Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Susa und die 7 Plagen der Endzeit

 

Mari, bist du lüstern?

 

Erzählung

 

 

«Wenn wir lieben, sind wir zeitlos, liegen bei den tiefsten Feuern,Sehen dann von Ferne bloß, dass die Lebensstunden sich erneuern.»

 

Max Dauthendey

 

„Aber eins musst du mir noch sagen. Ich dachte, es wäre selbstverständlich, dass ein Mann einer Frau etwas dazu sagt, aber du hast noch kein Wort darüber verloren. Du musst mir sagen, ob du mich für schön hältst, ich meine, ob du findest, dass ich gut aussehe.“ erklärte ich. Banale Komplimente machen, das zerbrach Mari die Zunge. Trotzdem hatte er mir schon viel Liebes und Bewunderndes gesagt. Mari lachte. „Denkst du, mit einer hässlichen Frau würde ich mich befassen?“ sprach er, was wohl witzig sein sollte. „Sag es richtig, Mari.“ forderte ich ihn auf. „Susa, schön, schön, was für ein dummes Allerweltswort. Das Wetter ist schön , mein Auto finde ich schön, es war eine schöne Geschichte an einem schönen Abend. Alles ist schön, wenn man's nicht genauer benennen kann.“ erklärte Mari. „Was windest du dich? Traust du dich nicht, weil du an mir etwas auszusetzen hast, oder ist es dir peinlich, mir zu sagen, dass du mich schön findest? Es gibt durchaus schöne und weniger schöne Frauen. Sie werden sogar zu Schönheitsköniginnen gewählt. Also los, sag schon.“ drängte ich Mari. „Mag ja sein, dass es allgemeine Schönheitskriterien gibt. Harmonisch Wirkendes, das dem goldenen Schnitt entspricht, wird meistens als schön empfunden, aber es sind immer subjektive Gefühle beteiligt. Einen Menschen, den ich liebe, erkenne ich immer als wunderschön. Da siehst du die Schönheit dann noch umfänglicher. Siehst auch die schöne Seele, das Gute im Menschen, das Schöne und das Gute, Kalós Kagathós.“ erklärte Mari. „Aha, schön und edel, so siehst du mich also auch. Das ist gut, dann bin ich wenigstens nicht mehr die einzige.“ meinte ich dazu. Mari lachte, umfing mich und wollte küssen. „Stopp, du musst mir zuerst noch eine andere Frage beantworten.“ bremste ich ihn. „Dass du mich magst und liebst ist ja klar, aber sag mal, begehrst du mich auch, hast du Lust auf mich, bist du lüstern?“ wollte ich wissen. Mari lachte sich wieder schief. „Lüstern, das hat eine Konnotation, die nicht passt, aber Lust aufeinander haben wir ja beide, sonst würden wir uns doch gar nicht treffen.“ erklärte er. „Nein, ich meine schon etwas anderes. Ob du bei mir erotische Empfindungen hast, ob du ein Verlangen verspürst?“ präzisierte ich. „Susa, ich habe dich vom ersten Moment an als Frau gesehen, aber das tut ja jeder. Meistens nimmst du es gar nicht wahr. Das war aber für mich bei dir nicht so. Ich sah fast nach den ersten Sätzen in dir eine wundervolle Frau, die auch mein Begehren erweckte. Wodurch sollte sich das bis heute geändert haben?“ antwortete Mari. „Armer Mari, leider muss dein Verlangen nach mir immer unerfüllt bleiben. Aber das ist doch auch nicht schlimm. Die Begierde und das Verlangen vermitteln doch das wundervolle Gefühl, wenn sie befriedigt sind, ist das herrliche Gefühl futsch.“ tröstete ich Mari. „Du meinst, die Freude auf den Schokoladenpudding ist das Schöne. Wenn du ihn gegessen hast, ist die Freude dahin. Daher am besten den Pudding nie essen.“ verstand mich Mari. „Ich bin aber nicht dein Schokoladenpudding.“ hielt ich fest. Marian und Susanna redeten nicht nur über Schokoladenpudding, sonst hätte es nicht dazu kommen können, was Susa vorher für eine der schlimmsten Plagen der Endzeit gehalten hätte.

 

 

Susa und die 7 Plagen der Endzeit - Inhalt

 

Susa und die Sieben Plagen der Endzeit 4

Klassenarbeit 4

Herr Neuber 4

Du bist zu faul Mari 6

Katharina und Manuel 8

Der kleine Frauenhasser 9

Heimlicher Verehrer 10

Ernst des Lebens 12

Love a woman correctly 13

Komplexität der Liebe 14

Weihnachtsfeier 16

Maris Freundin 17

Brautwerbung 18

Stilles Glück 21

Andere Weise menschlichen Daseins 23

Susas Liebhaber 24

Susa küssen und sterben 25

Rollenerwartungen oder Lebensrausch 30

Alle Himmel öffnen ihre Tore 32

Das Schweigen der Weisen 36

Welch ein Wunder 40

Liebe älter als Denken 46

Gefühle und Leidenschaften 47

 

 

Susa und die Sieben Plagen der Endzeit - Klassenarbeit

Unter die sieben Plagen der Endzeit konnte man es nur schwerlich subsumie­ren, was mich quälte, aber ich litt jetzt und nicht erst beim Weltuntergang. Im Grunde war es ja eine Lappalie, alle mussten es machen, aber ich bin kein Mensch, dessen Wahrnehmung sich durch ritualisierte Wiederholung verändert. Es war und blieb eine dreistufige Widerlichkeit, die mir jedes mal die Lust am Tage raubte. Ich habe an der Universität eine akademische Ausbildung erhal­ten und bin nicht zum Polizeihund dressiert. Mit Argusaugen stundenlang auf­passen, dass keiner mogelt, kotzte mich bei den Klassenarbeiten an. Am schlimmsten war es, wenn man jemanden erwischen musste. „Max, was soll ich denn jetzt machen? Soll ich dir „Täuschungsversuch: Ungenügend“ unter deine Arbeit schreiben? Es mag ja sein, dass ich ein gutmütiger Mensch bin, aber wenn du mich für völlig blöd hältst, können wir keine Freunde mehr sein.“ machte ich dem Jungen klar. Er fing an zu plappern und sich zu entschuldigen. „Max, hör auf zu palavern, du fängst gleich an zu weinen. Ich will das nicht hö­ren. Dass alle Jungs eigentlich gute Jungs sind, das weiß ich doch, nur manch­mal klappt das eben nicht so richtig. Wir stellen das Lexikon jetzt auf die Fens­terbank neben dir, als Warnung, damit du nie wieder auf so dumme Gedanken kommst.“ ermahnte ich. Den Kindern Englisch beibringen sollte ich, aber nicht solche Spielchen machen. Das war nicht meine Profession. An Ödheit und quä­lender Langeweile war das Korrigieren der Klassenarbeiten nicht zu überbieten. Trotzdem musste ich immer hoch konzentriert sein. Ich übersah ja bei mir selbst alle Fehler. Bei der Rückgabe der Arbeiten musste man über sadistische Ambitionen verfügen, wenn man Gefallen daran finden sollte, den Kindern ihre schlechten Ergebnisse unter die Nase zu reiben. Ich fühlte mit ihnen und litt vielleicht vielmehr selbst, als das Mädchen, das eine mangelhafte Arbeit zu­rückbekam. Ich mochte die Kids. Kinder beim Aufwachsen erleben zu dürfen, ist ein großes Glück, das gilt für meine eigenen und für die in der Schule nicht weniger. Ihr Zutrauen, ihre offene, direkte Art, sich die Welt anzueignen und ihre nicht selten verqueren Vorstellungen und Ideen bereichern und beglücken meine Tage. Ob ich Lehrerin bin oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Nicht we­nige Kolleginnen und Kollegen halten Schülerinnen und Schüler für eine beson­dere Spezies unserer Gattung und vermuteten eher, dass es sich bei ihnen um die in der Apokalypse nicht aufgeführte, achte Plage der Endzeit handeln könn­te.

 

Herr Neuber

Geschafft! Erst mal wieder für einige Zeit Pause. Ich hatte die Arbeiten zurück­gegeben. Frei, locker, entspannt fühlte ich mich, aber ich konnte ja nicht tan­zen. Vor allem, was hätte der junge Kollege wohl gedacht, der neben mir an der Kaffeemaschine stand. Ich kannte ihn gar nicht, hatte von der Vorstellung damals nur behalten, dass er bei uns seine Referendarausbildung machte. „Na, heute schon tüchtig ausgebildet?“ pflaumte ich ihn an. „Oh, ja, doch, das kann man schon sagen.“ antwortete er und lachte dabei. Jetzt sah er richtig süß aus, wenn er sprach und lachte. Nein, Quatsch, Männer sehen nicht süß aus. Aufgeweckt, lebendig wirkte er, und seine Mimik strahlte warme Freundlichkeit aus. Sonst zeigte sie eher triste, lethargische Züge. Ich fragte ihn, bei wem er denn in der Ausbildung sei. Wir stellten uns mit dem Kaffee ans Fenster. „Und, alles in Ordnung, keine Probleme?“ fragte ich. „Nein, ist schon alles o. k. so.“ antwortete er lapidar. Bestimmt gäbe es da Unstimmigkeiten. Frau Stegmüller, seine Ausbildungslehrerin, galt unter Kollegen nämlich nicht als eine Person, die besonderen Liebreiz versprühte. „Sie sind so ein kräftiger, junger Mann, aber sie machen immer eine Mine, als ob sie sich eher schlapp fühlten und von Problemen gequält wären.“ sagte ich mal einfach leicht provozierend. Der junge Mann lachte auf. „Kräftig mag ich ja sein, aber ich bin nicht stark.“ verkündete er. Mein fragendes Gesicht forderte ihn auf, es zu erläutern. „Wer andere besiegt hat Kraft. Stark ist, wer sich selbst besiegt.“ erklärte er und lachte. Ich musste auch lachen, obwohl es ja gar nicht lächerlich war. „Aber ein Philosoph sind sie, da seien sie doch froh. Das zählt heute ja viel mehr als physische Stärke.“ wusste ich dazu. „Frau …, sie müssen mir helfen, ich habe ihren Namen vergessen. Ich höre nur, dass die anderen sie alle Susa nennen.“ begann der junge Mann. „Genau, Susa, das ist richtig, und das reicht. So heiße ich.“ machte ich deutlich. Der junge Mann stutzte leicht und meinte: „O. k., dann heiße ich Māri.“ „Wie das? Marie ist doch ein typischer Frauenname.“ wand ich ein. „Nein, nicht doch Marie mit Betonung auf dem Dehnungs ie. Māri mit Betonung auf dem a. Es ist eine Abkürzung für Marian, so heiße ich offiziell, aber solange ich weiß, nennen mich alle nur Māri. Vielleicht habe ich mir als kleines Kind den Namen selbst gegeben.“ erläuterte Mari. „Oder die Mami hat gesagt: „Ei du, mein süßer, kleiner Mari.““ schlug ich vor und lachte. Mari grinste, aber was in dem tiefen Blick lag, den er mir schenkte, wusste er wahrscheinlich selbst nicht genau. Einen Drang, meine Befreiung von der Klassenarbeitsqual körperlich durch tanzen ausagieren zu wollen, verspürte ich zwar nicht mehr, aber irgendeine Art von Lust, jetzt nicht total ernst und geschäftig zu sein, existierte schon noch. „Mari, du hast mir noch nicht erklärt, warum du dich nicht stark fühlst.“ wünschte ich Erläuterndes. „Um physische Stärke geht’s doch nicht, das ist Kraft. Mentale, psychische Stärke, ein klarer, starker Wille, das ist das Entscheidende.“ Mari dazu. „Und du hast dich selbst nicht in der Gewalt. Wieso, was machst du denn, trinkst du, nimmst du Drogen, oder kannst du nur nicht aufhören zu rauchen?“ erkundigte ich mich. Mari lachte laut. „Sie lachen mich aus.“ beschwerte ich mich. „Du!“ sagte Mari. „Wieso, was ist?“ ich verstand nicht. „Du lachst mich aus.“ korrigierte Mari. „Ja, das auch.“ reagierte ich und lachte. Warum? Schrecklich lustig war das Gespräch eigentlich gar nicht, aber es schwebte eine Atmosphäre zwischen uns, als ob sowohl meins als auch Maris Zwerchfell darauf wartete, aktiv werden zu dürfen. „Dann sag doch, was dich quält, oder ist das zu intim. Du musst es ja nicht sagen.“ forderte ich Mari auf. „Alles, nein, es ist mein Beruf. Lehrer will ich eigentlich gar nicht sein. Den Kindern die Welt erklären, und ihnen sagen, wie sie sich darin zu verhalten haben, das kann nicht meine Lebensaufgabe sein. Nur ich bin eben nicht stark genug, mich zu entscheiden.“ erklärte Mari. „Du hast dich aber doch schon entschieden. Warum hast du's dann gemacht? Was hättest du denn lieber machen wollen?“ fragte ich ihn. „Alles Mögliche hätte ich machen können. Aber das ist ja die Krux mit diesem ganzen widernatürlichen Berufesystem.“ Mari darauf. „Was? Das musst du mir aber noch erklären, mit den widernatürlichen Berufen. Nur müssen wir wieder rein. Bist du gleich noch da? Treffen wir uns dann wieder hier?“ fragte ich ihn. Sonderbar, ich fühlte mich schon erlöst nach der Klassenarbeit, aber das beschwingte Gefühl hielt an. Ich hatte Lust auf Jux und Albernheiten. Bestimmt würde ich gleich Schüler veräppeln wollen. „Aber Frau Rebmann!“ würden sie mich ermahnen. Eine Studienrätin hat ernst und vernünftig zu sein. Als verantwortungsvolle, erwachsene Frau darf man keine Lust auf Jux und Quatsch haben? Was machen sie denn im Karneval? Auch wenn mir das eigentlich gar nicht lag. Die Klassenarbeit wäre längst vergessen, es musste mit der Pause zu tun haben. Es war ja nichts geschehen. Ich hatte Mari kennengelernt und mit ihm ein paar Worte gewechselt. Warum es bei mir so eine wohlige Stimmung hinterließ, kann ich gar nicht benennen. Na ja, süß, nein angenehm war mir Mari schon vorgekommen. Er hatte sich auf meine launige Gefühlslage eingelassen und konnte sich freuen und lachen.


Du bist zu faul Mari

„Frau Rebmann sind sie, nicht wahr, Susanna Rebmann?“ begrüßte mich Mari, als ich in der nächsten Pause wieder ins Lehrerzimmer kam. „Ist das Teil dei­ner Ausbildung, so einen Unsinn zu erforschen? Habe ich dir nicht gesagt, wie ich heiße? Reicht das nicht?“ reagierte ich möglichst ernst, aber so absolut ernst, das ging gar nicht. „Entschuldigung, ich werde nichts Weiteres mehr er­forschen.“ erklärte Mari lachend, „Für Frau Stegmüller bin ich immer der Herr Neuber, auch wenn sie sich mit anderen Kolleginnen duzt. Herrin und Knecht haben wahrscheinlich immer die Form zu wahren.“ „Du hast gesagt, die Berufe seien alle widernatürlich. Das musst du erklären.“ forderte ich Mari auf. „Nein, nicht alle Berufe sind widernatürlich, sondern das System. Schau mal, wenn ein Elefantenbaby geboren wird, gibt es nur die eine Perspektive, Elefant zu werden. Nirgendwo im Tierreich, auch nicht unter unseren nächsten Verwand­ten, den Menschenaffen, gibt es so etwas wie Berufe, und unsere Ur-Ur-Vor­fahren, die Frühmenschen kannten auch keine Berufe.“ erklärte Mari. „Und was meinst du, wie ist das Übel der Berufe in die Welt gekommen?“ wollte ich von ihm wissen. „Na ja, die einen sind fischen und jagen gegangen, sie mussten für das Eiweiß sorgen. Das waren die Männer. Und die anderen sammelten Obst und Gemüse. Das waren die Frauen.“ erläuterte Mari. Kurios war es ja schon, was Mari sagte, aber auch wie er es sagte. Immer begleitet von einem Lächeln, als ob er es selbst nicht ernst nahm. „Da meinst du, ist schon ganz zu Anfang, zu Urzeiten der Unterschied in Berufen für Frauen und Männer festgelegt wor­den. Ist das denn auch evolutionär genetisch so verankert?“ erkundigte ich mich. „Eine schlimme Entwicklung nahm es ja erst, als die Leute sesshaft wur­den. Da konnte plötzlich jede und jeder das eine oder das andere besonders gut.“ fuhr Mari fort. „Ja, ich verstehe, für die Schläge mit dem Hammer als Schmied war der kräftige Mann besser geeignet, und als Putzmacherin für die eleganten Hüte der Damen eignete sich die Frau besser.“ kommentierte ich und konnte mich vor Lachen nicht halten. „Heute ist alles durcheinander. Jede und jeder kann alles werden. Es gibt überhaupt keinen irgendwie gearteten na­türlichen Bezugspunkt mehr.“ meinte Mari. Ich schaute ihn mir tief prüfend an. Wir grinsten beide. Mari schien etwas zu ahnen. „Sag mal, ist dir eigentlich be­wusst, was für einen absoluten Schwachsinn du redest?“ fragte ich, und lachte schon. Sein „Wieso?“ hatte sicher nicht die Funktion, das von mir Gesagte anzuzweifeln. Maris Intonation und die begleitende Mimik signalisierten eher, dass es im Spaß machte. „Mari, wie kommst du eigentlich darauf, dass ausgerechnet ich und ausgerechnet heute an so etwas Gefallen finden könnte?“ wollte ich von ihm wissen. „Das weiß ich doch auch nicht, Susa. Ich kenne dich doch gar nicht. Es wird sich intuitiv mit Wechselwirkungen so entwickeln. Wenn du etwas sagst, dann nehme ich dich auf mit allem, was sich mir zu erkennen gibt und versuche einfühlend darauf zu reagieren. Bei dir wird es ähnlich laufen. Aber das geht alles intuitiv, gedacht oder geplant habe ich nichts dabei. Bei Frau Stegmüller wäre es sicher niemals zu so einem Gespräch gekommen.“ erklärte es Mari. „Aber die Susa, hast du gespürt, dass ist so eine alte Juffernnudel, der kann man so einen Blödsinn erzählen.“ mutmaßte ich. „Susa! Bitte, sprich nicht so. Ich halte dich für eine …. Nein, das sag ich nicht. Ich kenne dich doch überhaupt nicht.“ ermahnte Mari mich, aber sein warmer, freundlicher Blick und seine wohlig lächelnde Mimik übermittelten das Kompliment, das er nicht aussprechen wollte. Offensichtlich gefiel es ihm, mit mir so reden zu können. „Aber, dass du eigentlich gar nicht Lehrer sein willst, das stimmt doch, oder? Willst du da denn mal ernsthaft etwas zu sagen, oder ist dir das eigentlich gar nicht so wichtig?“ fragte ich. „Doch, doch, weißt du, ich habe mich für so vieles interessiert, Philosophie, Kunst, Musik, Literatur und Schauspiel und Theater. Das war mein Leben, meine Liebe. Jetzt soll ich mich plötzlich entscheiden, und mein Leben lang nur noch eins machen. Insofern ist das schon unnatürlich.“ erklärte Mari. „Du hättest es lieber gehabt wie beim Elefantenbaby. Als Lehrerkind geboren, und damit wäre alles klar gewesen.“ legte ich Mari nahe. Der zog eine Grinseschnute und immer dieser Blick, der einerseits mein Zwerchfell kitzelte, aber gleichzeitig auch freundlich, sanft war und Wohlempfinden vermittelte. „Nein, ich hatte mich am intensivsten mit Literatur und Drama befasst, und was studierst du dann? Germanistik.“ erklärte Mari. „Aber was ist denn daran widernatürlich, und warum hast du's getan?“ erkundigte ich mich weiter. „Das Studium war doch auch zum größten Teil absolut interessant, nur was hast du denn hier damit zu tun? Die winzige Spitze eines riesigen Eisbergs gebrauchst du hier davon, und das andere wird unwiderruflich mit der Zeit dahin schmelzen. Du wirst zum Pauker, und der Germanist verschwindet.“ erläuterte Mari. „Dann hättest du nicht in die Schule gehen dürfen.“ meinte ich dazu. „Als frei schaffender Germanist? Tolle Perspektiven erwarteten dich da.“ reagierte Mari. Ich kannte Mari ja wirklich nicht, und auch, wenn ich ihn mir genau anschaute, erschloss sich mir nicht alles. „Alle Menschen möchten gern glücklich sein, na klar, aber sie haben auch noch etwas anderes. Sie verspüren eine Art energetisches Drängen, möchten etwas erreichen. Ich sage mal, sie haben so etwas wie eine Art Biss. Darüber verfügst du aber nicht, nein?“ erkundigte ich mich. Mari lachte sich schief. „Susa, was soll das? Was willst du?“ fragte er. „Schau mal, die Welt ist voller Germanisten. Du musst ja nicht eine Praxis eröffnen mit einem Schild am Hauseingang „Marian Neuber, Germanist, dritte Etage“. Überall sind Germanisten beschäftigt, vielleicht draußen viel mehr als in der Schule. Regisseure und Dramaturgen am Theater sind meistens Germanisten. In den Sendern wimmelt es von Germanisten und auch die Redakteure in den arrivierten Zeitungen haben meistens ein Germanistikstudium absolviert. Bei den Verlagen sind viele Germanisten beschäftigt, und wenn du Geschichten, Erzählungen und Romane schreiben willst, ist ein Germanistikstudium sehr zu empfehlen.“ machte ich Mari klar. Mari widersprach dem nicht. Er formte nur eine skeptisch, zweifelnde Mimik. „Lehramt ist am bequemsten und sichersten, nicht wahr? Du bist zu faul, Mari, das ist es.“ diagnostizierte ich. Mari lachte wieder. „Wenn das ganze Kollegium nur aus Susas bestünde, könnte mir Schule vielleicht doch Spaß machen.“ konstatierte er.


Katharina und Manuel

Ob wir es beide nicht ernst meinten, was wir sagten? Doch, im Grunde schon, aber um eine nüchterne, ernste Diskussion handelte es sich auch nicht. Mit wem redete ich denn sonst so? Von den Kolleginnen und Kollegen mit nieman­dem. Mit Hellen, meiner Freundin, konnte es auch schon mal dazu kommen, dass wir alberten, aber das war sehr selten und ganz anders. Mit den Kindern kam es auch öfter zu Jux und Albernheiten, aber mit der Gesprächssituation zwischen Mari und mir war das nicht zu vergleichen. „Mami, dir geht’s gut, nicht wahr?“ vermutete Katharina oder Kathi, meine Tochter, als ich nach Hau­se kam. Beim Schmusen als kleines Kind hatte ich sie mal meine kleine Raub­katze genannt. Wir hatten über den Unterschied zwischen Hund und Katze ge­sprochen, und ich hatte ihr empfohlen, dass eine Frau immer wie eine Raub­katze sein müsse. Seitdem hörte sie es gern, wenn ich sie Katze nannte, und bei manchen Freundinnen, die aber gar nicht wussten warum, hieß sie auch so. „Schon möglich. Ich weiß nicht.“ reagierte ich. „Worüber freust du dich denn?“ wollte Kathi wissen. „Das weiß man doch meistens nicht. Die Glückshormone machen das.“ erklärte ich. „Das sind keine Hormone. Neurotransmitter heißen die.“ machte Kathi mir klar. „Oh! Ich dachte, ich sei so eine kluge Frau, aber Katze weiß alles.“ staunte ich. „Hast du Lust auf 'nen Tee? Sollen wir uns einen Tee machen?“ schlug ich vor. „War's heute gut in der Schule, hast du was Schönes erlebt?“ fragte Kathi nach. „Stell dir vor, ich habe heute bei uns an der Schule einen Lehrer kennengelernt, der gar kein Lehrer sein will, lustig nicht?“ erzählte ich. „Selbst Schuld.“ kommentierte Kathi nüchtern. Lustig war es ja auch gar nicht. Ich fand Mari lustig. Offensichtlich hatte das Gespräch mit Mari meine Stimmung anhaltend aufgehellt. „Die ist immer leicht unterschied­lich, die Gefühlslage, aber miesepetrig bin ich doch nie, oder?“ meinte ich. Ka­thi schüttelte den Kopf. „So vieles kann auf die Produktion der Neurotransmit­ter Einfluss haben, selbst das Wetter.“ fügte ich hinzu. „Ja, und zum Beispiel Marathonläufer sind nachher völlig erschossen aber total glücklich.“ steuerte Kathi bei. „Und, soll ich dir mal was verraten?“ begann ich geheimnisvoll, „Beim Sex ist das so ähnlich.“ Kathi sagte nichts. Sie schmunzelte nur und schenkte mir einen tiefen, bedeutungsschweren Blick. „Aber darum geht’s ja nicht. Darüber haben wir ja schon öfter gesprochen.“ fügte ich hinzu. Kathi war elf Jahre alt. Mit ihr konnte ich vertraulich und offen über Sex und Liebe reden. Mit Manuel, ihrem Bruder, der zwei Jahre älter war, sprach ich natürlich auch darüber, aber es war nicht so selbstverständlich, frei, offen und vertraulich. Für den kleinen Jungen schien es schon unbewusst nicht bedeutungslos zu sein, dass ich eine Frau war, und er sich als kleiner Mann fühlte. Das wird bei den Jungs wahrscheinlich im Kindergarten schon beginnen, dass sie anfangen, sich mit ihrer Männerrolle zu identifizieren. Da werden sie schon spüren, das es lu­krativer ist, ein Junge zu sein. Dirk, mein Mann, hatte sich sehr unter Kontrolle und zeigte keinesfalls machohafte Züge, aber seine Rollenidentifikation als Mann war fest und unverbrüchlich. Bei Mari heute, war mir das gar nicht bewusst geworden. Das fiel mir erst jetzt auf. Natürlich hatte ich gesehen, dass er ein Mann war, aber er war mir eher in der Rolle eines Spielkameraden erschienen.


Der kleine Frauenhasser

„Gleich wieder in der Pause?“ fragte Mari nach der Begrüßung, als ich ihn vor Unterrichtsbeginn traf. Wieso das denn? Hatten wir etwas zu besprechen ver­gessen? Aber warum nicht? Sonst würde ich mit jemand anders irgendwelches Schulgewäsch austauschen, über Schüler oder die eigenen Kinder sprechen. Im Grunde jeden Tag der gleiche bedeutungslose Smalltalk. Das war mir noch gar nicht bewusst geworden. Es war eben so. Belangloses Gewäsch bei einer Tasse Kaffee in ritualisierter Form. Was Mari mir wohl erzählen wollte? Wahr­scheinlich ging er einfach davon aus, dass ihm der Kaffee mit mir besser schmecken würde als mit einer anderen Kollegin oder einem anderen Kollegen. „Und, schon viel stärker geworden?“ fragte ich ihn, als er in der Pause neben mir Platz nahm. „Was meinst du?“ sagte sein Blick. „Na, hast du schon zuge­nommen an Entscheidungsfreude, Entschlusskraft und Willensstärke, zum Bei­spiel.“ erläuterte ich. Was zur Folge hatte, dass Mari erst mal wieder lachte, aber das reichte mir ja schon. Sein Lachen klang nicht nur warm und freund­lich, mir gefiel auch sein lachendes Gesicht mit dieser leichten Andeutung von Grübchen auf den Wangen. Aber das ist ja grundsätzlich so, dass dich lachende Gesichter von Menschen selbst erfreuen. Warum tun sie es nur so selten? „Susa, wenn ich mit dir zusammen bin, ist mir meine Stärke völlig Wurscht. Dann fühl ich mich einfach wohl und stark bestimmt auch. Ich glaube, ich mag dich.“ erklärte Mari. Ich musste zuerst mal verwundert die Luft brausend aus­blasen. „Mari, geht das nicht zu weit? Aber andererseits entscheidest du ja schon beim ersten Blick, ob du den anderen magst oder nicht. Insofern mag ich dich auch, sonst hätte ich mich ja nicht mit dir unterhalten.“ erklärte ich. „Du betrachtest dein Leben von außerhalb, was gestern war und morgen sein wird. Unbedeutend wird das nicht sein, aber was dich emotional bewegt, ist, was hier und jetzt geschieht. Da kann dich eine erfreuliche Kommunikation mit einem anderen Menschen viel stärker bewegen, als alle deine Lebensperspekti­ven.“ erklärte Mari. „Genau, am stärksten ist es, wenn es sich um Liebe han­delt, dann vergisst du alles andere.“ bestätigte ich ihn. „Das Emotionale ist das Primäre, meinst du, und nicht das Rationale.“ vermutete Mari. „So platt würde ich das nicht einfach unterschreiben. Oder meinst du, wir wären völlig willenlos unseren Gefühlen ausgeliefert?“ entgegnete ich. „Die Neurowissenschaftler ha­ben doch herausgefunden, dass unser sogenannter freier Wille erst nach der erfolgten Entscheidung zum Zuge kommt.“ wusste Mari. „Ich glaube, das ist ein weites Feld, aber deine Entscheidungen erfolgen doch nicht ausschließlich auf Grund der Gefühlslage.“ gab ich zu bedenken, „Emotionale Beteiligung ist sicher immer gegeben, und da ist die Beziehung zu anderen Menschen das Stärkste, da stimme ich dir schon zu.“ „Ich müsste einen Intendanten gut ken­nen oder mich in eine Dramaturgin verlieben, dann würde ich sicher lebenslang am Theater bleiben wollen. Hast du dich denn in einen Lehrer verliebt?“ wollte Mari wissen. Ich musste schrecklich lachen. Die Vorstellung war mir noch nie in den Sinn gekommen. Im Grunde mochte ich Schule auch nicht. Das ganze System korrelierte nicht mit meinem Naturell. Aber das störte mich nicht. Ich konzentrierte mich auf die Schülerinnen und Schüler und im Übrigen dominierte mein Privatleben. „Ich habe eine grundsätzliche Stütze für mein Ego. Viele Frauen studieren Lehramt, weil ihnen sonst nichts einfällt, oder weil das für eine Frau eben ein typischer Beruf ist, zu denen gehöre ich nicht, eine von denen bin ich nicht. Ich bin allerdings auch nicht in der Schule, weil mich der pädagogische Eros erfasst hätte, aber mit Liebe hat es schon zu tun. Ich hatte in der Schule einen englischen Tick, war total anglophil. England und Großbritannien, das war für mich eine wundervolle, großartige Geschichte. Ich kannte und wusste alles. Meine Gasteltern bei einem Austausch staunten immer nur, was ich ihnen für tolle Geschichten über ihr Land erzählen konnte. Dass ich Anglistik studierte, war natürlich selbstverständlich. An Schule habe ich gar nicht gedacht. Mit Sicherheit hätte ich promoviert. Und dann geschieht das Unfassbare. Du lernst einen Mann kennen, und es dauert nicht lange, bis sich das Leben mit ihm an die erste Stelle deiner Gedanken zu deinem weiteren Leben schiebt. Am besten ließe sich das realisieren, wenn ich in die Schule ginge.“ erklärte ich. „Und deine Dissertation hast du völlig vergessen?“ fragte Mari. „Konkrete Pläne gab es ja noch nicht, aber du hast schon Recht. Für meinen Mann hat sich nichts verändert. Wahrscheinlich ist es so, dass Frauen die Liebe stärker empfinden, dass sie für sie bedeutsamer ist als für Männer, oder was meinst du?“ fragte ich. „Ich kann da gar nichts zu sagen. Ich meine, das man Liebe schon stark empfinden müsste. Drei mal hatte ich schon eine Freundin, und da war das eben bei keiner so. Evelyn zum Beispiel war ja ganz nett, aber die Vorstellung, dass sie jetzt für den Rest meines Lebens bei mir sein würde, machte mir Angst.“ erklärte Mari, „Aber ich weiß nicht, das trifft bei mir, glaube ich, für alle Frauen zu. Vielleicht habe ich eine misogyne Ader.“ „Ach so, und warum gefällt es dir dann, dich mit mir zu unterhalten, mein kleiner Frauenhasser?“ wollte ich wissen. „Nein, das ist ja Unsinn, aber du wirkst auch irgendwie ganz anders.“ Mari darauf. Ganz anders? Was war das denn? Wann sagt man denn jemandem, dass er ganz anders sei. Meine hochgezogenen Brauen und mein skeptischer Blick forderten Mari auf, sich näher zu erklären. „Na ja, ich meine, so ein bisschen wie eine englische Lady wirkst du schon.“ sah er es, was mich losprusten ließ. „Das mit den englischen Ladies, das musst du mir aber noch erklären. Bist du gleich noch da?“ fragte ich. Englische Lady? War ich so ein wenig etepetete? Näselte ich vielleicht? Englisch Ladys haben doch auch oft etwas Gouvernantenhaftes, zeigte ich das auch? Englische Lady, so ein Blödsinn.


Heimlicher Verehrer

„Englische Ladies sind dick, englische Ladies sind dünn, sie sind groß, sie sind klein, klug oder dumm sind sie. Englische Lady, was soll das? Englische Ladies können alles sein. Was für eine bin ich denn deiner Ansicht nach?“ erklärte ich als wir uns in der nächsten Pause trafen. „Susa, hat dich das gestört? Ich mei­ne doch nur das ganz simple, primitive Klischee, das man so hat. Ein bisschen edel, so wirken deine Gesichtszüge schon. Und auch ein Anflug von distinguier­tem Verhalten, aber menschlich bist du völlig anders.“ erläuterte Mari. Schon wieder war ich völlig anders, jetzt anders als die englische Lady. „Persönlich, menschlich bin ich eher eine schnoddrige Schlampe, meinst du?“ schlug ich vor. Mari lachte sich krumm. Sein Blick starrte mir tief in die Augen. Was er da wohl erkennen wollte? Die schnoddrige Schlampe bestimmt nicht. Sonderbar, ich hatte es gern, gewiss nicht, weil seine Mimik dabei einen Hauch von Lächeln zeigte. Sonst mag ich das überhaupt nicht, halte es für ungezogen. Der andere meint, dich zu durchschauen oder etwas zu entdecken, was du ihm verschweigst. Wenn Kathi und ich uns intensiv anschauen, gleicht das allerdings einem kleinen Liebesspiel. Ihr Blick kommt direkt bei mir im Herzen an und bringt ganz viel Liebe mit. Es kommt mir vor als ob ihr Blick sagte, dass sie sich am liebsten dort einnisten würde. Aber da wohnt sie ja schon. Vielleicht gefällt es dir, mit jemandem tiefe Blicke zu wechseln, wenn du sicher bist, dass der andere nichts Schlechtes über dich denken wird. Bei Mari? Das konnte ich doch nicht wissen, aber spürte ich es vielleicht, ohne dass es mir bewusst wurde. „Mari, du sagst immer 'ganz anders'. Das heißt nichts, es kann alles sein. Du musst schon konkret sagen, was du meinst.“ forderte ich ihn auf. „Hach, Susa, du quälst mich. Ich kenne dich doch gar nicht. Was soll ich denn sagen, irgendwelche Plattitüden wie: „Du bist freundlich, du bist nett oder so etwas?“ jammerte Mari. „Du hast mir doch ganz tief in die Augen geschaut und nichts erkannt? Andere blicken einem einmal in die Augen und erkennen sofort den gesamten Charakter, aber du hast nichts gesehen.“ monierte ich. „Das ist ja Unsinn.“ erklärte Mari, „Du kannst nur das sehen, was du kennst und was du zu sehen erwartest. Ich denke schon, dass du ein guter Mensch bist. Mit caritativer Spendenlust hat das nichts zu tun. Das wirklich Menschliche steht bei dir im Vordergrund. Du bringst dich selbst persönlich ein. Zum Beispiel in unserem Gespräch, auch wenn es gar nicht besonders wichtig ist, aber das lebst du selbst, bist voll involviert. Da spreche ich nicht mit einer Schablone, die die Rolle der Studienrätin Frau Rebmann spielt. Ich finde das schon toll. So etwas erlebst du nicht oft. Was ich noch gesehen habe, das verrate ich nicht.“ erklärte Mari. Ich sollte ganz authentisch mich selbst leben? Nein, nein, so war das nicht. Aber für die Unterhaltung mit Mari traf es schon zu. Es hatte sich automatisch von selbst so entwickelt. Anders hätte das Gespräch auch nicht zu Stande kommen können. Es stimmte, in Gesprächen mit anderen Kollegen oder Fremden war ich das gar nicht selbst. Da spielte eine Frau Rebmann meine Rolle. Es gefiel mir, was Mari gesagt hatte. Ich hätte ihm gern einen Kuss auf die Wange gedrückt, aber so weit durfte das wirklich Menschliche ja nun doch nicht gehen. Am liebsten hätte ich natürlich gewusst, was er nicht verraten wollte. Etwas Schlechtes, Unangenehmes, das er deshalb nicht verraten wollte? Nein, das konnte Mari nicht denken, das hätte er ja auch nicht sehen wollen. Irgendwelche bewundernden Komplimente, die ihm peinlich gewesen wären? Das ich die schönste Frau der Welt sei? Warum sollte er mir das nicht sagen, aber das wusste ich ja auch sowieso, allerdings nur ich selbst. Er musste etwas für mich empfinden, das er sich nicht traute, auszusprechen. Was sollten das anderes sein als Gefühle von Zuneigung? Dass er mich mochte, war ja klar, wenn ich ganz anders war als die Frauen, die er alle nicht mochte. „Ich liebe dich, küss mich, ich will mit dir ins Bett.“ so würde Mari nicht denken, aber vielleicht würde er von amourösen Momenten mit mir träumen. Ich hatte einen heimlichen Liebhaber. Hi, hi! Das hatte ich ja noch nie gehabt. Aber wenn man sagt, die Frau hat einen Liebhaber, drückte das nicht aus, dass sie von einem anderen Mann als ihrem Partner etwas wollte? So war es ja nicht. Vielleicht sollte man sagen, ich hätte einen heimlichen Verehrer. Aber auch das fand ich toll und lustig. Am liebsten hätte ich es allen erzählt, nur in Wirklichkeit wusste ich ja überhaupt nichts. Mari hatte mich ja noch nicht mal mit verliebten Augen angeschaut, aber das waren ja auch Kindereien. Trotzdem fühlte ich mich beschwingt und meine Stimmung lag auf einem höheren Level.


Ernst des Lebens

Was sollte dieser ganze Unsinn? Was hatte ich denn davon, wenn ich vermute­te, Mari sei mein heimlicher Bewunderer. Trotzdem glichen wir unsere Anwe­senheitszeiten ab, damit wir wussten, wann wir uns in den Pausen im Lehrer­zimmer treffen konnten. Es machte einfach mehr Spaß, sich mit Mari zu unter­halten. Bei anderen Kollegen war auch das Unbedeutendste von einer aufge­legten Atmosphäre der Ernsthaftigkeit getragen. Man hatte eben als ernsthaf­ter Mensch zu wirken. Mit Mari verlief es genau umgekehrt. Wir sprachen über zum Teil persönlich sehr bedeutsame Themen, hatten aber ständig Lust, zu la­chen. „Du bist noch nicht richtig erwachsen geworden. Daran liegt das.“ erklär­te ich Mari. Ein erwachsener Mann war Mari auch nicht. Natürlich war er ein Mann und der Altersunterschied zwischen ihm und mir war uns noch nie be­wusst geworden. Aber auch, wenn die hergebrachten Klischees über Männer in weiten Bereichen überholt sein mögen, und natürlich jeder Mann unterschied­lich ist, hat die Sozialisation allen die sich in unserer Kultur als Mann definie­ren, in ihrem Denken etwas Dominantes vermittelt, das sich auch in ihrer Ver­haltenspraxis äußert. Wenn bei Dirk etwas Entsprechendes durchbrach, war er immer einsichtig und leicht zu bremsen. Mari schienen aber derartige Denkwei­sen und Verhaltensambitionen völlig zu fehlen. Es passte auch gar nicht zu ihm. Es hätte mich schrecklich amüsiert, wenn er sich so hätte aufführen wol­len. Wie konnte es so etwas geben? Vielleicht war er nur mit Frauen aufge­wachsen? Aber spätestens in der Schule wurde er doch damit konfrontiert, wie er sich als Junge und späterer Mann zu verhalten hätte. „Ich meine, als er­wachsener Mensch ist es deine vorrangige Aufgabe, dich selbständig um die Gewährleistung deiner Lebensbedingungen zu kümmern. Das ist für jede und jeden selbstverständlich.“ erklärte ich. „Du meinst, dann beginnt die Ernsthaf­tigkeit und Härte des Lebens?“ fragte Mari nach. „Na ja, die kindlichen Spiele­reien sind vorbei. Gleichgültig, ob es dir Spaß macht oder nicht, du musst einen Beruf ausüben, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen. Du würdest wahrscheinlich lieber fischen und jagen gehen.“ vermutete ich. „Habe ich bei­des noch nie gemacht. Müsste ich mal ausprobieren. Nein, nein, es geht um die Auffassung, dass das Leben primär aus Mühe und Qual bestünde und eine äußerst ernsthafte Angelegenheit sei. Eine total verquere Einstellung, die wahrscheinlich auf der jahrhundertelangen Ansicht von Kirche und Adel beruht, dass die einfachen Leute sich auf Erden zu quälen hätten, um später im Him­mel das Glück zu finden. Total abstrus, ich habe nur das eine Leben, und ich will hier glücklich sein, auch mit meiner Arbeit.“ erklärte Mari. „Ein Epikureer, ein Hedonist bist du, nicht wahr?“ suchte ich Bestätigung. Mari lachte wieder. „Nein, ein Hedonist bin ich nicht, aber Epikur hat doch eine Menge sehr ver­nünftiger Worte gesagt. Nur war es den Griechen auch schon früher klar, dass nicht Furcht und Hoffnung das Leben bestimmen dürften. Schon Demokrit hat eine heitere, gelassene Stimmung gefordert, seine Euthymia, die Wohlgemutheit. Erst die christliche Religion, die die Religion der Liebe sein wollte, hat alles menschenfeindlich mit Angst und Drohungen und Strafen durchsetzt. Nicht wenige Menschen wollen mehr Glück und Freude, doch sie wählen oft den falschen Weg und wissen nicht wie. „Man muss versuchen, den nächsten Tag immer besser zu machen, als den vorangegangenen, um dann in gleichmäßiger Freude zu sein.“ das stammt von Epikur.“ erläuterte Mari.


Love a woman correctly

Natürlich, besser machen wollte ich schon mal etwas, aber unzufrieden und schlecht gelaunt war dich doch nicht. Nur es sich jeden Tag zu überlegen, wäre vielleicht keine schlechte Idee. Allerdings wenn Mari und ich uns unterhalten hatten, kam es mir immer vor, als ob ich dadurch ein zusätzliches Wohlempfin­densquantum erhalten hätte, als ob die Solen meiner Psyche mit Schwingele­menten ausgestattet worden wären. Eigentlich brauchte ein Mensch so etwas doch, oder? Was die Kolleginnen und Kollegen wohl dachten, wenn ich in den Pausen immer mit Mari zusammen saß? Eine junge Kollegin hat mal direkt ge­fragt: „Hast du was mit dem Neuber?“ „Nein, nein, wir verstehen uns nur gut und unterhalten uns gern.“ lautete meine Antwort. Die anderen Kolleginnen und Kollegen zogen es vor zu schweigen oder untereinander darüber zu reden. „Sag mal, Mari, bei deinen Freundinnen konntest du dir eine langfristige Bezie­hung nicht vorstellen, und bei den Frauen, wie war es da, meinten die, du seist etwas für's Leben?“ wollte ich wissen. Mari lachte sich wieder schief. Eine ku­riose Frage? „Meine Freundinnen! Ich habe drei mal eine mehr oder weniger gute Bekanntschaft mit einer Frau gehabt. Das war jedes mal ein individuell unterschiedliches Ereignis. Soll ich dir jetzt eine Historie meines Liebeslebens ausbreiten?“ fragte Mari. „Quatsch, ich wollte nur wissen, wie du dich verhalten hast. Ob du die Frau fortgeschickt hast, obwohl sie's gern länger gewollt hät­te.“ erkundigte ich mich. „Susa, was hast du denn für Vorstellungen? So läuft das doch nicht. Du kommst doch nicht mit einem Mann oder einer Frau zusam­men, weil du was für's Leben suchst. Mag sein, dass manche es so machen. Es ist doch einfach so, dass du dich ganz nett findest, und dann intensiviert es sich. Im Prinzip ist doch immer alles offen und jede Entwicklung möglich, nur du stellst ja irgendwann für dich fest, wie du es empfindest und ob du dir das für immer vorstellen könntest. Wir haben uns niemals im Streit getrennt, es hat noch nicht mal Ansätze von Auseinandersetzungen gegeben, aber wie ge­sagt, es war jedes mal ganz anderes.“ erläuterte Mari. „Ich glaube, eine Frau denkt immer an die Perspektive. Wenn sie glücklich empfindet, wird sie das doch nicht aufgeben wollen. Für Männer gilt es eher als uncool, sich von lei­denschaftlichen Gefühlen abhängig zu machen. Sie wollen ihre Beziehungen immer rational, nüchtern handlen können.“ meinte ich dazu. „Ich weiß es auch nicht. Es muss da etwas Besonderes geben. Mein Bruder und ich zum Beispiel, wir sind absolut unterschiedlich, aber auch mein weiteres Leben mit ihm zu­sammen zu sein, da sähe ich überhaupt keine Probleme. Ben ist absoluter Sportfan und auch selbst aktiv. Er war schon mal in der Olympiaauswahl als Zehnkämpfer. Sein ganzes Leben besteht aus Sport und Training. Sport und alles was damit in jedweder Form zu tun hat, ist für mich wie Musik, die mei­nen Ohren weh tut. Vielleicht habe ich mich als Gegensatz zu ihm entwickelt, oder meine Mutter hat mir schon als Baby Platons Diotima vorgelesen. Verstanden habe ich es zwar nicht, aber es ist bei der Gehirnentwicklung unauslöschlich mit mir verwachsen. Ich denke auch, dass meine Mutter mit mir einen anderen Jungen haben wollte, als Ben.“ erklärte Mari. „Vielleicht wollte sie auch gar keinen Jungen, sondern hätte lieber ein Mädchen gehabt, und das hieß jetzt eben Mari.“ vermutete ich. „Ich sei verweiblicht, meinst du? Susa, was für ein Unsinn. Sokrates war begeistert von den Berichten und Erklärungen der Diotima und beschloss sich stärker in der Huldigung des Eros zu üben, weil er den Menschen dazu dränge, das Schöne in Kunst und Wissenschaft, das Schöne allgemein, erkennen zu wollen.“ kritisierte mich Mari. „Und was hat das jetzt mit deinen Beziehungen zu tun?“ hakte ich nach. „Das ist doch das Verrückte, mit meinem völlig unterschiedlichen Bruder könnte ich mir gut vorstellen zusammenzuleben, aber mit Beate, die ich ganz nett fand, nicht.“ erklärte Mari. „Das wird etwas anderes sein. Dass dein Bruder sportbegeistert ist und du die schönen Künste liebst, sind im Grunde Äußerlichkeiten, die nicht dein wirkliches Menschsein betreffen. In allem lebt ihr von klein auf zusammen. Ihr steht morgens gemeinsam auf und frühstückt zusammen, in allem erlebt ihr euch gemeinsam. Dein Bruder ist Teil deines Lebens, dass er einen Sporttick hat, ist seine Sache, die eure Verbundenheit nicht betrifft. Bei jungen Hunden zum Beispiel ist das nicht anders, die fragen auch nicht nach dem Charakter und den vollbrachten Taten des anderen, die fühlen sich einfach als zusammengehörend.“ versuchte ich zu erklären. „Und wie kann es mit einer fremden Frau zu dieser Art von Zusammengehörigkeitsgefühl kommen, was meinst du?“ wollte Mari wissen. Ich musste lachen. „Mari, was willst du? Soll ich dir Nachhilfeunterricht in der Kunst der Liebe erteilen? „How to love a woman correctly“, wie man eine Frau richtig liebt?“ scherzte ich. „Oh ja, bitte, aber auf jeden Fall mit praktischen Übungen, sonst bleibt es wirkungslos.“ Mari darauf lachend. Es war ja nur ein Scherz, aber Assoziationen lassen sich trotzdem nicht vermeiden. Sie gefielen mir, und ich fand es lustig.


Komplexität der Liebe

Ich hielt mich für eine gebildete, offene Frau, die sich keinesfalls im Main­stream angesiedelt sah, sondern sich eher für nonkonformistisch hielt. Mari, der seine fehlende Stärke beklagt hatte, war ein ganz anderer Mensch. Dass er gebildet und offen war, konnte man allgemein auch sagen, aber er war mehr als das. Ich hielt ihn für weitaus nachdenklicher und kritischer als mich. Er hat­te sich nicht nur mit Philosophie beschäftigt, sondern lebte sein Wissen im All­tag, er war ein Philosoph. Von seinen anderen Lieben zur Literatur, Kunst und Musik würde ich demnächst hoffentlich noch mehr erfahren. Ich hielt mich zwar auch für kulturell interessiert, aber Mari wüsste bestimmt viel mehr. Im ersten Moment, als wir uns kennenlernten, war mir Mari ziemlich hilflos er­schienen, jetzt konnte ich ihn nur bewundern. Er brauchte sich nicht als domi­nanter Mann aufzuspielen, was er ja auch gar nicht konnte, ihm wäre alles er­laubt, abschlagen würde ich ihm nichts. „Mari, du wirst letzten Endes nicht um­hin können, wirst neue Sichtweisen entwickeln und neue Wege finden. Du wirst dich daran gewöhnen. Das ist nun mal so in unserem christlichen Abendland, dass die Menschen in Berufen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdie­nen.“ versuchte ich ihm klar zu machen. „Christliches Abendland, das ist die Standardfloskel. Das sagen sie alle immer. Die Christen haben sich zwar zwei­tausend Jahre hier ausgetobt, aber in Wirklichkeit sind wir durch und durch Griechen und keine Jünger von Nazareth. Unser gesamtes Denken, unsere Kul­tur, unsere Politik, die Wissenschaften und die Philosophie sowieso basieren auf griechischen Wurzeln.“ erläuterte Mari. „Aber so viele Götter haben wir nicht.“ wand ich scherzend ein. „Ja, schade, nicht wahr?“ Mari darauf. „Aber konnten die denn nicht auch böse werden?“ vermutete ich. „Ich weiß nicht, schon möglich, die waren ja total menschlich. Der Mann von Aphrodite war mal stinksauer, weil seine Gattin ihn immer betrog. Alle anderen Götter hat er ge­beten, ihm zu helfen.“ wusste Mari. „Und wie haben sie ihm geholfen?“ wollte ich wissen. „Gar nicht, sie haben ihn tierisch ausgelacht. Das ist sogar zum feststehenden Begriff geworden.“ so Mari. „Das Lachen der Götter?“ vermutete ich. „Nein, weil Homer es aufgeschrieben hat, bezeichnet man nicht enden wol­lendes Lachen als 'Homerisches Gelächter'.“ erläuterte Mari. „Ah ja, so, so, die­se Götter lachen den betrogenen Ehemann einfach aus.“ wunderte ich mich. „Mari, du weiß so viel und denkst so tief, nur bei deinen Liebschaften bist du ziemlich oberflächlich gewesen.“ erklärte ich. „So? Woher weißt du das denn? Wie kommst du denn auf so etwas? Es war zwar jedes mal anders, aber ernst war es, glaube ich, schon.“ Mari darauf entrüstet. „Nein, oberflächlich ist das falsche Wort. So meine ich das auch nicht. Du hast dich bei deinen Beziehun­gen an der Oberfläche der Allgemeinheit bewegt. Du hast das Verhalten von Beate, oder wie immer sie hieß, ganz nett gefunden, weil man so ein Verhalten eben allgemein hin für ganz nett hält.“ korrigierte ich mich. „Ich weiß nicht, so banal war es doch nicht, es war schon intensiver.“ widersprach Mari. „Das be­streite ich doch auch gar nicht. Nur du wirst ihr Verhalten nach Bildern aus dei­ner Klischeekiste bewertet haben, und dann zeigt sie Verhaltensweisen, die dir nicht so zusagen. Da ist dir klar, dass sie kein Versprechen für zukünftiges Glück bietet. Genauso wenig wie all die Mitschülerinnen aus deiner früheren Klasse. Wahrscheinlich wird es immer nach deinem gewohnten Muster verlau­fen, wenn du dich dabei so an der Oberfläche bewegst.“ begründete ich. „Und wie hätte ich mich nicht an der Oberfläche bewegt? Hätte ich mir mehr Gedan­ken über Beate machen sollen?“ wollte Mari wissen. „Da wäre wahrscheinlich nichts anderes bei herausgekommen. Ich denke, du wirst Beate gar nicht ge­kannt haben, kanntest nur die Bewertungen nach deinen Klischeevorstellun­gen, in ihrer Komplexität hast du sie nicht erfasst.“ vermutete ich. „Was meinst du damit?“ wollte Mari wissen. „Deinen Bruder, zum Beispiel, den kennst du über Jahre aus den vielfältigsten gemeinsamen Erlebnissen, du kennst ihn in tausend Facetten, und da ist sein Sporttick nur eine Marginalien. In deiner Sicht von ihm als Mensch ist sie unbedeutend. Die Beziehung zu deinem Bru­der wird eine sehr komplexe Basis haben. Ich glaube, bei mir versuchst du, so etwas zu entwickeln. Wenn wir uns unterhalten, und ich rede, komme ich mir vor, als ob ich auf der Bühne stünde. Du fixierst mich, als ob du alles von mir erfassen wolltest, saugst mich auf. Mir gefällt das. So intensiv hört mir sonst niemand zu. Wenn wir uns noch weiter unterhalten, wird es nicht lange dau­ern, bis du mich besser kennst als ich mich selbst. Ich denke, so intensiv wirst du dich auf deine Freundinnen nicht eingelassen haben, hast nicht versucht, sie in ihrer Komplexität zu erfassen, sondern bist an der Oberfläche geblieben.“ erläuterte ich. Mari dachte nach. „Du meinst, Liebe müsste von höchst mögli­cher Komplexität getragen sein.“ hatte mich Mari verstanden. „Na klar, was macht denn die Liebe aus? Du willst immer mehr von dem andern, möchtest so viel wie möglich von ihm in dich aufnehmen, damit es zu dir gehört. Du brennst darauf, dich mit ihm auszutauschen, um immer mehr von ihm zu erle­ben.“ gab ich zu verstehen. Jetzt war ich doch zur Liebesberaterin geworden. „Ich will nichts abstreiten von dem, was du gesagt hast. Ich stimme dem zu, nur ich denke, es bedarf auch eines Impulses. Nur sich nett finden ist zu we­nig. Die Frau muss etwas in dir entzünden.“ bemerkte Mari. „Mag sein, das es vielleicht schon mal hilfreich ist, aber du solltest nicht vergessen, dass es sich um deine Visionen handelt, bei denen du dich auch sehr irren kannst. Aber er­forderlich für die Liebe sind derartige Impulse keineswegs. Wo und wann hat es denn bei deinem Bruder den Impuls gegeben? Deine Mutter liebst du doch sicherlich auch, kannst du dich bei ihr an so etwas wie einen Impuls erinnern?“ lautete meine Ansicht. Mari schmunzelte und blickte mich dabei tief an. Ich glaube, diesmal wollten seine Augen auch bei mir ins Herz gelangen.


Weihnachtsfeier

Früher war Weihnachten ein Fest, heute scheint es sich eher zu einer Jahres­zeit entwickelt zu haben. Im Frühherbst kamen schon die Weihnachtskataloge. Bei uns an der Schule hielt es sich aber in Grenzen. Zum Glück hatte ich in die­sem Jahr keine Klasse, in der ich Christmas Carols durchnehmen musste, ob­wohl Dickens mit seinem Ebenezer Scrooge gefiel mir ja ganz gut, aber das wahr ja auch etwas anderes als 'Once in royal Davids city' und dergleichen. Auch wenn bei uns Weihnachten direkt keine Rolle spielte, war doch alles durchdrungen von dem Dunst, der eine Atmosphäre freudig, sentimentalen Weihnachtsglücks vermitteln sollte. Dem konntest du dich gar nicht entziehen, oder du hättest dich schon drei Monate tief im Dschungel am Amazonas ver­stecken müssen, und wahrscheinlich hättest du dann doch irgendwann die „Jin­gle bells, jingle bells, Jingle all the way“ erklingen gehört. Am vorletzten Tag vor den Weihnachtsferien wurde bei uns in der Schule immer eine Weihnachts­feier zelebriert, morgens für die Schülerinnen und Schüler und abends gab's ein Bankett für's Kollegium. Die Gerichte hatten die Kolleginnen und Kollegen selbst zubereitet. Wer das nicht wollte, zahlte etwas in einen Fond, von dem dann weitere Gerichte bei einem Catering Service bestellt wurden. Ich koche ganz gern, und verzehre das Zubereitete anschließend mit den Kindern, mei­nem Mann oder Freunden. Das Kochen ist Teil des kommunikativen Prozesses der Malzeit. Hier einfach einen Topf hinzustellen und noch nicht mal zu wissen, wer es auffrisst, das mochte ich nicht. Mari zahlte auch in den Fond, aber vor­nehmlich, weil er gar nicht kochen konnte. Weihnachtliches kam an dem Abend nicht vor. Es handelte sich nur um Fressen mit Unterhaltung. Als die Zeit fort­geschritten war, meinte ich nach Hause fahren zu können. Ich fragte Mari, ob wir gehen sollten. Warum eigentlich? Wir waren ja auch allein gekommen, aber Mari wollte auch. Wir gingen zum Parkplatz. Am Heck meines Wagens blieben wir stehen. Grinsend blickten wir uns an. Jetzt sich die Hand zu reichen und sich „Aufwiedersehen“ zu sagen, das wäre unmöglich, aber umarmt hatten wir uns noch nie. Unschlüssig grinsend zögerten wir. Ich ging einen Schritt vor, griff Maris Kopf, zog ihn zu mir, sodass sich unsere Lippen berührten. Warum ich das tat, und wieso ich dazu kam, habe ich nie erfahren. Überrascht aber auch glücklich lächelnd blickten wir uns stumm an. Was sollte man dazu auch sagen? Ich verkündete aber: „Das war zum Abschied, und jetzt noch einmal für die Ferien.“ Es zog sich, na, die Ferien dauerten ja auch länger. Maris Gesichtszüge glänzten wonnedurchtränkt, seine Mimik verkündete, dass ihn die Eudaimonia persönlich voll ausfüllen müsse. „Susa“ sagte er milde und sanft, als er mit seinen Fingerkuppen zart die Haut meiner Wange befühlte. Er musste einen Engel geküsst haben. „By, Mari.“ und „By, Susa.“ sagten wir nur knapp, als wir uns trennten. Gab es denn Wörter, die wichtiger sein könnten, als das, was wir soeben mit unseren Lippen und Zungen kommuniziert hatten? Mari würde bestimmt die Flügel seiner Seele ausbreiten und beschwingt nach Hause gleiten, und ich? Ich war verwirrt. Trotzdem empfand mein Bauch, dass meine Gefühle auf einer Wolke schwebten.. Das wollte ich genießen. Gedanken würde ich mir später machen, da käme jetzt sowieso nichts bei heraus.


Maris Freundin

Ich wollte mich nicht ständig mit Grübeleien quälen. Ein Kuss, was war das denn schon? Aber in den Weihnachtsferien tauchte es immer wieder in meinen Gedanken auf. War ich jetzt verliebt? Hatte ich einen Liebhaber? Aber das woll­te ich doch gar nicht. Ich wollte doch nichts von Mari, nur bei den Küssen schi­en es, als ob wir alles voneinander gewollt hätten. Wie auch immer ich es be­wertete, dass es ein wunderbares Gefühl gemacht hatte, wäre durch keine nachträgliche Missbilligung zu ändern. Was ich da gemacht hatte, ob es Konse­quenzen haben würde, stand für mich völlig in den Sternen. Ich wusste ja noch nicht einmal, warum ich es getan hatte. Zunächst ist die Berührung mit den Lippen sicher das deutlichste Zeichen für Freundlichkeit und Zuneigung. Viel­leicht lag da auch die Motivation, aber dann hatte es sich ganz anders entwi­ckelt, eher so, als ob ich direkt mit Mari ins Bett wollte. Ich verstand das alles nicht. Ich suchte doch keinen zusätzlichen Mann. Meine alltägliche Gefühlslage war von einem Schleier der Verwirrtheit durchwoben. Am besten wäre es, wenn es das alles nicht gegeben hätte, aber was ich am Abend der Weih­nachtsfeier empfunden hatte, wollte ich auch auf keinen Fall missen. Weih­nachten war längst vergessen. Ein paar Scherze über das neue Jahr, in dem Mari seine Prüfung abzulegen hätte, als wir uns nach den Ferien zum ersten mal trafen. „Mari, es bleibt alles so wie immer, klar?“ legte ich sofort fest. Mari schwieg, was ich als Einverständnis deutete. Wahrscheinlich blickte er aber tiefer als ich, die es so oberflächlich handhaben wollte. Wie immer? Das ging gar nicht. Die Atmosphäre war eben eine andere. Hatten sich die zwei Men­schen durch einen Kuss verändert? Offensichtlich. Den Mari von früher gab es nicht mehr. Das Attribut des Küssenden und Geküssten war nicht wegzuden­ken. Wir waren ja nicht miteinander im Bett gewesen, aber das Gefühl einer tiefen, gemeinsamen Intimität existierte immer. Ob wir uns durch die Küsse nur sehr viel näher gekommen waren? Ich empfand es eher so, als ob Mari jetzt auch teilweise zu mir gehörte. Unseren Worten kam ein anderes Gewicht und eine andere Interpretation zu. Wir wussten es, spürten es beim Sprechen, wir sprachen mit jemand anders als damals. „Mari, alles ist nur eine Frage der Einstellung. Ich weiß, dass du gern mit einer Frau glücklich sein möchtest. Mit deinen Misogynie Gedanken, schlag dir solch dumme Vermutungen aus dem Kopf. Du hast nur Fehler gemacht, und die brauchst du ja nicht zwanghaft zu wiederholen. Nur du musst dich auch mal darum kümmern. Zum Beispiel die junge Frau Stenner finde ich doch äußerst nett, und attraktiv ist sie auch sogar.“ versuchte ich Mari klar zu machen. Ganz ernst konnte ich dabei nicht bleiben, aber als völlig lustig empfand ich es auch nicht. Ja, Mari müsste eine Freundin finden, das wäre die ideale Lösung. Wäre ich dann vielleicht eifersüchtig? Nein, er würde mich ja weiterhin lieben. Seine Freundin wäre dann in seinen Liebesempfindungen so etwas wie die Zweitfrau. Übermütig verrückt war ich. Warum nur? „Die ist schon vergeben.“ erklärte Mari lapidar zu der Kollegin Stenner. „Und ich bin erst recht vergeben.“ antwortete ich darauf. Mari grinste breit und ich konnte auch nicht anders. Unsere tiefen Blicke wirkten ähnlich wie der Kuss am Abend der Weihnachtsfeier. Verliebte? Ich weiß nicht, jedenfalls Verbündete mit einem ganz tiefen Verständnis füreinander. „Mari, es gibt Millionen wundervolle Frauen. Eine, die nicht vergeben ist, wird für dich mit Sicherheit dabei sein. Mein Töchterchen, das wäre die richtige Frau für dich. Sie würde dir die Welt schon erklären.“ scherzte ich. „Ich dachte, sie wäre noch ganz jung. Hat sie alles von dir geerbt?“ erkundigte sich Mari. „Ist sie auch. Sie weiß schon, was sie will, aber sie ist auch unendlich neugierig und für alles Unbekannte offen. Komm doch mal zu uns, dann kannst du sie kennenlernen. Ja, mach das doch. Komm uns mal besuchen. Wir laden dich zum Abendessen ein. Willst du?“ fragte ich. Mari schmunzelte zögernd. „Ja, warum eigentlich nicht. Ich würde mich freuen.“ reagierte er schließlich.


Brautwerbung

Ich hatte nichts gezaubert. Ein Menu, von dem ich wusste, dass die Kinder und Dirk, mein Mann, es gerne aßen, hatte ich zubereitet, als Mari kam. Die Kinder und Mari halfen beim Auftragen. „Das ist Herr Neuber, ein ganz armer, gequäl­ter Mann. Er muss Lehrer sein, obwohl es ihm überhaupt nicht in die Wiege ge­legt worden ist.“ stellte ich Mari vor und fügte hinzu, „Herr Neuber, das bricht mir die Zunge. Vom ersten Moment an waren wir Mari und Susa. Warum soll­ten wir das hier ändern? Nicht wahr, Mari?“ Der signalisierte mit seiner Mimik Einverständnis. „Und dir, Mami, ist es dir denn in die Wiege gelegt worden, Lehrerin zu sein?“ wollte Manuel wissen. „Nein, Dirk hat es mir später ins Bett gelegt.“ antwortete ich. „Susa, bitte, ich habe dich doch nicht gezwungen, in die Schule zu gehen.“ protestierte der. „Nein, das stimmt. Ich habe Manu und Kathi gesehen und gedacht: „Die beiden will ich unbedingt haben.“ Die konnte ich aber nur bekommen, wenn ich in die Schule ging und Lehrerin wurde. Und das war es mir auf jeden Fall wert.“ erläuterte ich. Manuel und Kathi schmun­zelten. „Und was hättest du gemacht, wenn du nicht in die Schule gegangen wärst?“ wollte Kathi wissen. „Ich weiß nicht. Vielleicht wäre ich dann heute auch Professorin für Anglistik oder so etwas.“ antwortete ich. „Und wir armen Kinder hätten keine Mami.“ jammerte Kathi scherzend, „Nein, da ist es schon besser so. Mami, du bist unsere aller, aller Liebste, nicht Manta?“ Manuel nick­te Einverständnis. Ich musste Kathi einen Kuss auf die Wange drücken. „Ist das nicht eine süße Familie?“ sagte ich lachend an Mari gewandt. „Familie, das ist doch ein Luftwort. Das bedeutet doch heute nichts mehr. Allenfalls, dass wenigstens ein Erwachsener und ein Kind zusammen leben. Was besagt das denn schon. Sonst ist alles möglich und ist ja auch in der Wirklichkeit so. Über­all ist es individuell ganz unterschiedlich.“ erklärte Manuel. „Das sehe ich nicht so. Ich denke, dass man schon von Familie sprechen sollte. Immer ist es die Frau, die sich um die Familie und die Kinder kümmert. Sie steckt bis über bei­de Ohren in Arbeit und weiß über kurz oder lang nicht mehr, wer sie selbst ei­gentlich ist.“ entgegnete ich. „Ist das bei uns denn auch so?“ wollte Kathi wis­sen. Schmunzelnd erklärte ich: „Nein, nicht ganz so, ihr helft mir ja. Aber schau doch zum Beispiel mal Dirk, Dirk das geht jetzt nicht gegen dich, der hat doch nie Zeit, allenfalls mal am Wochenende. Der könnte doch allein gar keine Familie aufrecht erhalten.“ „Paps, ist dir das denn in die Wiege gelegt worden, dass du mal Onkel Doktor werden solltest?“ erkundigte sich Manuel. „Sehr spät erst, in der Oberstufe, aber das waren dumme Vorstellungen. Zum Glück hat sich das alles sehr schnell geändert, während des Studiums schon. Aber so ein dummes Sprichwort ist das mit dem 'in die Wiege gelegt' gar nicht. Es bedeu­tet, dass du schon sehr früh etwas gelernt hast, während sich dein Gehirn noch entwickelte, und da haben sich dann Bahnen oder Zentren angelegt, die immer mit dir physiologisch verbunden sind. Zum Beispiel Mozart ist Musik in die Wie­ge gelegt worden, könnte man sagen.“ erläuterte Dirk. „Und Manta ist ein Taktstock in die Wiege gelegt worden, der hat nämlich 'nen Dirigenten Tick.“ wusste Kathi. Ich erklärte Mari, dass Manta eine Koseform unter den beiden sei, die Manuel offensichtlich ganz gern höre. „Wenn ich in einem Konzert bin, dann höre ich es auch wie der Dirigent, meine ich wenigstens.“ berichtete Mari und lachte. Das musste er natürlich erläutern. „Ruth, eine Freundin meiner Mutter, war Violinistin bei den Philharmonikern. Ich war fasziniert von ihr. Als ob die Geige ein Körperteil von ihr sei. Wenn ich mit Mutter ins Konzert ging, wollte ich unbedingt Ruth spielen hören. Manchmal gelang das auch. Du passt absolut konzentriert auf und siehst dabei nicht nur, ob Ruth ihren Bogen be­wegt und versuchst ihre Klänge zu erkennen, du siehst und erkennst alles. Die Welt existiert für dich nicht mehr, du bist absolut versunken in das Orchester, so hört der normale Besucher das Konzert nicht. Anschließend kommt es dir vor, als ob das Konzert in dir wäre, zu dir gehörte. Wenn du eine CD davon hast, die kannst du wegwerfen. Die hörst du dir doch nie wieder an. Da meinst du, so ähnlich müsse es der Dirigent auch hören, beziehungsweise aufneh­men.“ erklärte Mari. „Das machst du aber nicht nur im Konzert, nicht wahr? Es gibt auch andere Situationen, in denen du dich mit deiner gesamten Person darauf einlässt.“ vermutete ich und schmunzelte. Mari hatte verstanden und grinste ebenfalls. Nach dem Essen musste Mari unbedingt mit zu Manuel kom­men. Er hatte eine beachtliche Sammlung von DVDs mit allen möglichen Auf­nahmen. Er bewunderte die Dirigenten und wollte ihre Kunst und ihre Tricks erforschen. Am liebsten hätte er sie Mari bestimmt alle gezeigt. Am meisten bewunderte er Claudio Abado. „Wenn du mal ein berühmter Dirigent werden willst, brauchst du aber noch einen Künstlernamen. Manuel ist schon ganz gut.“ schlug Kathi vor, „Manuel Domingo Rebmanta, das wäre doch klasse.“ er­klärte sie und lachte sich schief. „Was gefällt dir denn nicht am Lehrersein? Dass die Schüler so frech sind, nicht wahr.“ fragte Kathi, als wir bei ihr im Zimmer waren. „Nein, nein, darum geht’s nicht. Ich finde die Art, wie gelernt wird, widernatürlich. Ich sage den Schülern, wer Heinrich Heine ist und wie sie ihn zu verstehen haben, und die Schüler sollen's nachplappern. So geht lernen nicht.“ erklärte Mari. „Sondern?“ wollte Kathi wissen. „Erforschend und su­chend müssen die Schüler es selbst herausfinden.“ Mari dazu. „Dann würde keiner was tun. Die machen doch alle nur, was ihnen aufgetragen ist.“ wusste Kathi. „Ja, ist das nicht schlimm. Die Menschen wollen ja lernen, sie sind total neugierig. Schau mal, die ganz kleinen Kinder, denen sagt keiner, was und wie sie lernen müssen. Sie wollen alles wissen und fragen dir Löcher in den Bauch. Aber auch die Wissenschaftler und Forscher, die sehen etwas, staunen und wollen die Zusammenhänge und Hintergründe durchschauen können.“ erläuterte Mari. „Du meinst die Schüler müssten selbst forschen, und die Lehrer würden nur helfen und Impulse geben.“ hatte es Kathi verstanden. „Impulse, ja vor allem Impulse. Das ist Mari ganz wichtig, nicht wahr?“ meinte ich dazu. Ich hätte jederzeit über alles lachen können. Ich fühlte mich mit allem, was mich umgibt relativ wohl und hatte allgemein ein leicht glückliches Hintergrundgefühl. Wenn liebe Freunde kamen, oder ich sie besuchte, hob das die Qualität des Lebensgefühls auf einen anderen Level. Meine Persönlichkeit und mein Selbst, das war meine Kommunikation mit lieben Freunden. Bei Mari verhielt es sich nicht anders, nur die Begegnung mit ihm vermittelte mir noch etwas Zusätzliches. Vielleicht hatte seine Eudaimonia ja eine Aura, die auf mich ausstrahlte, jedenfalls bewirkte seine Anwesenheit ein zusätzliches, beschwingtes Glücksempfinden, das ich sonst nicht kannte. Es enthielt auch immer einen leichten Kitzel mit Lust zum Übermut. Ich suhlte mich in wonnigem Glück. Gleichzeitig musste ich aber auch leicht wehmütig daran denken, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich Mari in jungen Jahren kennengelernt hätte. Total chaotisch bestimmt. Aber Mari war doch kein bisschen chaotisch. Nur wir beide zusammen, jung und verliebt? Aber als junge Frau hätte ich Mari gar nicht kennenlernen können. Ich hätte ihn gar nicht gesehen, ihn überhaupt nicht erkennen können. Er hätte mich nicht interessiert. War ich also mit zunehmendem Alter nicht nur bieder und angepasster geworden, sondern hatte ich auch etwas dazu bekommen? Hatte sich mein Horizont erweitert, mein Durchblick vertieft? Konnte ich jetzt menschliche Wesenszüge und Eigenschaften erkennen und wertschätzen, die mir als junge Frau verborgen geblieben wären? Bestimmt. Ich konnte also Mari nur in fortgeschrittenem Alter erkennen, nur so konnte er mein Geliebter sein. Gaga war ich, und hätte am meisten über mich selbst gelacht. „Weißt du, Kathi, der Mari hat noch ein anderes ganz großes Problem, nicht nur die Schule. Er ist nämlich ganz allein, hat keine Liebste, die bei ihm ist.“ erklärte ich. Ein erschrockenes „Oh!“ entfuhr Kathi. Das schien allerdings ein wesentliches Problem zu sein. „Bisher nur Misserfolge, jede Liebe gescheitert.“ fügte ich ergänzend hinzu. Kathi schien zu überlegen, wie sie da wohl helfen könne. „Was suchst du denn für eine Freundin?“ fragte sie, „Wäre es dir am wichtigsten, dass sie sehr schön ist, also ich meine gut aussieht? Oder wäre dir Geld wichtig, dass sie zum Beispiel gut betuchte Eltern haben müsste? Oder wäre es dir am wichtigsten, dass sie klug und gebildet ist?“ Mari versuchte den Eindruck zu erwecken, als ob er überlege, schmunzelte allerdings dabei. Dann erklärte er: „Also, wild, verwegen und heißblütig müsste sie sein.“ Kathi grinste mit zusammengekniffenen Lippen. Sie schaute zur Decke und hatte die Augenbrauen dabei hochgezogen. Dann blickte sie Mari an. Ihre Mimik bestand aus einer Mischung von amüsiertem Grinsen und mokant, despektierlicher Verachtung. „So, so!“ hub sie an, „So einer bist du also.“ und zu mir gewandt, „Mami, ich glaube der Mari könnte ganz lustig sein, nicht wahr?“ „Ja, ich habe ihm schon geraten, er solle doch ein paar Jahre warten, dann könne er dich heiraten.“ erklärte ich. „Oh, das geht doch nicht. Ich heirate doch schon Manu. Wenn ich so alt bin, ist das bestimmt erlaubt.“ verkündete Kathi. „Denken Mädchen in deinem Alter immer ans Heiraten?“ wollte Mari wissen. „Pah!“ fuhr Kathi entrüstet auf, „Mag sein, dass es welche gibt, die das tun, ich denke da nie dran. Wahrscheinlich werde ich gar nicht heiraten. Das ist doch ein antiquiertes, bedeutungsloses Ritual. Darauf kommt es doch nicht an.“ „Worauf kommt es dann an?“ wollte Mari wissen. „Du Schlaumeier, worauf wohl, auf die Liebe, was sonst?“ Kathi dazu und weiter, „Wenn du mich schon heiraten willst, musst du aber auch um mich werben. Öfter mal kleine Geschenke vorbei bringen, um die Braut freundlich zu stimmen. Aber, ja, Mari, ganz im Ernst, mach das doch. Komm doch mal öfter vorbei, das würde dir bestimmt gut tun. Mami hilft das auch bei ihren Qualen mit der Schule, dass sie uns hat. Das würde dich auf ganz andere Gedanken bringen als immer nur Schule, Schule.“ Mari schenkte Kathi sein wonnevollstes Lächeln. „Du bist eine sehr kluge, junge Frau, Kathi. Ich bedanke mich bei dir für die Einladung.“ sagte Mari. Mit generösem Lächeln quittierte es Kathi. Junge Frau, so wurde sie gemein hin nicht tituliert. Sonst galt sie immer nur als das Mädchen. „Das stimmt, Mari, Kathi hat Recht. Warum kommst du nicht einfach mal öfter vorbei? Wir könnten es in der Schule absprechen, oder du rufst an, ob es mir auskommt. Manuel würde sich sicher freuen. Du könntest ja auch mal life mit ihm ins Konzert gehen, und deine Zukünftige hat dich ja persönlich eingeladen.“ machte ich Mari klar. Der schmunzelte und überlegte. Er wollte es sich nochmal durch den Kopf gehen lassen.


Stilles Glück

Montags war Mari nicht in der Schule. „Willst du wohl aufhören. Ich bedanke mich doch auch nicht bei dir, weil du so freundlich warst, zu kommen. Lassen wir so einen Quatsch. Es war ein Abend der uns allen Freude gemacht hat. C'est tout.“ herrschte ich Mari an, als er sich überschwänglich für den schönen Abend bei uns bedanken wollte. „Und, warst du so stark, dass du dich zu einer Entscheidung durchringen konntest, ob du uns in Zukunft öfter mal besuchen willst?“ versuchte ich zu erfahren. Mari scherzte und nannte einen Termin. „Was machst du denn alles Dringliches in deiner Freizeit, dass du erst in der nächsten Woche einen Termin finden konntest?“ fragte ich erstaunt. „Nichts Besonderes, alles Mögliche, was man in der Freizeit so macht, außer zum Sportplatz gehen natürlich. Ich lese sehr viel und träume gern.“ erklärte Mari. „Von mir, nicht wahr?“ vermutete ich. Mari lachte schallend und umfing mich dabei. Ich lachte auch. Das war am besten, wenn Mari mich im Lehrerzimmer umschlang. „Susa, du kannst vielleicht mit irgendetwas beginnen, aber dann kommen die Traumimpressionen doch, wie es ihnen passt. Das ist doch das Schöne am Träumen. Aber ich denke sehr oft an dich. Das ist schon so.“ sagte Mari. „Das ist gut.“ lautete mein Kommentar. Maris Augen erwarteten wohl eine Erläuterung. „Na, das ist doch immer schön, wenn du weißt, es gibt je­manden, der denkt an dich. Das macht doch immer ein gutes Gefühl.“ erklärte ich. Nur so allgemein wollte Mari es wohl nicht hören. Er blödelte: „Na klar, da fühlst du dich nicht so einsam und allein. Es tut immer gut zu wissen: „Jesus denkt an dich.““ Einen Boxhieb hätte er jetzt verdient, aber im Lehrerzimmer ging das ja nicht. Nur sonst hätte er wohl auch keinen bekommen. Rangeln und Boxen das gab's doch bei uns gar nicht, überhaupt keine Körperkontakte bis auf den einen extraordinären nach der Weihnachtsfeier. „Du bist immer gut gelaunt, immer glücklich, Susa.“ war Mari aufgefallen, „Du bist mit der Welt, die dich umgibt zufrieden, und das macht dich glücklich, bist eine Hedonistin.“ Normalerweise gab's nur Freude mit Mari, aber das machte mich böse. „Was kann es sein, das dich motiviert, so etwas über mich zu sagen? Ist es nur deine Lust daran, mich zu ärgern?“ wollte ich wissen. „Du hast es selbst mal so gesagt.“ entgegnete Mari. „Seit wann hältst du mich für blind. Natürliche sehe ich all das Unrecht und die Gräueltaten, die man oft für menschenunmöglich halten würde. Aber für Menschen scheint es nichts zu geben, was menschenunmöglich ist. Aber auch unsere wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse finden keineswegs meine Zustimmung, nur werde ich damit nicht permanent in meinem Tagesablauf konfrontiert. Da treten die Schüler, die Nachbarn und die Verkäuferin auf, und mit denen habe ich keine Probleme. Womit ich im Alltag konfrontiert werde, damit bin ich zufrieden. Es gibt keinen Stress, das ist prima und befriedigend. Deshalb fühle ich mich wohl. Mit Hedonismus hat das nichts zu tun.“ machte ich Mari klar. Melancholische Anwandlungen waren mir zwar absolut fremd, allerdings so gut aufgelegt, wie Mari mich erlebte, war ich sonst nicht. Schlechte Laune kannte ich kaum, aber dass ich jetzt immer so eine leichte Hochstimmung hatte, lag an Mari, nur konnte ich ihm das ja nicht erzählen. Warum das Zusammensein mit Mari mir derartiges Glücksempfinden bereitete, konnte ich gar nicht benennen. Natürlich wollte er jeden Tag ein wenig glücklicher werden, aber er trug es keineswegs nach außen und spielte den Sonnyboy. Allgemein würde man ihn eher für leicht introvertiert halten. Aber was war es denn, das ich bei Mari spürte? War es vielleicht gar nicht Maris Verhalten, das mir gefiel, sondern mich erfreute unser Verhältnis? Liebe konnte, sollte und durfte es ja nicht sein. Allerdings war ich mir seit meinem Verhalten nach der Weihnachtsfeier bei nichts mehr sicher. „Ich grüble ja auch nicht ständig über die Missstände dieser Welt, aber das du alles ausblendest, und sagst: „Mit meinem Alltag hat das nichts zu tun.“, darüber würde ich gern noch mal mit dir reden.“ erklärte Mari. „O. k., das können wir ja tun, wenn du zu uns kommst. Ich freue mich darauf.“ reagierte ich.


Andere Weise menschlichen Daseins

Als Mari kam, musste er zunächst mal mithelfen. Ich war gerade vom Einkau­fen zurück, und Mari sollte helfen, alles auszupacken und einzuräumen. Es dauerte zwar viel länger, als wenn ich es schnell allein gemacht hätte, aber so machte es mehr Spaß. Mari stellte ein Wesen aus einer Zwischenwelt dar. Er gehörte nicht zu den Eltern und ihrer Generation, war aber andererseits auch älter als die Kinder. Die fanden besonderes Interesse an ihm, und besprachen mit Mari alles Mögliche aus der Schule. Mit mir war Schule nur selten Thema, außer wenn es nötig war. Mari kam jetzt immer öfter. Mit Manuel war er auch schon im Konzert gewesen. Felix Mendelssohn Bartholdy, Violinkonzert e-Moll. Manuel war fasziniert, von der bezaubernden, jungen Violinistin aber auch dem ganzen Orchester. Vor allem, wie er es nach Maris Hinweisen erlebt hatte, da­bei hatte er den Dirigenten fast vergessen. Das musste wiederholt werden. Mir erklärte Mari, dass er es für eine sentimentale Schnulze halte, aber das sagte er Manuel natürlich nicht. Für mich war Mari der ideale Ehemann. Was hatte ich nur falsch gemacht, dass mir so etwas bei Dirk damals nicht gelungen war. Alles, was es im Haushalt zu tun gab, machte Mari mit großer Freude. Es war nicht das Müllraustragen an sich, das Maris Herz erfreute. Er tat mir einen Gefallen damit, und nichts machte ihn glücklicher. Warum freute sich Dirk nicht, den Abwasch machen zu dürfen, wenn es doch unsere Liebe stärkte? Zu dieser Sichtweise war er nie gelangt. Jetzt war es dafür zu spät. Ich hatte Mari bei mir im Zimmer etwas gezeigt. Als wir wieder gehen wollten, standen wir uns hinter meinem Schreibtisch gegenüber. Mit einer Mischung aus Grinsen und fragend hoffendem Lächeln blickten wir uns an. Um's Händeschütteln ging's jetzt nicht. „Mari, mach die Tür zu.“ sagte ich nur. „Du würdest nie aufhören wollen, Liebster.“ vermutete ich, als ich Mari stoppte. Nach sanftem Wangenstreicheln verließen wir mein Arbeitszimmer. Erklären konnte ich das nicht, nur beschreiben. Die Küsse Weihnachten sollten ein einmaliges, außergewöhnliches Erlebnis bleiben, das sich nie wiederholte. Warum waren alle Vorsätze, Beschlüsse und Absichten plötzlich verschwunden, als wir uns lächelnd anblickten. Es musste etwas in mir geben, das ich nicht kannte und nicht erklären konnte. Was sollte das bedeuten? Ich brauchte keinen weiteren Mann. Abgesehen davon galt Mari für mich ja auch gar nicht als Mann. Bei den Küssen empfand ich ihn allerdings keineswegs als Neutrum oder etwa als Frau. Ich brauchte doch keinen Liebhaber. An Liebe fehlte es mir keineswegs. Mein Mann, die Kinder, meine Freundin Hellen, sogar von einigen Schülerinnen würde ich sagen, dass sie mich liebten. Was sollte mir denn fehlen, das ich in Mari zu finden meinte. Es kommt ja nicht selten vor, dass Menschen verborgene Gelüste haben, die sie aber absolut beherrschen, oder Triebimpulse des Es, die sie verdrängen, so dass sie ihnen gar nicht bewusst werden. Bei der Nachforschung darüber, welche das mit Bezug auf Mari bei mir wohl sein könnten, kam ich aus dem Lachen nicht heraus. Mari begeisterte mich schon, sein Leben und seine Art zu leben. Er war ein völlig anderer Mensch mit einer ganz anderen Entwicklungsgeschichte. Keineswegs sah ich mein Leben und meine Entwicklung als minderwertig an. Im Gegenteil, ich war stolz darauf. Etwas Besonderes hatte ich schon als junges Mädchen in mir gesehen. Über meinen England Tick amüsierten sich nicht wenige, für mich war mein Interesse jedoch etwas Großartiges und Wunderbares. Schließlich hatte ich mir ja auch schon eine Unmenge an Wissen und Kenntnissen angeeignet. Das Entscheidende aber war, dass ich in meinem Leben einen Inhalt, eine Aufgabe sah, und nicht wie die anderen Mädchen jeden Tag so lebten, nach dem, was sich gerade so ergab. Auch wenn ich nicht mehr an der Uni bin und die Spitze des Eisbergs in der Schule pflege, gilt allem in und über Großbritannien mein starkes Interesse, und das ist viel komplexer als reine Anglistik. Es schließt Politik, Philosophie und die gesamte Entwicklung und Lebensweise ein. Und doch ist alles auf Großbritannien und seine Zusammenhänge bezogen. Als Fachidiotin sehe ich mich allerdings keineswegs. Bei Dirk würde ich das schon eher so sehen. Die Klink bildet für ihn das Zentrum seines Lebens. Auch wenn ihm vieles andere wichtig ist, steht das Leben an sich außerhalb der Arbeit erst auf Platz zwei. Bei Mari schien es so, als ob das Leben an sich in seiner ganzen Fülle, seinem Reichtum und seiner Schönheit schon von klein auf das Zentrum seiner Entwicklung gebildet hätte. Vielleicht hatte er ja schon immer danach gesucht, weil er spürte, dass das Glück des Lebens anderswo als im Sport zu suchen sein müsse. Vielleicht hatte ihm seine Mutter ja tatsächlich das Gespräch zwischen Aristoteles und Diotima vermittelt, wonach alles Drängen und Verlangen des Menschen durch den Eros bewirkt sei, und letztendlich in der Suche nach dem Schönen in Kunst und Wissenschaft und dem Schönen allgemein gipfelte. Mari verkörperte mehr von dem, was Leben eigentlich ausmacht. In seinem Leben steckte mehr Leben, es war deutlich fulminanter als meins. Keineswegs sah ich mich dem Mainstream oder Common Sense verpflichtet, aber gegenüber Mari konnte ich für mein Leben eine gewisse Eindimensionalität nicht leugnen. Vielleicht sah er meine Vorstellungen vom Glück ja so und wollte mir klar machen, das meine Zufriedenheit letztendlich gewolltes Produkt von Täuschungen, Lügen und falschen Versprechungen sei, die uns benebelten, damit wir nicht auf dumme Gedanken kämen, etwas ändern zu wollen. Vielleicht wollte er mir ja nahe legen, revolutionär aktiv zu werden. Maris Leben passte eigentlich nicht in unsere technologisierte Alltagswelt, ich sah in ihm eine andere Weise menschlichen Daseins, wenn das hier und jetzt überhaupt möglich sein sollte. Die Schule hatte nicht gestört, und das Studium hatte ihm ja Spaß gemacht, aber ein ordinärer, biederer Lehrerjob, das passte nicht zu Mari. Da hatte er schon Recht, und ein anderer Job, der diesem System verhaftet war, eigentlich auch nicht. Als Aussteiger in der Toscana hätte er leben müssen, aber er konnte ja nix, konnte nicht malen und keinen Schmuck drechseln. Allerdings der Manager des Autokonzerns konnte vorher auch keinen Wein anbauen. Nein, Mari sollte auch lieber hier bleiben. Er könnte ja sein komplexes Leben mit meiner Hilfe auch hier realisieren.


Susas Liebhaber

Wenn Mari jetzt kam, hatten wir fast immer bei mir im Zimmer kurz etwas zu besprechen. Außerhalb vermieden wir aber jegliche Liebeleien und Zärtlichkei­ten. Im Einzelnen kann ich es nicht benennen, wahrscheinlich war es das En­semble alles Wahrnehmbaren, was dazu führte, dass Mari schon bald nicht mehr nur als ein befreundeter Kollege, sondern von Kathi und Manuel als mein Liebster angesehen wurde. Ich hatte es ja widersinnig vor mir selbst zu leug­nen versucht, aber das Bedürfnis, einen netten Bekannten zu küssen, zumal noch so intensiv und impulsiv, hatte ich in meinem Leben noch nie verspürt. Ich hatte Mari ja auch unbewusst, instinktiv 'Liebster' genannt. Untereinander hatten die Kinder sicher darüber gesprochen, aber uns gegenüber schwieg man dazu. Bis Kathi eines Tages erklärte: „Manu und ich, wir mögen Mari ja auch, aber weiß Paps denn davon?“ „Ach, Kathi, ich muss, will und werde selbstver­ständlich mit Dirk darüber sprechen, nur habe ich es bislang an jedem Tag auf den nächsten verschoben.“ entschuldigte ich mich. „Wird er sich dann scheiden lassen, wenn er davon erfährt?“ wollte Kathi wissen. Sie hatte Angst, ich muss­te sie drücken. „Ich weiß zwar nicht genau, was in Dirks Kopf vorgehen wird, aber zwischen uns ist doch nichts gewesen. Es ist doch alles so, wie es immer war. Dirk liebt mich doch. Ich kann nicht sehen, welches Interesse er haben sollte, mich verlieren zu wollen.“ erklärte ich. „Ich meinte ja nur.“ sagte Kathi lapidar, obwohl sie sich sicher große Sorgen gemacht hatte, „Dann ist es ja o. k.“ Ich stand mittlerweile zu meiner Beziehung mit Mari. Es war ja keine Spie­lerei und ich wusste, wie es sich entwickelt hatte. Von außerhalb würde man das wahrscheinlich nicht nachvollziehen können, würde nach den gängigen Klischees urteilen. „Die Schlampe hat sich selbst nicht im Griff. Lässt sich zu unverantwortlichen amourösen Spielereien hinreißen.“ Dirk müsste mich verstehen können, aber wie konnte es jemand von außen nachempfinden. Würde er auch eher mein Verhalten klischeehaft bewerten? Davor hatte ich Angst. Wir setzten uns am Esszimmertisch zusammen, weil ich etwas ganz Wichtiges mit ihm zu besprechen hätte. In meinen nicht enden wollenden Elogen über die Unbegreiflichkeit für mich selbst und meine Versuche es zu vermeiden unterbrach mich Dirk. „Susanna, seit wann hältst du mich für blind und taub, dass du meinst, es hätte mir bisher verborgen bleiben können. Ich werde jetzt Dirk herausfordern und meinen Rivalen im Kampfe töten, verlangen meine Gene. Nein, das ist ja Unsinn. Evolutionär ist das Besitzdenken über die Frau keinesfalls verankert. Das ist eine kulturelle Errungenschaft, die sich erst viel später entwickelt hat. Glücklich macht mich das natürlich trotzdem nicht, aber du weist, was du mir bedeutest, und ich will versuchen, es zu verstehen. Geht ihr denn auch miteinander ins Bett?“ erkundigte sich Dirk. „Oh my Lord! Wo denkst du hin?“ musste ich zur Bekräftigung die oberste Instanz anrufen. Dirk schmunzelte. Dass er mir nicht glaubte, sah ich darin nicht. Wir unterhielten uns noch lange darüber, was ich in Mari sähe. Letztendlich war es jedoch ein Gespräch über uns und unser Leben. Es herrschte eine wundervolle Atmosphäre, die uns eine außergewöhnliche Nähe spüren ließ. Ähnliche Gespräche gab es ja in der üblichen Alltagsroutine nur höchst selten.


Susa küssen und sterben

Frau Stegmüller hatte etwas an Maris Unterricht auszusetzen und sein me­thodisches Vorgehen kritisiert. „Das ist alt, überholt und völliger Stuss, was sie erzählt.“ erklärte Mari, „aber ich werde doch mit ihr nicht diskutieren.“ „Aber Mari, wo sind denn deine Stärke und deine Kraft, wenn du es nicht einmal ver­suchst, deine Vorstellungen durchsetzen zu wollen?“ wunderte ich mich. „Frau Stegmüller ist nicht mein Feind, den ich besiegen müsste.“ Mari darauf. „Sie ist deine Freundin, nicht wahr?“ ironisierte ich. „Aber Susa, die Feinde liegen für mich ganz woanders. Wahrscheinlich verkörpert Frau Stegmüller auch einen Teil davon, aber du letzten Endes auch, wenn auch in einem viel geringerem und völlig anderem Maße.“ antwortete Mari. „Und was ist es, das Frau Steg­müller und mich in deiner Feindschaft vereint?“ wollte ich es genauer wissen. „Da müsste ich weiter ausholen. Sollen wir das nicht lieber bei euch bespre­chen?“ schlug Mari vor, „Oder nein, du warst noch nie bei mir. Komm du mich doch mal besuchen. Da haben wir dann auch längere Zeit nur für uns allein.“ Gab es etwas, was dagegen sprach? Mir fiel nichts ein.


Mari bereitete einen Tee zu. In einer kleinen Teezeremonie, wobei er sich über das Wesen und die Wirkung des Tees ausließ. „Ja, und im Dunst über der Schale mit dampfendem Tee befindet sich dann das Dao.“ kommentierte ich. Mari schmunzelte. „Das ist China, im Daoismus der Name für das Nichtseiende, das alles ist, in Japan ist der Zen, der hat zwar schon chinesische Wurzeln, aber ein Dao gibt es da nicht.“ korrigierte mich Mari. „Ich könnte dir immer zu­hören. Ob das, was du sagst wichtig oder eher unbedeutend ist, weiß ich oft gar nicht. Jeder Satz, jedes Wort, das du sprichst, ist nicht nur das im Kopf Er­dachte, das du mit deinen Sprechwerkzeugen laut werden lässt, es spricht im­mer der ganze Mari mit allem, was er ist. Deine Mimik, deine Augen, der Klang und die Melodie, aber auch deine Gestik und sogar deine Körperhaltung lässt du mitsprechen. Sie sagen etwas über dich, und das ist meistens interessanter, als der Inhalt deiner Worte. Es ist ein Film über Mari in immer neuen Szenen. Das könnte ich mir ständig anschauen.“ erklärte ich. „Dann brauche ich dir ja bald nichts mehr über mich zu sagen. Du hast ja alles längst gesehen.“ folger­te Mari. „Aber eins musst du mir noch sagen. Ich dachte, es wäre selbstver­ständlich, dass ein Mann einer Frau etwas dazu sagt, aber du hast noch kein Wort darüber verloren. Du musst mir sagen, ob du mich für schön hältst, ich meine, ob du findest, dass ich gut aussehe.“ erklärte ich. Banale Komplimente machen, das zerbrach Mari die Zunge. Trotzdem hatte er mir schon viel Liebes und Bewunderndes gesagt. Durch die Blume versuchte er es nicht, mir zu ver­mitteln, er erklärte es schon direkt. Jetzt war bei mir nicht alles anders, son­dern es war 'wie bei sonst keiner'. Als ich Dirk fragte, ob er meine Finger auch so elegant, wie bei sonst keiner Frau fände, hat sich der Schelm totgelacht. Mari lachte auch. „Denkst du, mit einer hässlichen Frau würde ich mich befas­sen?“ sprach er, was wohl witzig sein sollte. „Sag es richtig, Mari.“ forderte ich ihn auf. „Susa, schön, schön, was für ein dummes Allerweltswort. Das Wetter ist schön , mein Auto finde ich schön, es war eine schöne Geschichte an einem schönen Abend. Alles ist schön, wenn man's nicht genauer benennen kann.“ erklärte Mari. „Was windest du dich? Traust du dich nicht, weil du an mir etwas auszusetzen hast, oder ist es dir peinlich, mir zu sagen, dass du mich schön findest? Es gibt durchaus schöne und weniger schöne Frauen. Sie werden so­gar zu Schönheitsköniginnen gewählt. Also los, sag schon.“ drängte ich Mari. „Mag ja sein, dass es allgemeine Schönheitskriterien gibt. Harmonisch Wirken­des, das dem goldenen Schnitt entspricht, wird meistens als schön empfunden, aber es sind immer subjektive Gefühle beteiligt. Einen Menschen, den ich liebe, erkenne ich immer als wunderschön. Da siehst du die Schönheit dann noch umfänglicher. Siehst auch die schöne Seele, das Gute im Menschen, das Schö­ne und das Gute, Kalós Kagathós.“ erklärte Mari. „Aha, schön und edel, so siehst du mich also auch. Das ist gut, dann bin ich wenigstens nicht mehr die einzige.“ meinte ich dazu. Mari lachte, umfing mich und wollte küssen. „Stopp, du musst mir zuerst noch eine andere Frage beantworten.“ bremste ich ihn. „Dass du mich magst und liebst ist ja klar, aber sag mal, begehrst du mich auch, hast du Lust auf mich, bist du lüstern?“ wollte ich wissen. Mari lachte sich wieder schief. „Lüstern, das hat eine Konnotation, die nicht passt, aber Lust aufeinander haben wir ja beide, sonst würden wir uns doch gar nicht tref­fen.“ erklärte er. „Nein, ich meine schon etwas anderes. Ob du bei mir eroti­sche Empfindungen hast, ob du ein Verlangen verspürst?“ präzisierte ich. „Susa, ich habe dich vom ersten Moment an als Frau gesehen, aber das tut ja jeder. Meistens nimmst du es gar nicht wahr. Das war aber für mich bei dir nicht so. Ich sah fast nach den ersten Sätzen in dir eine wundervolle Frau, die auch mein Begehren erweckte. Wodurch sollte sich das bis heute geändert ha­ben?“ antwortete Mari. „Armer Mari, leider muss dein Verlangen nach mir im­mer unerfüllt bleiben. Aber das ist doch auch nicht schlimm. Die Begierde und das Verlangen vermitteln doch das wundervolle Gefühl, wenn sie befriedigt sind, ist das herrliche Gefühl futsch.“ tröstete ich Mari. „Du meinst, die Freude auf den Schokoladenpudding ist das Schöne. Wenn du ihn gegessen hast, ist die Freude dahin. Daher am besten den Pudding nie essen.“ verstand mich Mari. „Ich bin aber nicht dein Schokoladenpudding.“ hielt ich fest. „Deine Küsse schmecken auch tausendmal besser, als jeder Schokoladenpudding schmecken könnte.“ bemerkte Mari. „Küsse? Küssen ist ein Genuss der sich aus der ge­genseitigen Berührung der taktil hoch sensiblen Lippen ergibt. Was hat das denn mit uns zu tun? Was wir machen entspricht eher einem kleinen Ge­schlechtsverkehr ohne Beteiligung der Genitalien.“ deutete ich es. „Du meinst, eher coitus labialis.“ so Mari, der laut lachte. „Ja, du hast damit nach der Weih­nachtsfeier direkt angefangen, und seitdem können wir gar nicht mehr an­ders.“ beschuldigte ich Mari. „Ich?“ fuhr der entrüstet auf, „Ich kannte bisher so etwas gar nicht. Nur bieder, zivilisiertes Küssen, wie du es beschrieben hast.“ „Aber ich doch erst Recht nicht. Woher sollte ich denn so etwas kennen. Vielleicht ist es so: Wenn wir beide zusammenkommen, haben die engen Gren­zen der heutigen Zivilisation keine Bedeutung mehr, und es gefällt uns, sie zu überwinden. Ach nein, das ist doch Quatsch. Du symbolisierst für mich volles, pralles, enthusiastisches Leben, bist immer absolut involviert. So wie du es von deinem Konzert hören beschrieben hast. Ich bewundere das und möchte es auch. Vielleicht leben wir es so beim Küssen, sind voll versunken, denken und empfinden nichts anderes mehr.“ versuchte ich eine Erklärung. „Du würdest sagen, wenn wir gemeinsam einen Pfannkuchen backen, dann geht es primär um unser zusammen enthusiastisch erlebtes Liebesszenario, wobei der Pfann­kuchen nebenbei auch noch fertig wird?“ sah es Mari. „Genau, in unendlich vie­len liebevollen Erlebnissen haben wir uns schon gemeinsam erfahren, nicht bloß beim Küssen, was doch wohl wirklich lüsterne Züge hat.“ bestätigte ich Mari. Eine ausdauernde Kussorgie ließ sich nicht länger hinausschieben. Wie Mari es wohl empfand, aber daran dachte ich beim Küssen nicht. „Mari, liegt es an deiner Kraft oder an deiner Stärke, aber ich brauche unbedingt mal eine kleine Pause zum Luft holen?“ scherzte ich und Mari schmunzelte. Es war doch ein kleiner Geschlechtsverkehr, denn wie unterschiedlich wir es auch empfin­den mochten, nach dem Küssen drängte es uns beide, besonders sanft und zärtlich zueinander zu sein. Wir schienen gemeinsam versunken gewesen und jetzt vorsichtig wieder an Land zu kommen. Mari wollte mir die Bluse öffnen. „M,m, das nicht.“ wehrte ich ab, „Mein Hals ist doch auch ganz schön. Also, mir gefällt es, wenn du mich dort küsst und streichelst. Das muss reichen.“ Meine Gefühle hätten ja nichts dagegen gehabt. Da hätte Mari mich ganz ausziehen und überall küssen und streicheln können, aber ins Bett mit Mari, das kam nicht in Frage. „In Japan ist der Tee ja nicht nur ein Getränk, sondern eine Phi­losophie, eine Lebenseinstellung. Auf alles wirkt sich der Teeismus aus. Aber du hast ja noch nichts von meiner Residenz in Augenschein genommen.“ be­merkte Mari. „Ja natürlich, zeig mir alles. Ich will alles von deiner Behausung sehen.“ scherzte ich. Na ja, wir lebten natürlich zu viert und hatten ein biss­chen mehr Knete als Mari, aber als Studentin hätte ich von einer Wohnung in Maris Größe nur träumen können, und ich hatte mich in meinen beengten Ver­hältnissen trotzdem wohl gefühlt. Auch wenn die Latifundien noch so weitläufig sind, das macht es nicht aus. Mari hatte seine Bücher, sehr viel Bücher, in al­len Zimmern verteilt. Bücher strahlen, so meine ich, immer schon eine gewisse Wärme für die Atmosphäre aus. Er zeigte wir, was er besonders liebte und was ihm wertvoll war. „Hier, „Die acht Gesichter vom Biwasee“ das musst du unbe­dingt lesen. Nimm es mit. Von Max Dauthendey ist das, ein deutscher Dichter und Japanfan. Er war schon Anfang vorigen Jahrhunderts dort. Viele schöne Gedichte hat er geschrieben. Komm, das nehmen wir mal mit.“ sagte Mari und nahm ein kleines Buch mit. Liebesgeschichten waren es vom Biwasee. Sonst hätte ich so etwas gar nicht lesen können. Natürlich, Liebe kommt immer ir­gendwo vor, aber Liebesleben als zentraler Inhalt, das hätte mich eher gelang­weilt. Jetzt war ich ganz gespannt. Weil es ein Buch von Mari war? Wohl weni­ger. Ich freute mich auf die zu erwartenden Ereignisse und die damit verbun­denen Assoziationen. Gedanken und Träume von Liebe hatten für mich einen anderen Stellenwert bekommen. Ich konnte sie in einer anderen Welt sehen als bislang. Keineswegs empfand ich mich als rau oder grob, aber das Nüchter­ne, Coole dominierte schon in meinen Bewertungen. Ich hatte mich mit Mari verändert, als ob ich mit ihm den Wert des Sensitiven, Gefühlvollen erst richtig kennen und schätzen gelernt hätte. „Wohlig, warm und doch lebendig kommt mir dein ganzes Environment vor.“ erklärte ich. „Ein Kunstwerk ist mein Ge­höft, so sehe ich das auch.“ kommentierte Mari und lachte. „Und warum flüch­test du dann so oft zu uns? Kommst du denn überhaupt noch zum Lesen und Träumen?“ wollte ich scherzend wissen. „Beim Träumen bin ich mir oft nicht mehr sicher, ob es Wirklichkeit ist oder nur ein Traum war, aber das Lesen ist tatsächlich viel weniger geworden. Meistens abends im Bett, aber da komme ich dann schnell ins Träumen über das Erlebte, weil es mich so intensiv be­schäftigt. Doch wir können ja mal gemeinsam etwas lesen.“ schlug Mari vor. „Hast du nicht die Befürchtung, dass dann unsere Gemeinsamkeit im Vorder­grund stehen könnte, und wir den Text gar nicht mitbekämen.“ gab ich zu Be­denken. Mari schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Das zum Beispiel“ sagte er und las ein Gedicht von Max Dauthendey vor:


Die Herzensfrau


Der Mittag liegt mit mir im Gras,
Die Wolken ziehn tiefblaue Straß,
Die Welt ist grün und weiß und blau,
Zu mir setzt sich die Herzensfrau.
"Rot," spricht sie, "ist die ganze Welt,
Wenn man zum Kuss den Mund hinhält."


hat es dir gefallen? Und das:


Sanft legte dich die Liebe auf mein Bett


Sanft legte dich die Liebe auf mein Bett
In deinem schönsten Kleid aus Scham und Blöße,
Und draußen kam die Nacht auf atemlosen Schnee,
Und auch Gottvater kam in atemloser Größe.
Mit vollem Auge hat der Gott geweint, gelacht.
Du hast dein Herz und deinen Leib
Zur Krone dieser Nacht gemacht.“


„So ein Ferkel.“ kommentierte ich und lachte. „Susa, bitte.“ bekam ich als Re­aktion zu hören. Wir lasen noch mehr von Max Dauthendey. Mir gefiel es au­ßerordentlich. Wenn ich mit Mari zusammenlebte, würden wir uns immer ge­genseitig etwas vorlesen. Aber auch dieser Dauthendey. Ich hatte noch nie et­was von ihm gehört, darum würde ich mich demnächst mal kümmern. Ich war schon ein wenig stolz auf meine Bibliothek. Dirk hatte nur Fachbücher, einige Ausstellungskataloge und ein paar Romane, aber Mari schien alles zu lesen und gelesen zu haben. Sehr viel Philosophie und an Literatur alles, was man ken­nen konnte und mehr. Man würde vermuten, das jemand, der so viel wie Mari gelesen hatte, ein vergeistigter Mensch wäre, aber die griechischen Philoso­phen waren ja auch keineswegs vergeistig, außer Diogenes vielleicht, der Alex­ander dem Großen als einzigen Wunsch erklären konnte, er möge ihm ein we­nig aus der Sonne gehen. Vor allem die Eudaimonia suchte ja nicht durch Meditieren im erweiterten Bewusstsein die Erleuchtung zu finden. Sie basierte ja auf radikaler Diesseitigkeit aller Strebungen und wollte Lust und Genuss des Lebens im Hier und Jetzt finden. „Mari, du wirkst nach außen sehr beherrscht und besonnen, aber du willst doch jeden Tag ein wenig zu deiner Lustmaxi­mierung beitragen. Worin könnte denn für dich das größte Lebensglück beste­hen?“ wollte ich von ihm wissen. Mari grinste und meinte: „Was wohl? Das größte Lebensglück ist, wenn Susa und ich uns küssen. Susa küssen und ster­ben. Das war mein Leben. Ein glücklicheres kann es nicht geben.“ Noch eine Kussorgie? Nein, Mari bekam einen Boxhieb. „„Von dem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des gesamten Lebens bereitstellt, ist das weitaus Größte der Erwerb der Freundschaft.“ sagt Epikur. Ich kann ihm darin nur folgen. Du etwa nicht?“ fragte Mari. Von dem, was Frau Stegmüller und mich in der Feindschaft zu Mari verband, wollte ich jetzt nichts mehr wissen.


Rollenerwartungen oder Lebensrausch

„Ich habe dich gefragt, ob du mich für schön hältst. Dir habe ich es auch noch nicht gesagt. Willst du es gar nicht wissen?“ fragte ich Mari als er wieder bei uns war. Ein lakonisches „Nein.“ bekam ich als Antwort. Meine Mimik sagte ihm aber, dass ich mehr hören wollte. „Suche dir zweihundert hässliche Männer aus. Du lernst einen von ihnen kennen, nach einer Woche siehst du nichts mehr von seiner Hässlichkeit. Und wenn du ihn gern magst, wird er dir sogar noch als schön vorkommen.“ erklärte Mari. „Das kann schon sein. Eine Nase ist ja an sich nicht schön, aber wenn ich deine Nase betaste, habe ich immer das Gefühl, es ist Mari, und deine Nase ist wunderschön, weil du es bist. Du meinst also, sicher sein zu können, dass ich dich schön finde, weil ich dich liebe? Ich glaube aber eher, Männer halten sich grundsätzlich für attraktiv und schön, weil sie ein Mann sind, unabhängig davon, ob sie geliebt werden oder nicht.“ lautete meine Ansicht. „Vielleicht meinen sie, dass ihre Schönheit in der Kraft und Stärke liegt, meinen die Schönheit des Siegers und Gewinners, die ihnen Anerkennung und Bewunderung vermittelt.“ vermutete Mari. Alles Tinnef. Ich weiß überhaupt nicht, ob es sinnvolle, verallgemeinernde Unterschiede zwi­schen Mann und Frau gibt. Die unterschiedlichen Sozialisationen und Rollenvor­gaben will ich ja gar nicht leugnen, aber letztendlich ist jede und jeder doch ein Individuum, das du nur erkennen kannst, wenn du den einzelnen Menschen tiefgreifend siehst und verstehst. Die Klischees und Rollenvorstellungen liegen hauptsächlich bei dir, dem Betrachtenden von außerhalb.“ erklärte ich. „Mann oder Frau, das ist beliebig, das sagt nicht viel, meinst du. Das Entscheidende ist der Mensch.“ verstand mich Mari. „So wird es sein.“ pflichtete ich Mari bei, „Nur bin ich mir da manchmal nicht ganz sicher.“ Mari wünschte Erläuterndes. „Wenn wir uns küssen, zum Beispiel, ist der Mensch an sich gewiss auch da, aber es kommt mir so vor, dass er dann nicht entscheidend im Vordergrund steht.“ erläuterte ich. Mari schmunzelte. „Der Geschlechtstrieb, es ist der Geschlechtstrieb, der dir dann sagt, was du sehen und wahrnehmen willst.“ wusste Mari. „Der Geschlechtstrieb, der Geschlechtstrieb!“ fuhr ich auf, „Ich bin doch keine rattige Elster, die scharf auf Sex ist. Sollen wir dies alberne Küssen nicht mal sein lassen. Wenn wir es immer machen, geht das Besondere sowieso verloren.“ Mari sagte nichts. Er lächelte zwar, aber seine Augen blickten mich starr an. „Na, einmal im Vierteljahr vielleicht.“ räumte ich ein. Maris Blick blieb unverändert. „Oder einmal im Monat.“ korrigierte ich mich. „Was soll das denn mit dem Geschlechtstrieb? Mein Geschlechtstrieb hat sich mein ganzes Leben lang sehr zivilisiert verhalten. Keine Bedürfnisse nach Eskapaden. Na ja, Sex ist nicht schlecht, das finde ich ja auch, aber ich kann auch gut mal darauf verzichten.“ erklärte ich. Maris Blick hatte sich wieder normalisiert. „Ich glaube auch nicht, dass du von plötzlich aufgetretenen sexuellen Wallungen getrieben wirst.“ meinte er. „Was ist es dann, meinst du?“ sollte er erklären. „Es gibt nicht einen Mainstream, der für alle gilt.“ begann Mari, „Die Bildzeitungsleser und RTL Zuschauer mögen zwar recht zahlreich sein, aber was sie denken und welche Vorstellungen sie haben, ist nicht die Allgemeinheit. Es gibt unterschiedliche Allgemeinheiten. Du hast eine eigene, deine Allgemeinheit sind die Vorstellgen und Sichtweisen einer gebildeten, arrivierten, modernen Frau. Das ist deine Welt, so siehst du dich. Es umfasst alles bei dir, und bedeutet ein rationales, distinguiertes, moderates Leben. Exaltiertheit und Auswüchse kommen da nicht vor. Wenn dein Leben diesem gemäßigten Bild entspricht, fühlst du dich wohl, dann bist du zufrieden. Nur leider kommst du selbst persönlich mit deinen wirklichen Bedürfnissen, Wünschen, Gelüsten und Gefühlen in diesem Bild auch nicht vor. Die kannst du gar nicht erkennen, hältst die aus dem Bild übernommenen für deine eigenen. Du hast aber festgestellt, dass es jenseits davon auch etwas anderes, dass es mehr geben kann. Das pralle Leben hast du es genannt. Du willst auch mehr vom Leben, willst es in seiner ganzen Fülle. Willst dich in das, was du tust, versenken, willst dich voll selbst erfahren. Das ist es, was du erlebst, wenn wir uns küssen. Dass du dich dabei auch erotisch angeregt fühlst, mag ja sein, aber das ist nicht das Entscheidende. Du bist begeistert davon, dich so voll involviert und enthusiastisch zu erfahren.“ erläuterte Mari. Jetzt bekam er doch einen Kuss auf die Wange und ein Streicheln übers Haar. So etwas vermieden wir außerhalb meines Zimmers gewöhnlich. Ich betätschelte Dirk oder die Kinder ja auch nicht permanent, und Teenager im Liebesrausch zu spielen, daran lag uns keinesfalls. Ich glaubte Mari immer. Selbstverständlich, er würde mich ja nicht belügen. Aber ich denke schon, dass es Menschen gibt, denen man gerne glaubt. Jesus war bestimmt auch so einer. Aber, dass bei unserem Küssen das Berauschende der Erfahrung des prallen Lebens im Mittelpunkt stehen sollte und nicht Mari, der Mann, das musste ich erst noch verarbeiten. Das Übrige, was Mari gesagt hatte, beschäftigte mich allerdings viel mehr. Im Grunde stimmte ich Mari zu. Das war schon durch die Sozialistionsbedingungen meines Elternhauses vorgegeben, das es in irgendeiner Form darauf hinauslaufen würde. Nur wie hätte die Studienrätin Rebmann, die fest an ihre entsprechenden Rollenvorgaben gebunden war, denn Interesse an einem Menschen wie Mari finden sollen. Solche Typen kamen darin gar nicht vor. Und außerdem, wer war denn die authentisch wirkende Frau, mit der Mari gesprochen hatte, wenn es nur die an ihre Rollenvorgaben gefesselte Ische gab? Ich wüsste gern, welches Spektrum an Rollenvorgaben der Allgemeinheit Mari sich den angeeignet hatte. Waren es die der Philosophen? Nein, Philosophie spielte zwar in Maris Denken und Handeln eine wesentliche Rolle, aber er führte nicht das Leben eines Philosophen. Liebhaber der schönen Künste konnte das ein Rollenbild für Mari abgeben? Oder war es die Welt der Leseratten, in der er lebte? Alles Unsinn. Es gab keine Kategorie der Allgemeinheit, der sich Mari zuordnen ließ. Aber auf irgendeine Art hatte sich doch jede und jeder unser kulturelles Erbe und unser allgemeines Denken angeeignet. Vielleicht hatte er schon früh an seinem Bruder erkannt, dass die Unterordnung unter einen festen Rahmen nicht das Glück vermitteln kann, hatte wie Platons Diotima den Eros als immer weiteres Drängen, Suchen und Fragen nach einer höheren Stufe und tieferen Erkenntnis von Schönheit, Glück und Freude verstanden. Hatte Mari gezielt vermieden, sich irgendwelchen Rollenvorgaben unterzuordnen und sah sein Leben als Prozess des unvoreingenommenen Suchens und Fragens? Ein schönes Bild. Ich beneidete ihn darum, aber ich hätte auch Angst gehabt. Hatte mich so an meinen Rahmen gewöhnt, dass ich mich ohne völlig verunsichert gefühlt hätte. Alle hatten sie ja ihre Rollenmuster. Einerseits entwickelte es sich automatisch unbewusst, vielleicht auch wegen der Sicherheit, die dieser Rahmen den Einzelnen vermittelte. Ich hatte nie bewusst nach meinen wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen gesucht, aber ganz verloren und völlig in meiner Rolle aufgegangen war ich wohl nie. In der Rolle des Mädchens aus gutbürgerlichem Hause wuchst ich schon auf, aber meine Faszination für England kam in dieser Rolle nicht vor. Die gehörte mir alleine, das war ich persönlich. Diese mir eigene Identität habe ich immer aufrecht zu halten versucht, das war ich neben den Anpassungen an die Rollenerwartungen.


Alle Himmel öffnen ihre Tore

Jetzt hatte Kathi doch ein langes Interview mit Mari geführt. Er berichtete mir bruchstückhaft davon. Sie habe zwar alles genauestens von Anfang an wissen wollen, aber es sei Mari vorgekommen, dass es ihr darum ginge, die Liebe all­gemein in ihrem Wesen zu erkennen und zu verstehen. Sie hätten auch über andere Bereiche, die nicht mit unserer Beziehung zusammenhingen, ausführ­lich gesprochen. Mari war durch dieses Gespräch zu Kathis intimstem Seelen­freund geworden. Welchen anderen Mann sollte sie da denn mal heiraten? Wenn Mari da war, bekam er immer einen Knuff oder Klaps, und Mari wusste auch immer etwas Launiges, das Kathi zum Lachen brachte. Reine Liebe. Der arme Mari, was hatte er für Pech mit Frauen, die eine war viel zu alt für ihn und die andere viel zu jung. Meine Achtung und Anerkennung war durch das Gespräch auch kräftig gestiegen. Natürlich war ich die Erwachsene und verant­wortliche Mutter, aber wir verstanden uns als Team, als Crew, zu der auch ich gehörte. Ich weiß nicht, was Mari über mich erzählt hat, aber augenscheinlich hatte es mir eine Art Glorienschein verliehen. Mit besonderer Freundlichkeit und ausgesuchter Zuvorkommenheit behandelte Kathi mich, sodass es mir manchmal schon peinlich war. Das Staatsexamen stand kurz bevor. Mari hatte mit seiner Examensarbeit begonnen und war immer beschäftigt, sodass er nicht mehr so oft zu uns kommen konnte. Wir trafen uns zwar immer in den Pausen in der Schule, aber das war ja mit den Besuchen nicht zu vergleichen. Maris Anwesenheit verbreitete immer ein allgemeines Wohlempfinden und es gab meistens viel zu lachen. Mari war in der ganzen letzten Woche nicht bei uns gewesen. Am Montag rief ich ihn an und fragte, ob er ein wenig Zeit hätte, ich würde gern kurz zu ihm kommen. „Oh, das ist aber eine sichere Rüstung. Da kann ich ja nicht auf dumme Gedanken kommen und deine Bluse aufknöpfen wollen.“ empfing mich Mari, als ich meine Jacke auszog. „Mari! Du bist widerlich!“ fuhr ich ihn an, „Ich kann ja gleich wieder fahren.“ Die Verrückte war ich. Natürlich achtete ich bei meiner Kleidung darauf, dass es mir gefiel und ich meinte so gut auszusehen, aber für einen Mann etwas angezogen, weil ich meinte, ihm dadurch zu gefallen, das hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht getan. So etwas lehnte ich prinzipiell ab. Jetzt war es geschehen. Mir gefiel der Pullover mit dem Superrollkragen äußerst gut. Er war ein wenig extravagant und ich kam mir darin jung und vielleicht ein bisschen verwegen vor. Zur Schule konnte ich den nicht anziehen. Als ich zu Mari fahren wollte, meinte ich, auch Mari darin zu gefallen. So etwas Dummes, am liebsten wäre ich nach Hause gefahren und hätte ein dunkelgraues Sweatshirt angezogen. „Mari, soll ich dir mal was sagen, ich bin ein total dummes Huhn. Ich finde den Pullover schön und gefalle mir gut darin. Ich habe ihn angezogen, weil ich dir so auch gefallen wollte. Ich schäme mich für meine Doofheit. Hast du kein Oberhemd für mich? Dann ziehe ich den dämlichen Pullover aus.“ erläuterte ich. „Oh, oh, oh,“ stöhnte Mari auf, umschlang mich und ließ sich mit mir nach hinten auf die Couch fallen, sodass ich breitbeinig auf seinem Schoß saß, „dass du die schönste Frau bist, die meine Augen in diesem Universum sehen können, das weißt du. Und deinen Pullover, das ist jetzt kein Schmu, finde ich absolut geil. Ich kenne keine Frau mit einem so tollen Pullover. Aber das Größte ist, und es rührt mich zu Tränen, dass du dich extra für mich chic machen wolltest. Ich Idiot bin so in meiner Alltagsroutine gefangen, dass ich mir dummes Blech aus dem Mund fallen lasse und gar nicht sehe, worauf es ankommt. Du musst mich ganz lieb haben, dann zeigst du, dass du mir verziehen hast.“ Nach der ausführlichen Kussorgie redeten und scherzten wir über den Pullover und anderes Kleidungsverhalten. So direkt vor Mari auf dem Schoß gesessen hatte ich noch nie. Es gefiel mir. Wir waren lustig uns ging's gut. Mari hatte mir immer über den Rücken gestreichelt. Jetzt merkte ich, wie er seine Hand unter den Pullover schob, das Camisole aus der Hose zog, und seine Hand die Haut meines Rückens berührte. Sollte ich ihm sagen: „Lass das.“? Warum denn? Was war denn schon dabei? Wenn er mir den Rücken mit Sonnencreme einrieb, das wäre doch auch ganz normal gewesen. Aber als normal konnte ich es gar nicht wahrnehmen. Es war nicht einfach die Haut der Innenfläche seiner Hand, die ich auf der Haut meines Rückens spürte. Ich meinte den ganzen Mari in seiner Hand zu spüren. Vielleicht machten es die Handaufleger ja so, dass sie durch die aufgelegte Hand ihre ganze Persönlichkeit übertrugen. Aber es lag wohl mehr daran, was die Person in der aufgelegten Hand spüren wollte. Von Maris Heilkräften spürte ich nichts, wohl aber all seine Liebe, seine Lust und sein Verlangen. Wir schmusten und scherzten dabei, obwohl ich es lieber andächtig genossen hätte. Mari hakte mir den BH auf. „Nein, Mari.“ sagte ich halblaut, aber hinderte Mari auch nicht daran, es doch zu tun. Im Grunde war es ja nichts Besonderes, aber ich erlebte es, als ob mir solche Wohltaten noch nie in meinem Leben zu Teil geworden wären. Der dicke Kragen und die Ärmel störten. „Willst du den Pullover nicht ausziehen?“ fragte Mari plötzlich. „Nein, auf keinen Fall.“ sagten die Gedanken meines rationalen Bewusstseins. Meine Lust orientierte Gefühlswelt sah das völlig entgegengesetzt. „Auf jeden Fall.“ sagte sie. Weil ich bei Mari war, dem zu diesem Zeitpunkt sowieso alle meine Gefühle gehörten, war ich einverstanden. „Dann musst du aber auch dein Hemd ausziehen.“ forderte ich noch. In meinem Alter und nach zwei Kindern waren meine Brüste ein wenig ins Hängen gekommen. Mari bestaunte sie wie Goldbirnen, als ob er noch nie die nackten Brüste einer Frau gesehen hätte. Aber ich war ja auch Susa, ein feminines Wesen zwar, aber zu den ordinären Frauen unserer Spezies gehörte ich wohl nicht. „Nimm mal deine ganze Hand, das fühlt sich gut an.“ forderte ich Mari auf, der schüchtern kaum wagte meine Brüste zu berühren. Mari streichelte und drückte leicht meine Brüste, wobei er mich ständig küsste. Ich merkte, wie es mich erregte. Wie ein Blitz durchfuhr es mich. Nein, das wollte ich doch auf keinen Fall. Ich sprang auf. „Was tun wir hier eigentlich? Das ist doch komplett idiotisch. Wohin soll das denn führen? Ich brauche keinen zweiten Mann, und ich will auch keinen Gigolo. Absoluter Schwachsinn ist das, was wir hier machen.“ deklamierte ich enragiert. Mari war erschrocken, verblüfft und staunte. Seine Mimik hatte sehr ernste Züge. Er griff an meinen Unterarm und zog mich neben sich auf die Couch. „Susanna,“ begann er fast gravitätisch, „was ist in dich gefahren. Dass es mir nicht gefallen hat, kannst du dir denken. Nur wenn du vorhast, weiterhin so zu reden, wird es tatsächlich besser sein, wenn du dich wieder anziehst und gehst und deinen Gigolo nie wieder besuchen kommst.“ „Mari, Mari,“ ich war wieder auf seinen Schoß gesprungen, „sprich nicht so. So darfst du nicht reden. Die dummen Wörter, die ich gesagt habe, hatten mit dir nichts zu tun. Es ist meine Rage, mein Kampf mit mir selbst. Weißt du, in mir wohnen nämlich zwei Frauen, und die eine will genau das Gegenteil von der anderen. Ständig kämpfen sie miteinander, und die Qualen der Gefechte muss ich ertragen. Gerade ist es zur Explosion gekommen. Da hat die eine laut geschrien, aber ich bin das nicht. Versuche doch, bitte, so gut wie möglich, zu vergessen, was du gehört hast. Für mich bist du nur mein Liebster und nichts anderes. Du warst es und wirst es sein. Alles andere, was du hörst stimmt nicht, ist falsch oder gelogen.“ Mari schmunzelte. Natürlich würde es einen ausführlichen Versöhnungskuss geben, aber zunächst mussten wir uns liebevoll betasten, als ob wir uns wiederentdeckt hätten. Jetzt war sowieso alles zu spät. Als mir das plötzlich bewusst wurde, bin ich aus der Haut gefahren. Wäre es mir ruhig klar geworden, hätte ich vielleicht noch etwas ändern können. Aber wie konnte ich überhaupt meinen Pullover ausziehen? Ich hätte Mari schon seine Hand wegnehmen müssen. Aber ich stand heute anscheinend insgesamt ein wenig neben mir selbst, nicht nur das mit dem Pullover. Ich hatte Bedarf nach Mari und wollte mich mit ihm freuen. Jetzt saß ich wieder mit nacktem Oberkörper vor ihm auf seinem Schoß und schmuste mit ihm. Hätte ich aufstehen, mich anziehen und sagen sollen: „Mari, es war schön mit dir, aber jetzt muss ich gehen.“? Der Gedanke ließ mich lachen. Die Atmosphäre ließ nur noch ein Mehr und Weiter zu. „Soll ich das auch ausziehen?“ fragte ich, als ich an der Gürtelschnalle meiner Hose nestelte. Mari sagte nichts, grinste nur und begrub sein Gesicht zwischen meinen Brüsten. „Oder wird das zuviel heute?“ fragte ich. Eine Antwort bekam ich nicht, aber offensichtlich überwältigte es Mari. Nach einer kleinen Pause schlug er zaghaft vor: „Aber sollen wir uns dann nicht lieber auf's Bett legen? Das ist doch bequemer.“ „Du hast auch deine Vorstellungen der Allgemeinheit, worum es sich da handelt, wenn ein Mann und eine Frau gemeinsam fast nackt auf dem Bett liegen. Normalerweise wird dann der Mann aktiv, weil er ficken will. Du kannst das nicht und willst das nicht. Vergiss all den Schund und denke nur an uns beide.


Du und ich


Du und ich!
Wunschlose Seligkeit
Strömt deine Nähe über mich.
Der Alltag wird zur Sonntagszeit,
Unsterblich schlingt das Leben sich
Um uns. Und Menschengöttlichkeit
Fühl′ ich bei dir durch dich.“


hat Max Dauthendey gesagt. Mir geht es auch nicht darum, dass ich Sex will, aber deine Nähe schon, so nah und intensiv wie möglich.“ erklärte ich. Freud hatte ja bei seiner Libido sich ausführlich mit Sexualität befasst und die Subli­mierung relativ schnoddrig behandelt, für Platons Diotima drängte der Eros den Menschen nach immer höheren Formen der Erkenntnis. Die höchste Stufe war es, das Schöne in Wissenschaft und Kunst erkennen zu wollen. Darüber stand nur noch das Schöne allgemein und das göttlich Schöne. Das Schöne in Wissenschaften und Künsten suchten wir zweifellos, auf dieser hohen Stufe be­fanden wir uns schon, aber andererseits war es nicht zu leugnen, dass wir auch das körperliche Drängen, das die unterste Stufe bildete, verspürten. Über eine mögliche Gleichzeitigkeit auf unterschiedlichen Ebenen hatte Diotima sich nicht geäußert. Vielleicht würde Mari ja dadurch befähigt, das göttlich Schöne erken­nen zu können. Göttlich kamen wir uns beide schon jetzt vor, eigentlich für die unterste Stufe des Drängens und Begehrens viel zu schade, aber nach langer gegenseitiger Bewunderung und Verehrung kam es doch dazu. Auf den Ellen­bogen gestützt lag Mari an mir und wischte mit einem Finger den Schweiß über meinen Augenbrauen. Er sprach als erster wieder: „Du bist doch eine Göttin, bist Aphrodite. Sie hat sich von dem Schmied scheiden lassen und jetzt den richtigen Mann gefunden.“ „Mari, sprich nicht solche harschen, hölzernen Wor­te. Sie schmerzen in meinen Ohren. Da höre ich nur das Wogen des Meeres, in dessen unendliche Tiefen wir versunken waren. Eine Große Krake hielt uns um­schlungen und wehrte mit ihren Armen alles ab, was aus dieser Welt hätte zu uns dringen und uns stören können.“ stellte ich es dar. Alles Wonnewohlwollen hatte Maris Gesichtszüge erfasst. Nach einer Pause sagte er sanft und halblaut: „Oder waren wir gar nicht auf dieser Erde? Schwebten im Orbit und die Sphä­renklänge hatten uns umgarnt wie einen Kokon, der nichts von außen zu uns ließ?“ „Oder so.“ lächelte ich butterweich, „Und wo sind wir jetzt wieder aufge­taucht? In einem anderen Land? Wäre doch möglich. Aber nein, es hat uns in diese alte, gottverdammte Welt mit ihrer technologisierten Alltagsroutine zu­rück geworfen, die mich ankräht: „Susa, du müsstest längst zu Hause sein.“. Das kann man doch nicht machen, uns jetzt einfach auseinander reißen.“ „Soll ich mit zu dir kommen?“ schlug Mari vor. „Das wäre, glaube ich, nicht gut. Ich nehme deine Gefühle mit und lasse dir meine Gefühle hier. Du musst dich nur sehr intensiv hineinzufühlen versuchen, dann werden sie sich dir schon offenbaren.“ erklärte ich lachend. Was fühlte ich denn auf der Fahrt nach Hause? Alles nur Chaos. Ich wollte mir vorstellen, dass es so wäre, als ob ich gerade aus der Schule zurückkäme. Aber versuch mal, deine Gedanken und Gefühle zu disziplinieren, sie sind das ungezogenste Pack, das in mir wohnt und auch noch meine Identifikation mit ihnen fordert. Immer wieder diese Szenen, als ob es sich ständig wiederholte. Bis an mein Lebensende würde ich keine Sekunde davon vergessen. Meine Gedanken und Emotionen waren gefangen, als ob ich nicht bei Mari gewesen wäre, sondern an der letzten Schlacht bei Armageddon teilgenommen hätte. Immer lief es vor meinen inneren Augen ab, auch als ich zu Hause war. Einen vernünftigen, klaren Gedanken konnte ich nicht fassen. Kalt duschen sollte ich, das würde auch meine Gefühlswallungen abkühlen. Hatte Kneip das nicht empfohlen? Es sollte das Fieber vertreiben. Etwas Besseres konnte ich mir doch gar nicht wünschen. Allerdings wurde es mir anschließend sehr warm, aber trotzdem schien ich wieder nüchtern zu sein. Ratlos war und blieb ich aber doch. Zum Glück wurde ich von den dümmsten Vorwürfen: „Wie konnte so etwas nur passieren? Das hattest du doch auf keinen Fall gewollt.“ verschont. Nur wenn ich mir früher vorgestellt hätte, und ich hatte es mir nicht vorgestellt, weil es undenkbar war, einen Liebhaber zu haben, mit dem ich auch noch ins Bett ginge, hätte ich gesagt, das sei ich nicht, das könnte ich nicht sein. War ich denn jetzt eine andere? Ich hatte es zwar nicht gewollt, aber wenn es im Nachhinein ungeschehen zu machen wäre, das ließe ich für nichts auf der Welt zu. Kathi und Manuel musste ich liebkosend streicheln. Vielleicht ein Beleg für mich selbst, dass ich doch immer noch die Susa von immer war. Kathi glänzte immer für jedes Zeichen von Zuneigung, Manuel hätte gut sagen können: „Mami, was soll das?“. Jetzt lächelte er aber auch freundlich und mild. Ob er mich verstand? Aber was denn? Vielleicht lag es in meiner Mimik, die seine Zuneigung herausforderte. Nach dem Abendbrot rief ich Mari an. Wenigstens seine Stimme musste ich noch einmal hören. „Na, mein Liebster, haben sich meine Gefühle dir schon offenbart?“ fragte ich. „Ja, sie umschlingen mich alle wollen mich und schwelgen in dem Glück mich zu lieben und von mir geliebt zu werden.“ erklärte Mari. „Das kann ich mir gut denken, ich habe mich dir auch mit allem was zu Susa gehört gegeben und wollte alles von dir. Ich glaube, das war Leben so intensiv, wie Leben nur sein kann.“ meinte ich dazu. „Ich denke, es war mehr. So ist Leben bei uns gar nicht möglich. Wir befanden uns in einem anderen Bewusstseinszustand, waren in einer Art Trance.“ erklärte Mari. „Das denke ich auch. Wir haben uns gemeinsam gegenseitig so vollständig erlebt, wie es uns nur möglich war. Meinst du, dass dabei die Beteiligung der Genitalien überhaupt von Bedeutung war?“ Mari bekam sich gar nicht wieder ein vor Lachen, weil ich es ganz trocken und nüchtern gesagt hatte, als ob es mir völlig ernst wäre. „Susa, ich werde heute Nacht von dir träumen, nur von dir, die ganze Nacht werde ich von dir träumen und morgen auch noch. Du wirst es in der Schule an meinen verträumten Augen sehen.“ sagte Mari. „Ich weiß es nicht, aber es könnte gut sein, dass sich unser Erlebtes im Traum immer und immer wiederholen wird. Das kommt ja vor, wenn dich etwas emotional außerordentlich bewegt hat. Hoffentlich rufe ich nicht im Schlaf laut deinen Namen. Nein, ich weiß etwas Besseres. Deine Gefühle werde ich mir öffnen und mich beim Einschlafen darin suhlen. So werde ich bestimmt auf Wolke sieben schlummern.“ wollte ich mir vornehmen. „Tu das, Susa, die Tore aller Himmel werden sich dann für dich öffnen.“ wusste Mari dazu bevor wir uns für die Nacht verabschiedeten.


Das Schweigen der Weisen

Die Welt war schon eine andere geworden und ich war in ihr nicht mehr iden­tisch mit der Susa, bevor sie mit Mari im Bett gewesen war. Menschen, die du liebst, von denen du sagen würdest, dass sie in deinem Herzen wohnen, gehö­ren zu dir. Sie stellen einen wichtigen Teil deiner Persönlichkeit dar, sie bilden das Wichtige, das Wertvolle, was dein Leben ausmacht. Ohne Liebe wärst du arm, karg und welk. Zu denen, die in meinem Herzen wohnten, gehörte Mari natürlich auch. So einfach war es jetzt nicht mehr. Selbstverständlich hatte jede und jeder meiner Liebsten eine spezielle Position, die nur mit ihr oder ihm verbunden war, aber mit Mari hatte ich gemeinsam eine Reise unternommen, war in einem Land gewesen, das ich noch nie erlebt hatte. War es meine er­greifendste Erfahrung überhaupt? Schon möglich. Ein rauschhaftes Erlebnis, wie ich es bisher noch nie hatte, war es auf jeden Fall. Das war in mir, so war Mari in mir. Es wäre immer gegenwärtig, wenn ich an Mari dächte oder ihn trä­fe. Befreundet? Natürlich, das blieben wir, aber wir gehörten uns auch gegen­seitig, hatten unser tiefstes, intimstes Leben miteinander geteilt. Keine fulmi­nante Begrüßung, als wir uns am nächsten Morgen in der Schule begegneten. So einen Zirkus brauchten wir doch nicht. Ein Blick und eine leichte Berührung an den Händen, das sagte alles. Es war ja Unsinn, aber Mari kam mir so selbst­verständlich und nah vor, als ob ich noch mit ihm im Bett läge. Würde ich demnächst immer, wenn ich Mari sähe, mich mit ihm im Bett wähnen? „Na, wie stets mit den Prüfungsvorbereitungen, Herr Neuber, alles zum Besten?“ fragte ich als wir uns in der Pause im Lehrerzimmer trafen und lachte dabei. „Susa, was redest du für einen Schwachsinn?“ Mari darauf. „Was sollen wir uns denn hier erzählen? Sollen wir allen berichten, was wir gestern gemacht ha­ben. Alles wie immer, alles wie früher? Wie geht das denn? Was sagst du denn da?“ erklärte ich. „Du hast Recht. Wir können hier nicht mehr miteinander re­den. So wie früher, das wäre verkrampft und lächerlich. Lass uns in die Biblio­thek gehen, da ist sowieso nie jemand.“ schlug Mari vor. In der Bibliothek re­deten wir auch nicht. Über Eck saßen wir an einem Tisch gegenüber, ich legte meine linke auf Maris rechte Hand, wir blickten uns an und lächelten. „Und worüber reden wir jetzt?“ wollte Mari wissen. „Reden? Worüber sollen wir schon reden? Haben wir den Zustand, dass wir miteinander reden müssen, nicht längst überwunden?“ lautete meine Ansicht dazu. „Du meinst, dieser her­ben, rational erdachten Formulierungen in klanglicher Form bedürften wir für unsere Kommunikation gar nicht mehr? Wir würden uns viel umfänglicher ohne Worte zu reden verstehen? Du könntest Recht haben. „Der Weise redet nicht, der Redende weiß nicht.“ lautet eine alte chinesische Weisheit. Das ist Daois­mus und schon weit über zweitausend Jahre alt.“ erklärte Mari und lachte. „Aber wenn du nichts sagst, dann lachst du auch nicht, und deine Stimme höre ich auch nicht. Es ist doch gleichgültig, was der Redende sagt, es kommt doch darauf an, dass der Zuhörer weise ist.“ monierte ich. „So ist es. Auf deine Stimme möchte ich auch nicht verzichten. Sie klingt schon seit unserem ersten Gespräch wie Musik in meinen Ohren, und Mari begann zu singen: „Susa Diva, che inargenti. Göttin Susa im silbernen Glanze.“ Casta Diva aus Bellinis Norma in Susaform. Jetzt hätte ich ihn doch gern geküsst. „Sag mal, Mari, ein Zündholz braucht nur ganz wenig Reibung und schon entzündet sich eine leuchtende Flamme. Nur man muss es rasch wieder löschen, sonst verbrennt man sich die Finger. Was meinst du, haben wir uns die Finger verbrannt?“ wollte ich wissen. „Wenn du dir die Finger verbrennst, das tut doch weh, das schmerzt doch. Empfindest du denn Qualen deiner Seele?“ fragte Mari. Ich schüttelte nur den Kopf. „Ein Zündholz ist ja auch nicht das Licht an sich, es ist ja nur Mittel zum Zweck, um ein größeres Licht zum Leuchten zu bringen oder ein Feuer zu entflammen. Ist uns das mit dem Zündholz denn gelungen?“ fragte Mari. Eine Antwort war nicht nötig. Mein Lächeln sagte ihm, dass ich es so sähe. „Kommst du nach der Stunde mal, bitte, in meine Klasse?“ bat ich Mari. Einmal küssen mussten wir uns doch wenigstens. Als die letzte Schülerin den Raum verlassen hatte, schloss ich vorsichtshalber die Tür zu. So etwas wollte ich ja eigentlich nicht, aber was sollte ich denn machen? Nach der Schule mit zu Mari fahren? So ein Unsinn. Ein wenig musste ich doch heute schon Maris Nähe spüren. Sich leidenschaftlich zu küssen war schon verbindend und erregend, aber 'pralles Leben' und 'kleiner Geschlechtsverkehr' diese Vorstellungen hatten sich doch stark relativiert. Dass Mari am Nachmittag kam, war fast selbstverständlich. Beim Kaffee saßen wir am Küchentisch und hatten wieder die Hände aufeinander gelegt. Was diese Geste, die wir fast automatisch ausführten wohl symbolisieren sollte? Im Unbewussten schienen wir sie aber beide zu verstehen. „Mari, was wird denn jetzt? Ich habe niemals darüber nachgedacht, was wäre, wenn so etwas passieren würde. Wie rede ich? Es ist nichts 'passiert' und 'so etwas' schon gar nicht. Alles was war, haben wir persönlich selbst gemacht, und zwar nicht 'so etwas', wir haben zusammen gelebt, so intensiv wie möglich. Mich hat es tiefgreifend erfasst und etwas in mir verändert. Und wie ist es für dich? Wirst du nächste Woche denken: „War ein schöner Nachmittag. Hat Spaß gemacht, mit Susa zu ficken.“ ?“ sagte ich. „Susa!“ schrie Mari auf, „Zum Glück weiß ich, dass du nicht so denkst, aber wie kannst du so etwas sagen?“ „Neckische Provokation, das ist ein Zeichen von Liebe.“ entschuldigte ich mich. „In meinen Ohren hat es nur hässlich, abscheulich und widerlich geklungen. Von Liebe konnte ich keinen Ton hören.“ Mari darauf. „Entschuldigung, Mari, mein Liebster. Ich werde es aus deinen Ohren wieder entfernen. Sagen wollte ich dir nämlich gar nichts, ich wollte nur von dir etwas hören, wie du es denn siehst, was du denn meinst, was jetzt wird.“ erklärte ich. „Susa, ich habe nur geträumt, ich möchte, dass es immer so wäre, wie gestern. Immer, wenn ich meine Augen aufschlage, sehe ich Susa. Ja, ich wünsche mir, immer das Gefühl zu haben, dass du mit deiner Haut meine berührst.“ erläuterte Mari seine Träume. „Da sieht's aber böse aus, Mari, von deiner Kraft und Stärke bleibt da wohl nicht viel. Du bist doch ein ziemlicher Weichling, wenn du immer deine Schmusekatze bei dir haben willst.“ bemerkte ich scherzend. „Ein Mann brauchte eher einen heißen Ofen, meinst du. Das ist zwar nicht meine Diktion, aber könntest du den denn nicht auch symbolisieren, oder liege ich da völlig falsch.“ wollte Mari wissen. „Ach, Mari, was redest du für einen Blödsinn. Sag mal lieber ein gescheites Wort für gestern Nachmittag. Wir umschreiben es immer mit: 'Haben intensiv zusammen gelebt', 'Waren gemeinsam versunken' und so etwas. Die gebräuchlichen Benennungen sind schal oder Slang. Fällt dir nichts Treffendes ein?“ forderte ich Mari auf. „Es gibt in unserer Sprache keine treffende Benennung dafür. Wir waren doch in einer anderen Welt, in der unser Alltag nichts gilt und auch unsere Sprache wertlos ist. Wir könnten dem einen Namen geben, der nur uns gehört. Wie wäre es denn mit unserem gemeinsamem Nirwana?“ schlug Mari vor. „Ich weiß nicht, ob das so passend wäre? Wir sind ja schließlich nicht meditierend gemeinsam zur Erleuchtung gelangt.“ kritisierte ich. „Ich habe ja gesagt, dass ich währenddessen das göttlich Schöne in dir erkannt habe, Susa-Aphrodite.“ bemerkte Mari. „Du meinst, wir sollten es das göttlich Schöne nennen? Das könnte schon passen. Ich habe dich auch als absolut göttlich empfunden.“ lautete meine Meinung. „Oder wir nennen es schlicht: „Das Göttliche““ bot Mari an. „Au ja, das wäre gut und würde genau passen. So haben wir uns doch auch gefühlt, nicht wahr?“ kommentierte ich. „Du hast mir von deinen Träumen und Wünschen erzählt, aber wie du unsere Zukunft siehst, nachdem wir das Göttliche erkannt haben, dazu hast du noch nichts gesagt.“ monierte ich. „Da werden wir das Fatum fragen müssen.“ erklärte Mari, „Ich habe das Fatum am Nachmittag nachdem wir uns kennengelernt haben gefragt, was denn jetzt würde. „Du wirst dich in die Frau verlieben und sie sich in dich, und schließlich werdet ihr beide gemeinsam ins Bett gehen.“ hat es gesagt. Dir habe ich nichts davon erzählt, weil ich befürchtete, du würdest mich einen Idioten nennen, ich solle nicht so ein dummes Zeug reden, und du wolltest nichts mehr mit mir zu tun haben. Die Botschaften des Fatums sind oft brutal, inakzeptabel und unverständlich. Deshalb befragt man es besser nicht. Du kannst dir etwas wünschen, beabsichtigen, vornehmen, aber was sein wird, das kannst du nicht wissen. Du weißt nur, was in deinem Kopf ist, und da ist nur das, was schon geschehen ist. Morgen und was sein wird ist immer neu, und du kannst es niemals vorher wissen.“ Danke schön, Herr Lehrer, aber ich brauche deine Belehrungen nicht.“ reagierte ich, „Ich will dir mal sagen, was ich meine. Dass sich mein Leben weitgehend nach den Rollenvorgaben der Allgemeinheit für eine Frau wie mich abspielt, da stimme ich dir schon zu. Irgendwo ran orientiert sich schließlich jede und jeder. Aus der freien Luft hast du schließlich nichts, und was du selbst aus dir kreierst, kann immer nur relativ wenig sein. Aber ich war mit diesem Leben zufrieden und glücklich, vor allem, weil ich mich nicht starr an etwas gefesselt fühlte, mir viele Freiheiten genommen habe, die nicht in das Rollenklischee passten, und vor allem habe ich mich selbst und meine wirklichen Gefühle nicht verloren oder nachgemachten aus meiner Rolle geopfert. Das ist mein Leben und damit bin ich zufrieden. Dann kamst du. Du passtest da nicht hinein. Aber ich habe gemerkt, dass unsere Beziehung es nicht zerstört, sondern eine Bereicherung darstellst. So ist das jetzt nicht mehr. Du bist nicht mehr nur eine Bereicherung meines ursprünglich gewachsenen Lebens. Unsere Beziehung hat für mich den Charakter eines eigenen Lebens bekommen. Es gibt nicht mehr nur die Susa mit Kindern, Mann, Familie, es gibt auch die Susanna mit Marian.“ „in dir leben zwei Menschen, zwei Persönlichkeiten, deine Persönlichkeit ist also gespalten.“ hatte Mari es verstanden und lachte. „Ja, aber ich leide nicht darunter. Die eine weiß immer genau, was die andere getan hat. Und du wünscht dir, dass die eine immer für dich da sein möchte.“ antwortete ich. „Da ginge natürlich ein Traum in Erfüllung. Ich hoffe aber gar nicht darauf, dass er irgendwann in Erfüllung gehen könnte, weil er so absolut unrealistisch ist. Ich denke auch, dass unsere Beziehung dann eine andere wäre, wenn nur wir beide zusammen wären. Ich liebe die Susa so wie sie jetzt ist, und dazu gehören Kinder, Mann und Familie. Ob ich eine Susa-Solo auch lieben würde, das weiß ich gar nicht. Das wäre ja dann auch eine ganz andere Frau.“ erklärte Mari. „Aha, du liebst also meine Kinder und meinen Mann, ob du mich persönlich, solo liebst, das weißt du gar nicht so genau.“ erkundigte ich mich. „Nein, Quatsch, was rede ich für einen Unsinn. Ich wollte nur verdeutlichen, dass es mir so gefällt und ich dich so liebe, wie du bist.“ antwortete Mari. „Aber hat sich denn durch gestern für dich nichts verändert?“ wollte ich nochmal erfahren. „Aber, Susa, unsere Beziehung hat sich verändert. Mein Kostbarstes und Liebstes warst du schon, aber für Beziehungen gibt es eine Art Stufenleiter, und ich empfinde es so, dass wir den Summit erreicht haben.“ stellte Mari es dar. „Und was machen wir damit? Immer ein Gipfelfest feiern, wenn wir uns treffen?“ legte ich nahe. „Nein, wir sind uns tiefer und inniger verbunden. Du bist in mir immer da. Wir brauchen kein großes Theater und Festtänze. Du siehst es, wir legen nur unsere Hände aufeinander und wissen, dass wir uns verbunden sind und uns verstehen.“ erklärte Mari. „Ja, die Hand, das war mal so viel wie der Mensch selbst. Mit der Hand wurde Frieden geschlossen und Vereinbarungen bestätigt. Wenn man einen Menschen segnen wollte, wurden ihm die Hände aufgelegt. Heute in unserer Oberflächenwelt ist die Bedeutung der Hand zu Müll geschreddert worden, aber wir spüren ihre wirkliche Bedeutung, nicht wahr?“ vermutete ich. „Ja, wenn du deine Hand auf meine legst, dann ist Susa zu Mari gekommen, und ich bin durch meine Hand bei dir.“ deutete es Mari.


Welch ein Wunder

Sagen würde ich es Dirk auf jeden Fall, nur wollte ich warten, bis es in mir ein wenig abgeklungen war. Mir lag schon daran, es Dirk so zu erklären, dass er es verstehen könnte. Aber ging das überhaupt? Es Dirk erklären, dass er nach­empfinden könnte, was ich empfunden hatte? Das war Unsinn, das wollte ich auch gar nicht. Sollte ich ihm sagen, es wäre wegen besonderer Umstände ein­mal passiert. In Situationen in denen es wieder dazu kommen könnte, würde ich es zu verhindern wissen. Das wäre gelogen gewesen. Allerdings, ob es vor­aussichtlich wieder dazu kommen würde, dazu konnte ich gar nichts sagen. Ich hatte es als großartig erlebt, aber ich suchte nicht nach Möglichkeiten, es zu wiederholen. Im Grunde hatte ich auch das Empfinden, dass es ein einmaliges Erlebnis gewesen sei, das man wie auch ein Wunder gar nicht wiederholen könne. Dirk besuchte häufig Tagungen und Kongresse. Meistens fanden sie in der Woche statt, aber nicht selten dauerten sie auch übers Wochenende. Als ich ihm sagte, dass wir miteinander geschlafen hätten, lächelte er nur und spottete darüber, dass ich gemeint hätte, es verhindern zu können. „Es gibt eben die Biologie, die einem Mann und einer Frau ein starkes Verlangen da­nach vermittelt.“ hatte er gesagt. So eine Sichtweise über unser Göttliches machte mich böse, aber eine Auseinandersetzung hielt ich nicht für empfeh­lenswert, denn im Grunde schien er es ja akzeptieren zu wollen. Ob es wieder vorkommen würde, das ignorierte er. „Aber macht es nicht, dass ich es mitbe­komme.“ hatte er nur gebeten. Wir machten 'es', die Befriedigung des Bedürf­nisses unseres Geschlechtstriebs nach Kopulation, wie er es sah, ja überhaupt nicht. Lust, mit Mari gemeinsam etwas zu unternehmen, ins Konzert, ins Kino oder ins Theater zu gehen,hätte ich schon öfter gehabt, aber abends, das war immer ziemlich ungelegen. Ich hatte mich allerdings auch nicht intensiv genug darum bemüht. Wenn nicht etwas Offizielles anlag, war es Gewohnheit, dass Susa abends für Kinder und Mann zu Hause war. Dirk würde auf einem Kongress sein, was mich auf die Idee brachte, Mari und ich könnten doch am Samstagabend gemeinsam essen und anschließend zu Mari gehen. „Ihr wollt ficken.“ kommentierte Kathi, als ich es den Kindern erklären wollte. „Kathi, bitte, nicht so und nicht diese Straßenwörter. Dass wir uns lieben, Mari und ich, das wisst ihr doch, und da möchten wir auch gern mal eine Nacht zusammen sein. Ob es dabei zum Sex kommt? Wahrscheinlich schon, aber das ist nicht das Entscheidende.“ ermahnte ich. Ob Sex das Entscheidende war, das wusste ich doch selbst nicht. Ich hatte es ja damals auch nicht so empfunden, dass ich ein Bedürfnis nach sexueller Befriedigung gehabt hätte. Aber mein Sexualtrieb hatte mich doch wohl stärker im Griff, als ich es eigentlich hätte zulassen wollen. Warum konnte ich nicht in Jeans und einem netten Jackett zum Essen gehen, wie ich auch immer zur Schule ging? Nein, ich brauchte unbedingt ein schickes Kleid. Nur hatte ich so etwas gar nicht. Außer für die Oper oder zu festlichen Anlässen besaß ich nur zwei luftige Sommerkleidchen. Ich trug nämlich ausschließlich Jeans. Die Entwicklung, dass Frauen Nietenhosen anzogen, hatte ich für einen wichtigen Schritt in der Befreiung der Frau gehalten. Mari hatte sich darüber lustig gemacht und die hautengen und auch meine Jeans als das sexistische Kleidungsstück überhaupt bezeichnet. Aber es hatte sich eben so als Gewohnheit eingebrannt, dass ich mich anders unwohl gefühlt hätte. Für Mari Schlabberhosen anziehen, damit ihm der sexistische Anblick meines Hinterns erspart bliebe? Soweit käme es noch. Aber es gab ja nicht wenige Frauen, die ihre Persönlichkeit nicht nur an die Rollenerwartungen der Allgemeinheit abgegeben hatten, sondern die ihre Wünsche und Bedürfnisse von den Ansichten ihres Mannes dominieren ließen. Was für ein Kleid brauchte ich denn? Natürlich musste es mir gefallen, aber immer war der Gedanke gegenwärtig, wie Mari es wohl finden würde. Im Grunde hasste ich mich für dieses unerträgliche, nicht zu unterdrückende Balzempfinden, und als Mari mit glänzenden Augen mein tolles Kleid bewunderte, strahlte ich auch. „Mari, du bist ein Kind. Glotzt mich mit glänzenden Augen an, lächelst und freust dich.“ sagte ich als wir uns im Restaurant am Tisch gegenüber saßen. „Susa, was ist, hast du vor mich zu ärgern?“ reagierte Mari. „Du hast Recht. Kinder sind dumm, wissen nichts und haben keinen Durchblick. Beleidigend, nicht wahr? Aber daran habe ich gar nicht gedacht. Nein, Kinder sind offen, ehrlich und direkt, so wie du jetzt schlicht zum Ausdruck bringst, dass dich ein Gefühl von Freude beherrscht. Worüber freust du dich denn?“ erklärte ich. „Genau weiß ich es gar nicht. Es ist einfach ein Gefühl von Glück, mit dir zusammen und dann in dieser neuen, für uns ungewohnten Situation, kitzelig und schön.“ antwortete Mari. „Ich glaube, du verhältst dich öfter wie ein Kind. Ich finde das wundervoll. Kinder sind die wirklichen Mensch, nicht weil sie angeblich so unschuldig sind, sonder weil sie voll sich selbst leben. Die Menschen erkennen das gar nicht, sie sehen Kinder als Mangelwesen. Aber gezielt dich so offen, ehrlich und authentisch wie ein Kind verhalten, das kannst du später gar nicht mehr. Waren wir bei unserem Göttlichen nicht unter anderem auch ein wenig wie Kinder?“ wollte ich wissen. „Ganz sicher bin ich mir da nicht. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ...“ damit dürfte Jesus doch wohl weniger die gemeint haben, die gerade Sex miteinander hatten.“ wusste Mari dazu. „Oh je, wirklich du selbst? Du kennst dich mit dir selbst nicht aus. „Und auch Gottvater kam in atemloser Größe. Mit vollem Auge hat der Gott geweint, gelacht.“ hast du mir persönlich vorgelesen. Wenn du glaubst, Gott habe die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, musst du doch manchmal denken, was für ein schrecklicher Typ muss dieser Gott doch sein. Nur bei der Liebe, da sind sich alle, und er selbst auch, einig, dass er das gut hinbekommen hat. Gott hat doch das Körperliche nicht ausgeschlossen, sonst gäb's doch seine Menschen überhaupt nicht mehr.“ klärte ich Mari auf. „Ja, stimmt, Gott hält seine sogenannten Ebenbilder ja auch wohl nicht alle für ganz in Ordnung. Deshalb soll's beim Weltuntergang ja auch wohl die sieben Plagen geben, um die zu vernichten und seine Lieblinge zu befreien.“ erklärte Mari. „Gott hält uns also auch nicht für frei und du ja sowieso nicht, und Frau Stegmüller und ich sind Knechte des Bösen, das uns unterdrückt?“ sollte Mari erläutern. „Uns geht’s gut, wir sind glücklich und freuen uns. Wie schön für uns, aber das ist nicht die Welt. Für die allermeisten Menschen ist es nicht so, aber das nimmst du im Alltag gar nicht wahr. Du sollst dich wohlfühlen, damit du nicht auf den Gedanken kommst, es müsse etwas geändert werden. Dass nichts geändert wird, dass alles so bleibt, ist das entscheidende Bedürfnis des Kapitalismus, in dem die Mächtigen und Reichen dieser Welt von den herrschenden Verhältnissen profitieren. Das heißt, sie profitieren auch davon, dass du dich wohlfühlst und dich nichts drängt, etwas ändern zu wollen.“ erläuterte Mari. „Willst du mich darüber aufklären, dass wir im Kapitalismus leben, und ich deshalb nicht glücklich sein dürfe, sondern mich in ständigen seelischen Qualen und Unzufriedenheiten wälzen müsse? Und du selbst? Versuchst du deinen Leidensdruck immer weiter zu steigern, damit du endlich politisch aktiv wirst und den Kapitalismus abschaffst? Ich denke, du hättest Kraft und könntest deine Feinde besiegen. Aber nein, du willst jeden Tag ein wenig glücklicher werden und schließlich zur Ataraxie gelangen.“ warf ich ihm vor. „Ich denke schon, dass du Recht hast. Wir sollten für unsere Ansichten auch politisch konkret etwas tun, aber das Glücksempfinden des Einzelnen ist davon relativ unabhängig. Es gibt sehr arme Mensch, die trotzdem glücklich sind und reiche, die an Depressionen leiden. Du bist von deiner Grundtendenz doch auch ziemlich glücklich, oder?“ wollte Mari wissen. „Außer, wenn du so blöde Fragen stellst, dann bin ich das nicht. Mag sein, dass ich aus den Rollenvorgaben auch das eine oder andere übernommen habe, das mir sagt, welche Gefühle ich dabei zu haben hätte, aber ziemlich deutlich ich selbst bin ich in meinen Gefühlen doch immer schon gewesen und geblieben. Ich erinnere mich daran, dass ich als kleines Kind mit meiner Mutter schon eine Grundsatzdiskussion über den Schönheitsbegriff hatte. So habe ich das zwar nicht gesehen, aber als sie mir erklären wollte, dass ein anderes Kleid schöner aussehe, habe ich ihr klar gemacht, dass sie das doch nicht entscheiden könne. Was ich als schöner empfinde, könne nur ich selbst wissen. Aber es stimmt schon, unglücklich oder trist habe ich mich nie empfunden. Selbst mit dir nicht. Was müsste ich als arrivierte, angepasste Studienrätin, Hausfrau und Mutter jetzt wohl für Seelenqualen erleiden. Die würden alle Qualen der Endzeit übersteigen.“ erklärte ich. Den Wein spürte ich, aber beschwipst war ich nicht. In Maris Wohnung mussten wir uns nach der gelungenen neuen Tat, gemeinsam essen zu gehen, zuerst mal umarmen. Mari, versuchte, mir dabei auf dem Rücken das Kleid zu öffnen. „Lass das!“ fauchte ich ihn an. „Entschuldigung, Susa, ich wusste doch nicht, du musst es schon sagen, was du willst.“ Mari darauf. „Ich weiß es doch auch nicht. Was soll ich denn tun?“ ich dazu. Mari lachte laut und umfing mich. Wir ließen uns auf's Bett fallen. „Aber Susa, es gibt doch nichts und niemanden, der uns sagen könnte, was wir zu tun hätten oder tun sollten. Es ist doch klar, dass wir nur das tun, was uns beiden gefällt und was wir beide wollen.“ erklärte Mari. „Aber das weiß ich doch gar nicht. Ich weiß doch gar nicht, was ich will. Wie damals, das steht im Hintergrund, aber du kannst so etwas doch nicht wiederholen, und das will ich auch gar nicht versuchen. Und einfach mit dir Sex haben, wie man es so macht, das will ich auf keinen Fall. Das würde alles zerstören, dann wollte ich nichts mehr mit dir zu tun haben. Am besten, ich fahre wieder nach Hause.“ erklärte ich. „Es war schon göttlich damals. Das sehe ich doch auch so, „Wir waren alles und wussten nichts mehr, wussten bloß, dass wir selig waren.“. Aber denk doch nicht daran, es wiederholen zu wollen. Es gibt nichts, das du wiederholen kannst. Was wir heute Abend machen, wird auf jeden Fall etwas anderes sein. Du könntest zum Beispiel gleich sagen: „Ich bin müde. Ich möchte jetzt schlafen.“ Dann wäre es so. Was auch geschieht, alles ist doch in Ordnung, nur vergiss, bitte, dass du gehen könntest. „Jede Stunde mit dir ist ein Baum voll zärtlicher Blumen.““ sagte Mari. Für mich war es ja nicht anders. Selbstverständlich wollte ich bei Mari bleiben. Durch seine Stimme und seine Worte legten sich meine hysterischen Anwandlungen auch allmählich und machten einem Gefühl neugieriger Erwartung Platz. „Sag mal, Mari, ich bin ja nicht mehr die Jüngste. Wie ist das denn eigentlich, wirkt mein alternder Körper auch erotisch anregend auf dich?“ wollte ich wissen. Ein mahnendes „Susa!“ war das einzige, was ich als Antwort erhielt. „Ja, ich meine, du bist doch ein Mann, und da reagiert dein Geschlechtstrieb doch visuell. Ob du mich begehrenswert findest, ist doch schon davon abhängig, was du siehst.“ fügte ich hinzu. „Susa, was reizt dich, so einen Blödsinn zu reden? Unsere Beziehung ist dadurch zustande gekommen, dass ich dich gesehen habe und dachte: „Oh, was für ein scharfes Luder, an die Frau musst du dich unbedingt ranmachen.“. Du tust mir weh, wenn du so redest. Wir lieben uns doch.“ beschwerte sich Mari. „Der Geschlechtstrieb spielt dabei gar keine Rolle, meinst du. Es ist nur das Herz. Mein Geschlechtstrieb hat mich zum Beispiel dazu veranlasst, mir dieses Kleid zu kaufen, um dich damit zum Kopulieren zu animieren.“ erklärte ich. Mari lachte sich schief. „Und damit bist du immer noch beschäftigt. Deshalb willst du das Kleid auch nicht ausziehen.“ vermutete Mari lachend. „Du frecher Lümmel, willst mich auf den Arm nehmen, na warte.“ reagierte ich und wollte mit Mari kämpfen. Aber im Liegen ging das gar nicht. Ich kletterte auf Mari und kitzelte ihn. „Susaa!“ flehte er nur im Lachen. „Wehr dich doch. Ich denke du bist so ein kräftiger Kämpfer.“ forderte ich ihn auf. Das Kleid störte. Ich zog es aus und warf es auf den Boden. „Mit deinem Bruder hast du früher bestimmt nie gekämpft, weil du sowieso der Schwächere warst. Dir fehlen nicht nur Kraft und Stärke, dir fehlt auch der Kampfgeist.“ erklärte ich. Wir lachten beide und ich ließ mich auf Mari runterfallen. „Aber du bist auch eine kämpferische Frau mit der Lust, zu siegen, nicht wahr?“ meinte Mari immer noch halb lachend. „Fängst du schon wieder an? Wenn wir schon nicht miteinander schlafen, kannst du mich auch ruhig ärgern, meinst du.“ erwiderte ich. „Gar nichts meine ich. Ich bin einfach glücklich, dass wir zusammen sein können. Ich trau mich gar nicht, es zu sagen, aber dein Kleid jetzt gefällt mir noch viel besser als das, welches du dir extra für unser Essen gekauft hast. Susa, du bist wundervoll.“ erklärte Mari. „Siehst du, ich sag's ja, also doch ein Mann. Ja, gefällt dir mein Set denn? Findest du die kleinen Stickereien süß? Mari, es geht dir darum, das ich fast nackt bin.“ klärte ich ihn auf. „Und das ist verboten, das darf nicht sein. Das ist sexistisch, unmoralisch und vielleicht sogar frauenfeindlich. Heute soll das Körperliche mit unserer Liebe nichts zu tun haben. Für heute existiert die reine Liebe nur im Herzen oder in den Wolken. Susa, wir lieben doch alles an uns, das weißt du doch. So kennen wir uns doch.“ belehrte mich Mari. Ich war noch nicht frei, nicht entspannt, nicht offen genug. Ich war noch in der Alltagswelt gefangen. „Mari, stört es dich, wenn ich Lust dazu hätte, dass wir beide noch gemeinsam ein paar Gedichte lesen würden?“ fragte ich. Selbstverständlich holte Mari ein Buch. „Aber zieh doch auch mal dein Hemd aus, dann können wir uns beide dabei streicheln.“ empfahl ich. Unter anderem lasen wir von Max Dauthendey:


Nur ein Lied färbt die Grauseele bunter


Ich setze mich hin untern nächstbesten Busch
Und sing's Blau mir vom Himmel herunter
Nur ein Lied färbt die Grauseele bunter.
Aus dem Grautag, in welchen die Sorge öd weint,
Wird ein Blautag, sobald nur ein Lied hell erscheint;
Die verstockteste Wolke wird munter.
Wo ein Liebeslied rot wie die Sonne aufgeht,
Jede Wange frohleuchtend voll Herzblut dasteht.
So ein Rot geht dann schwer mehr herunter.“


Dabei streichelten wir uns und Mari küsste mich überall, bis wir uns schließlich ganz auszogen, ins Bett gingen und uns weiter streichelten und küssten. Woh­lig und glücklich empfanden wir uns. Nichts drängte. Die Lust und Erregung kam auch, aber erst viel später. Offensichtlich brauchte ich Liebesgedichte um mit Mari Lustempfindungen entwickeln zu können. Am wundervollsten war es, dass wir nachher aneinander gekuschelt beseelt einschlafen konnten. Mari schlief noch, als ich wach wurde. Aufstehen und ihn schlafen lassen? Niemals. Er sollte mich doch sehen, wenn er seine Augen aufschlug. Dafür sorgte ich, indem ich ihn sanft streichelte. Ganz kurze Verblüffung, bevor seine Augen glänzten und seine Mimik ein breites Lächeln formte. „Mein Liebster, hallo, hal­lo, hier ist die Welt. In welchen Traumlanden bist du denn gewesen?“ fragte ich als erstes. Ein „Weiß nicht.“ bekam ich mit krächzender Schlafstimme als Ant­wort. Der Mari, der gerade wach wurde, war jemand anders für mich gewor­den. Welche Distanzen es bislang noch gegeben haben könnte, wusste ich gar nicht, aber jetzt gehörte Mari wirklich ganz zu mir. Vielleicht ist die Bezeich­nung 'miteinander schlafen' ja gar nicht so falsch. Ob man miteinander Sex ge­habt hat, ist gar nicht das Entscheidende, sondern dass du an deinen Liebsten gekuschelt schlafend die Nacht verbracht hast. Niemals bist du so schutzlos, offen und verletzbar wie beim Schlafen, und so begibst du dich vertrauensvoll in die Arme deines Geliebten. Vielleicht ein viel direkteres und intimeres Erleb­nis als beim Sex. Jedenfalls kam es mir an diesem Morgen so vor, als ob es so sein müsse. Wir schmusten noch ein wenig. Wonnegefühle wollen von Wärme, Sanftheit und zarten taktilen Genüssen begleitet sein. Als wir aufgestanden waren, berührten wir uns manchmal, blicken uns an und lächelten. Verliebte, das waren wir schon, darüber brauchte man nicht zu reden, aber vor allem waren wir die zwei Mitglieder des Geheimbundes, die sowieso alles wussten und sich nur anzuschauen brauchten. Das Stadium, dass Menschen zur Pflege ihrer Beziehung kommunikativ Worte miteinander wechseln müssen, hatten wir überwunden. Für die Weichheit, Milde und Sensitivität der Liebe war unsere Alltagssprache viel zu harsch, rau, hart und blechern. Sie hatte zwar eine lange etymologische Entwicklung, aber wie wir sie heute anwandten, das entsprach unserem kapitalistischen, technologisierten Alltag. Es müsste eine eigene Sprache der Liebe geben. Die gab es ja auch in den Liebesgedichten, oder wie wir jetzt sprachen, wenn wir uns Notwendiges mitzuteilen hatten. „Mari, mon amour, würdest du mal, bitte, so lieb sein, und mir die Marmelade rüberreichen.“ sagte ich halb laut und in geschwungener Melodie. Nach dem Frühstück schlug ich Mari vor: „Hättest du auch Lust, ein wenig spazieren zu gehen?“ Na klar, hatte er. In der Nähe war ein kleiner, parkähnlicher, verwilderter Wald. „Oh, das geht nicht. Ich habe ja gar keine Schuhe dabei.“ fiel mir ein. Eine große Reisetasche hatte ich Idiotin für die eine Nacht mitgenommen, aber an Schuhe nicht gedacht. Mit dicken Wollsocken passte mir ein Paar von Maris Turnschuhen, aber es war doch besser mit zu großen Schuhen durch den Wald zu latschen, als mit meinen Stilettos durch den Wald zu stöckeln. Zuerst schwiegen wir auch beim Laufen. „Sag mal, Mari, weißt du eigentlich genau, wieso es dazu kommt, dass immer speziell ein Mann und eine Frau sich anziehend finden und zusammenkommen?“ wollte ich wissen. „Na, der Geschlechtstrieb, du weißt schon, der hat die einzige Funktion, den Menschen Lust, sich zu vermehren, zu vermitteln. Und wenn du einen Mann triffst, erkennt dein Geschlechtstrieb „Ah, mit dem wäre es möglich.““ wusste Mari. Hätte ich ihn ausschimpfen sollen für so eine blöde Antwort? Sonst hätte ich das vielleicht getan, aber heute ging so etwas gar nicht. Mari durfte alles. „Ich will aber nicht mit allen Männern ficken, nur mit dir, und mit dir wollte ich es ja auch überhaupt nicht. Trotzdem haben wir uns kennengelernt und Interesse aneinander entwickelt.“ erklärte ich. „Willst du wirklich ernsthaft darüber reden, Susa?“ fragte Mari. „Ja, ich finde es schon sonderbar. Genauso gut hätte da eine Frau neben mir an der Kaffeemaschine gestanden, hätte ich die auch angequatscht? Aber nein, es musste ein Mann sein. Hätte ich ahnen können, was sich daraus entwickelt, ich hätte dich gemieden wie die schwarze Galle, und trotzdem bekomme ich sogar auf einmal Lust, dich zu küssen. Das kann doch nicht alles Zufall sein.“ antwortete ich. „Du meinst, das Schicksal oder die Vorsehung haben es so gewollt.“ blödelte Mari. „Oder magische Kräfte, nicht wahr. Mari, ich hätte das niemals gewollt und auch nicht für möglich gehalten, und trotzdem ist es geschehen. Das kann ich nicht begreifen.“ erklärte ich. „Susa, bei allem, was dir Spaß macht, was dir gefällt, woran du Lust hast, auch am Kuchenbacken, ist die Libido der Motivator. Wenn es sich um einen Mann handelt, und dabei sollten erotische oder sexuelle Assoziationen entstehen, das erfährst du gar nicht. Das machen deine limbischen Operatoren ohne Beteiligung des Cortex unter sich aus. Dein Bewusstsein bleibt völlig unberührt, aber handeln wirst du doch entsprechend.“ erläuterte Mari. „Aha, ich tue etwas, was ich gar nicht will, und kann es trotzdem nicht verhindern, weil mein limbisches System statt ich selbst für mich entscheidet, was zu geschehen hat?“ hatte ich Mari verstanden. „Ach wo, du konntest doch jederzeit sagen: „Ich will es nicht.“ und Schluss machen. „Das geht mir zu weit.“ hättest du nach dem ersten Kuss sagen können. Dein Bewusstsein ist allerdings nur ein kleiner Teil von dir, und die Entscheidungen für dein Handeln stammen meistens von der gesamten Susa.“ antwortete Mari. „Mein Bewusstsein, das mir sagt, wer ich bin und was ich will, wo alle meine Werte, Ansichten, Meinungen und Normen beheimatet sind, alles nichts wert, meinst du, vielleicht sieht deine gesamte Susa es ganz anders?“ verstand ich ihn. „Nein, keinesfalls, dein Bewusstsein ist doch dein höchstes Gut. Etwas anderes zum Denken hast du doch nicht. Nur du kannst dir selbst manchmal Regeln und Zwänge auferlegen, bei denen es zu Disharmonien mit deinen wirklichen Bedürfnissen kommt. Dass geschieht äußerst häufig, aber es ist nicht gut. Du kannst krank davon werden, meistens psychisch aber auch alles andere ist möglich.“ erklärte Mari. „Du meinst, es war wichtig, dass ich unsere Beziehung zugelassen habe, sonst wäre ich möglicherweise krank geworden. Die Liebe, welch ein Wunder, sie beschert uns nicht nur das tiefste Glück, sondern sorgt auch dafür, dass wir gesund bleiben.“ staunte ich und Mari lachte.


Liebe älter als Denken

Kathi wich nicht von meiner Seite, als ich nach Hause kam. Sie schaute mich mit glänzenden Augen an und grinste. „Kathi, was willst du wissen? Du wärst am liebsten dabei gewesen, nicht wahr? Beim nächsten mal da machen wir das so. „Niemals ohne meine Tochter.“ werde ich zu Mari sagen. Kathi lachte und griff mir in die Seite. „Komm wir legen uns mal hin.“ forderte sie mich auf. Auf ihrem Bett beugte sie sich über mich und fragte: „War's schön? Bist du glück­lich?“ Ich antwortete mit meiner Mimik. Dann besprach sie mit mir nochmal al­les zur Liebe und wollte wissen, warum ich Mari liebe. „Kathi du bist eine klu­ge, junge Frau, da hat der Mari schon Recht, aber mit deiner Mutter sieht's arg aus. Ich liebe meinen Mann, ich liebe meinen Sohn, ich liebe meine Tochter und ich liebe Mari und weiß bei keinem warum.“ erklärte ich. Kathis Schmun­zeln und ihre Augen sagten, dass sie nähere Erläuterungen dazu erwartete. „Dass es für alles einen Grund, eine Ursache gibt, nach denen man mit warum fragen kann, das hast du als kleines Kind schon gelernt, damit bist du aufge­wachsen. Das ist aber kein Naturgesetz, sondern die Menschen haben sich überlegt, dass unser Denken so am besten funktioniert. Die Liebe ist aber schon viel, viel älter. Sie muss schon bei der Urmutter aller Menschen gewesen sein, denn alle Menschen, die heute irgendwo auf der Welt leben, wollen ge­liebt werden und liebe geben, genauso wie sie sich freuen oder traurig sein können. Liebe gehört zum Menschen, wie Augen, Ohren, Nase und Mund. Um die Regeln unseres Denkens mit 'warum' und 'weil' schert die Liebe sich nicht. Sie ist einfach da. Wenn einer sagt, er wüsste, warum er seine Frau liebt, dann lügt er, oder er liebt sie nicht wirklich, oder er redet dummes Zeug.“ erläuterte ich. Über die Angelegenheit mit dem Sex musste ich auch noch mal mit ihr re­den. Vehement hätte ich es abgestritten, dass meine Sexualität und mein Se­xualverhalten etwas mit Rollenvorgaben der Allgemeinheit zu tun haben könn­ten. Das wäre ausschließlich ich selbst persönlich, so meinte ich. Jetzt wusste ich es besser. Im Grunde selbstverständlich, was du über Sex weißt, und wel­che Einstellung du dazu hast, kommt ja nicht aus den Wolken, du hast es doch übernommen, von dem, was du von anderen erfahren hast. Trotzdem empfand ich es keineswegs als schlecht und die Gefühle dabei, waren auch nicht nach­gemacht. Bestimmt war ich auch ein wenig versunken, aber der Alltag war nie völlig ausgeblendet. Paddeln in seichten Gewässern eben, wie Mari das Leben der meisten Menschen beschrieb. Aber wie sollte ich Kathi denn erklären, wie es zu erfülltem Sexualerleben käme? Das wusste ich ja selbst nicht genau. Man müsse sich nur extensiv wie möglich lieben und gemeinsam leben wollen, dann geschähe es schon von selbst etwa? Was sollte das denn heißen? Nach dem Examen würde Mari sich um eine Anstellung bewerben müssen. Er konnte zwar Wünsche äußern, aber er hatte keine Frau, keine Kinder und keine kranken El­tern, ihn würde man dahin schicken, wo sonst keiner hin wollte. Einmal im Mo­nat würden wir uns treffen. Zunächst noch große Freudenfeste, aber mit der Zeit würde es sich entwickeln zu Besuchen wie die von Tante und Onkel. Mari würde eine nette Kollegin kennenlernen, die sich auch in der Ödnis einsam fühlte, und die er jeden Tag traf. Wir würden uns noch schreiben, bis Mari ei­nes Tages erklären würde, dass unsere Beziehung ja sowieso keine Perspektive hätte. Horrorvorstellungen, aber durchaus nicht unmöglich. Überall ließe sich so etwas entwickeln. Wie gut, dass du nicht ständig daran denkst, was Schreckliches geschehen könnte. Es würde dich verrückt machen, aber wenn es dann doch geschähe, würde es dich erschüttern oder sogar zerbrechen. Mari musste hier bleiben. Liebe lebt vom Austausch, vom gegenseitigen Erleben, mit Briefen vom Lande reichte das nicht. Zu Isabella hatte ich eine hervorra­gende Beziehung. Sie war Mitglied im Personalrat und verstand sich mit dem Chef gut. Den wahren Grund musste ich ihr schon nennen. Sie schmunzelte nur. „Wegen Deutsch, das wäre ja Unsinn, aber Philosophie und Ethik, das hat doch niemand als Fach. Im Grunde unzumutbar, dass die Schülerinnen und Schüler in Philosophie nur Unterricht von fachlich nicht qualifizierten Kollegen erhalten. Wenn es ein Gymnasium gibt, das Mari Neuber als Lehrer braucht, dann ist es unseres.“ erklärte ich. „Und ich soll dem Chef klar machen, dass er sich dringend beim Regierungspräsidenten dafür einsetzen soll?“ vermutete Isabella, „Weißt du denn, ob er den Neuber persönlich mag?“ „Mari? Der kann doch gar keine Feinde haben. Der versteht sich doch sogar mit Lore Stegmüller gut.“ erklärte ich. Isabella versprach, es zu versuchen. Ob, wie und wie inten­siv sich der Chef für Mari einsetzen würde, und wie groß die Erfolgschancen wären, sei alles offen. Man könne nur abwarten. Noch vorm Ende des Referen­darjahrs begrüßte der Chef Mari launig mit 'Herr Kollege' „Ich habe mit dem Struck vom RP gesprochen. Zuerst wollte er nicht wegen der Unterbesetzung an vielen Orten. Dann hat er sich aber doch darauf eingelassen. Eine Schule ganz ohne Philosophen, das geht doch nicht. Zumal so eine große wie unsere. Er hat es mir zugesagt, und ich bin mir sicher, dass wir uns darauf verlassen können.“ Mari sagte, er hätte sich nur schwer zurückhalten können, dem Chef um den Hals zu fallen. Aber wir veranstalteten einen Freudentanz.


Gefühle und Leidenschaften

„Und wenn du jetzt schon bei uns an der Schule bist, willst du da nicht auch zu uns ziehen?“ fragte ich ganz ernst. Mari lachte sich schief. „Das wäre ja auch absolut unmöglich, dass wir beide zusammenleben würden. Stell dir vor, jeden Abend dieses Theater.“ wusste ich. „Aber, Susa, wir würden doch jeden Abend alles ganz anders machen.“ wollte mich Mari beruhigen. „Ach ja? Wie machen wir's denn jetzt? Wir machen doch nix, es kommt doch einfach irgendwie so.“ sah ich es. „Trotzdem wird es immer neu und anders sein, weil du nie die Glei­che von gestern bist.“ kommentierte Mari. „Hast du dem Chef nicht gesagt, dass es so auch dringend erforderlich sei, weil sonst unser Glück Schaden näh­me und unser Gesundheit ruiniert würde?“ wollte ich von Mari wissen, aber der schmunzelte nur. „Unser Glück ist nicht in Beton gegossen und immer unver­änderlich.“ bemerkte ich. „Du hast Recht, Glück ist eher flüchtig und vergäng­lich.“ meinte Mari. „Weißt du, was ich geträumt habe? Du wärst ganz weit draußen auf dem Lande. Unsere Besuche würden immer seltener und unbe­deutender und die nette Kollegin an deiner neuen Schule immer bedeutsamer, bis du mir eines Tages sagtest: „Susa, ich brauche dich nicht mehr.““ erzählte ich. „Susa, hör auf! Warum denkst du dir solche Horrorgeschichten aus? Es kommt ganz anders. Du hast eine Abiturklasse, bist total beschäftigt, es gibt unerwartete, massive Probleme mit den Kindern, um die du dich kümmern musst, an mich denkst du kaum noch. Eines Tages sagst du: „Mari, lass uns Schuss machen. Ich habe dafür gar keine Zeit mehr.““ erklärte Mari. Wir drückten uns fest und legten die Wangen aneinander. „Oh, wie grässlich könn­te das Fatum sein. Du hast schon Recht, man befragt es besser nicht. Soll ich dir mal sagen, wie's wirklich wird? Ich bin fast neunzig und sitze zitternd im Großmuttersessel. Du kommst von der Schule und bist gerade pensioniert wor­den. Ein Tütchen gebrannte Mandeln hast du mir mitgebracht, weil ich die doch so gerne mag. Aber zunächst müssten wir uns natürlich küssen. Dabei wären wir so versunken und verwegen, dass der ganze Großmuttersessel mit mir um­kippte.“ erzählte ich. „Ist das denn schöner?. Ich mag so etwas nicht denken. Mir ist unser Glück hier und jetzt wichtiger und lieber.“ erklärte Mari. „Und das schützt uns davor, dass die Liebe morgen zerbricht?“ bezweifelte ich. „Nein, die Liebe ist kein Zustand, die Liebe lebt, sie ist jeden Tag neu, so wie jeder Tag anders ist, und ich versuche, dafür zu sorgen, dass mich jeder Tag ein we­nig glücklicher macht.“ sagte Mari. „Und bei der Liebe sollte man versuchen, jeden Tag ein wenig verliebter zu sein? Und wie geht das?“ wollte ich wissen. Mari lachte sich schief. „Das weiß ich auch nicht? Immer verliebter mit dem Ziel: Liebeswahn? Nein, wir sollten unsere Liebe pflegen durch gegenseitigen Austausch, wonach es uns ja auch drängt, damit wir uns immer tiefer verste­hen und unsere Liebe noch profunder wird, aber ich denke auch, dass mög­lichst viel gemeinsames, liebevolles Handeln stattfinden sollte.“ so Mari. „Ge­meinsam Pfannkuchen backen, nicht wahr?“ nannte ich als Beispiel, und Mari schmunzelte, „Ich denke, wir brauchten eine gemeinsame Aufgabe. Das wäre verbindender. Du hast doch Kraft und willst deine Feinde besiegen. Was hin­dert dich daran, deinen ärgsten Feind, den Kapitalismus, zu bekämpfen? Ich wäre absolut dabei.“ erklärte ich. Mari lachte sich erst mal wieder krumm. „Ja, das machen wir.“ scherzte Mari, „Dereinst wird man dann sagen: „Susanna und Marian, waren das nicht die beiden, die den Kapitalismus abgeschafft ha­ben?“. Susa, „Frei ist nur der Mensch, der innerlich frei ist, und nur das tut, was die Vernunft wählt.“ sagt Epikur. Hätte unser Vorhaben denn etwas mit Vernunft zu tun?“ „Hah, du sagst, wir sind nicht frei, bei den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen wir gezwungen sind, zu leben. Der glückliche Mensch ist ein durch Gefühle und Leidenschaften bewegtes und gesteuertes Wesen. Was sagt dir denn deine Vernunft? Ist dir das unter unseren Daseinsformen möglich? Wird dir dein fundamentales Bedürfnis, Lehrer sein zu dürfen, erfüllt? Unter uns beiden existiert eine andere, freie Gesellschaft, aber für dein übriges Leben hast du vergessen, dass es die Möglichkeit einer freien Gesellschaft geben könnte. Ich habe erst durch dich erfahren, wie ein anderes Leben aussehen würde. Wir sollten versuchen, es auch auf andere Bereiche auszudehnen, uns dessen bewusst sein, und es als Steigerung unserer Liebe ansehen, wenn es uns wieder irgendwo gelungen ist, die affirmative Kraft des eindimensionalen Denkens zu überwinden.“ schlug ich vor. „Du möchtest nicht mehr die Rolle der angesehenen Studienrätin und Mutter konkretisieren, sondern willst nur noch dich selbst leben, die reine, freie Susanna.“ vermutete Mari nicht ganz ernst. „Ja, unsere freien Seelen werden wir in den Wolken schweben lassen. Mari, das ist doch Quatsch, das geht doch gar nicht. Dich ohne alles, was du übernommen hast, als puren Engel, so gibt es dich doch überhaupt nicht. Du hast es selbst gesagt, dass diese Gesellschaft, in der wir leben, nicht frei ist, sondern es dir nur suggeriert werden soll. Das solltest du nie vergessen und bei allem bedenken. Ich werde nichts mehr einfach übernehmen, weil man es so macht, sondern ich werde immer prüfen, in wie weit es mit mir, meinen wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen harmoniert.“ erwiderte ich. „Ist es denn schlimm, wenn ich trotzdem manchmal meine, den Engel in dir zu erkennen?“ wollte Mari wissen. „Den Engel, mein Lieber, wie willst du den denn hier in der Alltagsroutine erkennen können? Er zeigt sich doch nur bei unserem Göttlichen im Kokon der Sphärenklänge draußen im Orbit, dachte ich.“ kommentiere ich Maris amouröses Kompliment. „Aber natürlich, Susa, was sich uns gezeigt hat war die 'divinae pulchritudinis', die göttliche Schönheit, aber die Engel bewegen sich unter den Menschen. Mag sein, dass sie sich manchmal zum Singen in Engelschören treffen, nur in der Regel hat jeder Mensch seinen Engel.“ erwiderte Mari. „Mein geliebter Marian, du gestattest, dass ich eher dazu neige, deine Äußerungen bezweifeln zu wollen. Ich würde bei den allermeisten Menschen nicht vermuten, dass sich bei ihnen irgendwo ein Engel verbergen könnte. Und im Übrigen, wo sollte er denn zum Beispiel bei mir sein?“ wollte ich wissen. „Du hast ja Recht, durch ihr Auftreten, ihre Äußerungen, ihre Verhaltensweisen verhindern viele Menschen, dass man den Engel in ihnen erkennen kann, ja sie wollen es sogar ausdrücklich nicht. Ich sehe ihn in dir zum Beispiel als Iphigenie, aber nicht das Land der Griechen mit der Seele suchend, sondern sie will die Liebe von Marian Neuber in seinem Herzen finden.“ erklärte Mari. „Iphigenie? Ich weiß nicht. Da ist doch alles voll mit Mord und Todschlag. Liebe kommt da kaum vor. Ich sehe deinen Engel eher in dem wirklichen Romeo, der vor Sehnsucht nach der Liebe von Susa glühend fiebert.“ erwiderte ich. „Bei Shakespeare gibt es aber doch auch überall Tod und Mord und Greueltaten.“ entgegnete Mari. „Du hast Recht, Tod oder Liebe oder Tod und Liebe kommen überall vor. Sie sind eben Emotionen, die die Menschen am stärksten bewegen.“ wusste ich. „Wir haben uns für die Liebe entschieden, aber wenn du erklärst, dass du mich nicht mehr liebst, bringe ich mich um.“ erklärte Mari. Ein völlig ernstes Gespräch war es, wie so oft unter uns, nicht, aber nur abstrus war auch nicht alles. Einem amourösen Geplänkel kam es gleich. „Mari, Mari, wo wird das enden. Wir beide wollen uns als gemeinsames Ziel vornehmen, die Welt zu verändern und reden über Engelein.“ klagte ich. „Susa, wir wollen doch die Welt für uns verändern. „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“ wie Mahatma Gandhi es bezeichnet hat. Natürlich gibt es als Engelchen die kleinen Putten uns alles mögliche drollige, aber Engelhaftes kann auch eine ganz andere Konnotation haben, es charakterisiert das Reine, das Gute, das Menschliche in dir. Rose Ausländer hat das in einem Gedicht sehr schön formuliert:

 

Der Engel in dir

 

Der Engel in dir
freut sich über dein
Licht
weint über deine Finsternis
Aus seinen Flügeln rauschen
Liebesworte
Gedichte Liebkosungen
Er bewacht
deinen Weg
Lenk deinen Schritt
engelwärts.“

 

Der Engel ist es, den ich in dir gesehen habe. Von Sentimentalität keine Spur. Ich denke es wäre schon wichtig, bei unserer gemeinsamen Aufgabe, auf ihn zu achten.“ erklärte Mari. Wir schwiegen uns an und lächelten. Wahrscheinlich vermittelten unsere Blicke gerade gegenseitig die Eudämonie des jeweils ande­ren. „Mari, die Iphigenie auf Tauris hast du zwar bestimmt schon gesehen. Sie steht im Theater auf dem Spielplan. Ich würde sie mir gern mit dir anschauen. Wäre das eher als gemeinsames, liebevolles Handeln oder schon als Bewälti­gung einer kleinen gemeinsamen Aufgabe anzusehen, was meinst du? Goethe lässt Iphigenie nämlich nicht nur das Land der Griechen mit der Seele suchen, sondern lässt sie auch gleich zu Anfang schon verkünden: „Der Frauen Zustand ist beklagenswert.“. Ob Goethe ein Freund sehr früher Feministinnen war? Was sagst du als Germanist dazu?“ fragte ich und lachte. Mari lachte ebenfalls, um­fing mich und drückte mich an sich. „Goethe hat die Iphigenie geschrieben, weil er die Frau vom Stein nicht lieben durfte.“ wusste Mari. „Na, siehst du, die größeren moralischen Freiheiten können auch einen kulturellen Verfall mit sich bringen. Welche wundervollen Dramen könnte deine kreative Intelligenz produ­ziert haben, wenn du mich nicht hättest lieben dürfen. Du hast mir noch nicht mal ein Gedicht geschrieben, nur vorgelesen.“ bemängelte ich. „Goethe konnte in seiner Iphigenie zeigen, wie der Mensch mit der Idee der sittlichen Freiheit zum Urheber seiner Entschlüsse wurde und nicht mehr als von den Göttern ge­lenkt gesehen wurde, und bei Susanna Rebmann müsste ich da heute zeigen, wie sie ausschließlich von ihren feministischen Intentionen und losgelöst von irgendwelchen Ambitionen bezüglich männlicher Wesen geleitet würde? Aber du würdest sicher eher nach dem Prinzip „I wanna live fast, love hard, die young“ leben wollen, vermute ich. Nur ist es bei dir mit dem 'die young' schon ein bisschen spät. Das ist auch absolut richtig so, nicht wahr?“ wollte Mari wis­sen. Gewöhnlich hätten derartige Bemerkungen Kampfhandlungen zur Folge gehabt, aber Mari hielt mich fest und begann mir Hals und Nacken küs­send mich von hinten zu verspeisen. Jeder Tag war gleichzeitig der Beginn der Un­endlichkeit und faszinierend wie der letzte Tag. So lebten wir sie. Voraussa­gen darüber, was irgendwann, vielleicht in einer sogenannten Endzeit mal sein würde, galten nicht nur als überflüssig und wertlos, sondern sie charakterisier­ten für uns Hirngespinste irrsinniger Scharlatane.

 

 

FIN

 

 

Wenn wir lieben, sind wir zeitlos, liegen bei den tiefsten Feuern,

Sehendann von Ferne bloß, dass die Lebensstunden sich erneuern.» 

Max Dauthendey

 

„Aber eins musst du mir noch sagen. Ich dachte, es wäre selbstverständlich, dass ein Mann einer Frau etwas dazu sagt, aber du hast noch kein Wort darüber verloren. Du musst mir sagen, ob du mich für schön hältst, ich meine, ob du findest, dass ich gut aussehe.“ erklärte ich. Banale Komplimente machen, das zerbrach Mari die Zunge. Trotzdem hatte er mir schon viel Liebes und Bewunderndes gesagt. Mari lachte. „Denkst du, mit einer hässlichen Frau würde ich mich befassen?“ sprach er, was wohl witzig sein sollte. „Sag es richtig, Mari.“ forderte ich ihn auf. „Susa, schön, schön, was für ein dummes Allerweltswort. Das Wetter ist schön , mein Auto finde ich schön, es war eine schöne Geschichte an einem schönen Abend. Alles ist schön, wenn man's nicht genauer benennen kann.“ erklärte Mari. „Was windest du dich? Traust du dich nicht, weil du an mir etwas auszusetzen hast, oder ist es dir peinlich, mir zu sagen, dass du mich schön findest? Es gibt durchaus schöne und weniger schöne Frauen. Sie werden sogar zu Schönheitsköniginnen gewählt. Also los, sag schon.“ drängte ich Mari. „Mag ja sein, dass es allgemeine Schönheitskriterien gibt. Harmonisch Wirkendes, das dem goldenen Schnitt entspricht, wird meistens als schön empfunden, aber es sind immer subjektive Gefühle beteiligt. Einen Menschen, den ich liebe, erkenne ich immer als wunderschön. Da siehst du die Schönheit dann noch umfänglicher. Siehst auch die schöne Seele, das Gute im Menschen, das Schöne und das Gute, Kalós Kagathós.“ erklärte Mari. „Aha, schön und edel, so siehst du mich also auch. Das ist gut, dann bin ich wenigstens nicht mehr die einzige.“ meinte ich dazu. Mari lachte, umfing mich und wollte küssen. „Stopp, du musst mir zuerst noch eine andere Frage beantworten.“ bremste ich ihn. „Dass du mich magst und liebst ist ja klar, aber sag mal, begehrst du mich auch, hast du Lust auf mich, bist du lüstern?“ wollte ich wissen. Mari lachte sich wieder schief. „Lüstern, das hat eine Konnotation, die nicht passt, aber Lust aufeinander haben wir ja beide, sonst würden wir uns doch gar nicht treffen.“ erklärte er. „Nein, ich meine schon etwas anderes. Ob du bei mir erotische Empfindungen hast, ob du ein Verlangen verspürst?“ präzisierte ich. „Susa, ich habe dich vom ersten Moment an als Frau gesehen, aber das tut ja jeder. Meistens nimmst du es gar nicht wahr. Das war aber für mich bei dir nicht so. Ich sah fast nach den ersten Sätzen in dir eine wundervolle Frau, die auch mein Begehren erweckte. Wodurch sollte sich das bis heute geändert haben?“ antwortete Mari. „Armer Mari, leider muss dein Verlangen nach mir immer unerfüllt bleiben. Aber das ist doch auch nicht schlimm. Die Begierde und das Verlangen vermitteln doch das wundervolle Gefühl, wenn sie befriedigt sind, ist das herrliche Gefühl futsch.“ tröstete ich Mari. „Du meinst, die Freude auf den Schokoladenpudding ist das Schöne. Wenn du ihn gegessen hast, ist die Freude dahin. Daher am besten den Pudding nie essen.“ verstand mich Mari. „Ich bin aber nicht dein Schokoladenpudding.“ hielt ich fest. Marian und Susanna redeten nicht nur über Schokoladenpudding, sonst hätte es nicht dazu kommen können, was Susa vorher für eine der schlimmsten Plagen der Endzeit gehalten hätte.

 

 

Susa und die 7 Plagen der Endzeit – Seite 47 von 47

 

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Tag der Veröffentlichung: 31.12.2014

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