgeschickt, sondern hätte mich geliebt. Die Frau, die jetzt hier sitzt, du, hast es aber getan. Folglich kannst du nicht die Frau sein, die ich meinte, zu lieben.“ erklärte ich. „Ich versteh nicht, was du willst, Dominique. Für mich klingt das verworren, wie du sprichst. Ich habe große Fehler gemacht, aber darüber kann man doch reden.“ erwiderte Beatrix. „Was ich will, ist ganz einfach zu verstehen, ich will mit dir nichts mehr zu tun haben.“ stellte ich klar. Ich stand auf und ging, verließ die Wohnung nur mit einem 'By'. Thommy rief mich noch am Abend an und schimpfte mich aus. „Du bist unmöglich gewesen. So etwas kannst du doch nicht machen. Mutter hat richtige Heulkrämpfe bekommen. Sie hat dich niemals vergessen. Dein Gefasel von einer imaginären Frau, die nicht sie ist, ist doch albern. Vielleicht hast du ja irgendwelche Wesensmerkmale nicht erkannt, aber die Frau, mit der du glücklich warst, war ganz konkret und direkt Beatrix, so wie sie dir gegenüber gesessen hat.“ erklärte Thommy eindringlich.


Versöhnungsgespräch

Ich hatte mir angewöhnt, öfter mit Juliane zu telefonieren. Es machte uns bei­den Spaß, und man wusste ja nie. Als ich ihr erzählte, dass ich Beatrix gesagt hätte, ich wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben, stöhnte sie skeptisch auf. „Ich weiß nicht, ob ich das so gemacht hätte. Zwischen euch ist ja doch schließlich einiges gelaufen, und ernsthaft war es doch mit Sicherheit. Ob es da nicht besser wäre, wenn du wenigstens mit ihr reden würdest?“ meinte Juliane. Auch Lilo meinte, dass Beatrix mir vielleicht viel Schlimmes angetan habe, aber wenn ich mich weigere mit ihr zu reden, sei das auch ein übles Verhalten. Den besten Rat wusste Jana. „Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden.“ sagte sie, „das hat Jesus gesagt und steht in der Bi­bel. Du musst dich nur ein bisschen überwinden, das kannst du doch mittler­weile, und hinterher fühlst du dich selbst viel besser.“ Allerdings bestand ja überhaupt kein Anlass, mit Beatrix zu reden. Nach etwa vierzehn Tagen meinte Thommy jedoch, wir sollten das nicht so stehen lassen. Ob wir nicht versuchen sollten, uns in einem versöhnlichen Gespräch wie vernünftige Menschen zu un­terhalten? Thommy hatte Beatrix auch eindringlicher verdeutlicht, wie sich die Trennung für mich ausgewirkt hatte. Auch wenn ich mit Beatrix redete, das Wiederaufleben einer Beziehung war aber für mich ausgeschlossen. Jetzt be­grüßten wir uns freundlich lächelnd per Handschlag und Armberührung. Ich wollte ja auch mit Beatrix sprechen, nur die alte Bea allein konnte ich nicht se­hen. Immer war da auch das Bild der Frau, die per Beschluss alles zerstört hat­te. „In unserem Unbewussten muss es etwas geben, dass uns Lust bereitet, uns gegenseitig zu verletzen und weh zu tun, meinst du nicht auch?“ erklärte Beatrix und lächelte dabei. Ich war ja versöhnlicher gestimmt und wollte Streit vermeiden, aber worüber wir reden sollten, war mir völlig unklar. „Dominique, du hast gesagt, die Frau, mit der du viel Freude erlebt hast, mit der du glücklich warst, und die du geliebt hast, sei nicht anwesend. Doch, doch, sie ist da, du kannst sie anfassen, nur diese Frau hat schwere Fehler gemacht.“ erklärte Brigitta. „Mag sein, aber es ist ja auch meine eigene Schuld. Ich meinte dich zu kennen, aber das war wohl eine grobe Fehleinschätzung.“ erwiderte ich. „Du hast ein großartiges Bild von mir gehabt, wundervoll war das für uns beide. Eine Fehleinschätzung war das nicht. Das bin ich, so bin ich wirklich, das ist die echte Bea, so bin ich, und so will ich sein. Die andere, das war eine böse Schlange. Die gibt es nicht mehr. Sie hat ihre Haut abgeworfen und ist verschwunden.“ erklärte Bea. „Ach so, meine Freundin Beatrix ist keine Wunschvorstellung, aber die Frau, die mich fortgeschickt hat, die nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, die gibt es gar nicht. Bea, ich sehe sie aber, es ist keine andere als die Frau, die hier sitzt. Niemand anders als du warst es.“ entgegnete ich. Das Gesicht, das ich gesehen hatte, dessen Anblick mich immer wieder gefesselt hatte, war es nicht, aber trotzdem musste ich Bea immer anschauen. Ich hatte sie ja jetzt auch länger als ein Jahr nicht gesehen. Auch wenn ich Bea am liebsten aus meinem Leben gestrichen und alles vergessen hätte, war sie in mir und wollte dort anscheinend für immer bleiben. „Alle haben gesagt, es sei falsch, was ich gemacht hätte. Ich höre schon die Argumente anderer Menschen, aber ich bin nicht jemand, der sein Verhalten ändert, weil andere meinen, es besser zu wissen. Meine Freundin Barbara hat mich gewarnt. Es könne mich krank machen. Man würde nicht mit allem schon irgendwann fertig. Es gebe Dinge, die einen lebenslang belasten könnten.“ berichtete Beatrix. „Warum erzählst du mir das? Die Episode Beatrix ist in meinem Leben endgültig abgeschlossen.“ reagierte ich. „Dominique, ich denke, wenn mich jemand verstehen kann und will, bist du es. Du willst für dich das Bild einer schrecklichen Hexe von mir bei dir aufbewahren. Aber das bin ich doch nicht. Ich möchte nur, dass du mich wieder als einen normalen Menschen siehst, dass du mich anerkennst, dass du mich respektierst.“ antwortete Beatrix. „Normale Menschen verhalten sich nicht so, die tun so etwas nicht.“ erwiderte ich. „Dominique, ich glaube, da ist nichts abgehakt. Alles ist noch voller Wut und Hass. Möchtest du denn nicht auch selbst mal da rauskommen?“ fragte Beatrix. „Er kennt zu wenig Frauen. Er kennt nur seine Schwester, und die hätte so etwas niemals getan.“ brachte sich Tommy ein. „Du meinst ich hätte ahnen können, dass Frauen so sind? Da muss man eben mit allem rechnen.“ erkundigte ich mich scherzend. „Du hast gelächelt, Dominique, wie schön. Du kannst es also ja noch. Ich möchte doch nur, dass wir wieder wie normale Menschen miteinander reden können, dass du mir zuhörst.“ reagierte Beatrix. „Also, ich besuche Thommy, da ist zufällig seine Mutter anwesend. Wir reden ein paar Worte miteinander, denn wir kennen uns ja. So etwa?“ hatte ich verstanden. „Du spinnst, Dominique. Beatrix hat gesagt, sie hätte große Fehler gemacht. Sie sei jetzt eine andere. Wenn du ein normaler Mensch sein willst, dann hörst du ihr wenigstens mal zu.“ tadelte mich Thommy. Es war ja verständlich, dass er weitere Kränkungen seiner Mutter verhindern wollte. Ein Bedürfnis, Beatrix weh zu tun, verspürte ich doch auch nicht. Nur Angst hatte ich, dass Gespräche mit ihr meinen erlangten Alltagsstatus stören und alles wieder aufwühlen würden. „Na gut, Beatrix, was willst du mir denn wann und wo sagen? Nur zu einer irgendwie gearteten Form von Beziehung wird es auf keinen Fall kommen. Das habe ich einmal erlebt und möchte so etwas nie wieder in meinem Leben erfahren.“ machte ich deutlich. „Wir könnten uns ja bei Thommy oder in einem Café treffen, oder du kommst einfach zu mir.“ schlug Beatrix vor. „Nein, das kann ich nicht, und das will ich nicht. Thommy oder Café, du könntest aber auch zu mir kommen. Du bist noch nie bei mir gewesen.“ schlug ich vor.


Mit Mutter an der See

Mutter sagte: „Mein Liebster, ich hatte gedacht, die Zeit der Brutpflege sei vor­bei, und dass ich mich jetzt nicht mehr um dich kümmern müsse, aber ich ma­che mir Sorgen. Der alte Dominique, wie wir dich immer kannten, bist du nicht mehr. Du hast dich verändert. Ich möchte dir gern helfen, aber ich weiß nicht, wie. Was hieltest du davon, wenn wir beide einfach mal eine Woche an die See fahren würden. Du musst nichts erzählen, was du nicht willst. Ich denke nur, dass es auf jeden Fall entspannend sein müsste und uns auf andere Gedanken bringen würde, wenn wir völlig frei sind von dem, was uns jeden Tag umgibt.“ Ich wollte es mir überlegen, und wir machten es. In einer kleinen Stadt am Meer waren wir fast die einzigen Gäste im Hotel. Es war ja außerhalb der Sai­son. Am ersten Tag redeten wir über die Umgebung, mein Studium und Lilo. Am zweiten Tag kamen wir jedoch auf meine Situation mit Beatrix zu spre­chen. „Sie ist fast so alt wie du, Mutter, und ich hatte mich unsterblich in sie verliebt. Kannst du dir das vorstellen?“ erklärte ich und lachte. „Ich hoffe, du liebst mich auch.“ sagte Mutter und lachte ebenfalls. Mutter wollte alles genau wissen, fragte immer nach und ließ sich alles detailliert erklären. „Das kann sehr schlimm sein. Frauen können daran zerbrechen, wenn sie plötzlich von ih­rem Liebsten, der ihnen alles bedeutet, verlassen werden. Alles was sie glaub­ten, auf alles was sie ihr größtes Vertrauen gesetzt hatten, ist plötzlich nichts mehr wert. Sie selbst sind sich nichts mehr wert. Das kann so tiefe Wunden hinterlassen, die im Leben nie wieder völlig verheilen. Diesmal warst du in der Rolle der verlassenen Frau.“ erklärte Mutter. Sie wollte genau wissen, wie es mich denn belastet und wie ich es ertragen hätte. Es tat gut, in dieser mütterli­chen Brutpflegefürsorge alles erzählen zu können. Am liebsten hätte sie ihrem Jungen wahrscheinlich Glückspillen verabreicht, um in ihm die alte Lebensfreu­de, von der sie viel erzählte, wiederzuerwecken. „Wilde Schwermut ergriffe uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes, hat Ernst Jünger gesagt. Ist das denn bei dir immer noch so? Für dich wird Beatrix eine Metapher des Glücks sein, aber ohne dich selbst hätte es dieses Glück nie gegeben. "In uns selbst liegen die Sterne unseres Glücks." hat Heinrich Heine gesagt. Ich würde mir wünschen, dass du dich mehr daran orientierst, als Vergangenem nachzutrau­ern.“ sagte Mutter. Wir sprachen über Pläne für die Zukunft und Lilos Studien­absichten. „Dann bin ich diejenige, die allein ist, aber einsam werde ich mich nicht fühlen, da bin ich mir sicher. Ich brauche nicht krampfhaft versuchen, mir die Zeit zu vertreiben. Wer weiß, vielleicht verliebt sich ja auch ein junger Stu­dent in mich und hält mich für ein einzigartiges Wesen.“ scherzte sie. Wie eine Woche der Befreiung kam es mir im Nachhinein vor. Vielleicht fühlen sich ja Katholiken so, wenn sie gerade gebeichtet haben und von jeder Schuld befreit sind.

Zu intensiven Auseinandersetzungen mit Mutter war es bei uns nie gekommen. Natürlich waren wir nicht selten anderer Ansicht, aber zu Streitigkeiten kam es nie. Trotzdem war sie in ihrer Mutterrolle immer die andere, die nicht zu Lilo und mir gehörte. Lilo konnte es daher gar nicht verstehen, dass ich von der Woche mit Mutter so begeistert war. „Lilo, ich glaube, dass wir uns auf einer ganz anderen Ebene begegnet sind. Du bleibst zwar schon immer ihr Sohn oder ihre Tochter, die Nabelschnur wird in Wirklichkeit nie ganz durchgetrennt. Es wird nie jemanden geben, der mehr und tiefergehenderes Interesse an dir hat, aber auf der anderen Seite war ich nicht nur ein erwachsener Mann, son­dern jemand, der in eine Frau wie sie verliebt war. In dich ist Mutter übrigens auch verliebt. Vielleicht findest du deshalb keinen Freund, weil du spürst, dass sie dann eifersüchtig würde.“ erklärte ich und lachte. Lilo fand es gut, dass ich mit Beatrix reden wolle. „Mit dir spreche ich nicht.“ das sagt man nicht mal ei­nem Verbrecher.“ meinte sie, „Du musst das aufarbeiten, was du erlebt hast. Von selbst erledigt sich das nie. Und wie willst du das anders tun, als mit Bea­trix darüber zu reden.“ Lilo hatte „Das Unbehagen der Geschlechter“ gelesen und war der Ansicht, es habe sie massiv verändert. Es käme ihr vor, als sei sie vorher eine tumbe, kleine Maus gewesen. Jetzt sei sie eine wissende Frau. Ju­liane sei ihre beste Freundin, mit der sie in Zukunft viel zusammenarbeiten werde. „Du hast nicht nur Mutter anders erlebt, mich wirst du in Zukunft auch anders erfahren.“ sagte sie. Jana wollte wissen, ob wir uns denn alles verzie­hen hätten. „Verzeihen ist die beste Rache.“ meinst du, nicht wahr?“ fragte ich und lachte, „mag ja sein, das verzeihen können etwas Großartiges ist, aber einfach sagen: „Alles vergeben und vergessen.“ das ist Unsinn, weil es oft gar nicht stimmen kann.“ erklärte ich. „Aber das ist doch eine fixe Idee. Beatrix wird dich doch nicht noch mal fortschicken. Es ist doch kein Wesenszug von ihr, dass sie ihre Liebsten vertreibt, so wie etwa Spinnenfrauen, die ihre Männ­chen nach dem Geschlechtsakt auffressen.“ tadelte mich Jana, „Habt ihr denn auch mit einander geschlafen?“ wollte sie wissen. „Oh je, das hätte gerade noch gefehlt.“ reagierte ich. „Ich weiß es auch nicht, vielleicht bin ich gar keine richtige Frau und deshalb wird das auch mit Thommy und mir nichts.“ erklärte Jana. Das musste sie natürlich erläutern. „Ja, weißt du, Frauen haben doch ei­gentlich genauso sexuelle Bedürfnisse, aber ich kann mir überhaupt nichts Wünschenswertes darunter vorstellen, mit einem Mann im Bett zu liegen und zu ficken.“ so Jana. „Einfach permanentes Wiederholen, dann stellt sich die Ob­session schon ein.“ dachte ich plötzlich und erinnerte mich an die Situation mit Gabi damals. Ich dachte nicht oft daran und hatte auch überhaupt nichts zu er­klären versucht. Es war mir einfach nur peinlich. Ich wusste im Grunde nichts dazu, wie es sich mit Liebe und sexuellem Verlangen verhielt. Vielleicht sollte ich das mal zum Thema unserer Gespräche machen, dachte ich und schmun­zelte. Auch dass Beatrix erklärt hatte, sie hätte bei mir erotische Gefühle er­kannt, war mir selbst gar nicht bewusst geworden, und wenn ich es gespürt hätte, würde ich es zu leugnen versucht haben. So etwas passte nicht zu uns, aber Beatrix hatte es ja gefallen, wie sie sagte. Vielleicht verfügte ein Mann ja auch über unterschiedliche kommunikative Rezeptoren für Frauen, solche, die mehr auf sozialdominierte Wesensmerkmale ansprachen und solche, die stär­ker auf erotische Reize reagierten, und bei denen dem Geschlechtstrieb das Er­kenntnis leitende Interesse zufiel. „Jana, was du dir vorstellst, spielt sich alles nur in deinem Bewusstsein ab, existiert nur aus den Bildern, die du dir davon machst. Dein Unbewusstes will aber möglicherweise etwas ganz anderes, du kannst es nur nicht erkennen. Ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen ma­chen.“ riet ich ihr. „Ist es bei dir denn vielleicht auch so, dass im Zusammen­hang mit Beatrix dein Bewusstsein und dein Unbewusstes ver­schiedene Wege gehen? Sie hat dir doch so viel bedeutet, auch wenn dein Be­wusstsein nichts mehr davon wissen will, verschwunden ist das doch nicht.“ vermutete Jana. Ich war ja selbst verwirrt, wusste nicht, ob es besser gewesen wäre, wenn ich Beatrix nie wieder gesehen hätte, oder ob ich meine Erlebnisse nur in Gesprä­chen mit ihr aufarbeiten konnte, oder ob nicht auch Gefahren für Entwicklun­gen, die ich nicht wollte, darin steckten. „Ich habe Mutter heftig kritisiert, als sie dich fortgeschickt hat,“ sagte Thommy, „habe immer auf deiner Seite ge­standen, aber jetzt ist sie am Ende. Bitte, bitte, Dominique, sei ein bisschen freundlich zu ihr.“ „Gut und schön, aber was habe ich damit zu tun? Sie hat sich nicht verändert. Sie ist immer noch die, die mir gesagt hat: „Ich brauche dich nicht mehr.“. Ihr Mann hat ihre Welt verändert. Sie musste nur darauf reagieren. Und jetzt soll ich sie trösten? Warum sucht sie sich nicht jemand an­deren, ihre Freundin zum Beispiel.“ sah ich es. „So stimmt es nicht, wie du es darstellst, Dominique. Mein Vater hat ihre Welt zerstört. Das stimmt. Aber das hat bei ihr einiges ausgelöst. Du hast ihr immer ungeheuer viel bedeutet, und das hat sich nie verändert. Sie mag dich wie eh und je, und du darfst ihr ge­genüber nicht wie ein kalter, abweisender Panzer auftreten. Damit tust du mir selbst weh. Ob du ihr verzeihen kannst, weiß ich nicht, aber ihr könnt euch doch wenigstens wieder vertragen und so miteinander reden wie wir beide.“ wünschte Thommy.


Beatrix Besuch bei mir

Alles aufräumen und in Ordnung bringen, eigentlich hatte ich es nicht gewollt, aber fast automatisch war ich doch damit angefangen. Jetzt konnte der hohe Besuch kommen. "Das größte Glück, das die Liebe zu geben vermag, liegt im ersten Händedruck der geliebten Frau." hatte ich damals im Zusammenhang mit unserem Händchenhalten gelesen. Und jetzt? Beatrix gab mir die Hand. Ich freute mich auch, dass sie kam, aber größtes Glück und geliebte Frau, das passte nicht mehr ganz. Ich zeigte Beatrix mein Apartment. Sie sah sich alles schmunzelnd an. „Tscha, poor people, arme Studenten.” kommentierte ich. „Du hast ja auch einige Bücher, alles Biochemie? Oh nein.“ stellte Beatrix fest und hatte auf Anhieb ein Buch gefunden, dass ich ihr damals nicht zurückgege­ben hatte. Sie zeigte es vor, schmunzelte und schob es wieder zwischen die anderen im Regal. „Was möchtest du? Du kannst alles bekommen, nur Cappuccino geht nicht, weil ich keine Milch habe.“ erklärte ich. „Ich habe eine Idee.“ verkündete Beatrix, „Was hältst du davon, wenn wir zu deinem Kauf­mann gehen und uns Milch besorgen. Was ist das denn für ein Haushalt, keine Milch?“ Gemeinsame Aktivitäten können immer lösend und verbindend wirken, dachte ich, und außerdem war ich doch so stolz auf meine Kaffeemaschine, ob­wohl ich im Nachhinein gelesen hatte, dass diese Vollautomaten gar nicht das A und O sein sollten. Beatrix erzählte, dass sie auf einem Kongress in München gewesen sei. „Ich werde mich jetzt doch wieder mehr mit Rechtsphilosophie beschäftigen. Warum habe ich das nicht studiert und bin in der Wissenschaft geblieben, dann wäre alles in einem Boot gewesen. Geschafft hätte ich das doch, oder was meinst du?“ fragte sie mich. Ich nickte nur mit breiter Grinse­schnute Zustimmung. „Aber mit dem Geld, ich weiß ja jetzt auch nicht, ob ich das Haus halten und Frau Fendrich, die Haushaltsfrau, weiter bezahlen kann. Hoffentlich läuft das mit der Scheidung schnell, dann wird Kurt nämlich einiges abdrücken müssen. Übrigens werde ich dann nicht mehr Frau Möller sein, son­dern Frau Lidermann heißen, mein Mädchenname. Thommy bleibt natürlich Möller, da lässt sich nichts mehr ändern, obwohl Thommy sich das sicher auch wünschen würde.“ erklärte Beatrix. Wir nahmen noch Bioknabberriegel mit und Sahne, weil Bea Kekse gefunden hatte, zu denen man unbedingt Sahne brauche, wie sie meinte. Zu Hause bearbeiteten wir beide die Kaffeemaschine und mussten natürlich Sahne schlagen. Ich hatte Bea noch nie Cappuccino trinken sehen, sonst hatte sie auch wie ich einen Espresso getrunken, nur hatte sie ihn sich immer total mit Zucker vollgeladen. Wir saßen uns schräg gegenüber, Beatrix im Sessel, ich auf der Couch und lächelten uns an. Die erste Barriere war schon überwunden, aber worüber sollten wir jetzt reden? „Übrigens, mit Merpati das hat sich erledigt. Sie ist mittlerweile doch vergeben.“ erklärte Beatrix. Ich verstand nicht. „Ich habe dir doch von der wunderschönen Javanerin erzählt, die nur Männer mit verbundenen Augen kennenlernen wollte. Ich weiß nicht, ob ihr Professor die Augen verbunden hatte, jedenfalls haben sie sich ineinander verliebt, und Frau und Herr Sukira sind ganz unglücklich, weil er so viel älter ist als sie.“ erläuterte Beatrix. „Aber das kommt doch sehr häufig vor, dass jüngere Frauen und ältere Männer sich verlieben, umgekehrt, das gibt es eher seltener.“ meinte ich. Beatrix schmunzelte und vermutete: „Ja, weil viele Männer erst im fortgeschrittenen Alter die notwendige Reife erlangen.“ „Bei mir hast du sie aber trotz meines jugendlichen Alters schon erkannt?“ wollte ich scherzend wissen. „Das ist doch alles Quatsch. Mit dem Alter hat das doch nichts zu tun. Auf den Menschen kommt es an. Die Person der oder des anderen bedeutet für dich ein Glücksversprechen, nach dem du Verlangen bekommst.“ wusste Bea. „Du hast dich von dem Glücksversprechen aber nicht verführen lassen, nein?“ vermutete ich. „Dominique!“ erklang mahnend mein Name. „Die Kekse mit Sahne schmecken wirklich vorzüglich. Eine tolle Idee.“ warf ich ein. „Ich habe mich von etwas ganz anderem verführen lassen, das eigentlich gar nicht zu mir passt. Wenn in der Kanzlei alles erledigt ist, was erledigt werden muss, wenn alles geregelt ist, dann ist alles in Ordnung, dann sind wir zufrieden. Es gibt aber nicht wenige Menschen, die für ihr gesamtes Leben ihre Bestätigung, ihre Selbstwertschätzung daraus beziehen, dass alles in Ordnung, alles geregelt ist. Sich selbst haben sie dabei völlig verloren, können sich gar nicht mehr sehen, existieren überhaupt nicht mehr.“ stellte Beatrix dar. „Ja ich verstehe, ich glaube, dass so etwas Ähnliches für viele Frauen, Familienmütter gilt. Sie haben ihr eigenes Leben an die Familie abgeben und existieren nur noch darin, dass in der Familie alles so läuft, wie es sollte.“ bestätigte ich Bea. „Mir konnte so etwas doch nicht passieren. Es gab doch gar keinen Anlass dazu, und außerdem war ich doch eine vielschichtige Persönlichkeit. Ich weiß nicht, woher es gekommen ist, aber ich musste immer schon viel organisieren, wobei es darauf ankam, dass alles funktionierte, nicht nur in der Kanzlei. Das war schon während des Studiums so und auch zu Hause. Mein Mann bezahlte zwar Frau Fender, die sich um alles kümmerte, aber das im und mit dem Haus alles funktionierte, dafür war selbstverständlich ich zuständig. Ich habe mir ein total vermurkstest und widernatürliches Bild von meinem Leben zusammen gezimmert, nach dem alles in Ordnung und bestens geregelt sei, und das Bild stand über allem und war mir heilig, war oberstes Gesetz.“ erläuterte Bea. „Ich habe gar nicht weiter darüber nachgedacht, aber erstaunt hat es mich schon, was du über das Zusammenleben mit deinem Mann sagtest. Ich habe nur gedacht, dass ich so etwas nicht könnte und nicht wollte.“ meinte ich dazu. „Genau, das war eins von den Hirngespinsten, die ich mir in meinem Kopf zurecht gelegt hatte und die völlig abstrus waren. Glücklich war ich, wenn wir zusammen sein konnten, aber mit dem Bild meines Lebens war ich nur glücklich, weil ich beschlossen hatte, dass es so sein müsse. Dein Bewusstsein kann ein Teufel sein und dir den Weg zu wirklichem Glück unsichtbar machen und versperren.“ erläuterte Beatrix. „Und wie bist du auf andere Gedanken gekommen?“ wollte ich erfahren. „Na ja, mein Mann hat mir klar gemacht, das die Vorstellungen von meinem geordneten und zufriedenen Leben Schrott und Müll waren. Mit Barbara bin ich zu der Erkenntnis gekommen, was der größte und zentrale Fehler in meinem Leben war.“ antwortete Beatrix. „Und worin bestand der?“ wollte ich wissen. „Es gibt nichts Stehendes oder Verharrendes.“ hat sie gesagt, „panta rhei, alles fließt, wusste schon Heraklit. Du kannst nie zweimal in dem selben Fluss baden.“ Ich hätte mein Leben als einen Zustand betrachtet, den ich konservieren wollte. Dass sei falsch und unmöglich, alles sei immer in Bewegung und verändere sich naturgemäß ständig. Wir wollten ja auch unser Wohlempfinden bei jedem Treffen ein wenig steigern. Erinnerst du dich?“ fragte Beatrix. Natürlich, an alles erinnerte ich mich und würde voraussichtlich nie etwas vergessen, aber es quälte mich. Einerseits waren die wundervollen Erinnerungen anwesend, die mit Beatrix verbunden waren, aber ich wollte mich mit dieser Frau, die mir soviel Leid zugefügt hatte auf nichts mehr einlassen. „Dominique, du ahnst nicht, wie gut es mir tut, dass ich dir alles erzählen kann, und dass du mir zuhörst. Ich habe dir entsetzlich weh getan, und es gäbe nichts auf der Welt, was mir wichtiger wäre, als wenn ich das ungeschehen machen könnte, denn was sich auch immer zugetragen hat, in meinem Herzen warst du immer, und da bist du auch heute noch. Das habe ich dir ja auch damals gesagt.“ erklärte Beatrix. Ich war verwirrt. Ich spürte, dass es mir auch gefiel, mit Beatrix zusammen zu sein, aber gleichzeitig wollte ich nicht, dass es mir gefiel. „Treffen wir uns wieder? Können wir nochmal miteinander reden? Du würdest mir eine große Freude damit bereiten.“ fragte Beatrix kurz bevor wir uns verabschieden wollten. Ich zögerte. Warum sollten wir uns noch mal treffen? „Na gut,“ sagte ich schließlich, „weil Thommy mir befohlen hat, freundlich zu seiner Mutter zu sein.“ Ich bekam einen symbolischen Streich über die Wange und eine Mimik, die scherzend sagte: „Du böser Junge.“ Ich war verrückt. Bea hatte mich berührt. Nein, nein, nein, ich wollte von all dem nichts mehr wissen. Trotzdem grübelte ich abends im Bett über unser Treffen und konnte nicht einschlafen.


Neue Vorschläge

Thommy wollte wissen, wie es verlaufen sei. Natürlich würde er auch seine Mutter fragen. „Harmonisch.“ erklärte ich lapidar, „Wir wollen uns nochmal treffen.“ Das reichte. Juliane freute sich richtig, als ich ihr davon erzählte. „Du hast gesagt, ein kaltes Herz habe entschieden, dass ihr euch nicht mehr sehen dürftet. Wie immer du es bezeichnest, du kannst reden was dir gefällt, aber eure Gefühle haben gezeigt, dass ihr einander wollt, und das war wunder­schön. Das ist doch da, Dominique, vergiss es doch nicht. Was immer dein Kopf dir sagt, wird nicht zu deinem Glück führen.“ erklärte Juliane. Sollte ich jetzt einfach wieder so tun, als wenn nichts geschehen wäre und mich so Bea­trix gegenüber verhalten wie damals? Das sagte mir nicht mein Kopf aber auch meine Gefühle nicht. Jetzt gefiel mir der Händedruck der Frau, die mich begrüßte schon besser. Weil sie mir beim zweiten mal vertrauter war? Vielleicht. Jetzt hatte ich natürlich Milch, Sahne und die Kekse da. Nur jetzt wollte Beatrix gar keinen Cappuccino, sondern trank wieder Espresso wie sonst auch. „Du müsstest Barbara mal kennenlernen. Sie ist eine wundervolle Frau. Ihr beide würdet euch bestimmt gut verstehen. Nur müsstest du da zu mir kommen. Aber das willst du ja nicht. Warum eigentlich nicht?“ wollte Beatrix wissen. „Das kann ich nicht. Vielleicht müsste ich auch beweglicher werden, aber dein Bett war der Platz, wo wir unser Glück gelebt haben. Plötzlich ist alles zerstört worden. Für mich war es ein Schockerlebnis, das ich nicht wieder aufleben lassen möchte.“ erklärte ich. Bea erkundigte sich weiter danach, wie ich darunter gelitten hätte. „Ach nein, du Armer, mein Liebster.“ sagte sie immer wieder und strich mir dabei tröstend über den Rücken. „Wenn dir irgendetwas einfällt, wie ich etwas wieder gut machen könnte, lässt du es mich wissen, ja? Hilft es dir denn, wenn wir darüber reden?“ fragte sie. „Doch, ja,, ich glaube schon, dass es mir gut tut, wenn du es erfährst.“ sagte ich. „Mir ist es auch nicht leicht gefallen. Das war ja mein Leben, dazu gehörten unsere glücklichen Treffen. Plötzlich gab es das nicht mehr. Ich war oft mürrisch und ungehalten, aber Barbara hat mir sehr geholfen. Unser Alltag sei nicht menschenfreundlich hat sie erklärt. Alles sei wie in der Wirtschaft rational und kalkulatorisch dominiert. So verhielten wir uns in allem und daran richteten wir unsere Entscheidungen aus. Der wirkliche und glückliche Mensch sei aber ein durch Gefühle und Leidenschaften bewegtes und gesteuertes Wesen. Der habe in unserem Alltagsgeschehen nichts zu suchen.“ erzählte Beatrix. „Siehst du das denn auch so?“ wollte ich wissen. „Ja, aber absolut. Wie war es denn anders bei mir. Meine Gefühle und Leidenschaften musste ich mir verbieten, weil sie nicht zweckrational waren. Das gehört zum wichtigsten, was ich gelernt habe, meinen wirklichen Gefühlen größeren Raum zu geben, ja, sie überhaupt erst wieder zu entdecken, zu mir selbst zurückzufinden.“ verdeutlichte Beatrix. Vielleicht war mein Bild von der gefühlskalten Frau, die mich fortgeschickt hatte, ja auch ein starres Bild, das heute gar nicht mehr stimmte. War es mit den Bildern, die man von anderen Menschen hatte, nicht immer so? Du machst dir ein Bild von ihnen und hältst sie permanent darin gefangen. Bei meiner Schwester war es zum Beispiel nicht so. Sie sah ich immer lebend, wie eine Blume, die sich mit jedem Kontakt zwischen uns entwickelte und veränderte. Und bei Beatrix früher, da war es auch nicht so. Ich hatte mich nicht darauf gefreut, ein mir bekanntes Bild wieder zu sehen. Ich freute mich immer auf das Leben, das sich bewegte und veränderte, und mit dem ich mich austauschen konnte. „Wir könnten dir ja ein Zimmer bei uns einrichten, dann brautest du nicht auf meine Liegewiese zu kommen. Platz ist doch genug. Ja, du könntest doch zu mir ziehen und zur Miete wohnen.“ schlug Beatrix vor. „Oh, oh!“ stöhnte ich auf, „Beatrix, wir wollten uns unterhalten und wieder wie vernünftige Menschen miteinander reden. Tun wir das nicht? Wir können gern nochmal miteinander reden, aber wie kommst du denn auf die Idee, dass ich zu dir ziehen könnte?“ wollte ich erklärt haben. „Dass muss ja auch nicht sein. Du zögest nicht zu mir, sondern in unser Haus, und da wäre es dann eben sehr bequem, wenn wir etwas miteinander zu tun haben wollten.“ erläuterte Beatrix. Genau das wollte ich ja nicht. Aber ob das, was mein Bewusstsein wollte, und was mein Unbewusstes wollte miteinander harmonierte, darüber war ich mir nicht schlüssig.


Mein Zimmer bei Beatrix

„Es ist sonderbar,“ sagte Beatrix beim nächsten Treffen, „dass wir uns nicht mehr treffen konnten, hat mich sehr belastet. Bei Kurt war das gar nicht so. Ich war zunächst total wütend, hätte ihm alles antun können, er hatte ja mein Leben zerstört. Aber als mir klar geworden war, wo mein Problem lag, war da nichts mehr. Keine Spur von Trauer, dass ich etwas verloren hätte. In meinen Emotionen war er nicht existent. Und das hatten wir als zufriedenes Zusam­menleben bezeichnet.“ „Aber du sagst ja selbst, dass dein Bewusstsein falsche Entscheidungen treffen kann. Wenn du damals vorher schon deine wirklichen Gefühle befragt hättest, wäre dir wahrscheinlich schon klar geworden, dass da nichts war. So eine rationale Beziehung als zufriedenstellend zu bezeichnen, das war für mich schon damals unverständlich.“ kommentierte ich. „Ich hätte deiner Entscheidung folgen und mich nicht radikal durchsetzen sollen, aber jetzt musst du mal meiner Entscheidung folgen.“ sagte Beatrix und lachte, „Dass du nicht zu uns ziehen willst, kann ich ja verstehen, aber mit dem Zim­mer für dich, das hätte doch nur Vorteile. Wir würden es so ähnlich einrichten wie bei mir und würden uns dann in deinem Zimmer treffen. Wir hätten alles zur Hand und könnten uns jederzeit jedes Buch ansehen. Bitte, sag nicht vor­schnell nein. Es kostet dich doch nichts.“ schlug Beatrix vor. Was mir alles durch den Kopf lief, weiß ich nicht genau, jedenfalls kam ich zu dem Schluss, dass es doch nichts ausmachen würde, bei Beatrix ein Zimmer zu haben. Wir gingen in zwei Möbelhäuser und suchten alles aus. Ich bekam einen großen Fu­ton mit weicher Matratze und nicht für Yogis auf der Reise ins Nirwana. Kleine Schränkchen und Regale hab es. Natürlich bekam ich auch einen Fernseher und ein iBook, denn immer meinen Laptop mitzunehmen, war ja nicht zumut­bar. Einen Schlüssel bekam ich auch und wurde offiziell Frau Fender vorge­stellt. Wir hatten uns zwar früher auch schon gesehen, aber da war es wohl nicht nötig gewesen. Im Nachhinein war ich mir äußerst unschlüssig, ob es richtig war, was ich gemacht hatte. Keine Beziehung mit Beatrix wollte ich, jetzt hatte ich ein Zimmer bei ihr. Ich mochte sie ja, und es gefiel mir, mich mit ihr zu unterhalten, aber ich wollte keinesfalls Liebesempfindungen aufkom­men lassen. Andere wissen nicht, wie man es ermöglicht und ich wusste nicht, wie es zu verhindern war. Als ich zum ersten mal zu Beatrix kam, standen wir in meinem Zimmer und grinsten uns an. „Bist du zufrieden?“ fragte Beatrix, „Ganz nett, aber die Wände sind völlig kahl. Was brauchst du denn, Poster von heißen Schlitten oder von nackten Frauen?“ Wir lachten. „Möchtest du denn Bilder haben? Hast du selbst welche? Sonst habe ich noch eine ganze Reihe Kunstdrucke, da können wir uns ja welche aussuchen und sie rahmen lassen. Bea holte den Espresso und wir legten uns auf den Futon. Ich erzählte ihr, dass ich versucht hätte, unser damaliges Leben möglichst aufrecht zu halten. „Mei­ne kulturelle Kompetenz hat sich mittlerweile gewaltig erweitert.“ erklärte ich. Zu Anfang sahen wir uns recht selten, etwa in dem Turnus, wie wir uns bei mir getroffen hatten. Die Besuche wurden jedoch häufiger. Wenn es uns gefiel, zu­sammen zu sein, warum sollten wir es dann nicht tun? Ein wenig anders war die Atmosphäre schon, aber es dauerte nicht lange, bis wir uns wieder so häu­fig wie früher trafen. Die alte epikureische Regel zur Steigerung der Eudeimo­nia war auch wieder in Kraft getreten. Wir schauten wieder eng aneinander lie­gend gemeinsam Fernsehen und streichelten uns dabei. Manchmal, wenn es spät geworden war, oder wenn wir etwas getrunken hatten, schlief ich auch in meinem Zimmer bei Beatrix. Zwei entscheidende Änderungen gab es jedoch. Wir küssten uns nicht und das Wort Liebe war tabu. Als wir dicht aneinander lagen erzählte ich: „Weißt du, was Juliane gesagt hat? Sie hätte schon am Abend nach der ersten Oper in unseren Blicken erkannt, dass wir beide uns wollten.“ „Tscha, was willst du machen?“ Bea darauf, „Wenn irgendetwas, das ich als Mann erkenne, erotische Gefühle in mir auslöst, dann bist du das. Und bei dir, wie ist es bei dir?“ wollte sie wissen. „Ich weiß nicht, ob ich etwas spü­re. Vielleicht, aber ich kann es nicht genau erkennen.“ antwortete ich. Bea lachte laut auf. „Was erzählst du? Wenn es irgendetwas auf der Welt gibt, das du für eine Frau hältst, dann bin ich es. Von wem ist denn der Rücken und die Seite, die du streichelst? Ist das ein Rind? Und die Hüfte, auf die du zärtlich deine Hand legst, ist die von einem Elefanten? Dominique, du Träumer, komm auf die Erde, wo deine Füsse stehen und wo alles von dir ist.“ erklärte Bea ein­dringlich, umschlang mich und dabei kam es zum Kuss. Die alte Beziehung fortführen oder wiederbeleben, das wollte ich keinesfalls, und ich konnte mir auch selbst glaubhaft klar machen, dass es nicht so war. Für alle anderen stand jedoch dadurch, dass ich ein Zimmer bei Beatrix hatte, unverbrüchlich fest, unsere Beziehung müsse jetzt noch viel intensiver sein als früher. Ich wusste gar nicht, ob es so war, zumal wir uns jetzt auch wieder küssten, und das geschah immer häufiger und leidenschaftlicher. Wie eine Erlösung kam es mir vor, wieder Beatrix Lippen und ihre Zunge spüren zu können. Liebe durfte es ja nicht sein, Liebe, die enttäuscht und zerstört werden könnte, aber warum sollte uns denn irgendetwas daran hindern, die Gefühle unserer Zuneigung in­tensiv auszuleben. Barbara hatte ich inzwischen auch kennengelernt. „Als du es mir damals erzähltest, hatte ich schon Befürchtungen, du hättest pädophile Züge entwickelt, aber er ist ja doch ein richtig voll ausgewachsener Mann.“ er­klärte sie zu mir und lachte. „Ihr macht es richtig. Das Glück heute ist ent­scheidend. Ich bin ein verrücktes Huhn, entwickle immer aus dem Glück heute Erzählungen für die Zukunft, die dann nie zutreffen. Ich weiß es, aber kann's nicht lassen, wie die tumbe Braut, die denkt, dass es in zwanzig Jahren immer noch so schön sein wird wie heute.“ erklärte Barbara. Barbara war Wissen­schaftlerin. Sie sei für Männer grundsätzlich zu klug, hatte Beatrix gemeint. Sie hatte immer nur Beziehungen über zwei, drei Jahre. Barbara konnte ungemein lustig erzählen, sodass wir den ganzen Abend etwas zu lachen hatten. Ich glaube, kluge Frauen, die offen waren und Lust zu Lachen hatten, imponierten mir besonders. Ich stellte mir vor, dass ich mich auch gut in eine Frau wie Bar­bara hätte verlieben können, aber sie hätte mich ja auch nach zwei Jahren fortgeschickt. „Das ist nicht immer so.“ erklärte Beatrix, „Es werden zwar un­geheuer viele Ehen geschieden oder Beziehungen aufgelöst, aber es gibt auch das Gegenteil. Paare bei denen es einem so vorkommt, als ob die Beziehung im Laufe der Zeit immer enger und fester wird.“ „Philemon und Baucis, meinst du, nicht wahr?“ fragte Barbara nach. „Ja, in der Tat, das gibt es gar nicht so selten.“ Beatrix dazu. „Und wie macht man das?“ wollte Barbara wissen. „Frag mich nicht. Frag Dominique, der kümmert sich ja auch schon um eine ältere Frau.“ empfahl Beatrix. Ich ließ nur ein mahnendes „Bea!“ vernehmen. „Ich weiß es auch nicht, aber ich vermute, es hängt damit zusammen, wie profund und komplex die Beziehung ist.“ meinte Beatrix. „Also bei mir alles immer nur Oberfläche und Äußerlichkeiten? So ganz Unrecht hast du vielleicht nicht. Diese Selbstverständlichkeit und dies Gefühl von Wesensverbundenheit wie es zum Beispiel zwischen uns herrscht, das kann doch bei einem Mann gar nicht aufkommen.“ vermutete Barbara. „Ich weiß es nicht, aber das kommt doch auf den Mann an, und welches Bild du von ihm hast.“ entgegnete Beatrix. „Also zwischen euch beiden ist die Wesensverbundenheit voll gegeben.“ konstatierte Barbara und lachte.


Wesensverbundenheit

Unsere Wesensverbundenheit äußerte sich zur Zeit darin, dass wir viel häufiger schmusten und küssten. Zur Oper ging Beatrix aber trotzdem nicht mit. Das hätte den Anschein erweckt, als ob alles wieder wie früher sei. Wenn ich ganz ehrlich gewesen wäre, hätte ich mir auch eingestehen müssen, dass es in Wirklichkeit so war, aber ich wollte es als neue Entwicklung sehen, als neue Beziehung zwischen einem veränderten Dominique und einer anderen Beatrix. Gelogen war das auch nicht. Entwickelt und verändert hatten wir beide uns schon und unsere Beziehung hatte sich ja auch in der Tat aus anfänglich zö­gerlichen Gesprächen neu entwickelt. Wir küssten und liebkosten uns jetzt schon etwa ein viertel Jahr wieder. Wir hatten Fernsehen geschaut und ein we­nig Wein dabei getrunken. Das Fernsehen störte. Wir waren mit uns selbst be­schäftigt. Das konnte schon mal geschehen. Dann dominierten meine Empfin­dungen für Barbara und ihre Wahrnehmung meinen Gefühlshaushalt. Sie zu fühlen, sie zu erleben, für alles andere waren meine Sinnesorgane nicht an­sprechbar. Wir waren in unsere Liebe, in unsere Zuneigung, in das Glück unse­rer Gemeinsamkeit versunken. Meine Welt bestand dann nur noch aus Beatrix und für Beatrix existierte wohl nur ich. Dann legten wir oft die Arme umeinan­der, befühlten die oder den anderen und streichelten uns. Dass es sich besser anfühlt, Beatrix Haut zu streicheln, als die Hand über den Stoff ihrer Bluse glei­ten zu lassen, war ja keine neue Erfahrung. Warum sollte ich dann mit meiner Hand unter Beatrix Bluse ihren Rücken streicheln? Sie zog sie aus. Ich zog mein T-Shirt aus. Beatrix legte ihre Wange an meine Brust und küsste sie. Wahrscheinlich fanden wir uns gegenseitig wunderschön. Es war ja eigentlich nichts besonders, aber jedesmal, wenn wir ein weiteres Kleidungsstück auszo­gen, küssten und liebkosten wir uns intensiv. Als wir schließlich ganz nackt wa­ren, umschlangen wir uns, pressten uns aneinander und hielten uns, als ob wir uns gar nicht wieder loslassen wollten. Glänzend und mit staunender Mimik blickten wir uns an. Gefühle, wie wir sie nicht hatten erahnen können. Liebko­send nannten wir gegenseitig den Namen des anderen und streichelten und massierten uns dabei. Das musste die Höchstform des Wohlempfindens sein. Aufregend war es und Erregung vermittelte es ebenfalls. Mit hochrotem Kopf sagte Beatrix: „Ich will es ja auch, Dominique, aber vielleicht weiß ich gar nicht mehr, wie es geht. Du bist ganz behutsam, ja?“ Beatrix lachte immer. Ob sie es auch als kitzelig empfand, oder lag es an der Erregung? „Dominique, oh Do­minique, oh Dominique.“ sagte sie anschließend und um­schlang meinen Kopf, strich mir durchs Haar und küsste mich auf Stirn und Augen. Nach einer Pause meinte Beatrix leise, fast verschämt: „Das machen wir nochmal, nicht wahr?“ „Nochmal geht nicht. Es wird anders sein, vielleicht noch viel schöner.“ erklärte ich dazu. „Du musst sagen, wenn du es nicht möchtest, aber sollen wir nicht zum Schlafen zu mir gehen, da ist es doch viel gemütlicher.“ wünschte Beatrix. Ich hatte es ja zwischendurch nie versucht, aber jetzt war einfach nichts mehr da, keinerlei Aversionen vor Bea­trix Bett. Aneinander gekuschelt, die Zudecke hochgezogen lagen wir wonne­versunken, glücklich in Beas Bett. Leise sagten wir uns noch zärtlich Bewun­derndes bis wir verstummten und uns vom Schlaf entführen ließen. Nie hatte ich Bea oder sie mir ein Wort von Liebe gesagt, jetzt hatten wir unbeabsichtigt unsere Hochzeitsnacht gehabt.


Neue Wirklichkeiten

Beim Wachwerden weckten wir uns gegenseitig. Beim ersten Augenaufschlag sahen meine Augen heute Beatrix. Sie lächelte noch halb im Schlaf. Nicht ein grässlicher Wecker, der dich quälend aus dem Schlaf reißen will, sondern eine milde, warme Sonne, deren Blick mich sanft streichelte, hatte mich geweckt. Wir befühlten uns vorsichtig wie eine große Kostbarkeit, unser höchstes Gut. Bea richtete sich halb auf, stützte sich auf meine Schultern und blickte mir tief in die Augen, als ob sie al­les in meinem Innersten erkennen wolle. Nach kurz­em, von mildem Lächeln begleiteten Blick wurden ihre Augen feucht und sie be­gann zu weinen. Beatrix weinen, das hatte ich noch nie gesehen. Ich zog sie zu mir runter. „Was ist geschehen? Warum weinst du, meine Liebste?“ wollte ich wissen. „Ich weiß es nicht, es ist alles. Das Glück ist so unfassbar und groß, dass ich viel zu klein bin, um es voll aufnehmen zu können. Es ist der absolute Gipfel. Alles ist plötzlich neu und verändert. Wir haben es uns so kompliziert und schwer gemacht mit unseren Geboten, Bestimmungen und Sichtweisen, und jetzt hat sich plötzlich alles aufgelöst, ist alles futsch, existiert nicht mehr. Völlig frei sind wir jetzt. Wir sind einfach nur zwei ganz normale, glückliche Menschen ohne irgendwel­che Einschränkungen, was sein oder nicht sein dürf­te, aber du bist mein leuch­tender Glücksstern, der mich um zwanzig Jahre jün­ger gemacht hat.“ erklärte Beatrix. „Bea, sag doch, bitte, so etwas nicht. Du bist so alt, wie du bist, und das ist wunderschön.“ entgegnete ich. „Aber mein leuchtender Glücksstern in der Dunkelheit bleibst du doch.“ Beatrix darauf. Ich lächelte und erklärte dazu: „Dann bist du meine einzigartige Sonne, die alles zum strahlen bringt, wo sonst Finsternis herrschte.“. „Genau, die dunklen Zei­ten der Finsternis sind jetzt endgültig vorbei und vergessen, ist es so?“ wollte Bea wissen. „Wir haben sie endgültig vertrieben. Es ist heller, klarer Tag ge­worden.“ bestätigte ich, „Aber was würdest du davon halten, wenn Sonne und Stern jetzt dringend einen Kaffee gebrauchten?“ „Alles kön­nen wir machen, was wir wollen, wir sind völlig frei. Auch Kaffee können wir machen. Aber, Do­minique, ich bin in einer derartigen Hochstimmung, ich möchte ein großes Fest machen, mit allen Leuten, alle sollen es wissen.“ er­klärte Beatrix. „Aber Liebs­te, was sollen denn alle Leute wissen? Dass wir mit­einander geschlafen haben? Dass wir jetzt verheiratet sind, oder was?“ fragte ich scherzend. „Du Schelm, einfach nur, dass wir total glücklich sind. Dass wir jetzt im Paradies wohnen. Dass wir ein neues Haus bezogen haben. Dass bei uns jetzt alles ganz anders ist.“ schlug Bea vor. „Das wird aber niemanden in­teressieren. Die Leute wollen nur hören, das alles wieder wie früher ist.“ mein­te ich dazu. Beim Kaffee be­stand Beatrix nochmal darauf: „Ich fühle mich aber in der Tat anders. Du kannst zwar das Alter nicht ändern, aber das Empfinden ist nicht starr. Sollen wir gleich wieder ins Bett gehen? Es ist alles so neu, so faszinierend, so über­wältigend schön für mich, oder hast du keine Lust, mit so einer alten Frau zu schmusen?“ „Be-a-trix!“ fauchte ich, „Was soll das? Du tust mir weh, wenn du so redest. Das möchtest du das gern, nicht wahr?“ „Dominique, ich weiß doch, dass du mich über al­les in der Welt liebst, aber mein Körper ist eben nicht mehr der jüngste, at­traktivste, das ist einfach so.“ entgegnete Bea­trix. „Du spinnst, Bea, dein Kör­per ist für mich der schönste und attraktivste auf der Welt, weil du es bist, weil es keinen Menschen geben kann, der schöner wäre als meine geliebte Beatrix.“ erklärte ich. „Ich kann es alles gar nicht fas­sen. Träumen oder wünschen konn­te ich das nicht, und dann ist es einfach so ge­schehen. Meinst du, die Wirklich­keit ist stärker als alle Phantasie?“ fragte Bea­trix. „Du meinst, wir haben nicht Träume und Phantasien zu verwirklichen ver­sucht, sondern sind unseren wirkli­chen Gefühlen und Bedürfnissen gefolgt und haben dadurch eine neue Wirk­lichkeit geschaffen.“ interpretierte ich es. „Wer­den wir es in Zukunft immer so halten, Dominique, stets viele neue Wirklich­keiten schaffen?“ fragte Beatrix. Ich signalisierte Einverständnis, indem ich lä­chelte und meine Finger mit Beas Haar spielen ließ. „Man kann es natürlich im Voraus nicht wissen, das wäre ja Phantasie, aber wie schätzt du es denn ein, wird es sich zwischen uns eher zu einer endless Love entwickeln, oder wird dir zum Beispiel irgendwann die junge Frau Professor Juliane doch anregender er­scheinen als die alte Mutter?“ sprach Beatrix. „Bea, hör auf! Ich kann es nicht hören. Du findest offensichtlich doch Gefallen daran, mich zu quälen. Das steht eindeutig fest. Ich finde Frauen grundsätzlich anregend und aufregend, nur habe ich gleichzeitig auch Angst, denn du musst bei Frauen immer damit rech­nen, dass du mit deinen Phantasien völlig daneben liegst, und sich die Wirk­lichkeit total anders gestaltet.“ meinte ich und verstand es als Scherz. Beatrix blieb aber ernst. „Das ist vorbei, Dominique.“ ermahnte sie mich, „End­gültig und für immer ist das für uns vorbei. Das solltest du niemals vergessen.“ Als ich es gesagt hatte und natürlich durch Beas Bemerkung wurde mir deut­lich, dass man es auf unsere Erfahrungen beziehen konnte. Vorher hatte ich an ganz etwas anderes gedacht. Ein Zeichen dafür, wie deutlich es für mich wirk­lich vorbei war. An das Empfinden von Einsamkeit und an das Gefühl, mich in Trauer allein zu erleben, konnte ich mich kaum noch erinnern. Die neuen Wirk­lichkeiten überschlugen sich, jetzt war wirklich alles möglich. Beatrix nahm auch wieder an den Opernbesuchen teil. Erklären? Sollten wir sagen, es läge daran, dass wir miteinander geschlafen hätten? Das stimmte ja so auch nicht. Es lag an der Entwicklung, die dazu geführt hatte, dass es überhaupt möglich werden konnte und es vielleicht auch von unseren Gefühlen verlangt wurde. Alle Barrieren zwischen uns hätten wir abgebaut und alles Distanzierende über­wunden, sagten wir. „Dadurch sind wir uns näher gekommen als je zuvor. Das kann ich nur allen Frauen und Männern empfehlen. Sucht nach dem, was es ist, dass euch trennt und räumt es aus dem Weg.“ wusste ich als Liebesberater Ratschläge zu erteilen. „Weißt du, Dominique, das mag sich ja trivial ganz ver­nünftig anhören,“ meinte Juliane, „aber da ist mit Sicherheit noch viel anderes im Spiel, was du nicht benennen kannst oder willst. Rational vernünftig entwi­ckelt sich das nicht. Da ist immer ganz viel Untergründiges, Geister und Ge­spenster mit im Spiel.“ Ich machte sogar mit Beatrix einen Besuch bei meiner Mutter. Die beiden verstanden sich gut und lachten viel, sie hatten ja schließ­lich zwei gleichaltrige Söhne. Wer weiß, Mutter hatte ja auch von einem jungen Liebhaber gesprochen und Thommy suchte doch eine Freundin. Vielleicht su­chen ja nicht nur junge Frauen weise Männer, sondern genauso gut kann es vorkommen, dass junge Männer weise Frauen suchen. Genau durchschauen kann ich die Gründe immer noch nicht, sie sind vielfältig, aber mit Sicherheit gehört auch dazu, dass Menschen nicht allein sein wollen.

 

 

FIN

 

 

Für die Welt bist du irgendjemand,
aber für irgendjemand bist du die Welt.”


Erich Fried

 

Beim Kaffee bestand Beatrix nochmal darauf: „Ich fühle mich aber in der Tat anders. Du kannst zwar das Alter nicht ändern, aber das Empfinden ist nicht starr. Sollen wir gleich wieder ins Bett gehen? Es ist alles so neu, so faszinierend, oder hast du keine Lust, mit so einer alten Frau zu schmusen?“ „Be-a-trix!“ fauchte ich, „Was soll das? Du tust mir weh, wenn du so redest. Oder möchtest du das gern?“ „Dominique, ich weiß doch, dass du mich über alles in der Welt liebst, aber mein Körper ist eben nicht mehr der jüngste, attraktivste, das ist einfach so.“ entgegnete Beatrix. „Du spinnst, Bea, dein Körper ist für mich der schönste und attraktivste auf der Welt, weil du es bist, weil es keinen Menschen geben kann, der schöner wäre als meine geliebte Beatrix.“ erklärte ich. „Ich kann es alles gar nicht fassen. Träumen oder wünschen konnte ich das nicht, und dann ist es einfach so geschehen. Meinst du, die Wirklichkeit ist stärker als alle Phantasie?“ fragte Beatrix. „Du meinst, wir haben nicht Träume und Phantasien zu verwirklichen versucht, sondern sind unseren wirklichen Gefühlen und Bedürfnissen gefolgt und haben dadurch eine neue Wirklichkeit geschaffen.“ interpretierte ich es. „Werden wir es in Zukunft immer so halten, Dominique, stets viele neue Wirklichkeiten schaffen?“ fragte Beatrix. Ich signalisierte Einverständnis, in dem ich lächelte und meine Finger mit Beas Haar spielen ließ.

 

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Tag der Veröffentlichung: 06.03.2015

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