Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Ayşe
Die deutsche Frau

Zur Liebe verdammt

 

Erzählung

 

Iki gönül bir olunca samanlik seyran olur
(Wenn zwei Herzen eins sind, wird die Scheune zum Palast)

türkisches Sprichwort

 

 

Die Geschichte mit dem Schlüssel erzählte ich ihr und dass ich auf Trixis Anruf warte. „Oh, das tut mir aber leid. Ja, Schlüsseldienst ist sehr teuer.“ erklärte Ayşe und ihr Gesicht sagte, dass sie nachdachte und überlegte, wie sie mir wohl helfen könne. „Und warum ruft deine Freundin nicht an?“ fragte sie plötzlich. Ich lachte und Ayşe auch, weil ihr wohl ebenso der Unsinn dieser Frage aufgefallen war. „Ist deine Freundin auch Studentin?“ erkundigte sich Ayşe. „Trixi ist eine gute Bekannte. Ja, sie studiert auch. Eine richtige Freundin habe ich nicht.“ antwortete ich. Ayşe sagte nichts, blickte sinnierend auf die Straße mit einer Mimik, der die sonst üblichen, freundlichen Züge fehlten. „Ist etwas falsch? Stimmt etwas nicht?“ fragte ich sie. „Nein, nein, alles o. k. Nur ich kann das alles nicht. Ich bin kein Türkenmädchen, ich bin eine deutsche Frau und will wie eine deutsche Frau leben, aber man lässt mich nicht.“ erklärte Ayşe und wusste selbst, dass sie es näher erläutern musste. „Deutsche Frauen in meinem Alter arbeiten in der Fabrik, oder im Büro oder studieren. Ich darf das alles nicht, brauche überall Zeugnisse, Unterlagen, Belege, und die habe ich nicht. Meine Eltern haben mich als kleines Kind zu meinen Großeltern in die Türkei gegeben. Natürlich bin ich da zur Schule gegangen, aber das wird nicht anerkannt. Nichts wert, mein Zeugnis. Hier bin ich wie eine, die überhaupt nicht zur Schule gegangen ist. Wie soll ich dann wohl im Bistro die Kasse machen können. Aber außer Bedienung hier, gibt es nichts. Vielleicht ginge auch noch Putzfrau oder Müllarbeiterin, aber sonst brauchst du für alles immer Zeugnisse, Unterlagen, Belege.“ beklagte sich Ayşe. Jetzt tat sie mir leid. Ich kannte Ayşe ja überhaupt nicht, und ich kann auch den Grund gar nicht genau benennen, aber dass sie eine kluge, intelligente, junge Frau sein musste, stand für mich fest.

 

Ayşe – Die deutsche Frau - Inhalt

 

Ayşe – Die deutsche Frau 3

Macho 3

Schlüssellos 3

Die deutsche Frau 5

Deutsche Frauen 7

Brigitta und der Macho 8

Das Göttliche 10

Ayşes Philosophie 11

Große Geschäfte 13

Anstrengendes Leben 14

Wirklich menschlich leben 15

Das Irgendetwas kam Weinachten 16

Hauptschulabschluss 18

Philipp, der Rücksichtsvolle 20

Smetana Konzert 20

Ist das nicht Liebe? 21

Abendgymnasium 23

Die Frau in meinem Bett 25

Wir sind nicht die Königinnen 27

Brigitta zu Besuch 28

Große Liebe, neue Wohnung und das Dao 28

Erwartet 31

Stille Größe 32

In einem anderen Land 34

Zur Liebe verdammt 35

 

 

Ayşe – Die deutsche Frau Macho

„Du hundsvermaledeiter, widerlicher, verlogener Schweinepuckel!“ Kann eine Frau, oder wer auch immer, so etwas sagen? Dieser lexikalisch nicht erfasste Ausdruck stellte ein Produkt der Zusammenarbeit von Sprachzentrum und ex­tremer Gefühlswallung im Zustand höchster Endtäuschungswut dar und sollte wohl so viel bedeuten, wie „Du absoluter Nichtsnutz übelster Sorte“. „Nina, ich kenne all die Leute nicht, von denen du gesprochen hast. Ich bin genau der, den du gestern und vorgestern in mir gesehen hast. Ich war und bin wirklich glücklich und ich mag dich sehr. Daran ist nichts gespielt oder getäuscht. Wie kannst du das vermuten. So etwas könnte ich gar nicht. Nur ich sehe es realis­tisch, wie es die Woche über war, während du an deine Wünsche, Visionen und Träume denkst, die ich nicht kenne, und die nicht meine sind.“ erklärte ich. „Trotzdem, Philipp, du bist mir auch in der relativ kurzen Zeit äußerst nahe ge­kommen. Ich habe mich dir total geöffnet und du dich mir doch auch. Unsere intimen Erlebnisse, soll ich das denn alles einfach so abhaken und vergessen, wie den Vorbeiflug eines Schmetterlings? Das geht nicht. Du und was mit uns war, ist sehr tief in mir. Es war doch so schön, so könnte es doch immer sein. Das haben wir ja auch gesagt.“ erklärte Nina und begann zu weinen. Vor einer Woche hatten wir uns kennengelernt, seitdem allerdings fast jede freie Minute und die Nächte miteinander verbracht. Das Frühstücksei zum Brötchen waren wir, erst gemeinsam wurde das Frühstück lecker. Wir passten schon gut zu­sammen. Ich hatte Nina klar zu machen versucht, dass ich für mich keine feste Beziehung wolle. Darüber war es zur Diskussion und Auseinandersetzung ge­kommen, bei der Nina sich immer mehr steigerte und echauffierte, unser ge­samtes gemeinsames Erleben völlig umdeute und mich letztendlich enragiert als einen elenden Macho und eben diesen hundsvermal... beschimpfte. „Das sagen sie alle am Hochzeitstag, dass es ihr ganzes Leben lang so schön bleiben soll, wie jetzt. Wer sagt denn, dass du unsere Tage vergessen sollst? Das kann und will ich doch auch nicht. Ich werde sie immer als wundervolle Erinnerung behalten. Gute Freunde, die so eine glückliche Zeit miteinander gehabt haben, das sollten wir immer bleiben und nichts von allem, was wir erlebt haben, ver­gessen.“ lautete meine Ansicht. Im Grunde hatte Nina ja Recht. Wenn es für mich von vornherein feststand, dass es zu keiner Beziehung kommen würde, dann benutzte ich die Frau, um mit ihr schöne Tage zu haben. Sich immer tiefer aufeinander einzulassen, war dann nicht echt und perspektivlos, eigent­lich schon verlogen. So würde ich das nicht mehr machen. Mit einer Frau ins Bett zu gehen, soweit würde ich es nicht mehr kommen lassen.

 

Schlüssellos

Glück in miserabler Lage. Niemals hatte ich bisher ohne Schlüssel vor meiner eigenen Tür gestanden. Aber Trixi hatte einen Zweitschlüssel und genau heute, am Donnerstag frei. Nur sie war nicht zu Hause. Ich bat sie, mich anzurufen, wenn sie zurückkäme. Sie war bestimmt kurz einkaufen, ich wartete vor der Tür. Aber Trixi rief nicht zurück. Meine Zigaretten befanden sich auch in der Wohnung. Ich ging zum Kiosk, um mir neue zu kaufen. Immer noch kein Anruf von Trixi. Das Bistro auf dem Weg hatte ich noch nie besucht. Ein Espresso täte jetzt gut. Ein zweiter, Trixi meldete sich nicht. Vielleicht war sie beim Zahnarzt oder beim Friseur, solche Termine legte man ja auf seine freien Tage. Es war schon bald Mittag, und ausgiebig gefrühstückt hatte ich nicht. Ein Ba­guette wäre jetzt nicht schlecht. Warm und knusprig, das tat mir gut. „War es gut? Hat es dir geschmeckt? Ich meine, war es lecker?“ erkundigte sich die Ba­rista und lachte. Lustig, „Ja, herrlich und vor allem so viel. Mein Bauch ist jetzt ganz voll.“ antwortete ich. „Ich hatte auch extra für dich ein Salatblatt mehr darauf gelegt.“ erklärte die Barista mit Schmunzeln und zwinkernden Augen. „Zum Glück konnte ich es noch runterschlucken, sonst hing es mir jetzt aus dem Mund.“ bemerkte ich. Die Barista lachte auf, wohl wegen der Vorstellung mit dem aus dem Munde hängenden Salatblatt. „Ich sage immer 'du', ist das schlimm? Das mache ich bei allen. Noch nie hat jemand gesagt, dass er 'sie' heißt. Mir gefällt das viel besser, das ist menschlicher. Sie ist so weit weg.“ er­klärte die Barista. „Dann müssen wir aber auch unsere Namen kennen.“ mein­te ich. „Wieso? Bei sie weiß du den Namen doch auch nicht.“ erwiderte die Ba­rista. „Ja, aber bei 'du', wenn es menschlicher und näher ist.“ entgegnete ich. „Also gut, ich bin die Ayşe.“ sagte die Barista. „Ah, das passt. Ich heiße Phil­ipp.“ erklärte ich. „Haha,“ lachte Ayşe kurz, „Philipp, ein lustiger Name, aber klingt gut. Philipp kommt nicht oft vor. Heißt dein Vater auch so? Aber sag mir, warum Ayşe passt.“ wollte sie wissen. „Na ja, du sprichst ganz ausgezeichnet Deutsch, keine Frage, aber du hast einen starken Akzent. Ich dachte schon ita­lienisch, weil das Bistro einen italienischen Namen hat. Aber das passte nicht.“ erklärte ich. „M, m,“ schüttelte Ayşe den Kopf, „nicht italienisch, spanisch ist 'Caliente'.“ Ayşe machte eine kurze Pause und fuhr lächelnd fort, „Es bedeutet, dass dein Espresso heiß wie die Hölle ist. Ein Spanier hat gesagt: „Es bedeutet auch geil.“, also heiß bei Sex.“ Ayşe schmunzelte undefinierbar. „Aber ein tür­kisches Bistro seid ihr doch auch nicht.“ erklärte ich. „Du meinst Dönerbude und so, nicht war? Wir sind ein ganz normales Bistro, und ich bin die Chefin.“ stellte Ayşe klar und lachte wieder. Sie lachte fast immer, wenn sie etwas ge­sagt hatte. „Nein, nein, nur wenn Uli nicht da ist, bin ich die Chefin.“ fügte sie hinzu. „Uli ist dein Mann oder dein Freund?“ vermutete ich. Jetzt lachte Ayşe schon vorher. „Nein, Uli gehört das Bistro, aber er ist oft unterwegs. Ich bin nur die Angestellte.“ erklärte Ayşe. „Meine Eltern kannten jemanden, der wusste, dass hier eine Bedienung gesucht wurde. Ich habe mich ein wenig mit Uli unterhalten, und konnte anfangen. Ich war richtig froh, ich kann ja sonst nix.“ erläuterte Ayşe weiter. Dazu würde sie noch etwas sagen müssen, aber zunächst wurde Ayşe von anderen Gästen benötigt. Eine wundervolle Barista. Sie könnte etwa in meinem Alter sein, aber sie sprach wie Maria Callas. Die re­dete auch bei Gesprächen nicht im Koloratursopran. Ich hatte sie einmal ge­hört, da sprach sie eher mit einer Altstimme. Ayşes Stimme klang auch, als ob sie älter wäre, schon weiser und viel erlebt hätte. Ihre Altimme trug ein leicht herbes Timbre, aber mit einer sanften Ummantelung. Fiepsige, helle Klänge waren bei ihr nicht vorstellbar. Wenn sie lachte, hörte es sich keineswegs wie glockenhelles Kinderlachen an, aber es war nicht weniger offen und direkt als bei Kindern. „Heißen bei euch in der Familie alle Männer Philipp, oder gibt es einen Berühmten nach dem du auch werden sollst?“ wollte Ayşe wissen, als sie zu mir zum Tisch zurückkam. „Ja, „Philipp der Schöne“, ein König, war einer meiner Ur-, Urgroßväter. Es gab sogar ein Volk der Philipper, denen der Apostel Paulus einen Brief geschrieben hat.“ tat ich kund. Ayşe blickte mich mit leicht skeptisch grinsendem Mund intensiv an. „Woher weißt du so etwas alles, aus der Schule nicht wahr?“ vermutete sie. „Genau weiß ich gar nicht, wo es herkommt. Das sammelt sich im Laufe des Lebens so an.“ meinte ich dazu. „Ja, die Leute wissen alles und können alles und sind doch dumm geblieben.“ kommentierte Ayşe. Dass sie ihre Aussage erläutern müsse, sagten ihr meine Augen. „Sie haben Augen und können sehen. Sie haben Ohren, und sie können hören. Aber nicht die Augen sehen, und die Ohren hören nicht, es ist ihr Kopf, in dem das geschieht. Da können sie noch so viel gesehen und gehört haben, aber ihr Kopf bleibt leer, weil sie nichts verstehen.“ deutete es Ayşe. „Aber sie verstehen doch was. Sie werden Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Wissenschaftler.“ entgegnete ich. „Ja schon, aber so meine ich es auch nicht. Sie haben menschlich nichts gelernt, vielleicht solltest du sagen, ihr Herz ist dumm geblieben, auch wenn sie noch so viel wissen. Aber ein dummes Herz, gibt es das?“ wollte Ayşe wissen. „Wenn du es so nennst, gibt es das. Ich stimme dir zu, auch wenn man sonst immer nur von einem harten oder kalten Herzen spricht, aber du meinst ja etwas ganz anderes. Sie sind menschlich dumm geblieben. Und ich? Wie ist es denn bei mir? Ich habe auch viel gelernt, meinst du denn, dass mein Herz auch dumm geblieben ist?“ wollte ich wissen. Ayşe lachte ausgiebig und laut. „Philipp, Philipp, wie soll ich das denn wissen? Auf deiner Stirn steht es ja nicht geschrieben, und in dein Herz kann ich nicht hineinschauen, aber die Augen und wie du sprichst, verrät doch einiges. Da würde ich eher vermuten, dass es bei dir anders ist, dass du ein gutes, offenes Herz hast und das keineswegs dumm geblieben ist.“ erklärte Ayşe und blickte mich sanft und wohlempfindend an. Ayşe musste bei Gästen kassieren und Trixi hatte immer noch nicht angerufen. Ich fragte sie, ob sie auch einen Espresso möge. Aber ich bekam allein einen. Die Geschichte mit dem Schlüssel erzählte ich ihr und dass ich auf Trixis Anruf warte. „Oh, das tut mir aber leid. Ja, Schlüsseldienst ist sehr teuer.“ erklärte Ayşe und ihr Gesicht sagte, dass sie nachdachte und überlegte, wie sie mir wohl helfen könne. „Und warum ruft deine Freundin nicht an?“ fragte sie plötzlich. Ich lachte und Ayşe auch, weil ihr wohl ebenso der Unsinn dieser Frage aufgefallen war. „Ist deine Freundin auch Studentin?“ erkundigte sich Ayşe. „Trixi ist eine gute Bekannte. Ja, sie studiert auch. Eine richtige Freundin habe ich nicht.“ antwortete ich.


Die deutsche Frau

Ayşe sagte nichts, blickte sinnierend auf die Straße mit einer Mimik, der die sonst üblichen, freundlichen Züge fehlten. „Ist etwas falsch? Stimmt etwas nicht?“ fragte ich sie. „Nein, nein, alles o. k. Nur ich kann das alles nicht. Ich bin kein Türkenmädchen, ich bin eine deutsche Frau und will wie eine deutsche Frau leben, aber man lässt mich nicht.“ erklärte Ayşe und wusste selbst, dass sie es näher erläutern musste. „Deutsche Frauen in meinem Alter arbeiten in der Fabrik, oder im Büro oder studieren. Ich darf das alles nicht, brauche über­all Zeugnisse, Unterlagen, Belege, und die habe ich nicht. Meine Eltern haben mich als kleines Kind zu meinen Großeltern in die Türkei gegeben. Natürlich bin ich da zur Schule gegangen, aber das wird nicht anerkannt. Nichts wert, mein Zeugnis. Hier bin ich wie eine, die überhaupt nicht zur Schule gegangen ist. Wie soll ich dann wohl im Bistro die Kasse machen können. Aber außer Be­dienung hier, gibt es nichts. Vielleicht ginge auch noch Putzfrau oder Müllarbei­terin, aber sonst brauchst du für alles immer Zeugnisse, Unterlagen, Belege.“ beklagte sich Ayşe. Jetzt tat sie mir leid. Ich kannte Ayşe ja überhaupt nicht, und ich kann auch den Grund gar nicht genau benennen, aber dass sie eine kluge, intelligente junge Frau sein musste, stand für mich fest. Eine Frau? Das war Ayşe eigentlich gar nicht. Selbstverständlich war sie eine Frau, aber sie passte nicht zu denen, die für mich als Frauen galten. Nur bei Brigitta war es ja nicht anders, die sah ich auch nicht als Frau an und meine Mutter, ich meine, meine neue Mutter, erst recht nicht. Bei Nati, meiner neuen jüngeren Schwes­ter war es genauso. Sie war ja auch noch jung, aber wenn ich später trotz al­lem mal eine Frau heiraten sollte, könnte es nur Nati, die Natalie hieß, sein. Lebhaft, lebendig? Schale Wörter für Nati. Nati war das Leben selbst. Bei klei­nen Kindern ist es noch so, sie leben auch voll sich selbst, bis ihnen Erwachse­ne im Laufe der Zeit klar machen, wie sie zu leben hätten. Bei Nati war es of­fensichtlich wirkungslos geblieben, oder sie hatte sich von Kind an schon ge­weigert. „Probleme gibt es eigentlich nicht. Wenn du merkst, dass Nati voll von etwas überzeugt ist, kommst du gar nicht auf die Idee, es ihr ausreden zu wol­len.“ sagte ihre Mutter. Meine 'neue' Mutter nannte ich sie, auch wenn wir schon über zwei Jahre zusammenlebten. Dieses Wort mit den ganzen Stiefver­wandten fand ich so hässlich, dass ich mich weigerte es auszusprechen. Ob­wohl ich viel mehr wusste und konnte als Nati, kam ich mir immer unterlegen vor. Sie füllte den ganzen Raum. Wenn du mit ihr verheiratest wärst, würde sie dir wahrscheinlich ihr Leben vorführen, und du könntest dich entscheiden, ob du mitmachen wolltest. Nein, dominant oder dominierend war Nati keineswegs, sie war einfach echt und direkt. Darin hatte sie schon Ähnlichkeiten mit Ayşe, obwohl beide überhaupt nicht zu vergleichen waren. „Als türkische Frau ließe man dich genauso wenig leben. Wenn du in der Türkei studieren wolltest, brauchtest du genauso gut Zeugnisse und Belege. Du könntest auch nicht ein­fach in Ankara zur Universität gehen und sagen: „Hallo, ich bin die Ayşe, ich will studieren.““ erklärte ich. „Hast du auch nicht gesagt, nicht wahr? „Hallo, ich bin der Philipp, ich will studieren.“? Du hast wahrscheinlich gesagt: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, mein Name ist Philip Trallala, genannt der Schöne. Ich wende mich heute mit einem Anliegen an sie ...“ Weiter kam Ayşe nicht, platzte los, umfing mich und erklärte noch lachend: „Du bist ein bisschen gaga, nicht wahr?“ Diejenige, die Lust daran hatte, gaga zu spielen, war eher Ayşe. Deutsche Frau? Ayşe verhielt sich, als ob sie nie anderswo gelebt hätte als hier. Ich konnte das alles nicht verstehen. „Ich werde jetzt mal gehen, Ayşe.“ erklärte ich. „Warum das? Du kannst hier warten, solange du möch­test.“ Ayşe dazu. „Ich muss noch etwas einkaufen, und ich brauche auch mal Bewegung.“ erklärte ich. „Ja, das ist richtig. Die Sesselchen hier sind Folterge­räte für den Körper.“ stellte Ayşe es dar. „Wieso das denn?“ wollte ich erstaunt wissen. „Na, wenn du etwas erzählst, dann bewegen sich nicht nur deine Lippen entsprechend den Worten, die dein Kopf ausdenkt, der ganze Philipp spricht. Du mit allem was in und an dir ist, erzählt die Geschichte, du bist die Geschichte, wenn du sie erzählst. Auch die Augen, deine Gesichtszüge und dein ganzer Körper erzählen mit. Diese Sesselchen wirken dabei wie Fesseln.“ erklärte Ayşe. „Und woher weißt du das?“ wollte ich wissen. „Dumme Frage, das weiß doch jeder, das erlebst du doch. Ob du eine Geschichte ließt, oder ob dir jemand eine erzählt, das ist doch etwas völlig anderes. Wenn du sie erzählt bekommst, ist das immer ein kleines Theaterstück.“ Ayşe darauf. „Also, wir haben nicht miteinander geredet, sondern uns viele, kleine Theaterstücke vorgeführt.“ interpretierte ich es. „Ja, ja, und angeschaut. Kommst du gleich wieder?“ fragte Ayşe. „Ayşe, ich will nach Hause.“ mein Kommentar. Ayşe überlegte. „Aber müssen wir denn nicht noch mehr besprechen? Du kannst ja morgen wiederkommen.“ schlug Ayşe vor. Was wir genau besprechen mussten, war mir zwar nicht klar, aber interessant und lustig würde es bestimmt.


Deutsche Frauen

Zum Einkaufen ging ich zu Aldi, das lag direkt nebenan. Die Frauen bei Aldi schaute ich mir genau an. Waren sie die deutschen Frauen, von denen Ayşe eine sein wollte. Verschieden waren sie schon alle. Ich versuchte eine Quer­summe zu bilden. Aber nein, das war bestimmt nicht die deutsche Frau, die Ayşe vorschwebte. Meine Kommilitoninnen etwa, waren das die deutschen Frauen? Gemeinsam war ihnen allerdings nur, dass sie studierten und das Ab­itur hatten. Abitur und studieren, dann war man eine deutsche Frau? So auch nicht. Vielleicht waren es die Weiber, die die Narren ihr Leben lang nicht ge­liebt hatten. Die deutschen Männer waren alle Narren, und die Weiber waren ausgestorben. Aber Wein und Gesang gab's ja immer noch. Nein es waren die deutschen Frauen mit der deutschen Treue, die in der Welt ihren alten schönen Klang behalten sollten, wie Hoffmann von Fallersleben gesungen hatte. Aber die Strophe war ja jetzt verboten. Es waren die Frauen im Bundestag. Wo soll­te eine Frau mehr deutsche Frau sein, als wenn sie Mitglied des deutschen Bundestages wäre. Angela Merkel, wäre das ein Idealbild der deutschen Frau für Ayşe? So lieb hatte ich sie schon gewonnen, dass ich Ayşe so etwas nicht zumuten wollte. Jetzt saß ich mit meiner Einkaufstüte vor der Wohnungstür. Vielleicht wäre Trixi ja etwas zugestoßen, aber dann hätte sie doch nicht vor­her den Anrufbeantworter eingeschaltet. Ich versuchte einfach nochmal, sie anzurufen. „Ach, Philipp, du Armer. Ich bin gerade zurückgekommen und völlig geschafft. Den ganzen Tag bin ich Fahrrad gefahren. Mit Freunden haben wir eine lange Tour gemacht. Ich komme sofort zu dir.“ erklärte Trixi am Telefon hektisch. „Warum hattest du denn das Handy nicht dabei, dann hätte ich heute Morgen schon einen Schlüsseldienst bestellt?“ erkundigte ich mich. „Die Batte­rie war leer. Ich Triefnase habe nicht aufgepasst.“ erklärte Trixi. „Was passiert dann eigentlich, bekommst du einen Kafffeeschock oder einen Kaffeerausch, wenn du zuviel Kaffee trinkst?“ wollte ich von Trixi wissen, als ich mit ihr auch nochmal einen Kaffee trank. „Du kannst nachts nicht schlafen, Philipp, sonst nix.“ erklärte Trixi lachend. „Das auch noch, tagsüber komme ich nicht rein in meine Wohnung und nachts kann ich in ihr nicht schlafen.“ beschwerte ich mich. Trixi sagte einige Worte zu ihrer Radtour, wollte aber schnell nach Hause und sich erholen. Erholung brauchte ich auch. Nicht körperlich erschossen, aber verwirrt kam ich mir vor. Wäre Trixi zu Hause gewesen, ich hätte nach dem Besuch der Bank den ganzen Tag gelesen und mein Referat vorbereitet. Hatte das Fatum es so organisiert, dass ich heute die Bekanntschaft mit Ayşe machen sollte? Auch wenn ich daran nicht glaubte, handelte es sich doch um ein außergewöhnliches Zusammenspiel von Zufällen. Auch wenn Ayşe oft lustig war, um völlig bedeutungslosen Smalltalk mit irgendwem hatte es sich ja nicht gehandelt. Ayşe beschäftigte mich schon. Wenn ein Mädchen in der Türkei aufgewachsen war, und als junge Erwachsene dann plötzlich nach Deutschland käme, wäre sie unsicher, zurückhaltend und scheu. Vor allem sprach Ayşe ja absolut flüssig und fehlerfrei Deutsch. Das konnte ich mir alles nicht erklären. Vielleicht wohnten ihre Großeltern in Antalya, wo es mehr Deutsche und Deutschtürken gab als originäre Türken. Jedenfalls hatte die Entwicklung das türkische Mädchen zu einem wundervoll freundlichen, tiefsinnigen, klugen Menschen gemacht. Ob ich froh war, meinen Schlüssel in der Wohnung vergessen zu haben? Wie sollte es nicht so sein? Mit was für einem öden, langweiligen Durchschnittstag hätte ich mich sonst zufrieden geben müssen? Jetzt sah ich immer wieder Filme von den kleinen Theaterstücken mit Ayşe.


Brigitta und der Macho

Am Samstag wollte ich zu Brigitta. Sie war die jüngere Schwester meiner neu­en Mutter, aber ein völlig anderer Mensch. Eine Pianistin spielt eine Etüde, ein Schriftsteller liest aus seinem Roman vor, eine Sopranistin singt eine Arie und ein Wissenschaftler berichtet von seinen neuesten Erkenntnissen, welch wun­dervoller Abend. Bei uns war auch immer etwas los, aber Zirkus. Die Artisten, Clowns und Affen wurden von Bekannten, von denen fast immer welche anwe­send waren, gegeben und meine Mutter war die Zirkusdirektorin. Wenn keine Gäste da waren, musste auch etwas geschehen, aber eben alles Zirkus, alles Oberfläche. Wenn die letzten sieben Tage fehlen würden, nichts wäre anders gewesen. Was mein Vater, den ich sehr schätzte, an dieser Frau fand, konnte ich nicht verstehen, aber das war schon in Ordnung, so etwas weiß ja in der Regel niemand. Ein guter Mensch war meine Mutter auf jeden Fall. Vielleicht wurde sie ja auch ganz ruhig, beschaulich und nachdenklich, wenn sie mit mei­nem Vater zusammen war. Aber trotzdem interessierte mich das alles nicht, und ich zog mich meistens zurück oder sprach mit Nati, die auch ihren eigenen Stil lebte. Ganz zu Beginn schon lernte ich bei einer Feier Brigitta, Mutters Schwester, kennen. Wir machten Witze über den Heiratsrausch und Familien­glückseligkeiten. Ausgezeichnet verstanden wir uns und lachten uns schief. Seitdem besuche ich Brigitta öfter, am Wochenende, da haben wir Zeit und Brigitta ist entspannt. „Jetzt muss ich aber nach Hause, ich gehe dir schon den ganzen Tag auf den Nerv.“ versuchte ich meinen Aufbruch anzukündigen. „Philipp wie kannst du reden? Sag so etwas nicht. Du weißt doch, dass ich mich freue, wenn du da bist.“ ermahnte mich Brigitta. „Ja, wir finden es beide gut, zusammen zu sein. Wieso eigentlich?“ fragte ich. „Das ist ein Wechselgeschäft.“ meinte Brigitta und musste es natürlich erklären. „Ich mag dich, und du verstehst es, ohne dass ich ein Wort darüber verliere. Umgekehrt ist es genauso. Dass du mich magst, äußerst du mit keinem Wort, und ich verstehe es doch. Wir verstehen auch, dass du mich verstanden und ich dich ebenso verstanden habe, ohne ein Wort darüber zu verlieren.“ erläuterte Brigitta. „Und das gegenseitige Verstehen steigert sich dann immer weiter bis zum Gipfel.“ scherzte ich. Brigitta lachte. „Das kann schon sein. Wenn ich sagen sollte, dass ich einen Menschen liebe, wärst du der einzige. Nein, nein, das stimmt nicht. Bei Bettina, das ist mit Sicherheit Liebe, und meine Mutter liebe ich auch.“ erklärte Brigitta. „Für das Wichtigste, was du zu sagen hast, brauchst du also deinen Mund und deine Lippen gar nicht.“ interpretierte ich es. „Ganz so ist es, glaube ich, nicht. Wenn du mir etwas anderes sagst, enthält die Art, wie du es sagst, auch immer die Information: „Ich sage es einem, den ich mag.“.“ so Brigitta. „Und Harry, den liebst du aber nicht. Dem sagst du nicht, dass du ihn magst?“ wollte ich wissen. „Ach, Philipp, das weißt du doch. Fang doch nicht wieder mit so etwas an. Ich bin nicht deine Mutter und auch nicht dein Stiefonkel. Diesen ganzen Affenzirkus mit Verlieben, Heiraten und Familie will ich nicht und brauche ich nicht, aber das weißt du doch. Harry ist ein sehr netter Mensch und ich mag ihn auch, aber wer schreibt mir denn vor, dass ich Harry auch lieben muss?“ erklärte Brigitta. Das war Brigittas oberste Maxime, dass sie sich von niemandem so gut wie nichts vorschreiben ließ. Sie war die Chefin, zumindest für die Finanzen in einem großen Unternehmen. Die sich um das Geld der Firma zu kümmern hatten, waren fast ausschließlich Männer, und Brigitta war ihre Chefin. Darauf basierte ihr Ego, ihr Selbstwertgefühl, und ihr Selbstverständnis gründeten auf dieser ihrer Leistung. Wenn ich Brigitta besuchte, existierte das alles nicht. Dann lebte sie in einer Welt die frei war von Rollenklischees, Anforderungen und Verpflichtungen. Für mich war es ebenfalls eine herrliche Atmosphäre. Immer und überall verhältst du dich nach irgendwelchen Rollenerwartungen und -anforderungen. Wenn ich Brigitta besuchte, waren wir völlig frei. Keiner musste und wollte für den anderen irgendetwas darstellen. Wir konnten sagen, was wir wollten und wussten, dass wir menschlich nicht beurteilt wurden. „Also, ich kann das gut verstehen. Als Gott Eva geschaffen hat, war ihm klar, dass er sie schon ein bisschen besser als Adam machen musste.“ erklärte ich. Brigitta schaute mich nur lächelnd, fragend an. „Na ja, schau dir die Männer doch mal an, alles nichtssagende Visagen, wie Kartoffeln mit ein wenig Make up. Frauen bilden dagegen eine ästhetische Augenweide.“ erklärte ich. Brigitta blickte mich skeptisch an. „Du bist eben ein Mann, und da sagt dir dein Geschlechtstrieb, dass du Frauen interessanter findest.“ interpretierte Britta. „Das Aussehen stellt ja nur eine Äußerlichkeit dar. Frauen sind andere Menschen mit einem anderen Wesen. Sie hören dir zu, wenn du mit ihnen sprichst, lassen sich auf dich ein, öffnen sich dir im Gespräch. Männer wiederholen immer nur stumpf ihre männlichen Stereotypien. Frauen zeigen ein ganz anderes Kommunikationsverhalten. Bei ihnen kannst du Zugang finden, zu dem, wer sie wirklich sind und was sie im Innersten bewegt.“ erläuterte ich es näher. „Philipp, hör auf mit diesem Macho-Geseiere, und das von dir.“ stoppte mich Brigitta. „Die Frauen gibt es nicht, und wenn es sie gibt, dann sind sie keineswegs schön. Von der Schönheitskönigin bis zur hässlichsten Hexe gibt es Frauen in allen Schattierungen. Selbst wenn du die nimmst, die man gemeinhin als Frau bezeichnet, und die sich auch mit dem Rollenbild identifizieren, ist doch jede Frau völlig unterschiedlich, jede hat einen anderen Charakter, jede ist ein eigenständiger Mensch. Deine Frauen sind die, die du dir wünscht, und die du für dich gerne gebrauchen würdest, aber keine von ihnen ist für dich und deine Wünsche geschaffen, sondern ist ein absolut eigener, selbständiger Mensch. Bin ich denn auch so eine von deinen Frauen? Da solltest du aber schon gemerkt haben, dass du völlig schief damit liegst.“ Ich musste zuerst mal nachdenken. „Meinst du, im Kern sind alle Männer mehr oder weniger Machos?“ fragte ich. Brigitta lachte und meinte: „Vielleicht, das weiß ich nicht genau, aber als Macho geboren wird keiner.“ „Und wo soll ich Macho gelernt haben? Was würdest du sagen?“ fragte ich und konnte auch wieder lachen. „Das gewöhnst du dir an. Das übernimmst du aus der Gesamteinstellung der Bevölkerung, in der die Männer überall die dominierende Rolle spielen.“ erklärte Brigitta. „Bei dir ist das aber nicht so. Du hast gesiegt. Bei dir hat der Machismo keine Chance.“ vermutete ich. „Nur für mich persönlich. Das tut aber schon sehr gut. Gesellschaftlich hat das keine Bedeutung. Alle Chefs der Banken sind Männer und der Finanzminister ist auch ein Mann.“ Brigitta dazu. Ob ich ein Macho war, wusste ich nicht wirklich genau, aber warum Brigitta, meine Mutter, Nati und Ayşe nicht zu denen gehörten, die ich als Frauen bewertete, war mir schon klarer geworden.


Das Göttliche

„Ayşe, die deutschen Frauen gibt es nicht. Das ist ein leeres Wort ohne konkret fassbare Bedeutung. Die Frauen in Deutschland, Amerika, über Australien nach Mitteleuropa bis Finnland, alle sind sie gleich, gehören zum abendländischen Kulturkreis. Bei den deutschen steht nur im Pass: „Staatsangehörigkeit: Deutsch“, sonst sind sie alle gleich.“ wollte ich Ayşe klar machen. „Aber ich bin Muslima.“ entgegnete sie, schwieg einen Moment und lachte. „Weißt du, Phil­ipp, ob Muslima, Christa oder Buddhista, wie unbedeutend ist das. Alle sind sie gleiche Menschen. Wenn es einen Gott gibt, der allmächtig ist, über allem schwebt und das Universum erschaffen hat, wie sollen wir kleinen beschränk­ten Würmchen ihn dann erkennen und verstehen können. Sie sagen ja auch alle, dass er für die Menschen unfassbar ist, schreiben aber dicke Bücher damit voll, was er alles gesagt haben soll und was er angeblich will. Nichts als Got­teslästerung ist das, wenn man sagt: „Gott will, dass Ayşe ein Kopftuch tragen soll.“. Mag ja sein, dass es einen Gott gibt, aber der von dem sie alle mögli­chen Geschichten erfunden haben, ist es jedenfalls nicht.“ erklärte Ayşe. „Aber ein übermächtiger Gott, von dem du nichts weißt, den du nicht erkennen und nicht verstehen kannst, wozu soll der gut sein? Warum willst du an so etwas glauben?“ wollte ich wissen. „Vielleicht zeigt er sich ja in jedem Menschen, vielleicht trägt jeder einen kleinen Funken Göttlichkeit in sich.“ vermutete Ayşe. „Bei vielen oder den meisten fällt es aber außerordentlich schwer, ein Fünkchen Göttlichkeit zu erkennen.“ wandt ich ein. „Das stimmt, sie haben al­les zugemüllt mit dem, was sie sein wollen oder meinen, sein zu müssen, mit Vorschriften, wie sie sich zu verhalten haben, sodass sie sich sogar selbst nicht mehr erkennen können, wie willst du da das Göttliche wahrnehmen?“ bestätigte mich Ayşe. „Was ist denn überhaupt das Göttliche, was erkennst du denn da?“ fragte ich nach. „Es wird ja schon das Kostbarste und Wertvollste sein, worüber ein Mensch verfügt, oder?“ so Ayşe. „Die Liebe meinst du, nicht wahr? Dass du einem anderen Menschen deine Liebe schenken kannst.“ vermutete ich. „Ja und auch, dass es dich glücklich macht, von einem anderen Menschen geliebt zu werden.“ vervollständigte Ayşe. „Als Konfession müsste dann bei dir stehen: „Glaube an das Göttliche im Menschen““ schlug ich vor. „Genau, ich werde es morgen ändern lassen.“ scherzte Ayşe. „Bei mir hast du das Göttliche aber schon erkannt, nicht wahr?“ fragte ich amüsiert. „Was redest du, Philipp? So spricht man nicht. Das ist doch nichts Albernes, wir meinen es doch ernst.“ Ayşe darauf. „Du hast gesagt, ich kann dir nichts verbergen, du erkennst alles.“ erklärte ich. Ayşe lachte. „Ach, Philipp, ich kenne dich doch gar nicht. Aber du hast schon Recht. Wenn du etwas erzählst, ist auch immer eine kleine Geschichte von dir selbst dabei. Ich denke schon, dass du sehr offen bist, nicht alles verborgen unter Ansprüchen und Anforderungen, aber völlig frei bist du auch nicht. Irgendwelche Vorschriften und Bestimmungen wirst du schon haben.“ erklärte Ayşe. Was sollte ich denn für Beklemmungen und Beschränkungen haben? Na klar, ich musste mein Leben bewältigen und das machst du eben, wie du es aus dem Allgemeinen übernommen hast. Anders ginge es doch gar nicht. Jeder, der aufwächst, übernimmt doch seine Kultur, in der er lebt. Vielleicht sollte ich auch mal meine Harmonien überprüfen, wie Bettina es Brigitta empfohlen hatte oder meine Chakren testen. Aber das ist ja eine andere Firma. „Du bist aber völlig frei. Dich engt nichts ein.“ wollte ich von Ayşe wissen. „Ganz frei ist sicher niemand, aber ich denke schon, dass ich sehr frei und ungezwungen aufgewachsen bin.“ erklärte Ayşe.


Ayşes Philosophie

„Als türkisches Mädchen bist du aufgewachsen, kommst als erwachsene Frau hierher und bist eine deutsche Frau. Wie geht das?“ wollte ich aufgeklärt wer­den. „Im Prinzip war es schon so. Meine Eltern meinten, dass Büyükbaba und Büyükanne sich mehr um mich kümmern könnten und würden als sie selbt. Und sie meinten auch, für ein Kind sei es in der Türkei besser als hier. Aber, dass ich ein deutsches Mädchen war und werden sollte, stand immer fest. Meine Eltern sagen manchmal das eine und auch das andere, das gar nicht dazu passt.” erzählte Ayşe. „Widersprüchlich meinst du.“ ergänzte ich. „Genau. Es stand von Anfang an fest, dass sie hier bleiben, Deutsche werden und nicht wieder zurück wollten. Mit den ganzen Türkenbruderschaften und Teestuben­clans wollten sie nie etwas zu tun haben. Trotzdem sind sie aber absolute Tür­keifans, wissen über alles Bescheid. Zur Zeit sei alles äußert schlecht. Atatürk müsse wiederkommen, meinen sie. So ein Quatsch. Der würde verrückt, weil er sich heute mit nichts auskennt. Wenn er zum Beispiel lesen würde: “Die zehn besten Apps” was würde er da wohl machen?” stellte Ayşe sich vor. „Er könnte doch fragen.“ schlug ich vor. „Dann würden sie lachen und sagen: „Weiß nicht was eine App ist, schau mal an, der dumme Atatürk.““ vermutete Ayşe. „Und das dürfte man von Atatürk nicht sagen, nicht wahr.“ suchte ich Bestätigung. „Nein, nur von Philipp muss man so etwas sagen.“ wusste Ayşe. „Du bist aber nicht auf einer höheren Schule oder einem Gymnasium gewesen?“ erkundigte ich mich. Ayşe lachte laut. „Wo denn da? Ich war auf dem Land. Das sage ich immer, es war schon eine Kleinstadt, aber in der Wüste. Keiner ist zum Gymnasium gegangen. Das nächste war in Diyarbekir, das war viel zu weit, aber auch wenn es näher gewesen wäre, nach Diyarbekir wäre ich nicht gegangen. Ins Internat hätte man da gehen müssen, das wäre ja pervers gewesen, und wer sollte das denn auch bezahlen. Ich hatte mein privates Gymnasium. Der Lehrer meinte immer, ich müsse etwas wissen, was für die anderen nicht nötig war. Ich galt schon als etwas Besonderes. So gut hat's hier bestimmt kein Kind in der Schule.“ berichtete Ayşe. „Und in der Schule auf dem Land hast du Deutsch gelernt?“ fragte ich. Ayşe lachte sich wieder schief. „Deutsch ist meine Muttersprache, Philipp. Sprechen gelernt habe ich mit Deutsch. Und dann war ich in den Ferien immer hier. Schon als Kind habe ich meine Eltern bedroht, sie seien dafür verantwortlich, wenn ich später ausgelacht würde, weil ich nicht richtig Deutsch sprechen könnte. Meine Eltern haben sich auch wirklich total bemüht.“ erklärte Ayşe. „Da bist du zum Teil als türkisches und zum Teil als deutsches Mädchen aufgewachsen.“ interpretierte ich. „Nein, beides zusammen. Die Leute sagen immer, entweder türkisch oder deutsch, wie schwarz oder weiß. Wo soll denn da der Gegensatz sein? Erst beides zusammen macht den Kuchen lecker.“ korrigierte mich Ayşe. „Wie Yin und Yang, erst beides zusammen ergibt den harmonischen Gleichklang.“ kommentierte ich. „Genau. Aus der Musik kommt das, nicht wahr?“ fragte Ayşe. „Nein, aus der chinesischen Philosophie.“ sagte ich. Ayşe schwieg und schaute träumend auf die Straße. „Philipp, die ganze Zeit erzähle ich hier Geschichten von mir und von der Türkei. Was interessiert dich das, was willst du damit, was hast du davon? Ich möchte von dir hören, deine Geschichten erfahren, von dir etwas lernen. Zum Beispiel das mit den Philippern, da hast du noch nichts von erzählt. Ach nein, das möchte ich auch gar nicht hören, ist bestimmt was mit Jesus oder so.“ erklärte Ayşe. „Aber dieser Paulus der müsste dich eigentlich interessieren, wäre bestimmt ganz nach deinem Geschmack. Der hat schon vor zweitausend Jahren einen Brief an die Leute in Korinth, in Griechenland liegt das, geschrieben, ...“ begann ich, während Ayşe mich abrupt unterbrach: „Philipp! Willst du wohl aufhören mit mir zu reden, als ob ich gerade aus der Anstalt käme!“ „Entschuldigung. Also der hat den Korinthern einen Brief geschrieben, in dem er sagt, dass alles, was sie besäßen, wüssten und könnten, nichts wert sei, wenn sie die Liebe nicht hätten. Dickster Lottogewinn absolut wertlos, wenn du nicht die Liebe hast. Vor zweitausend Jahren hat der den Leuten das schon eingetrichtert. Der müsste dir doch gefallen.“ vermutete ich. „Ja, ich habe auch schon mehrfach darüber nachgedacht, wie du materielle Güter in Glück umwandeln kannst, aber das ist zwecklos. Du kannst dir ein bequemes Leben machen, aber Glück gibt es nur mit anderen Menschen.“ lautete Ayşes Philosophie.


Große Geschäfte

Brigitta erzählte ich von Ayşe. Sie verstand wieder etwas, was ich mit keinem Wort erwähnt hatte. Sehr bewundernd und schwärmerisch werden meine Dar­stellungen geklungen haben, denn Brigitta meinte: „Hast dich verliebt, nicht wahr?“ „Ach, Brigitta, das ist doch Unsinn. Du weißt doch, dass ich genauso gut wie du keine feste Beziehung will, und unabhängig davon, wie sollte das denn gehen? Ayşe lebt auf einem ganz anderen Stern als ich.“ erklärte ich. „Aber nach dem, was du erzählt hast, muss sie doch eine recht intelligente Frau sein. Wächst in Anatolien auf und spricht völlig korrektes Deutsch. Das ist doch keine Kleinigkeit. Da gehört schon etwas dazu. Nur hier hat sie ja niemals irgendeine Chance, wenn sie nicht irgendwelche Abschlüsse vorweisen kann. Früher war das hier auch möglich. Ich kannte einen Bankdirektor, der hatte nur die Volksschule besucht. Seine Ansprachen musste er sich immer von an­deren Korrektur lesen lassen. Vielleicht ginge es noch in der Politik, aber da sind die bildungsfernen Arbeiterhelden auch so gut wie ausgestorben. Nur für's Geld machen brauchst du keine Bildung. Einer der reichsten Männer Öster­reichs soll ein Schulabbrecher sein.“ erzählte Brigitta. „Wozu quäle ich mich da mit meinem Studium? Und auch noch wo ich weiß, dass ich damit niemals reich, sondern eher arbeitslos werden kann.“ kommentierte ich. „Reich bin ich auch nicht. Mir geht’s recht gut, aber von selbst ist das auch nicht gekommen.“ bemerkte Brigitta. „Immer fleißig arbeiten, immer für die Firma zur Verfügung stehen, nicht wahr?“ vermutete ich. „Nein, nein, Philipp, das bringt's nicht. Im­mer fleißig, das reicht nicht. Du musst dich mit dem, was du tust, identifizie­ren, musst voll involviert sein. Deine Aufgaben, das bist du selbst, das lebst du. Zumindest solange du in der Firma bist. Dann wirst du anders gesehen und erfahren als der übliche Durchschnitt.“ erläuterte Brigitta. „Du meinst ich müsste mich mehr engagieren?“ erkundigte ich mich. „Ja, was heißt das? Eifri­ger sein? Darum geht’s nicht. Deine Einstellung ist entscheidend, deine emo­tionale Beteiligung. Das hat Bettina ja auch gesagt, obwohl sie am dringends­ten bei sich selbst mal etwas überprüfen müsste. Aber zum Beispiel die Ange­legenheit mit Ayşe, gleichgültig ob du sie liebst oder nicht, die hat deine Ge­fühle bewegt, und das ist bei allem entscheidend, wie und auf welche weise du gefühlsmäßig beteiligt bist.“ meinte Brigitta. Ich studierte ja Soziologie, weil ich es unbedingt wollte, aber andererseits empfand ich das Studium insgesamt auch als mühsame Arbeit. Vielleicht lagen da ja meine Verspannungen, die Ayşe zu erkennen gemeint hatte. Müsste ich mein Studium lieben lernen, und jede Vorlesung und jedes Seminar enthusiastisch erfahren können? Völlig un­nötig erschien mir eine andere Einstellung nicht. „Aber sag deiner Ayşe doch mal, dass sie sich unbedingt um einen Abschluss bemühen soll. Es gibt doch Abendschulen und so etwas. Die wird doch ihr Leben lang unglücklich bleiben.“ erklärte Brigitta. Meine Ayşe, ich sollte meiner Ayşe erklären, dass sie zur Schule gehen müsse, weil sie sonst nicht glücklich werden könne. Glücklich war Ayşe bestimmt, eine glückliche Frau, egal ob türkisch oder deutsch. Ich sollte von mir erzählen, sie wolle von mir lernen. Was wollte sie denn von mir lernen? Sollte ich ihr in Gesprächen die Allgemeinbildung eines deutschen Mit­telschichtjungen vermitteln? Anschließend würde ich ihr ein Zeugnis über gute Allgemeinbildung ausstellen? So ein Quatsch. Was hatte ich denn überhaupt damit zu tun? Warum wandte sie sich denn nicht an ihre Eltern, wenn die so engagiert waren oder an ihren Freund. Einen Freund würde eine Frau wie Ayşe doch mit Sicherheit haben, und ein Türke war das bestimmt nicht. Was ging mich das alles an. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Aber wenigstens kurz einen Espresso im Bistro trinken, ging ich doch jeden Tag. Warum erlebte ich das sonst nicht? Bei Brigitta war es selbstverständlich, ja, und wenn ich nach Hause kam auch. Es macht einfach ein wonniges Gefühl, mit einem Menschen zusammenzukommen, der sich freut, wenn er dich sieht. Für Ayşe konnte es nicht anders sein. Wie sprichst du dann miteinander? Nur freundliche, liebevolle Worte kannst du sagen. Meine Espresso-Time im Bistro war ein Moment, auf den ich mich jeden Tag schon vorher freute. „Ayşe, du kannst eine reiche deutsche Frau werden, du musst nur kaufen und verkaufen. Nicht Brötchen, Brot und Butter und so etwas, Firmen, Häuser, Beteiligungen musst du kaufen. Du gibst eine Annonce auf: „Die Caliente Group sucht für ihr Immobilienressort einen Finanzfachmann“. Der rät dir dann, dass du für hundert Millionen eine Firma kaufen sollst. Du entsorgst alles, was unnütze Kosten verursacht und kannst sie für fünfhundert Millionen wieder verkaufen. Vierhundert Millionen verdient.“ erklärte ich, während Ayşe mich nur ungläubig staunend anstarrte. Nach längerer Pause sagte sie: „Meine Großeltern haben ganz wenig Geld, so wenig, dass man hier nicht davon leben könnte. Aber sie sind glücklich ohne eine einzige Million. Was soll ich da mit vierhundert Millionen?“ „Ayşe, das ist das einzige, was du machen kannst. Nur kaufen und verkaufen, dafür brauchst du überhaupt keine Zeugnisse.“ bestärkte ich nochmal. „Philipp, was ist mit dir los? Hast du etwas genommen? Wenn du vorhast, ab jetzt weiterhin so einen Schwachsinn zu reden, bekommst du noch Lokalverbot. Du bist doch eigentlich ganz normal.“ drohte Ayşe.


Anstrengendes Leben

Ganz normal war ich schon längst nicht mehr. Mein normaler Alltag war unwie­derbringlich dahin. Ich hatte mich intensiver mit meinem Studium beschäftigt. Mich mit dem Seminar identifizieren? Wie sollte das denn gehen? Wer tat denn so etwas. Mit Ayşe, das sei in Ordnung gewesen, hatte Brigitta gemeint. Da brauchte ich mir doch nur vorzustellen, dass jedes im Seminar gesprochen Wort aus Ayşes Mund gekommen wäre. Unsinn, ich musste mich schon mit dem Seminar befassen, musste herausfinden, wo es mich wirklich betreffen könne, wo meine persönlichen emotionalen Zugänge liegen würden. Einen ganzen Nachmittag benötigte ich dazu. So intensiv und vor allem auf diese weise hatte ich mich noch nie auf ein Seminar vorbereitet. Der Erfolg war je­doch phänomenal. Das ganze Seminar über war ich absolut wach und höchst konzentriert, ständige High-Noon-Anspannung. Hinterher war ich zwar ge­schafft, aber richtig glücklich. Es war wirklich mein Seminar, es gehörte mir, ich hatte es gelebt. Und sonst, das unbeteiligte Zuhören und Mitschreiben? „Das bin ich nicht.“ sagte Ayşe, wenn sie meinte, dass etwas nicht zu ihr pas­se. Die übliche Teilnahme an den Veranstaltungen, das war ich auch nicht, ich lebte sie nicht, mein Leben war das nicht. Ich wurde gelebt. Aber es machte mir doch niemand Vorschriften, befahl mir, wie ich mich zu verhalten hätte. Ich machte es freiwillig, machte es, wie es alle machten, wie man es eben so macht, und kam gar nicht auf die Idee, mal zu fragen, wo ich denn da eigentlich persönlich vorkäme, in dem Leben, das doch meins sein sollte, das doch mir gehören sollte. Weiterhin irgendwo teilnahmslos zuhören, das konnte ich nicht mehr. Das war Philipp unwürdig, da schämte ich mich vor mir selbst. Ich hatte im Studium mein Leben, hatte mich selbst entdeckt. Stolz und glücklich war ich, aber du musst auch feststellen, wie umfänglich, anstrengend und zeitraubend dein Leben sein kann. Völlig geschafft war ich, als ich am Nachmittag von der Uni kam. Ich warf mich aufs Bett, um mich ein wenig zu erholen. Bis zum Abend habe ich geschlafen.


Wirklich menschlich leben

„Wo warst du? Was war los?“ tönten die ersten Worte, mit denen Ayşe mich am folgenden Tag empfing. Ich berichtete ihr. „Das musst du nicht tun. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dachte schon es wäre vielleicht etwas pas­siert. Einmal am Tag muss ich dein Bild sehen, daran habe ich mich eben ge­wöhnt. Weißt du, wir sind eigentlich ein Museum. Montags ist bei uns auch Ru­hetag. Aber es gibt nur ein Bild. Darunter steht „Philipp Schlüssellos, genannt der Schöne.“ und das muss ich jeden Tag anschauen.“ erklärte Ayşe. „Nein, nein, es ist das Bild von dir mit dem Titel: „Ayşe, eine deutsche Frau, gekom­men aus der Türkei.“, und im übrigen die Schöne von uns beiden bist doch wohl eindeutig du.“ korrigierte ich. Ich fand Ayşe in der Tat ausgesprochen schön. Ihr mehr als schulterlanges Haar hatte sie zurückgebunden, sodass ihr ganzes Gesicht frei war. Wie ein großes Fenster erschien es mir, wundervoll, wenn es lächelte. Einmal hatte sie ihr Haar geöffnet, ließ alles nach vorne fal­len und teile es in der Mitte. Verwegen sah sie aus. Als ich meinte, so sähe sie viel besser aus, erklärte sie nur: „Nein, nein, das bin ich nicht.“ „Ayşe, wenn du so lange in der Türkei gelebt hast und dort sehr glücklich warst, überkommt dich da nicht manchmal Heimweh?“ vermutete ich. Ayşes Gesicht formte eine abwägende, zweifelnde Mimik. „Dass ich denke, wie schön wäre es, jetzt in der Türkei sein zu können und nicht hier sein zu müssen, so ist das nicht. Das träume ich nicht. Aber es hat eben sehr viel Schönes gegeben, an das ich mich gern erinnere. Vor allem ist ja auch das Leben in der Türkei in wesentlichen Bereichen ganz anders als hier.“ erklärte Ayşe. „Wie genau meinst du das?“ wollte ich wissen. „In der Türkei ist das Leben viel natürlicher, mehr wirklich menschlicher.“ meinte sie. Aber das musste Ayşe erläutern. „Du, und ich und alle Menschen gehören zur Natur wie Blume, Baum und Schmetterling. Wir sind ganz natürliche Lebewesen. Hier sieht man es aber so, als ob die ganze Welt eine große Firma wäre, und die Menschen sind die Angestellten. Für Natur können sie in den Wald fahren.“ erläuterte es Ayşe. „Und woran merkst du das?“ fragte ich nach. „Das siehst du doch. Wie die Leute reden, denken, han­deln. Alles geschieht kalkuliert, effektiv und rational schlüssig, überall, in al­lem, Tag für Tag, genau wie es in einer Firma nötig wäre. Wichtig ist, alles so zu tun, wie die anderen Kolleginnen und Kollegen es auch machen.“ erläuterte Ayşe. „Das soll in der Türkei nicht so sein?“ zweifelte ich. „Mag sein, dass es sich in den großen Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir ähnlich verhält. Das weiß ich nicht. Nur wo ich aufgewachsen bin, erlebst du mehr den wirklichen Menschen. Zum Beispiel die Männer, bei lustiger Musik freuen sie sich und bei traurigen Liedern beginnen sie zu weinen. Hier sind die Männer wie Sattelschlepper, stumpf und gewichtig. Selbst wenn sie Gefühle spüren sollten, zeigen sie sie nicht. Wichtig ist nur die Farbe und das Typenschild ihres Autos. Äußerlichkeiten sind bedeutsam, das Wichtige, was sie wirklich menschlich sind, können sie nicht erkennen oder verschweigen es.“ so sah es Ayşe. „Andere Männer hast du hier noch nicht kennengelernt? Alles nur Sattelschlepper?“ fragte ich. „Du neunmal Kluger, das ist doch nur ein Sinnbild für den Typ. Jeder Mann ist unterschiedlich. Natürlich gibt es nette und weniger nette, sie wissen meistens sehr viel, aber einen Mann der meinem Großvater ähnlich wäre, habe ich hier noch nicht kennengelernt. Aus der Schule weiß er sehr wenig, aber er ist ein weiser, hoch gebildeter Mensch. Er kennt kein Internet und weiß nicht wie die Satelliten funktionieren, aber er kennt seine Mittmenschen, kann sie verstehen und mit ihnen empfinden wie sonst niemand.“ erzählte Ayşe. „Also einer von den weisen, klugen, menschlichen Männern, die es heute kaum noch gibt.“ interpretierte ich. „Ja, er ist sehr beliebt und hat viele Freunde. Wenn er mich mitnahm, freuten sich die Leute echt und wirklich. Er hatte seinen Engel mitgebracht. Die Leute mussten unbedingt etwas tun, damit sie mich glücklich und lachend sahen. Und Hier? Wenn hier Eltern ihre Kinder mitbringen, werden sie nicht beachtet oder sogar als störend empfunden. Das ist doch ihr Wertvollstes, ihr kostbarstes Gut, aber das nehmen die Angestellten Menschen in ihrem technologisierten Alltag gar nicht wahr.“ schilderte Ayşe. „Du meinst, die meisten können das eigentlich wirklich Menschliche bei sich selbst und bei anderen gar nicht mehr erkennen, weil sie die Rollenvorgaben der herrschenden Alltagsroutine voll internalisiert haben.“ interpretierte ich es. „Genau, die Menschen verstehen das Wirkliche und das Menschliche nicht mehr, deshalb brauchen sie Zeugnisse. Ich bin zum Beispiel eine ausgezeichnete Bäckerin, als Gärtnerin könnte ich arbeiten, wäre als Hühnerfrau nicht schlecht, und als Köchin brächte ich auch einiges. Nur alles nichts wert, keine Zeugnisse.“ verdeutlichte Ayşe. „Während du das gelernt hast, haben die Mädchen hier Goethe, Schiller, Kleist und Heine kennengelernt, sie können Englisch und Französisch reden und lesen, schwere Mathematikprobleme können sie lösen und kennen sich in Chemie und Physik aus, darüber hinaus wissen sie eine ganze Menge über Komponisten und ihre Werke und in den bildenden Künsten ist ihnen vieles vertraut.“ stellte ich es dar. Direkt missmutig blickte Ayşe nicht, aber ihrer Mimik hafteten schon Züge von Strenge an. „Philipp, zusätzlich, alles nur zusätzlich ist das, was ich genannt habe. Jedes deutsche Mädchen könnte es genauso gut, nur sie haben keinen Großvater mit lieben Freunden, die ihnen alles zeigen. Sie sind allein, und da bleibt ihnen nichts, als im Internet nach Spielen, Blogs und Pornos zu schauen.“ klärte mich Ayşe auf.


Das Irgendetwas kam Weinachten

Eigentlich dürften Bettina und Brigitta überhaupt nicht zusammen passen. Eine übliche Freundschaft, wie man sie sich vorstellt, war das auch nicht. Während des Studiums hatten sie sich kennengelernt, und waren seitdem verwachsen, wie zwei unzertrennliche Schwestern. Sich gegenseitig beurteilen, das konnten sie nicht mehr, auch wenn sie noch so unterschiedlicher Ansicht waren. Wäh­rend Brigitta promovierte, suchte Bettina Jobs. Sie hätte durchaus Möglichkei­ten gehabt, aber bei der Vorstellung dort zu arbeiten, bekam sie jedes mal einen Horror. Sie schrieb Wirtschaftsartikel für mehrere Zeitungen, was schließlich dazu führte, das sie Wirtschaftsjournalistin bei einer Zeitschrift wur­de. Ihr Job, den sie auch immer noch erfüllte, nur ihre Seele, ihre Persönlich­keit war ausgewandert. Nach China, nicht zur chinesischen Wirtschaft, darüber hatte sie zwar Artikel geschrieben, sondern zur chinesischen Kultur, und da vor allem zur chinesischen Philosophie. Keineswegs horrible Vorstellungen für Bri­gitta. Sie hörte Bettina gern zu, verurteile ihre Ansichten nicht pauschal, son­dern versuchte im Gegenteil, sie zu verstehen und Bezüge zu ihren eigenen beruflichen Erfahrungen herzustellen. Die beiden mussten ineinander den Men­schen erkannt haben, wie die Liebe der Mutter zu ihrem Kind, bewerten und verurteilen, grundsätzlich unmöglich. Man sprach über Weihnachten und kam auf die Idee, bei Brigitta eine kleine Feier zu machen. Zu acht Personen waren wir, und offensichtlich hatte jemand das Weihnachtsglück bestellt. Ständig gab es etwas zu lachen, sodass man kaum essen konnte. Bettina meinte zu Weih­nachten müsse man unbedingt ein Spiel aufführen. Sie hätte etwas dabei. Ein direktes Krippenspiel sei es zwar nicht, aber um die Geburt eines neuen Men­schen ginge es schon. La Cenerentola, Aschenputtel war es. Alle schauten es sich kurz an. Wohl wegen der übermütigen Lustigkeit wollten es alle spielen. Hirten kamen auch vor, aber nicht die tumben vom Stall in Bethlehem, son­dern sie bildeten den Chor, der das Volk symbolisierte, und in bukolischen Ge­sängen den Königssohn vor Täuschungen und falschen Entscheidungen warnen sollte. Die Hirten, das sollten Brigitta und ich sein. Unsere Texte haben wir je­des mal vorgelesen, aber uns hinterher immer totgelacht. So ausgelassen al­bern hatte ich Brigitta noch nie erlebt. Wie ein Kind sah ich sie, aber auch wie eine Frau, die ich so noch nie wahrgenommen hatte. Beim Abschied erzählte man sich noch, dass man so einen lustigen Weihnachtsabend noch nie erlebt hätte. Als alle gegangen waren, standen Brigitta und ich uns gegenüber. Unse­re Mimik zeigte nur ein sanftes Lächeln, aber unsere Augen versuchten wohl in das Tiefste des anderen zu gelangen. Wie verabredet umschlangen wir uns plötzlich zu einem Kuss. Niemand hatte bis jetzt ein Wort gesagt. „Das machen wir aber nicht, Philipp, nicht wahr?“ erklärte Brigitta sanft als wir uns nach dem Kuss verwundert anblickten. Aber einmal küssen, das durften wir doch noch. Ungeheuerlich war das, was geschah. Aber daran konnte und wollte Brigitta wohl auch nicht denken. „Komm mit.“ sagte sie nur und zog mich ins Schlaf­zimmer. Einmal noch angezogen auf dem Bett liegend streicheln, aber wir zo­gen uns schnell aus. Niemand hatte ein einziges Wort gesagt, es war eben doch so, dass wir das Wichtigste nur mit den Augen klären konnten. „Es ist verteufelt.“ erklärte Brigitta anschließend mit verschwitztem Gesicht, „Du kannst noch so zivilisiert und kultiviert sein, als Mensch bleibst du doch immer Vieh.“ „Brigitta, bitte, sprich nicht so, sieh es nicht so und denk nicht so. Wir haben doch Außerordentliches erlebt sind beide total glücklich.“ ermahnte ich. „Du hast Recht, Philipp. Irgendetwas muss da in dir sein, und das ist auch in mir. Wir kennen es nicht, wissen nicht, wie es heißt, aber die beiden Irgendet­was verstehen sich ausgezeichnet.“ erklärte es Brigitta. „Ja, ohne ein einziges Wort.“ bestätigte ich. „Wenn sie sich zusammen tun, sich verbünden, ist das gemeinsame Irgendetwas stärker als wir, stärker als jeder von uns.“ führte Brigitta weiter. „Genau, das Irgendetwas bestimmt, was wir zu tun ha­ben, auch wenn wir es vorher gar nicht wollten.“ bestätigte ich. „Es ist aber nicht böse zu uns, will nur unser Bestes, will uns glücklich machen. Sollten wir es lieben, das Irgendetwas?“ fragte Brigitta. „Oder ihm dankbar sein, für die­ses großartige Erlebnis, zu dem es uns veranlasst hat?“ schlug ich vor. „Aber, Philipp, auch wenn das Irgendetwas so wundervoll zu uns war, noch einmal werden wir es doch nicht reinlassen, oder?“ fragte Brigitta. „Das geht doch gar nicht. Wiederholen kannst du das nicht. Ein billiger Abklatsch wäre es, der das Original beschädigen oder zerstören würde. War es nicht wie eine Erscheinung, wie ein Wunder, was wir erlebt haben?“ meinte ich. „Ja, ein Wunder, das wie in einer Trance die Realität überwunden, sie außer Kraft gesetzt hat.“ bestätigte Brigitta. Das 'Irgendetwas' schien aber noch nicht verschwunden. Brigitta lag an mich gekuschelt, schmuste und ließ sich genussvoll streicheln. Unvorstell­bar, offensichtlich handelte es sich bei dem Genuss von Zärtlichkeiten auch um ein genuin menschliches Bedürfnis, das nicht einfach durch einen rationalen Beschluss abzuschalten war, sondern in den Genen verankert sein musste. Ex­tensive Glückseligkeit, so sollte es immer sein. Aber das konnte nur heute, nur an diesem denkwürdigen Abend so geschehen. Am nächsten Morgen schien das 'Irgendetwas' aber auch noch nicht verschwunden, es verschwand über­haupt nicht mehr, war permanent zugegen und veränderte die Beziehung zwi­schen Brigitta und mir fundamental. Aus zwei netten Menschen, die sich gut leiden mochten, waren Verbündete des Geheimbundes der Wissenden, die das 'Irgendetwas' kannten und es erlebt hatten, geworden. Ich hatte ja nicht nur mit Nina, auch mit anderen Frauen hatte ich schon geschlafen. Emotional in­volviert war ich gewiss gewesen, aber jetzt kam es mir doch vor, als ob es sich an der Oberfläche abgespielt hätte. Selbst dabei verfährst du, nach dem, was du so weißt und kennst. Mit Brigitta und mir, das musste ein Urerlebnis sein, eine exorbitante Form der körperlichen Liebe zwischen Frau und Mann. Wie könnte ich jemals wieder mit einer anderen Frau schlafen, aber das wollte ich ja auch gar nicht.


Hauptschulabschluss

Anjas Vater war Lehrer. Er unterrichtete an einer Hauptschule. Das wusste ich. Ich fragte Anja, nach Möglichkeiten, einen Abschluss zu erwerben, aber sie hatte überhaupt keine Ahnung. Wir mussten warten, bis ihr Vater kam. Er er­kundigte sich und meinte: „Prinzipiell kann sie bei uns als Externe mit einer Prüfung den Hauptschulabschluss erwerben, aber ich kann mir kaum vorstel­len, wie das möglich sein soll. Wenn sie in Anatolien aufgewachsen ist, hat sie wahrscheinlich nur fünf Jahre die Schule besucht. Dass die Abschlüsse hier nicht anerkannt werden, hat schon seine Berechtigung.“ Trotzdem wollten wir einen gemeinsamen Termin vereinbaren. Er sollte Ayşe kennenlernen und be­urteilen, ob es möglich sei oder zwecklos wäre. Begeistert war Ayşe nicht, als ich ihr davon berichtete, aber weil es eventuell die einzige Möglichkeit sein könnte, an ein Zeugnis zu kommen, ließ sie sich doch darauf ein. Anjas Vater staunte. „In Deutsch ist sie besser als jede unserer Schülerinnen. Reinste deutsche Hochsprache, während bei unseren Schülerinnen alles mit Slang verwoben ist. Sie kennt sich sogar erstaunlich gut in deutscher Literatur aus, nur mit der Rechtschreibung, da hapert es sehr. Aber das kann man ja lernen. In fast allen Bereichen gibt es natürlich Lücken, aber sie weiß erstaunlich viel. Ich halte sie für eine sehr intelligente Frau. Wenn sie das will, kann sie den Abschluss bestimmt schaffen. Nur sie braucht natürlich Unterricht.“ Anjas Vater war bereit, es zu machen, aber nicht kostenlos, wie Anja es ihm vorgeschlagen hatte. Zweimal in der Woche am Spätnachmittag könne der Unterricht stattfinden. Ayşe musste es sich noch überlegen. „Das ist bestimmt nicht viel für einen Lehrer, was er verlangt, aber für mich ist es trotzdem zu viel. Wie soll ich das denn machen? Ich bekomme nicht viel, weil Uli auch am Hungertuch nagt, und das meiste davon gebe ich meinen Eltern, ich lebe ja bei ihnen. Selbst habe ich fast nur ein Taschengeld, und davon kann ich den Unterricht nicht bezahlen.“ schilderte Ayşe ihre Lage. „Das kann doch nicht sein, Ayşe, dass du den Abschluss nicht bekommst, weil du den Nachhilfeunterricht nicht bezahlen kannst. Ich lebe ja auch nicht auf großem Fuß, aber wir könnten uns die Kosten doch teilen. Ginge es denn dann für dich?“ schlug ich vor. Das wollte Ayşe zunächst nicht annehmen, nach längerer Diskussion war sie aber doch einverstanden. Ich erzählte Brigitta, dass Ayşe sich jetzt um einen Hauptschulabschluss bemühe. „Das ist doch lächerlich. Die paar Kröten.“ sagte sie erbost, „Ich gebe dir das Geld und du bezahlst alles für Ayşe. Denk dir etwas aus, woher dein plötzlicher Reichtum kommt.“ Ayşe erklärte ich, es handele sich letztlich nur um einen Kredit. Wenn sie den Schulabschluss schaffe und eine Stelle bekomme, bei der sie ganz viel verdiene, müsse sie alles zurückzahlen. Das glaubte Ayşe aber auch nicht so richtig. Nach ihrer ersten Nachhilfesitzung war sie ganz stolz. Anjas Vater hatte ihr mehrere Bücher mitgebracht, auch ein Rechtschreibtrainingsprogramm. Gleichzeitig war sie entsetzt: „Das soll ich alles lernen? Das kann ich doch gar nicht.“ lachte aber dabei. Sie sollte die Bücher mal mitbringen. „Nein, hier da ist es doch viel zu unruhig. Komm doch mal am Abend zu mir, dann können wir uns alles in Ruhe anschauen.“ schlug ich vor. Abends hatte Ayşe nämlich frei. Da machte Uli das Bistro selbst mit einem Freund zusammen. In Mathe war ich keine Koryphäe gewesen, deswegen tat ich mich auch jetzt mit Statistik schwer, aber der Hauptschulstoff war mir noch selbstverständlich. „An sich gar nicht dumm.“ kommentierte Ayşe, als ich ihr die Kreisberechnung erklärte. Verstehen würde sie das alles spielend, nur sie hatte in manchen Bereichen eben überhaupt keine Ahnung. Deutsche Geschichte existierte nicht, wohl aber deutsche Literatur. Das Lesen hatte ihr von Anfang an Spaß gemacht. Da konnte nicht nur ihr Großvater von Kalifen, Sultanen und Emirs erzählen, wenn sie von Hanni und Nanni erzählte, lachten sich ihre Großeltern schief. Vertraulich und warm war die Atmosphäre, als wir bei mir zusammensaßen. So eine Stimmung konnte im Bistro nicht aufkommen.


Philipp, der Rücksichtsvolle

Jetzt wurden zum Espresso immer Schulprobleme besprochen. „Ayşe, das bringt doch nichts. Ich kann dir hier so gut wie gar nicht helfen. Wenn du ein Problem siehst, rufst du einfach an und kommst mit Buch und Heft vorbei. Völ­lig unlösbare Probleme waren es wohl nicht allein, Ayşe schien es grundsätzlich zu gefallen, den Lernstoff mit mir besprechen zu können. Sie fragte im Bistro einfach, ob ich heute Abend zu Hause wäre und ein wenig Zeit für sie hätte. Mir gefiel es ja auch, wenn Ayşe kam. Besser als Espresso im Bistro war es al­lemal. Als sie sich zu mir im Bistro an den Tisch setzte und mir ihr wohliges Lä­cheln schenkte, fragte ich sie: „Du magst mich sehr Ayşe, nicht wahr?“ Eine Antwort bekam ich nicht, sondern nur ein leicht glückliches Lächeln mit einem breiten Grinsemund. „Bei mir ist das genauso, ich mag dich auch sehr. Du bist eine wundervolle Frau. Ich freue mich, weil wir uns so gut verstehen, nur ich möchte eventuellen späteren Enttäuschungen vorbeugen. Es ist sehr schön so mit uns, und so soll es bleiben. Weiteres, so etwas mit Liebe kann es nicht ge­ben und wird es nicht geben.“ Ayşe sagte nichts. Dann meinte sie: „Du bist ein sehr rücksichtsvoller Mensch, Philipp, nicht war.“ Es klang jedoch in einem Tonfall, den ich so von ihr noch nie gehört hatte. Die Intonation und die Mimik dazu formten das Gesagte um, als ob sie gemeint hätte: „Halt die Klappe du Idiot und sprich nicht so einen Unsinn.“ Ich konnte gar nicht darauf reagieren. Nach einiger Zeit begann Ayşe: „Ob und wie stark du mich magst, das sagen dir doch deine Gefühle, Philipp. Überlegt und beschlossen hast du da nichts. Das geht gar nicht. Die Gefühle sind einfach da, wie sie sind und lassen sich nicht von dir dirigieren. Wenn du Angst hast, kannst du nicht sagen: „Angst verschwinde!“ und sie ist weg. Umgekehrt ist es, deine Gefühle bestimmen eher dich, dein Denken und dein Handeln. Es ist müßig, darüber zu reden, ob und wie sehr wir uns mögen. Lassen wir es. Es wird doch so sein, wie es ist.“ Was wollte Ayşe mir denn damit sagen? Meinte sie, dass dort meine Verspan­nungen und Blockierungen lägen, weil ich mir in machen Bereichen Vorschrif­ten für mein Empfinden machte, oder meinte sie nur, ich solle nicht über Liebe reden, weil Liebe sich nicht um meine Worte scheren werde. Ich mochte Ayşe schon sehr, sie war ein wundervoller Mensch, aber Liebesbeziehung? Nein, nein, nein, das wollte ich nicht. Außerdem liebte ich schon Brigitta. Das war eine ausgezeichnete Liebesbeziehung, keinerlei Abhängigkeit, keinerlei Ver­pflichtung und doch engste Verbundenheit mit tiefstem gegenseitigen Vertrau­en und Verstehen.


Smetana Konzert

Ayşe verbrachte ihre Zeit zum Lernen mittlerweile fast ständig bei mir. Ich hat­te bei Ikea eine zweite Schreibtischplatte besorgt, sodass wir uns gegenüber saßen. Der kleine Küchentisch war doch sehr unbequem und disfunktional ge­wesen. In Büros sitzen sich ja auch häufig zwei Beschäftigte an Schreibtischen gegenüber. Auch wenn die Beziehungen sehr unterschiedlich sein mögen, mit unserer Atmosphäre würden sie sich nie vergleichen können. Es hatte ja schon den Zweck, dass ich Ayşe helfen konnte, wenn Probleme auftauchten, aber es kam uns vor, als ob wir es machten, weil es uns so am besten gefiel. Zum konzentrierten Arbeiten brauchst du doch Ruhe, musst allein sein, willst nicht gestört werden. Erklären kann ich es nicht, aber ich meinte mich viel besser konzentrieren zu können, wenn ich beim Augenaufschlag nicht auf das tote Bücherregal starrte, sondern Ayşe lernen sah. Allein zu sein, wirkte nicht konzentrationsfördernd. Alleinsein war für den Menschen Philipp nie gut, auch nicht beim Lernen. Als Eremit wäre ich wahrscheinlich völlig untauglich. Bislang war mir das noch nie aufgefallen. Es war eben so, dass man als Student in seinem Appartement meistens allein war. Oder lag es daran, dass es Ayşe war? Lag es daran, dass ihr Anblick immer mit dem Empfinden freundlicher Gefühle verbunden war, Gefühle, die in keiner Situation jemals störend wirken können. Hatte sie mich okkupiert? Glichen ihre Besuche eher Besetzungsversuchen? Aber sie hatte doch nichts initiiert, von ihr war doch nichts ausgegangen, sie hatte auf nichts gedrängt. Ich war es, der ihr etwas vorgeschlagen, sie gebeten hatte. Jetzt war es so, dass Ayşe einfach dazu gehörte. Kino, Theater, Oper, für alles hatte Ayşe keine Zeit, da würde sie sich lieber nochmal die Seiten mit dem ersten Weltkrieg durchlesen. Bei einem Smetana Konzert konnte sie aber nicht kneifen, denn gerade über klassische Musik hatten wir uns viel unterhalten, weil sie kaum etwas davon kannte. Es gibt ja Menschen, bei denen bestimmte Passagen klassischer Musik so starke Sentiments hervorrufen, dass sie zu weinen beginnen. Ob Ayşe nach allgemeinen Kriterien eine sehr schöne Frau ist, kann ich gar nicht beurteilen, ich finde sie einfach zauberhaft und könnte sie immer betrachten, eigentlich fast vom ersten Moment an, aber in dem schwarzen Kleid, das sie zum Konzert trug, wirkte es nochmal besonders stark auf mich. Natürlich beeinflussten die schöne Ayşe, das ganze Ambiente der Philharmonie, und meine Assoziationen die Wahrnehmung des Konzerts, aber jetzt hörte ich nicht nur die Musik, schaute dem Orchester und dem Dirigenten zu. Immer hörte ich auch Ayşe. Sie war bei jedem Takt in mir zugegen. Ständig hörte ich, wie Ayşe es wohl hören und empfinden würde, was die Musik wohl in Ayşes Gefühlen bewegte. Es war ja Unsinn, ich konnte ja nicht Ayşes Gefühle imaginieren, aber zwanghaft hörte ich die Musik immer mit Ayşe. Eine nie erlebte erweiterte Konzerterfahrung, die mich faszinierte und konsternierte. Ich hatte keine Lust jetzt viel zu reden. Wir gingen auch nichts mehr essen, sondern direkt nach Hause. Ob Ayşe etwas Ähnliches empfunden hat, weiß ich nicht genau, sie erklärte nur mehrfach, dass das Konzert für sie ein ganz tolles Erlebnis gewesen sei.


Ist das nicht Liebe?

Nach langer Zeit des Lernens erklärte Anjas Vater, dass jetzt eigentlich nichts mehr schief gehen könne. Ayşe sei total fit. Er nahm Ayşe die Angst und er­klärte ihr, in der Schule wäre sie die beste Schülerin. Sie hatten natürlich fast ausschließlich nach dem Curriculum der letzten Klasse gepaukt, weil darauf die Prüfung basierte. Bei manchem war jedoch auch Zurückliegendes wegen des Verständnisses unverzichtbar. Großer Tag, morgens muste Ayşe eine Mathe­matikarbeit schreiben und einen Erörterungsaufsatz verfassen. Am Nachmit­tag, wenn die Schülerinnen und Schüler gegangen waren, fand die mündliche Prüfung statt. Ayşe hatte nach den Arbeiten ein gutes Gefühl. Ich stand vor dem Konferenzraum und wartete, während Ayşe drinnen examiniert wurde. Es dauerte, aber endlich ging die Tür auf. Ayşe stürmte auf mich zu, umschlang mich und begann mit mir zu tanzen. Die herauskommenden Lehrer schmunzelten, und Anjas Vater drückte sie nochmal als Glückwunsch. Wir gin­gen ins Bistro, und Ayşe schien innerlich immer weiter zu tanzen. Natürlich musste Ayşes Schulabschluss gefeiert werden. Wo? An dem einzigen großen Tisch im Bistro. Am übernächsten Samstag sollte der Event stattfinden, mit al­len, die auf irgendeine Art und Weise damit zu tun gehabt hatten. Ich erklärte Ayşe, wer Brigitta sei und dass sie unbedingt kommen müsse, weil von ihr die Idee ausgegangen sei. Ich war der einzige, der alle Anwesenden kannte. Brigit­ta fiel als edel auf. Ich sah sie sonst ja auch nur immer leger gekleidet im Frei­zeitdress. Ob Ayşe eifersüchtig war, weil ich ihr erklärt hatte, dass sie meine Freundin sei? Wohl kaum. Zumindest konnte das nicht der Grund sein, weshalb am Abend der Feier Ayşe nicht die überbordende Freude zeigte, wie am Tag nach der Prüfung. Sie erweckte eher einen zurückhaltenden, beschaulichen Eindruck. Die Anwesenden überboten sich im Aufzeigen von Chancen und Mög­lichkeiten, die Ayşe jetzt offen stünden. Sie selbst relativierte es später. „Na­türlich ist es klasse, dass ich wenigstens dieses Zeugnis habe, aber bin ich da­durch ein anderer Mensch geworden? Du widersprichst dir auch. Du sagst alle Frauen seien gleich, aber du hast auch gesagt, dass ich in einer anderen Welt leben würde als du. Meinst du nicht, dass eine deutsche Frau in einer ähnlichen Welt wie in deiner leben müsse? Bin ich deiner Welt jetzt durch das Zeugnis näher gekommen? Wird meine Welt deiner Welt ähnlicher?“ wollte Ayşe wis­sen. Ich besann mich und erklärte: „Ich kann das so nicht mehr sehen, Ayşe. Es gibt keine deutsche Welt und keine türkische Welt, keine Welt der Frauen und keine Männerwelt. Genauso gibt es keine Welt der Gebildeten und der we­niger Gebildeten. Jede und jeder lebt in einer anderen, seiner nur ihm eigenen Welt. Ob und wie sie mit der Welt eines oder einer anderen harmoniert, ist eine ganz andere Frage, oder hast du etwa bei unserer gemeinsamen Arbeit Disharmonien wegen unserer angeblich verschiedenen Welten gespürt?“ „Schade, dass es jetzt vorbei ist, oder empfindest du nicht so? Ich könnte ja weiter kommen und irgendetwas anderes lernen.“ scherzte Ayşe. Dass Ayşe heute mir nicht gegenüber saß, weil sie etwa Unterricht hatte, war ja nichts Besonderes. Morgen würde sie wieder da sein, aber zu wissen, dass Ayşe dort nicht saß, weil es keinen Grund mehr dafür gab, bereitete ein mulmiges Ge­fühl. Offensichtlich war mein Wohlempfinden auf die lernende Ayşe am Schreibtisch gegenüber angewiesen. Nicht nur ihr Anblick, das Empfinden, sie bei und mit mir zu wissen, die Möglichkeit, mit ihr sprechen zu können, zu er­leben wie sie fragte, vermittelte ein ganz anderes Lebensgefühl. Vermutlich empfand Ayşe Ähnliches, denn sie kam einfach, ohne dass es einen konkreten Grund gab. Bei einem Glas Tee lagen wir auf dem Bett. Während des Lernens waren wir auf Tee umgestiegen, weil zu viel Kaffee störte. „Ayşe, ich muss dir doch zur Prüfung etwas schenken. Ich weiß aber gar nicht was. Frauen wollen ja immer Ringe, Schmuck und Kleider haben, und du?“ versuchte ich mich zu erkundigen. „Weißt du was Frauen wollen? Männern, die so einen Unsinn re­den, wollen sie eins auf die Nase hauen. Wenn du mir etwas schenken wolltest, müsste ich spüren können, wie es mich erfreut, wie es meine Sinne beglückt. Etwas Leckeres essen gehen, zum Beispiel. Du könntest mich als Geschenk zum Essen einladen. Oh, nein, nein. Lad mich nochmal in ein Konzert ein. Das wäre das größte Geschenk. Es ist schon faszinierend. Wir machen ja nichts, aber ich erlebe es, als ob du ganz nah bei mir wärest. Jeder Klang ist anders, als ob ich das Stück alleine von der CD höre. Wenn du dabei bist, gibt es ein spezielles Instrument. Der Dirigent kann es nicht sehen, nur ich höre es.“ schilderte Ayşe ihre Begeisterung. Von meinen Erfahrungen zu berichten, traute ich mich trotzdem nicht. Obwohl sie ja mit Ayşes Empfindungen viele Ähnlichkeiten aufwiesen, hielt ich sie doch für meine Spinnereien. „Ayşe, wenn eine Frau und ein Mann zusammen im Bett liegen, miteinander ins Bett gehen, denkt man ja immer an Sex. Ich habe davon geträumt, nein, nicht geträumt, ich habe es mir vorgestellt, dass wir beide zusammen im Bett lägen. Ich gehe abends ins Bett und du bist auch da. Allein ins Bett zu gehen, macht mir keinerlei Probleme, aber dass du auch da warst, wir beide miteinander reden konnten, uns liebe Worte sagen und lachen konnten, ließ mich ein Höchstmaß an Wohlempfinden verspüren. An Sex habe ich überhaupt nicht gedacht, auf die Idee bin ich gar nicht gekommen. Bin ich nicht pervers, oder wie würdest du es sehen?“ Ayşe, die auf einen Arm gestützt halb aufgerichtet neben mir lag, musste intensiv, aber sehr freundlich lachen. Deine Schwester oder deine Mutter liebst du doch sehr, bei ihnen denkst du ebenso wenig an Sex, kommst du bei ihnen auch darauf, deshalb pervers zu sein? Philipp, kann es nicht sein, dass es einfach Liebe ist, was du empfindest, auch wenn dir das Wort nicht gefällt. Du sehnst dich danach, mit mir kommunizieren zu können, wenn wir uns austauschen könnten, würdest du glücklich empfinden, ist das nicht Liebe in deutlicher und reiner Form? Sie wohnt im Herzen, in der Seele, in den Gefühlen. Die Genitalien sind nicht der Wohnort der Liebe.“ erklärte Ayşe und schmunzelte. „Ayşe, kommst du mal ganz nah zu mir?“ bat ich, und Ayşe rückte dicht an mich ran. „Nein, so nicht, ich meine mit deinem Kopf, mit dem Gesicht.“ sagte ich. Ayşe musste etwas vermuten, denn sie grinste schelmisch. So nah angeschaut hatten wir uns schon öfter. Jetzt befand sich Ayşe Gesicht ganz nah über mir, und als ich mir die Lippen befeuchtet hatte, senkte Ayşe ihre langsam zu meinen. Angenehm, prickelnd und aufregend war unser erster Kuss schon. Wir spielten auch mit den Zungenspitzen, aber voll intensiver Leidenschaft und ganz ernst war es auch nicht. „Machst du das mit deiner Schwester auch?“ fragte Ayşe spöttelnd. „Sollte ich eigentlich, wenn ich sie sowieso heiraten will.“ antwortete ich. Ein wenig erzählte ich von Nati und wies auf die Ähnlichkeiten mit ihr hin. „Für dich war es nur juxige Spielerei, nicht wahr?“ vermutete ich zu unserem Kuss. „Philipp, wie kannst du nur so unsensibel sein. Ich würde es gern wiederholen, auch wenn du mich nicht heiraten willst.“ wurde ich ermahnt.


Abendgymnasium

„Was willst du denn jetzt überhaupt mit deinem Zeugnis machen? Hast du schon klare Vorstellungen?“ fragte ich. „Alles durcheinander. Soll ich jetzt ein­fach irgendwo eine Lehre beginnen? Bei den besseren nehmen sie sowieso nur Leute mit Abitur, obwohl mein Zeugnis eigentlich reichen müsste.“ erklärte Ayşe. „Hast du denn auch schon mal überlegt, ob du nicht weiter lernen möchtest? Anjas Vater hat dir doch empfohlen, zum Abendgymnasium zu gehen.“ erkundigte ich mich. „Ich, anatolische Nudel, zum Gymnasium. Abitur machen und studieren, was? Philipp, du spinnst wohl.“ reagierte Ayşe. „Wie kannst du reden, Ayşe? Dass die anatolische Nudel fast ohne Schulbildung hier so locker den Hauptschulabschluss hinlegt, zeigt doch wohl, dass sie einiges drauf hat. Sollen wir uns nicht mal wenigstens erkundigen?“ schlug ich vor. „Wir hatten gedacht, dass sie uns Ratschläge, Hilfen und Tipps geben würden, wie alles zu bewältigen sei. Deshalb hatten wir um dieses Gespräch gebeten, aber sie versuchen uns klar zu machen, dass es im Prinzip gar nicht zu schaffen ist. Wozu gibt es die Schule dann?“ unterbrach ich leicht wütend den Studienrat des Abendgymnasiums bei dem Informationsgespräch. „Entschuldigung, ich wollte nur verdeutlichen, dass es harte Arbeit ist, die hohe Anforderungen stellt und dass Hoffnung und guter Wille allein nicht ausreichen, wenn sie nicht zu den enttäuschten Abbrechern gehören wollen.“ erklärte der Lehrer. Er gab uns noch Informationsmaterial mit und riet uns, es reiflich zu überlegen. Das geschah von selbst. Zwischen Ayşe und mir gab es kein anderes Thema mehr. Langsam wuchs ich in die Rolle des permanent ermutigenden Befürworters hinein, während sich Ayşe immer mehr in ablehnenden Zweifeln wand. „Ich bin sicher keine ängstliche oder ständig unsichere Frau, aber für vorprogrammiertes Scheitern kann ich keine besonderen Lustgefühle entwickeln. Es würde mich eher unglücklich machen.“ erklärte Ayşe. „Dann lassen wir es eben. Wenn es keinen Zweck hat, kann man nichts machen.“ meinte ich. So wollte Ayşe es aber auch nicht von mir hören. „Na, bei dem Hauptschulabschluss wolltest du es dir selbst beweisen, hast an dich und die deutsche Frau in dir geglaubt, warst sicher Ayşe wird das schaffen. Warum existiert das alles beim Abendgymnasium nicht mehr? Warum bist du da auf einmal wieder die Anatolia, die Angst hat, nichts zu kapieren. Die gibt es doch gar nicht mehr. Wie kannst du nicht an dich selbst glauben, wenn du weißt, dass ich an dich glaube?“ insistierte ich wieder. „Im Grunde hast du ja Recht, Philipp. Eine dumme Gans war ich schon. Wollte eine deutsche Frau sein, wie Elsa Schröder an einem Schreibtisch im Büro arbeiten, dann wäre ich eine deutsche Frau und glücklich und zufrieden. Wie konnte ich nur so denken. Eigentlich passt das doch dar nicht zu mir. Vielleicht war es nur die Not der gut gelaunten, aber unglücklichen Frau, weil sie sich ausgeschlossen wähnte, meinte, nicht dazugehören zu dürfen, weil sie keine Zeugnisse hätte. Alles Unsinn. Du gehörst dazu, bist niemals ausgeschlossen, wenn es einen anderen Menschen gibt, der an dich glaubt. Das ist das Entscheidende und niemals durch welches Zeugnis auch immer zu ersetzen.“ erklärte sich Ayşe. Wir mussten uns beeilen, damit nicht schon alle Plätze für das Wintersemester vergeben wären. Beim Lernen für die Hauptschule hatten wir gemeinsam meinen Laptop benutzt. Das würde jetzt nicht mehr gehen, da der Unterricht außer an zwei Präsenztagen online erfolgte. Zu meinem Geburtstag brauchte ich unbedingt einen neuen. Ayşe wollte den alten benutzen, aber ich zwang sie, das neue Mac-book zu verwnden, weil ich mich damit nicht so auskenne. Brigitta staunte, dass ich sie um ein iPad anbettelte. Sie dachte, es würde mir mehr gefallen, gemeinsam fürstlich essen zu gehen. Das machten wir dann aber noch zusätzliche. Bestens ausgerüstet waren wir, als das Semester begann, trotzdem saß Ayşe nach einer Woche verzweifelt, den Tränen nahe bei mir am Tisch. „Das geht nicht. So hat es keinen Zweck. Den ganzen Tag im Bistro, und dann abends die Schule, das funktioniert nicht. Die meisten anderen kommen um drei oder vier Uhr von der Arbeit und haben dann Zeit. Von einer Frau habe ich auch gehört, dass sie nur noch halb arbeitet, aber das kann man eben nicht überall. Selbst wenn es bei mir ginge, wie soll ich denn mit dem Geld auskommen. Das wäre ja weniger als Hartz IV. Und ganz aufhören? Volle Arbeitslosenhilfe bekäme ich da auch nicht, weil ich ja bei meinen Eltern lebe. „Ayşe, du musst deinen Eltern einfach mal klar machen, welche riesigen Chancen für ihre Tochter damit verbunden sind. Wenn dein Vater schon ein kleiner Chef ist, werden sie doch wohl soviel verdienen, dass sie dich für eine begrenzte Zeit mit durchfüttern können.“ forderte ich sie eindringlich auf. „Aber Uli, wie soll der das denn machen, zwei Leute beschäftigen?“ klagte Ayşe. „Wegen Ulis Problemen wirst du deine Schule abbrechen. Habe ich das richtig verstanden? Ich denke, er versicherte dir immer, wie dankbar er sei. Da soll er doch mal etwas für dich und deine Zukunft tun.“ entgegnete ich.


Die Frau in meinem Bett

Bald konnte Ayşe wieder lachen. Sie hatte mit Uli und ihren Eltern alles in ih­rem Sinne geregelt bekommen, nur Geld hatte sie jetzt kaum noch. Dafür einen schicken Laptop, der fast so dünn wie ein Heft war und ein iPad, damit wir uns jederzeit sehen konnten. Nur dazu kam es sehr selten, in den Zeiten, in denen wir hätten telefonieren können, befand sich Ayşe meistens life bei mir. Die Arbeit für's Abendgymnasium bewegte sich schon auf einem ganz an­deren Level, als der Nachhilfeunterricht für die Hautschule. Ayşe stand immer total unter Druck, konnte sich aber riesig freuen, wenn sie etwas Schwieriges trotzdem bewältigte hatte. Ayşe lernte beim Lernen zu lernen. Und gewann Freude daran. Die Arbeit im Bistro genoss bei Ayşe einen hohen Stellenwert. Dass sie qualitativ keine Bedeutung hatte, wusste sie auch, aber es war Ayşes Wurzelbereich als deutsche Frau. Langsam gewann das neu Erfahrene, die Welt dessen, wodurch sie beim Lernen Kenntnis erhielt einen immer höheren Stellenwert. Das Wunschbild der imaginären deutschen Frau verblasste immer mehr und löste sich ganz auf. Ayşe hatte sich zur lernenden Frau entwickelt und befand sich auf dem Wege eine intellekuelle Frau zu werden, oder war es vielleicht schon. Ihre Fragen konnte ich längst nicht immer einfach beantwor­ten. Entweder hatten wir das Thema damals gar nicht behandelt, oder es war wie das andere Erlernte auf die schiefe Ebene des Gedächtnisses gesetzt wor­den, wo es langsam aber kontinuierlich tiefer rutschte, um schließlich in den Orkus des Vergessens zu fallen. Hier hattest du es schon geübt, dir ohne per­sönliche, emotionale Beteiligung Wissen aneignen zu sollen. Ayşe würde von ihrem Gelernten voraussichtlich in ihrem Leben nie etwas vergessen. Sie war immer hochgradig involviert und erzählte mir hochspannend, welches neue Weltwunder sie gerade wieder entdeckt hatte. Ayşe blieb auch oft über Nacht. Zum Bistro war es nicht weit, und anschließend war sie wieder sofort bei mir. Die Couch fungierte auch als Gästebett. Jetzt wurde sie kaum noch zusammengeklappt, wegen Ayşe, meinem Dauergast. Meistens gingen wir zu unterschiedlichen Zeiten ins Bett. Ich war schon müde, und Ayşe musste noch unbedingt etwas erledigen oder umgekehrt. Wenn wir zur gleichen Zeit ins Bett gingen, kam Ayşe immer noch kurz zu mir. Bestimmt konnte man besser schlafen, wenn man im Bett noch ein paar Worte miteinander gewechselt und sich einen Gutenachtkuß gegeben hatte. „Weißt du, Philipp, mein Großvater ist bestimmt ein gläubiger Moslem, aber er sagt: „Es ist nicht unsere Bestimmung zu warten. Die Welt ist kein Wartesaal.“ Er meint, es sei entscheidend, wie wir unser Leben jetzt und hier gestalten. Die Griechen wussten schon lange vor Mohamed, dass es darauf ankäme, das Leben als glücklich zu empfinden. Ich kann das nicht verstehen, dass so viele Menschen an ein glückliches Leben nach dem Tode glauben, obwohl es keinerlei Hinweise darauf gibt. Ich bin bei Versprechen immer äußerst skeptisch. Nirgendwo bekommst du von irgendjemandem wirklich etwas geschenkt. Immer ist eine Absicht damit verbunden. Nur bei der Liebe ist es anders. Ich möchte mein Leben hier glücklich gestalten. Dass ich viel arbeiten muss, stört dabei nicht. Entscheidend ist die Harmonie, das Wohlempfinden.“ erklärte Ayşe das Lebensglück. „Du hast Recht. Wenn du hier etwas glauben sollst, erwartest du, dass es konkrete Hinweise gibt, die es dir ermöglichen, aber noch niemand hat je glücklich tanzende Verstorbene erlebt und ebenso wenig etwas von der Hitze des Höllenfeuers gespürt. Reine Erfindungen, denen du hier niemals glauben würdest. Du empfindest dein Leben zur Zeit als glücklich, was meinst du denn zu mir? Müsste ich meine Glückseligkeit eventuell intensivieren?“ wollte ich erfahren. Aber ich bekam keine Antwort, weil der Schlaf schon Ayşes Augen geschlossen hatte. Mitten in der Nacht wurde sie wach, bemerkte wo sie war und wollte aufstehen. Mit: „Ayşe, bleib doch. Du wirst auch den Rest der Nacht hier gut schlafen.“ hielt ich sie zurück. Der Morgen war zauberhaft. Ayşe schlägt die Augen auf, erkennt mich, und das Schlafgesicht verwandelt sich im Moment in eine strahlende Morgensonne. Einer goldigen Butterblume glich ihr Gesicht, sie musste in frühmorgendlichen Glücksgefühlen schwelgen. Würde es bei mir auch so sein? Aber was kann es schon Wonnevolleres geben, als beim ersten Augenaufschlag in das Gesicht der Geliebten zu blicken. Muss das nicht ein glücklicher Tag werden. Wir unterhielten uns noch weiter über diese Nacht. „Das Schicksal hat uns eine Botschaft zukommen lassen.“ erklärte ich. „Und die lautet?“ wollte Ayşe wissen. „Hey, ihr könnt genauso gut gemeinsam in Philipps Bett schlafen.“ wusste ich. „Ob ich das will? Das weiß ich aber nicht?“ Ayşe darauf. „Warum willst du die gemeinsame Wärme verlassen, unser Zusammensein abbrechen und allein auf der ungemütlichen Couch liegen?“ fragte ich. „Und wir schlafen dann wie Brüderchen und Schwesterchen immer brav nebeneinander?“ fragte Ayşe zweifelnd. „Warum sollte es morgen und übermorgen anders sein als in dieser Nacht? Was für einen Grund siehst du?“ bemerkte ich. Richtig überzeugt war Ayşe wohl eher nicht, aber es war natürlich auch eine verlockende Vorstellung. Zu dem könnten wir es ja immer ändern, wenn es einen Anlass dazu gäbe.


Wir sind nicht die Königinnen

„Nati, das wird nichts mehr mit unserer Hochzeit.“ erklärte ich. „Oh, da bin ich aber böse. Sag warum nicht.“ antwortete Nati scherzend. „Ich bin schon ver­heiratet. Zumindest liegt nachts eine Frau neben mir im Bett.“ sagte ich. „Ayşe bestimmt, nicht wahr? Und seit wann seid ihr verheiratet?“ wollte Nati wissen. „Das kann ich gar nicht sagen. Ich wollte das ja nie, das weißt du doch, und jetzt ist es einfach so gekommen. Ich habe nie gedacht: „Oh, die Ayşe, was für eine tolle Frau, die müsste meine Freundin werden.“ stellte ich es dar. „Son­dern, wie hast du es gemacht? Dass Ayşe eine tolle Frau sei, hast du mir aber schon erzählt.“ entgegnete Nati. „Na klar, aber ich habe keine Freundin ge­sucht. So machen es vielleicht alle. Früher haben die Eltern gesagt: „Das ist die passende Frau für dich.“, heute machen sie es selbst. „Die ist klasse, das könnte was für's Leben sein, da muss ich mich ranmachen.“ und dann wird die Liebe eingeschaltet. Mit Liebe hat das doch nichts zu tun, ein Markt, ein Ge­schäft ist das.“ erklärte ich. „Wie soll man's denn sonst machen? Bei dir ist es aber Liebe, obwohl sie gar nicht deine Freundin sein soll?“ vermutete Nati. „Wenn du beschließt: „Ich will jetzt Ayşe lieben, dann ist das Unfug. Ich habe es ja auch gar nicht gewollt, wollte mich nicht verlieben, aber es ist einfach entstanden. Liebe ist, das was geschieht, was du tust und wie du es tust. Was du voneinander denkst, aber vor allem, welche Gefühle der Austausch mitein­ander in dir weckt und auslöst. Dann kommst du an einen Punkt, an dem du feststellst, um glücklich zu sein, brauche ich Ayşe. Und dann sagt Ayşe: „Muss das nicht Liebe sein?“. Wie soll ich da widersprechen?“ wollte ich wissen. „Ayşe hat dich also verführt?“ bemerkte Nati scherzend. „Im Gegenteil, ich habe ihr immer etwas vorgeschlagen und empfohlen und musste feststellen, dass es mich keineswegs einengt oder beschränkt, sonder mein Leben erweitert und mein Glück vergrößert. Alles Herkömmliche, was du über Beziehungen weißt, muss so nicht stimmen.“ stellte ich es dar. „Du meinst die Liebe kann alles ver­ändern.“ vermutete Nati. „Die Liebe, ich weiß gar nicht genau, was das ist. Wir haben nur ständig unser Zusammensein ausgedehnt, und fanden dass immer besser. Wenn ich jemanden von außen kennenlerne, und sie klasse finde, dann kenne ich sie doch im Grunde kaum. Emphatische, emotionale Schwärmerei ist das. Nach kurzer Zeit stellst du fest, dass da auch noch etwas anderes ist, was in deinen Wunschträumen nicht vorkam. Dann bist du sauer und gibst die Schuld der Frau. Dabei warst du der oberflächliche Trottel.“ erläuterte ich. „Also, Liebe bedeutet für mich, dass er in deinem Herzen wohnt.“ erklärte Nati. „Und das spürst du?“ fragte ich. „Na klar doch.“ Nati kurz. „Bei mir, wie ist es denn bei mir? Wohne ich auch in deinem Herzen?“ wollte ich wissen. Mit ei­nem: „Mhm“ bestätigte es Nati kopfnickend. „Weißt du, Philipp, ich kann nie­mals mehr denken, dass du ein schlechter Mensch sein könntest. Du gehörst zu mir, bist ein Teil von mir. Wir sind nicht die Königinnen von uns selbst, wir gehören auch den Menschen, die wir lieben und die uns lieben.“ erläuterte Nati. Ob Nati nicht doch die ideale Frau für mich gewesen wäre? Aber drei Frauen? Das wäre wohl zu viel für einen, der gar keine wollte.


Brigitta zu Besuch

Am Samstag kam mich Brigitta besuchen, das heißt uns. Auf der Couch konn­ten wir nicht sitzen, weil die zu Ayşes Kleiderschrank umfunktioniert worden war. Ein offener Koffer stand noch daneben. Ayşe hatte einiges rüber geholt, damit sie nicht so oft nach Hause musste. „Oh Schreck, was für eine Räuber­höhle.“ lautete Brigittas erster Komentar. Wir saßen auf dem Bett und unter­hielten uns über meine sonderliche Entwicklung. „Was würdest du von einem halten, der heute dies erklärt, aber morgen genau das Entgegengestzte tut?“ wollte ich wissen. „Das wäre doch nicht gut, oder?“ kommentierte Brigitta. „Er ist unzuverlässig, man kann ihm nicht trauen, mit so einem wollte keiner etwas zu tun haben. Aber genauso einer bin ich.“ erklärte ich. „Du Ärmster, sollte ich nicht etwas davon mitbekommen haben?“ meinte Brigitta halb lachend. „Brigit­ta, du nimmst mich nicht ernst.“ ich darauf. „Nein, sollte ich denn?“ fragte Bri­gitta. „Ich will keine dauerhafte Beziehung, will keine feste Freundin, will mich nicht verlieben, habe ich großmäulig posaunt. Das weißt du ja auch.“ erklärte ich. „Und jetzt ist alles genauso gekommen, nicht wahr?“ stellte Brigitta fest, „Trotzdem liebe ich dich und will auch weiterhin immer mit dir zu tun haben. Ich finde es eher spannend, wie so etwas geschieht. Weil ich schon so lange nichts von dir gehört habe, bin ich doch gekommen.“ Wir sprachen noch weiter über unsere Beziehung. „Habe ich das richtig verstanden? Ihr schlaft jede Nacht gemeinsam im gleichen Bett, aber fasst euch nicht an? Das gibt es gar nicht, Philipp. Widernatürlich ist das. Die Frauen und Männer, die sich evolutio­när durchgesetzt haben, spüren automatisch ein drängendes Verlangen, der Arterhaltung zu dienen. Philipp, das 'Irgendetwas' kommt bestimmt irgend­wann. Aber ihr beide habt den Geschlechtstrieb abgeschaltet. Oder legt ihr beim Ausziehen auch ab, dass ihr eine Frau und ein Mann seid. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Spürst du denn nie irgendeine Begehrlichkeit oder liebst du Ayşe doch nicht richtig?“ erklärte Brigitta verwundert und entsetzt. „Ja, schon, natürlich.“ weiter kam ich nicht, weil mich Ayşe, die die ganze Zeit nur grinste, unterbrach und fast lachend erklärte: „Er hat gesagt, er denkt da gar nicht dran. Er kommt gar nicht auf die Idee.“ „Ayşe,“ reagierte ich leicht erregt, „du hast doch ...“ Brigitta hatte besänftigend ihre Hand auf meinen Oberschenkel gelegt. „Ayşe und Philipp, meint ihr nicht auch, dass ihr mal dringend miteinander darüber reden müsstet? Spielt ihr nicht manchmal auch gern die Kinder?“ Wir gingen in die Küche, und Brigitta sah es beim Kaffee so, dass diese Wohnsituation doch keine Dauerlösung für uns beide sein könne. „Ihr könntet ja bei mir wohnen, nur ich kann Blümers nicht kündigen. Ich höre mich mal um, da wird sich bestimmt etwas finden.“ erlärte Brigitta.


Große Liebe, neue Wohnung und das Dao

Ich traute mich trotzdem nicht, es anzusprechen. Vielleicht hatte ich unter­gründig Angst, ein falsches Wort zu wählen, und Ayşe würde wieder auf die Couch ziehen. Ayşe begann: „Dass du gar nicht auf die Idee kommst, dass wir Mann und Frau sind, das ist jetzt nicht mehr so, oder?“ Ich lächelte nur und streichelte Ayşe die Wange. „Im Prinzip habe ich ja nichts dagegen. Grundsätz­lich ist es mir das egal.“ sagte Ayşe. „Nein, das will ich aber nicht.“ unterbrach ich sie, „Weil es uns egal ist, können wir ja auch mal miteinander schlafen? Ayşe, ich bitte dich, so kann ich das nicht, und so will ich das auch nicht.“ „Du willst dich aufregen, weil du etwas Unmögliches von mir denkst? Philipp, ich wollte dir doch nur sagen, dass ich nicht grundsätzlich abgeneigt bin. Dass wir ja aus Langeweile auch mal unsere Geschlechtsteile ineinander­stecken könnten, das hast du in deinem Kopf erfunden.“ wurde ich ermahnt. „Ayşe, wie kannst du denn reden? Ich glaube, wir sind viel zu unbeholfen.“ meinte ich. „Wir brauchten Hilfe? Sexberatung? Philipp du spinnst. Ich denke nur, dass wir beide intensives Verlangen verspüren müssten.“ äußerte Ayşe. „Das liegt an den Hormonen.“ wusste ich. „Ja auch, ohne hättest du sicher kei­ne Lust, aber ich möchte es nicht als biochemisch zwanghaftes Verhalten se­hen, wenn wir miteinander schlafen. Es müsste schon Ausdruck unserer Liebe sein.“ erklärte Ayşe. „Und wie kann ich mir das konkret vorstellen?“ wollte ich wissen. „Na, so genau weiß ich das doch auch nicht. Wenn wir einen Höhe­punkt unserer Liebe erfahren, könnte das Körperliche eine Erweiterung, einen Zusatz darstellen, oder so ähnlich.“ stellte es Ayşe dar. „Wie erfahren wir, dass unsere Liebe jetzt ihren Höhepunkt erlebt?“ wollte ich es genauer wissen. „Ach, Philipp, das kannst du doch nicht benennen oder erklären, das musst du spü­ren.“ sah es Ayşe. Wir spürten aber nix. Ich meinte zwar schon, aber wir wa­ren auch so intensiv beschäftigt, dass zum Spüren die Muße fehlte. Ich dachte an die Mädchen damals in der Klasse bei mir. Zwischen denen und Ayşe lagen Welten, wie die Teeny-Frolleins gegenüber der angehenden Wissenschaftlerin kam es mir vor. Und ich war ja selbst Schuld. Niemand machte das. Immer mehr und neue Arbeit kam auf mich zu. Später müsste das wenigstens mal zum Hannah-Arendt-Preis führen, wenn es schon zum Adorno-Preis nicht lan­gen würde, zumal der ja auch so vielschichtig war, und meine Künste am Kla­vier wohl eher nicht ausreichen dürften. „Wenn du es nicht möchtest, musst du es direkt sagen, Philipp. Ich hatte mal daran gedacht, dass ich ja auch offiziell bei dir wohnen könnte. Was würdest du davon halten?“ wollte Ayşe erfahren. „Du wohnst doch sowieso schon hier. Ob offiziell oder inoffiziell, ist das nicht egal?“ fragte ich. „Nein, ich hatte mir gedacht, wenn Uli mir kündigen würde, bekäme ich voll Hartz IV. Zuhause müssten meine Eltern für mich sorgen, aber ein Student, der selbst von Unterstützung lebt, brauchte nichts für mich zu tun.“ hatte Ayşe geplant. Nur Uli wollte nicht. Er hatte gejammert, ohne Ayşe sei es nicht mehr das Caliente. Sie würde sich jetzt quälen, und wenn sie stu­dierte sei alles noch mal viel schlimmer, dann würde sie abbrechen, so wie er, und dann sei alles für die Katz gewesen. „Beim Studium bist du völlig allein, Ayşe. Da hast du niemanden, der hinter dir steht, dir hilft und auf dich auf­passt.“ hatte Uli erklärt. „Uli, wir haben uns immer sehr gut verstanden. Du hast mir öfter gesagt, wie sehr du mich magst, jetzt willst du mir Angst ma­chen, damit ich weiter hier arbeite. Erklär mir, wie das zusammen passt.“ hatte Ayşe reagiert. Die von Ayşe vorbereitete Kündigung hat er unterschrieben. Bri­gitta rief mich an. Sie hätte doch mal mit Blümmers gesprochen. Die seien gar nicht abgeneigt gewesen, aber erst in einem Jahr, wenn ihr Sohn zu studieren beginne, dann wollten sie sich sowieso verändern. „So lange könnt ihr es aber in eurer Bude sicher nicht aushalten. Ihr braucht sofort etwas, nicht wahr?“ sagte sie. Wir wollten es uns überlegen. Wir hatten ja vorher überhaupt nicht daran gedacht, dass wir eine größere Wohnung benötigten, geschweige denn so etwas bekommen würden. Nur Brigittas Wohnung war ja riesig, die würden wir niemals bezahlen können. Am Samstag waren wir bei Brigitta, wollten uns Blümers Wohnung ansehen. „Brigitta, verlockend, das ist ja ein Traum, nur wer soll die Wohnung denn bezahlen?“ wollte ich wissen. „Ayşe bekommt doch sicher Wohnungsgeld?“ scherzte Brigitta, „Mein Schwesterchen soll mal was abdrücken, damit ihr Sohn in angemessenen Wohnverhältnissen eine vernünftige Behausung findet. Macht euch mal keine Sorge, da werden wir uns schon einig.“ Das hieß, Brigitta würde zu unseren Gunsten auf Mieteinnahmen verzichten. Einfach nur angenehm war mir das nicht. Bettina war auch bei Brigitta. „Ich gehe mal davon aus, dass sie es euch abarbeiten lässt. Vielleicht müsst ihr dann den Abwasch machen und einkaufen oder so etwas.“ scherzte sie. „The marvelous Ayşe, wie schön, dass ich sie jetzt persönlich kenenlerne. Ich bin Bettina, Brigittas Freundin.“ erklärte Bettina und Ayşe grinste breit und schelmisch. „Marvelous?“ fragte Ayşe lachend, „Was ist es denn, das mich so fabelhaft machen soll?“ „Nachdem, was ich gehört habe, musst du doch eine sehr selbstbewusste, eigenständige, intelligente Frau sein. Hast du keine Angst, dass du etwas davon verlieren könntest? Ich meine die Gefahr ist doch sehr groß, und es kommt ja auch nicht selten vor, dass du dich nur noch über das Gemeinsame der Beziehung definierst und dich selbst dabei immer mehr verlierst?“ fragte Bettina. Alle sahen Ayşe beim Nachdenken zu und schwiegen. „Pilipp,“ sprach sie mich ernst an und fuhr nach einer kleinen Pause fort, „weißt du was, Bettina hat absolut Recht. Wir, wir, wir, unsere Liebe und gemeinsam, sonst gibt es nichts mehr. Ich, Ayşe, kommt kaum noch vor. Sonst gab es nur 'Ich-Ayşe' und alles andere stand darunter. Unsere Gemeinsamkeit ist das Absolute. Ich möchte nichts davon verlieren, aber von Ayşe selbst genauso wenig.“ sprach Ayşe. „Ihr müsstet möglichst viele eigene Bereiche haben, in denen nur ihr selbst euch verwirklicht.“ schlug Brigitta vor. „Nein, nein, das ist schon funktional so. Warum sollten wir davon etwas ändern oder zerstören? Mein Großvater hat schon als Kind zu mir gesagt: „Du bist der Baum, Ayşe. Dass du jedes Jahr wieder neue grüne Blätter bekommst, darum wirst du dich dein Leben lang ganz alleine kümmern müssen.“. So habe ich mich immer gesehen. Wenn du in der Gemeinschaft untergehst, beginnt der Baum zu welken, nicht war, Bettina?“ Bettina schmunzelte nur und nickte Zustimmung. „Ich werde ein Tagebuch führen. „Ayşe, der Baum“ soll es heißen. Ich werde darin aufschreiben, was ich tue, damit der Baum immer grün bleibt, und Ich-Ayşe sich nicht verliert.“ erklärte sie. „Aber du, Philipp, du wirst darin untergehen, weil du so unerfahren bist, nicht wahr?“ vermutete Brigitta scherzend. „Ich, unerfahren? Ich habe keine Angst vor der Liebe. Bis jetzt erlebe ich sie nur als göttlich.“ reagierte ich. „Du hast völlig Recht, Angst wäre absolut falsch. „Wen der Himmel retten will, den schützt er durch die Liebe.“ hatte schon Laozi vor sechstausend Jahren herausgefunden.“ unterstützte mich Bettina. „Liebe, Liebe, für mich ist das ein unspezifischer Schwafelbegriff. Wenn ich 2.392, 57 € sage, dann weiß jeder genau was gemeint ist. 2.392, 56 € und 2.392, 58 € ist es nicht, das ist etwas anderes. Sprich mir mal so genau von der Liebe. Das kannst du nicht, niemand kann das. Wenn ich 2.392, 57 € sage, sind meine Worte nicht das Geld, sie sind nur eine Benennung, die du aber genau verstehst. Bezeichnungen für Gefühle sind erst recht nicht das, wovon sie sprechen. Du vermutest, dass deine Benennung im Zuhörer Assoziationen weckt, die deinen Gefühlen nahe kommen. Wie soll ein Zuhörer denn deine Liebesgefühle empfinden? Was erklärt es denn, wenn ich weiß, dass es sich um eine Beziehung zwischen zwei Personen handelt, die mit Wohlempfinden verbunden ist?“ echauffierte sich Brigitta. „Trotzdem. Deinen Worten ist nur das zugänglich, was sich in deinem Bewusstsein befindet. Das ist das, was du in dieser Welt gelernt hast, dein rationales Denken, deine Logik, dein Alltag. Die Liebe wohnt aber anderswo in dir. Du brauchtest sie nicht zu lernen, sie ist in dir, aber deiner Alltagsrationalität nicht zugänglich. Deshalb gibt es auch für dich keine logisch exakten Benennungen, kann es nicht geben. Liebe ist etwas anderes, aber trotzdem ist sie da, auch wenn du sie nicht mit den dir zur Verfügung stehenden Worten genau erfassen kannst.“ entgegnete Ayşe. „Das kann ich gut nachvollziehen. „Werft weg die Rechtschaffenheit, und die Menschen werden die natürliche Liebe wiederfinden.“ stammt auch von Laozi.“ unterstützte sie Bettina. „Ja, und weißt du, was sie noch von Laozi gesagt hat?“ begann Brigitta und lachte schon im Voraus, „“Alle Dinge haben im Rücken das Weibliche und vor sich das Männliche. Wenn Männliches und Weibliches sich verbinden, erlangen alle Dinge Einklang.“ Darüber haben wir einen ganzen Nachmittag gestritten. Wenn überhaupt, dann wäre doch allemal das Weibliche vorn. Da stimmst du mir doch zu, Ayşe?“ Ayşe bestätigte sie: „Das Weibliche war ja früher, da kann es doch nur vorn sein.“ „Und überhaupt, mit dem Weiblichen vor über sechstausend Jahren will ich nichts zu tun haben. Ich kann mich ja mit dem heutigen nicht mal identifizieren.“ fügte Brigitta hinzu. „Wir haben aber doch gesagt, dass es nur symbolisch zu verstehen ist, wie das Ying und Yang.“ wand Bettina ein. „Aber ich allein, als Frau oder Mensch kann doch meine Harmonie finden. Da brauche ich doch keinen Mann dazu, oder?“ bemerkte Ayşe. Unser weiteres Gespräch an diesem Nachmittag domminierte ebenso das Männliche, das Weibliche, die Harmonie und das Dao. Ganz ernst wurde es allerdings nie, was bestimmt die Motivation beflügelte. Brigitta erklärte: „Den Höhepunkt harmonischen Gleichklangs bildet es für mich, das Abendbrot gemeinsam mit lieben Freunden zu verzehren.“ Wer hätte sich das entgehen lassen können.


Erwartet

„Sind wir jetzt glücklicher, weil wir wissen, dass wir bald eine große Wohnung haben werden?“ wollte ich wissen. „Ich weiß nicht, dass musst du doch spüren, ob du jetzt glücklicher empfindest als vorher.“ Ayşe dazu. „Wie soll ich das denn wissen. Ich habe doch kein Thermometer, auf dem ich den Grad meiner Glückseligkeit ablesen kann. Aber toll ist es doch schon.“ reagierte ich. „Eine Frau, die von ihrem Mann einen Klunker geschenkt bekommt, mag sich dar­über freuen. Wenn es dich freut, mir deine Zuneigung und Anerkennung zu schenken und du mich für einzigartig hältst, einfach so, weil ich Ayşe bin, dann ist das Glück, dann macht mich das glücklich. Alles andere ist Geschäft, ist kal­kuliert, mit Bedingungen verbunden. Freuen kannst du dich darüber natürlich. Das Glück ist ein Stern, der von vielen Planeten umkreist wird. Das heiße Mag­ma im Zentrum des Glückssterns, kann nur aus Liebe und Beziehungen von Menschen bestehen, sie formen das Glück. Die Planeten, die das Glück umkreisen, können aus Freude über eine bestandene Prüfung oder zum Beispiel aus Freude über eine größere Wohnung bestehen. Wenn der zentrale Stern aber fehlt, irren die Planeten planlos umher. Es ist schon was dran. Aller Ruhm und Reichtum bringen letztlich nicht das wirkliche Glück, wenn du keine Liebe hast.“ erläuterte Ayşe. „Ayşe, meine Lehrerin, ich liebe und bewundere dich.“ kommentierte ich. Dafür bekam ich das Haar verwuselt. „Übrigens, Philipp, was Bettina gesagt hat, gilt für dich genauso gut. Starker Mann und keine Angst, solche Sprüche helfen da nicht. Es gibt nur noch uns beide gemeinsam und die Liebe, und Philipp ist ihr Pfleger. Den alten Philipp von sonst, in den ich mich verliebt habe, den gibt es gar nicht mehr. Er ist in der Agonie des Beziehungswahns untergegangen.“ machte Ayşe mir klar. „Der alte Philipp von sonst, wer war das denn?“ wollte ich erfahren. „Mensch, das war einfach der, der immer zum Espresso kam, dessen Anblick mich erfreute. Seine Stimme zu hören, war wohltuend, und jeder Satz, den er sagte, klang für mich, wie ein Gedicht. Aber vielleicht war es ja auch alles nur so, weil ich es so hören und sehen wollte, denn das Entscheidende war etwas anderes.“ erklärte Ayşe. „Und worin bestand das Entscheidende?“ fragte ich nach. „Das habe ich gespürt, Philipp, aber sagen kann ich es nicht. Es muss bei den unaussprechlichen Wörtern wohnen. Sie zu artikulieren, sind unsere Lippen nicht im Stande. Vielleicht habe ich auch nur gespürt, dass du mich wie einen vollwertigen Menschen und nicht wie eine minderwertige Frau ansehen würdest.“ meinte Ayşe. „Das geht evolutionär leider nicht anders. Der Mann duldet keinen Rivalen neben sich. Wenn er dich für gleichwertig halten würde, müsste er dich ja bekämpfen und besiegen wollen.“ wusste ich. „Das tun offensichtlich doch auch nicht wenige Männer und nennen es dann Liebe. Meine Mutter hat ja gesagt, du hättest strukturell Ähnlichkeiten mit meinem Großvater. Ich seh' das keinesfalls so, aber vielleicht erkennt mein Unbewusstes auch, was meine Mutter sieht.“ erläuterte Ayşe. „Ich wollte gerne wissen, wer dieser Philipp denn eigentlich ist, aber du sagst es mir nicht.“ beklagte ich. „Ich habe es ja schon mal gesagt, Philipp. Nimm es doch einfach so: Ich habe dich erwartet, und als du kamst, warst du ja da. Jetzt war alles gut. Dass du es warst, auf den ich gewartet hatte, stand mit Sicherheit fest, auch wenn ich dich vorher noch nie gesehen hatte.“ schlug Ayşe schmunzelnd vor. Ich lachte auch nicht. „Ist es so nicht überhaupt? Das wirklich Neue können wir vorher nie erahnen, und wir erwarten es doch.“ fügte ich hinzu.


Stille Größe

In den Semesterferien fuhren wir nicht weg. Wohin auch und was sollten wir da? Darüber hinaus hatten wir auch gar kein Geld. Nur Ayşes Großeltern, die hätte ich schon gern kennengelernt. Ayşes Großvater musste für sie der ideale Mann an sich sein, zumindest von seinen Charakter- und Wesenszügen her. Bestimmt hatte Ayşe Tendenzen für Entwicklungsmöglichkeiten in diese Rich­tung bei mir erkannt. Wir hatten viel Zeit für uns und konnten es genießen, trotzdem stellte sich der Höhepunkt der Liebe immer noch nicht ein. „Ayşe, es ist mir fast peinlich, aber ich muss es einfach mal sagen, dass ich dich über al­les in der Welt liebe. Mehr lieben kann kein Mensch, das geht nicht. Eine Steigerung ist nicht möglich.“ beschwor ich Ayşe. „Was du gesagt hast, freut mich total, vor allem zu hören, dass du es bist, der so etwas sagt. Ich liebe dich genauso, das weißt du doch, Philipp, aber es ist wie immer, ganz normal. Deshalb lass uns lieber noch warten. Heute noch nicht.“ tröstete mich Ayşe. Ich wollte nicht den Drängler und Bettler spielen, und auf ein weiteres 'Heute noch nicht' hatte ich erst recht keine Lust. Egal, es war doch auch so immer schön. Auf mehr gemeinsame Zeiten wollten wir auch nach den Semesterferien nicht verzichten. Es war einfach genussvoller, etwas gemeinsam zu tun, bei et­was miteinander zu sein. Vieler Worte bedurfte es dazu nicht. Außergewöhnlich warme Tage im Oktober. Die tiefer stehende Sonne legte allem den Hauch ei­ner goldenen Patina auf. Sonntagnachmittag, wir wollten spazieren gehen. Au­ßergewöhnlich still war es an dem kleinen Teich im Park. Ganz selten unter­brach das krächzende Geschnatter von Enten die Stille. Wir sprachen auch nicht, genossen das stille Beieinandersein. Schon mal lächelten wir uns an, oder streichelten den Arm des anderen. Jeder bewegte seine Gedanken und Assoziationen für sich in seinem Kopf, oder konnten wir das Glück nur still wirklich genießen? Als wir nach Hause kamen und das Abendbrot zubereiten wollten, sprach auch niemand. Diese, meine geliebte Ayşe, ich musste sie ge­nau anschauen. Es war nicht die Ayşe, die mir am Schreibtisch gegenüber saß. Das Bild war immer noch mit Klischees und Rollen behaftet, auch wenn ich sie noch so sehr liebte. Jetzt fehlten Ayşe diese Bilder. Ich sah sie größer, nein, ei­ner Diva glich sie nicht, keine Überheblichkeit und Arroganz, freundliches Wohlwollen formte die Züge ihrer lächelnden Mimik. Groß und den gesamten Menschen Ayşe meinte ich zu sehen. Wie in einer Trance zeigte sich mir der komplexe Kosmos ihrer vielgestaltigen Persönlichkeit. Das war Ayşe selbst und wirklich. Vielleicht birgt das ja jeder Mensch in sich, nur es gibt niemanden, der es erkennen kann. Das musste das Göttliche sein, was Ayşe im Menschen ver­mutet hatte. Ich starrte Ayşe an, von der ich offensichtlich gerade eine Er­scheinung gehabt hatte. „Philipp?“ sagte sie nur fragend gedehnt. In ihren Au­gen meinte ich zu erkennen, dass sie wusste, was sie mir gerade gezeigt hatte. Aber sie hatte mir ja nichts gezeigt. Ich gehörte in diesem Moment zu den wirklich Sehenden. Vielleicht konnte sie das spüren. Beim Essen wechselten wir auch kaum Worte, nur unsere Augen und unser Lächeln kommunizierten mit­einander. Schon mal legte ich meine Hand kurz auf Ayşes Handrücken, was immer besonders freundliches Lächeln und einen liebevollen Blick bewirkte. Fast andächtig empfand ich die Atmosphäre, aber warum? Spürte ich die Grö­ße, die in der Stille liegen kann als Gegenpol zu unseren sonst ständigen Ge­sprächen. Oder war es Ayşe? Nein, als Madonna mit übernatürlichem, göttli­chem Glorienschein hatte ich sie nicht gesehen, aber ihre Größe als Mensch, den ich liebte, bewunderte ich schon. Alles war abgeräumt, Ayşe umschlang mich und drückte mich fest an sich. „Philipp, meine Liebe.“ sprach sie getragen und bedeutungsschwer. „Möchtest du noch ein Glas Wein trinken?“ fragte Ayşe und erklärte dann zögerlich, „Also, ich bin ziemlich müde und würde jetzt gern ins Bett gehen.“


In einem anderen Land

Das war allerdings äußerst ungewöhnlich. So außergewöhnlich, dass ich nichts dazu sagen konnte, nur mich wundern und Ayşe ins Schlafzimmer folgen. Noch viel verwunderlicher war es, dass wir uns auszogen und anstatt etwas für die Nacht anzuziehen, uns nackt umarmten und so aufs Bett fallen ließen. „Philipp“ sagte Ayşe immer wieder. Nur dieses Wort schien ihrem Sprachzentrum zur Verfügung gestellt. Es klang jedoch jedes mal in einer völlig anderen Intonati­on, und hatte vermutlich immer die Bedeutung eines ganzen Satzes, dessen übrige Wörter aber in diesem Moment völlig überflüssig waren. Ich hatte mal gesehen, wie Schlangen sich liebten. Wie die reine Liebe schienen ihre Windun­gen umeinander. Dass sie dabei auch kopulierten fiel gar nicht auf. Schade, dass wir Menschen so etwas nicht konnten. Ganz stimmte das nicht, denn in­tuitiv machten wir es heute Abend wohl nicht viel anders. Ayşe wischte mir über's Gesicht, als ich aus den Tiefen der Versenkung wieder auftauchte, damit meine Augen dem Licht des Alltags, der uns auf dieser Welt umgab, wieder zu­gänglich wurden. Aurora auf stiller See glänzte mich an. „Du hast eine ganz kostbare und wertvolle Frau gehabt und nix dafür bezahlt.“ erklärte Ayşe schmunzelnd. „Ayşe!“ sagte ich entsetzt, „Wie kannst du? Ich habe gar nichts gehabt. Wir.“ „Es war sehr anstrengend für dich, Philipp, nicht wahr.“ wollte Ayşe mir erklären. „Was soll das, Ayşe, was ist los? Hat etwas nicht gestimmt?“ fragte ich. „Nein, ich dachte nur, wenn du so ernst bist und keinen Spaß mehr verstehst, wirst du sehr geschafft sein. Eine Frau, die schon mit an­deren Männern geschlafen hat, ist nicht viel wert. Für die braucht der Bräuti­gam nicht viel zu bezahlen. Aber für eine ...“ ich unterbrach Ayşe beim Reden. „Oh je, Ayşe, an so etwas habe ich überhaupt nicht gedacht. Wie war es denn für dich? War es ...“ jetzt kam ich nicht mehr weiter, weil Ayşe mir Zeige- und Mittelfinger auf die Lippen legte. „Worte können wie Vogelgezwitscher sein.“ sagte Ayşe, „Wir wissen doch, dass wir die Sprache der Liebe besser mit den Augen, mit Küssen und sanften Berührungen verstehen.“ „Schon, Ayşe, über das, was wir erlebt haben, dürfen wir gar nicht reden, uns nur glücklich träu­mend aneinander kuscheln?“ monierte ich. „„Der Wissende redet nicht. Der Re­dende weiß nicht.“ Was willst du reden, es gibt in unserer Sprache keine Worte dafür. Ich war in einem anderen Land. Alles von mir musste ich geben, nur meine Wörter und mein Denken, waren absolut fehl am Platz und hätten ge­stört. Mein ganzer Alltag von hier hätte gestört. Philipp, es war keine Zutat zu unserer Liebe, es war ein Wunder. So intensiv habe ich mich noch nie erlebt und das frei von allem, was mich täglich umgibt. Unsere Wörter haben die Menschen erfunden, für die Liebe sind sie bedeutungslos.“ erklärte Ayşe. „Ich denke, dass ich dich gut verstehen kann. Anderswo muss es schon gewesen sein, nur war ich doch nicht allein. Nur wir beide gemeinsam, das war doch das Entscheidende und alles Bestimmende. Sonst wäre es doch bedeutungslos.“ ergänzte ich. „Eine Reise zu einem anderen Stern, die nur mit uns beiden mög­lich war, meinst du.“ stimmte mir Ayşe zu.


Zur Liebe verdammt

Das Wunder blieb nicht ohne Folgen, allein schon im Sprachgebrauch. Sonst war ich immer mit allen möglichen und unmöglichen Koseformen, die es für den Liebsten geben kann, bedacht worden. Das kam nicht mehr vor. Nur noch als 'meine Liebe', was ich bei der Umarmung nach dem Abendbrot zum ersten mal gehört hatte, existierte ich. Ob es ein Zeichen dafür war, das Ayşe unsere Liebe als erwachsener ansah, die das kindlich Verspielte verloren hatte?. Einfa­ches Zusammensein hatte an Wert nicht verloren, nur das Beieinandersein mit Körperkontakt schien einem genuinen, menschlichen Bedürfnis zu entsprechen, was wir bislang gar nicht kannten. Es gab tausend Möglichkeiten, etwas zu tun, wobei wir uns gegenseitig berührten. In die Zeitung hatte sonst jeder irgend­wann im Laufe des Tages geschaut. Jetzt lasen wir sie meistens gemeinsam auf dem Bau auf dem Bett liegend. Zu einer völlig neuen, spannenden und lus­tigen Zeitung wurde sie dadurch. Beim Zusammensein mit Körperkontakt stell­te sich der Höhepunkt der Liebe auch leichter ein, sodass wir erneut nach den Segnungen des Wunders der Versunkenheit suchten. Mit einander schlafen, fi­cken, vögeln und was sonst alles, welch schale, alberne und nichtsnutzige Be­zeichnungen. Wir waren versunken in ein anderes Land, in unendliche Tiefen. Entscheidend war nur, dass es weit genug entfernt war von dem Ort, an dem unser gewöhnliches Alltagsleben sich abspielte. Ich bekam jetzt öfter aus dem Buch Dàodéjīng von Laozi vorgelesen. Bettina hatte Ayşe fasziniert. Ein wenig hing es wohl auch damit zusammen, dass die forschungssüchtige Ayşe wieder ein Terrain entdeckt hatte, das vorher für sie Niemandsland gewesen war. „Das hat der alles schon vor sechstausend Jahren gesagt.“ staunte Ayşe bewun­dernd. Sie schloss daraus,, dass es etwas grundsätzlich Menschliches geben müsse, über das jede und jeder verfüge, unabhängig von der Zeit und frei von der jeweils herrschenden Kultur. „"Ich habe drei Schätze, die ich hüte und hege. Der eine ist die Liebe, der zweite ist die Genügsamkeit, der dritte ist die Demut." sagt Laozi. Liebe und Genügsamkeit, das passt ja auch zu dir, aber wie steht's denn mit der Demut?“ erkundigte sich Ayşe. „Was Laozi damals darunter verstanden hat, weiß ich ja nicht, aber ich halte davon nicht viel. „Hier liegt dein Knecht vor dir im Staube.“ könnte niemals mein Wahlspruch sein.“ meinte ich. „Da stimme ich dir ja zu, aber demütig ist das Gegenteil von hochmütig, wäre dir das denn lieber?“ wollte Ayşe wissen. Als Antonym von Hochmut und Arroganz könnte ich es ja akzeptieren, aber dann hätte ich vier Schätze, die ich hüten und hegen müsste. Wie konnte Laozi der Allwissende mein kostbarstes Juwel nur vergessen? Ob er von der zukünftig auftretenden Ayşe nichts ahnen konnte, also doch nicht absolut vollkommen war?“ wunderte ich mich. Unser Gleichklang war perfekt. Nichts konnte unsere Harmonie stö­ren. Auch nicht, dass Nati Ayşe den Fehdehandschuh hinwarf und erklärte: „Ich fordere dich auf zum Kampf, Todgeweihte!“ Ayşe vertrat jedoch die An­sicht, dass sie noch zu jung zum Sterben sei. „Es war ja nur Spaß, aber vor­stellen können hätte ich mir das schon.“ erklärte Nati, „Einen geliebten Men­schen in deiner Nähe, an deiner Seite zu haben, ist doch immer wundervoll.“ „Da bin ich mir aber nicht so sicher.“ meinte ich, „Du liebst deine Mutter, trotz­dem geht sie dir nach kurzer Zeit auf die Nerven.“ „Na ja, die Liebe und der Alltag finden eben in verschiedenen Welten statt.“ so Ayşe dazu. „Aber ihr lebt eure Liebe doch auch im Alltag hier und jetzt.“ erklärte Nati. „Dem wahrhaft Vollkommenen ströme alles zu, hat Bettina, Brigittas Freundin gesagt. Ob sie dabei an Philipp gedacht hat?“ meinte Ayşe, was die beiden lachen ließ. „Schon, wir leben unsere Liebe im Alltag, aber unser Alltag wollte es ja auch nicht, wir haben es bestritten. Unsere Liebe wurde auf einer Wolke von Göttin­nen und Göttern geschmiedet und gezimmert. Dann hat man Philipp und Ayşe ausgesucht, die sollten sie jetzt auf der Erde leben.“ konnte Ayşe es erklären. „Also sozusagen, von den Göttern zur Liebe gezwungen.“ hatte Nati es ver­standen. „Genau,“ bestätigte sie Ayşe, „vom Himmel zur Liebe verdammt.“

 

 

FIN

 

 

Iki gönül bir olunca samanlik seyran olur
(Wenn zwei Herzen eins sind, wird die Scheune zum Palast)

türkisches Sprichwort

 

 

Die Geschichte mit dem Schlüssel erzählte ich ihr und dass ich auf Trixis Anruf warte. „Oh, das tut mir aber leid. Ja, Schlüsseldienst ist sehr teuer.“ erklärte Ayşe und ihr Gesicht sagte, dass sie nachdachte und überlegte, wie sie mir wohl helfen könne. „Und warum ruft deine Freundin nicht an?“ fragte sie plötzlich. Ich lachte und Ayşe auch, weil ihr wohl ebenso der Unsinn dieser Frage aufgefallen war. „Ist deine Freundin auch Studentin?“ erkundigte sich Ayşe. „Trixi ist eine gute Bekannte. Ja, sie studiert auch. Eine richtige Freundin habe ich nicht.“ antwortete ich. Ayşe sagte nichts, blickte sinnierend auf die Straße mit einer Mimik, der die sonst üblichen, freundlichen Züge fehlten. „Ist etwas falsch? Stimmt etwas nicht?“ fragte ich sie. „Nein, nein, alles o. k. Nur ich kann das alles nicht. Ich bin kein Türkenmädchen, ich bin eine deutsche Frau und will wie eine deutsche Frau leben, aber man lässt mich nicht.“ erklärte Ayşe und wusste selbst, dass sie es näher erläutern musste. „Deutsche Frauen in meinem Alter arbeiten in der Fabrik, oder im Büro oder studieren. Ich darf das alles nicht, brauche überall Zeugnisse, Unterlagen, Belege, und die habe ich nicht. Meine Eltern haben mich als kleines Kind zu meinen Großeltern in die Türkei gegeben. Natürlich bin ich da zur Schule gegangen, aber das wird nicht anerkannt. Nichts wert, mein Zeugnis. Hier bin ich wie eine, die überhaupt nicht zur Schule gegangen ist. Wie soll ich dann wohl im Bistro die Kasse machen können. Aber außer Bedienung hier, gibt es nichts. Vielleicht ginge auch noch Putzfrau oder Müllarbeiterin, aber sonst brauchst du für alles immer Zeugnisse, Unterlagen, Belege.“ beklagte sich Ayşe. Jetzt tat sie mir leid. Ich kannte Ayşe ja überhaupt nicht, und ich kann auch den Grund gar nicht genau benennen, aber dass sie eine kluge, intelligente, junge Frau sein musste, stand für mich fest.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.09.2014

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