Cover

Introduction und Inhalt

 

 

Carmen Sevilla

 

 

La Cheyenne
Wie finden sie eigentlich meine Brüste?

 

 

Erzählung

 

 

"The power of a smile is such
that even drawing a happy face
on a piece of paper makes your lips turn up."

Unknown Saying

 

 

Ausgefranst war mein Mund und mein Kopf musste leer sein. Mit nur kurzen Unterbrechungen hatte ich den ganzen Tag gequasselt. Diese Donnerstage waren Hundstage. Und dann auch noch die Sprechstunde zwischendurch. Jammernde junge Männer erlebte ich häufig, trotzdem freute es mich nicht. Was tat ich mir nur für Qualen an? Reich und schön musst du sein und etwas Besonderes bringen, dann kannst du glücklich werden. Die meisten Menschen sind jedoch weder schön noch reich und können auch nix. Mir ging es nicht anders. So sah ich mich jedenfalls. Nur mich als unglücklich zu empfinden, wollte mir selbst an Tagen, an denen die Sonne Ausgehverbot hatte, weil graue Wolkenteppiche ihr den Zugang zu uns versperrten, nicht gelingen. Ob ich noch erwartete, die großen Wunder dieser Welt zu entdecken, weiß ich nicht, aber die Hoffnung darauf war so früh in meiner Kindheit implementiert worden, dass sie sich wohl beim Gehirnwachstum mit angelegt hatte. Ob Charlotte, die feministische Professorin für Mathematik noch die Wunder dieser Welt entdecke, und was sie dabei alles zu bewältigen hatte, weiß die Geschichte.

 

 

La Cheyenne - Inhalt

La Cheyenne 3

Reich und schön 3

Inga 3

Männer 4

Kussmann 5

Das Transzendente 7

Cousine Claire 9

Inga und die Evolution 10

Wie finden sie eigentlich meine Brüste? 11

Julians Besuch 14

Tag mit Julian 16

Nataschas Auszug 17

Inga und Julian 17

Weihnachtspläne 20

Heiligabend 21

Wunder mit Julian 22

Erotische Gefühle 23

Nicht mehr allein 24

Praxiteles Wandlungen 25

Sklavin des Patriarchats 27

Die großen Wunder 28

 

 

La Cheyenne - Reich und schön

Ausgefranst war mein Mund und mein Kopf musste leer sein. Mit nur kurzen Unterbrechungen hatte ich den ganzen Tag gequasselt. Diese Donnerstage wa­ren Hundstage. Und dann auch noch die Sprechstunde zwischendurch. Jam­mernde junge Männer erlebte ich häufig, trotzdem freute es mich nicht. Was tat ich mir nur für Qualen an? Reich und schön musst du sein und etwas Be­sonderes bringen, dann kannst du glücklich werden. Die meisten Menschen sind jedoch weder schön noch reich und können auch nix. Mir ging es nicht an­ders. So sah ich mich jedenfalls. Nur mich als unglücklich zu empfinden, wollte mir selbst an Tagen, an denen die Sonne Ausgehverbot hatte, weil graue Wol­kenteppiche ihr den Zugang zu uns versperrten, nicht gelingen. Ob ich noch erwartete, die großen Wunder dieser Welt zu entdecken, weiß ich nicht, aber die Hoffnung darauf war so früh in meiner Kindheit implementiert worden, dass sie sich wohl beim Gehirnwachstum mit angelegt hatte. Mein Großvater hatte mir die Welt erklärt. Nicht mit der Erschaffung in sieben Tagen nach der Bibel, sondern er hatte von einem großen Knall gesprochen. Als ich fragte, wer den denn gehört hätte, machte er mir klar, wie wenig es wäre, was wir wüssten, weil unsere Augen es gesehen oder unsere Ohren es gehört hätten. Alles kön­ne man durch Rechnen herausfinden, was wir wüssten wäre ausschließlich das Werk von großen Rechenkünstlern. Ich konnte gerade die Finger einer Hand abzählen, aber Rechnen hatte für mich seitdem den Nimbus eines Zauberwun­derlandes. Immer wartete ich auf die großen Wunder, aber im Mathematikun­terricht kamen stets nur neue Banalitäten hinzu.

 

Inga

Bei Kindern ist es meistens noch die allgemeine Lebensweise, bei Erwachsenen kommt es oft gar nicht mehr vor, oder es ist auf bestimmte Aktivitäten be­grenzt, in denen sie mit höchster Vigilanz und voller Konzentration in eine Auf­gabe involviert sind. Auch wenn es Anstrengung erfordert, vermittelt es doch das erfüllende Gefühl, voll, mit der ganzen Person gelebt zu haben. So erfuhr ich meine Donnerstage. Anschließend hast du das Empfinden, dich voll veraus­gabt zu haben und total fertig zu sein. Anette von Droste Hülshoff fühlte sich matt wie die Natur. Sich erst mal durch einen Schlaf erholen, wird die Prima­ballerina nach der Aufführung auch nicht, und ich ging auch nicht von der Uni nach Hause, um mich hinzulegen und mich auszuruhen. Mich drängte es nach einer anderen Art von Kommunikation auf einer anderen Ebene. Ich musste je­manden sehen, mit dem ich anders reden konnte als den Tag über. Fast jede und jeder kann mit Freundinnen oder Freunden darüber reden, was sie oder er beruflich macht, und welche Entwicklungen und Fortschritte es dort gibt, aber wenn ich sagte, dass ich heute wüsste, wo die großen Wunder in der Mathema­tik zu finden seien, wollte niemand etwas davon hören, geschweige denn dar­über reden. Selbst Inga nicht, mit der ich mich doch so tief verbunden fühlte. Inga war Soziologin. Die Tiefe unserer Freundschaft zeigte sich vornehmlich darin, wie heftig wir uns stundenlang auseinandersetzen konnten. Sie war engagierte Feministin. Bei aktuellen politischen Themen gab es wenig Differenzen. Interessant wurde es für mich erst, wenn wir zu erkenntnistheoretischen Grundsatzfragen kamen, und das war in der Regel der Fall. Im Grunde war es fast immer ein Streit darum, wer die fundierteren philosophischen Kenntnisse hatte, einig waren wir uns aber immer darin, dass sonst niemand auf dem Niveau wie wir darüber diskutieren könnte. Im Café standen wir an der Theke und suchten Kuchen aus. Neben mir stand ein Mann, dessen Totensonntagsmine zu diesem tristen Herbsttag passte. Ich blinzelte ihm zu und lächelte. Seine Mimik wachte plötzlich auf. Er lächelte zurück. Als ich nochmal zu ihm blickte, lächelte er wieder. „So ist es doch besser.“ hätte ich ihm sagen können und drückte es mit einem Kussmündchen aus. Ich wollte zum Platz gehen, er war noch nicht fertig. „Warten sie doch mal, bitte, einen Moment.“ sagte er. Er druckste und meinte: „Sie wollten mir doch einen Kuss geben. Also ich, von mir aus, ich hätte nichts dagegen. Ich würde mich sehr über einen Kuss von ihnen freuen.“ „Junger Mann, sie spinnen wohl. Ich wollte nur ihr trübes Gesicht ein wenig aufheitern. Lassen sie so einen Blödsinn.“ machte ich klar. „Nur einmal. Das ist doch nicht schlimm. Dann kommt das trübe Gesicht den ganzen Tag nicht wieder.“ bettelte er. So ein Unfug. Ich musterte ihn, lachte, und gab ihm den ersehnten Kuss. Später kam er zu Inga und mir an den Tisch. „Ich würde sie gern mal wiedersehen.“ meinte er, „Nicht wegen des Kusses. Ich würde gern mal mit ihnen reden. Ich kenne sie ja gar nicht, aber irgendwie müssen sie mich wohl beeindruckt haben.“ „Was soll das denn? Wir haben doch nichts miteinander zu tun. Sprechen sie auf der Straße irgendeine Frau an, dass sie sich mit ihr treffen möchten.“ empfahl ich ihm. „Lass dir doch seine Telefonnummer geben, dann kannst du ihn ja anrufen, wenn du wieder ein Bedürfnis zum Küssen verspüren solltest.“ feixte Inga, aber wir machten es so.


Männer

Natürlich würde ich diesen Mann nicht anrufen. Prinzipiell hatte ich ja nichts gegen Männer an sich, nur gegen die überall unverbrüchlich existierenden Machtstrukturen und das immerwährende Fortbestehen ihrer Dominanz in allen Bereichen. Kriminell war das schon. In weitesten Bereichen existierte die ge­setzlich vorgeschriebene Gleichberechtigung von Frauen und Männern schlicht nicht. Feministin brauchtest du nicht zu sein, um dies feststellen zu können. Besonders bei uns am Institut bekam man es zu spüren. Frauen kamen in der Mathematik nicht vor. Inga schimpfte auf die Politik, die in Wirklichkeit keine Gleichberechtigung anstrebe. 90 % der Beschäftigten Frauen, aber Chef ist ein Mann, so etwas ließe sich doch verbieten. Ich sah das Problem mehr soziokul­turell im Männerbild unserer Gesellschaft und in der damit verbundenen Sozia­lisation der Jungen und jungen Männer. Keineswegs war ich arm, hässlich und dumm, sodass bislang noch kein Mann Interesse an mir gehabt hätte, aber einen Chauvi oder Macho brauchte ich weder in meinem Haus noch als engen Freund. Liebe basiert auf dem Prinzip der Freude am selbstlosen Geben und Schenken, aber es gibt keinen Mann, der Interesse an dir hätte, weil er nicht etwas von dir erwartet. Inga hatte sogar zwei Jahre praktische Erfahrung. „Du kannst den Verlockungen nicht widerstehen, und zu Anfang bist du ja auch für alles andere blind, aber du kannst es nicht verhindern, dass du dich veränderst. Natürlich verändert sich jede Frau und jeder Mensch immer irgendwie, aber mein Leben dadurch verändern lassen, was in unserer Gesellschaft heute einen Mann ausmacht, wo komm ich denn da hin? So etwas passiert mir nie wieder.“ lautete Ingas Konsequenz aus ihren Erfahrungen. Für mich hatte sich die Situation, dass ich sogenannten Verlockungen erliegen könne, noch nie ergeben. Wohl wissend, dass es sich um Konsequenzen der Sozialisation von Männern handelt, spricht man spottend vom Siegergen, das Männer in sich trügen. Viel deutlicher zeigen sich aber Verhaltensweisen der Männerrolle, die sich auf ihre Beziehung zu Frauen auswirken. Wahrscheinlich besteht die eigentliche Erbsünde darin, dass Männern grundsätzlich, wie bei Adam damals im Paradies, das Gefühl zu eigen ist, Frauen seien für sie erschaffen worden. Anders, als Frauen danach zu taxieren, wie sie in der Lage sind, ihre libidinösen Bedürfnisse, keineswegs ausschließlich und direkt sexuell, zu befriedigen, scheint für Männer in unserer heutigen Gesellschaft unmöglich. Schade ist das. Dabei könnten sie so gute und wundervolle Menschen sein. Das hatte ich ja an meinem Großvater gesehen. Damals in der Schule hatte ich mal einen Freund gehabt, aber als ich merkte, wie wichtig es ihm war, an meiner Vulva zu fummeln und er meinte, dass wir unbedingt miteinander ficken müssten, alle täten das, wusste ich nicht mehr, worin unsere sogenannte Freundschaft eigentlich bestehen sollte. Wenn ich später mal näher mit einem Mann zu tun hatte, musste ich ihn mir immer wie meinen früheren Freund Herbi vorstellen, und so ähnlich hätte es sich auch wohl meistens entwickelt, da war ich mir sicher. Begehrenswert war ich Inga mit Sicherheit nie vorgekommen. Wir fanden uns gegenseitig spannend. Lust am Austausch mit allen Vorstellungen und Visionen, die uns einfielen, bewirkte es. Wir lernten uns nicht nur gegenseitig immer besser kennen und tiefer verstehen, sondern kamen uns immer näher. Mit einem Mann könnte sich das niemals so entwickeln. Interessant und spannend konnten sich ein Mann und eine Frau sicher auch finden, nur den Gedanken, wie begehrenswert die Frau sei, könnte der Mann nie unterbinden. Mit Sicherheit ist es das, was vielen Frauen schmeichelt, nur für mich war es das, was ich absolut nicht für mein Selbstwertgefühl brauchte, von einem Mann als begehrenswert empfunden zu werden.


Kussmann

Mit vierzig müsste ich doch schon fleißig welken. Meine Schönheit würde es nicht gewesen sein, die den Mann im Café beeindruckt hatte. Vielleicht wirkte mein Lächeln, als ob es den Anschein einer großmütigen Grandezza verkör­pere. Aber nein, dann hätte er es nicht gewagt, mich nach einem Kuss zu fra­gen. Wie konnte man denn überhaupt auf so etwas kommen, eine wildfremde Frau um einen Kuss zu bitten. So etwas hatte ich noch nie gehört, geschweige denn selbst erlebt. Was bringt es dir denn, einen Kuss zu bekommen? Inga und ich hatten anschließend noch darüber diskutiert. Ein Freundschafts- und Friedenszeichen sei es schon meinte Inga, nur die Begrüßungsküsse der Fran­zosen hätten damit nichts mehr zu tun. Zu integralen Bestandteilen der tech­nologisierten Alltagsroutine seien sie degeneriert. „Mit unserem Hände schüt­teln ist es doch kein bisschen anders. Jemandem die Hand zu reichen, war mal ein bedeutsamer, wichtiger Akt. Heute hält man jedem und allen beliebig die Flosse hin. Es bedeutet nichts mehr.“ ergänzte ich. Inga meinte, dass es sich nicht nur bei der Begrüßung so verhalte. In allen möglichen Bereichen lebten wir danach, Rollenvorgaben zu konkretisieren, würden uns selbst gar nicht kennen und unsere wirklichen Gefühle nicht wahrnehmen können.


„Oh, damit hatte ich gar nicht gerechnet. Das ist ja wundervoll.“ der Mann schien am Telefon zu tanzen. „Ich bin ja eine Frau, müssen sie wissen. Und bei Frauen ist es doch so, dass sie sich Komplimente nicht entgehen lassen kön­nen. Ich wollte nur von ihnen hören, wodurch ich sie damals beeindruckt habe.“ erklärte ich. Der Mann schwieg. Wahrscheinlich bereute er, mir seine Telefonnummer gegeben zu haben, zumindest für einen kurzen Moment. „Nein, nein,“ sagte er und lachte, „was reden sie? Ich weiß nicht, was es war, aber sie haben an diesem Tag mit dem melancholisch stimmenden Wetter für mich plötzlich die Sonne aufgehen lassen. Ich kam mir leicht entrückt vor und weiß nicht warum. Mit ihnen musste es ja wohl zusammenhängen, deshalb würde ich sie liebend gerne kennenlernen.“ Ich zögerte, brauchte keinen neuen Bekannten von der Straße. Schließlich willigte ich doch ein: „Also gut, am Don­nerstag um siebzehn Uhr, da brauche ich immer ein wenig Abwechselung. Wie­der in dem gleichen Café, in dem wir uns getroffen haben, aber diesmal garan­tiert ohne Kuss.“ „Sie wollen mit mir sprechen, aber der sonderbare Mensch sind eigentlich sie. Im Grunde ist ja nichts Auffälliges an ihnen. Auf den ersten Blick erwecken sie einen ganz vernünftigen Eindruck, aber fremde Frauen um einen Kuss bitten, tun sie das öfter? Ist das ein Tick von ihnen?“ fragte ich, als ich neben ihm im Café saß. „Nie, das ist mir noch niemals passiert, dass ich auf die Idee kam, eine fremde Frau zu fragen, ob sie mir nicht einen Kuss ge­ben könne. An ihnen lag das. Ihr Lächeln trug ein warmes, leuchtendes Wohl­empfinden, und als sie dann noch ihre Lippen zu einem Kussmund formten, merkte ich plötzlich ein unstillbares Verlangen, einmal diese Lippen auf meinen zu spüren. Quatsch, nicht wahr, aber so war es einfach.“ erklärte der Mann. „Soll ich ihnen jetzt etwas von meiner Aura erzählen, von meinen medialen Kräften, in Männern ein drängendes Verlangen nach mir zu entwickeln, wie ich jeden Mann um den Finger wickeln könnte? Oder welche Geschichten wollen sie von mir hören?“ erkundigte ich mich. „Unsinn, für mich war es ein banaler, üblicher Alltag. Es ist nichts Schlimmes passiert, nichts Außergewöhnliches, der übliche Trott. Im Grunde alles langweilig grau. Das Wetter scheint mit dir im Bunde, auch alles trüb und monoton. Dann sehe ich sie, und sie lächeln, als ob heute ein Sonnentag wäre. Es wirkt auf mich und verändert schlagartig meine Stimmung.“ erläuterte der Mann. „Haben sie denn öfter diese triste Stimmung, dann würde ich damit mal zum Arzt gehen.“ empfahl ich ihm. Der Mann lachte. „Ich bin ja Arzt. Aber nein, trübe Stimmung habe ich nicht öfter. Wenn sie De­pressionen haben, müssen sie die natürlich behandeln lassen, aber wie glück­lich sie sich fühlen, das liegt im Wesentlichen an ihrer Physiologie und ist gene­tisch bedingt. Das heißt sie haben ihr Glück geerbt.“ erklärte der Mann. „Sie meinen, ob ich Krösus bin oder am Hungertuche nage, spielt keine Rolle. Der Krösus kann unglücklich und der Hungerleidende glücklich sein, es liegt nur daran, wie es ihnen ihre Eltern vererbt haben?“ fragte ich nach. „Im Wesentli­chen schon. Es liegt an der Produktion der Glücksgefühle verursachenden Neu­rotransmitter. Ereignisse und Erlebnisse sind natürlich nicht völlig bedeutungs­los, aber im Gesamtzusammenhang der Frage, wie glücklich man sich fühlt, kommt ihnen nur eine relativ geringe Bedeutung zu. Man kann einem depressi­ven Menschen noch so viel Geld schenken, davon wird er niemals glücklich.“ erläuterte der Mann. „Du kannst also reich und schön sein und am besten Kla­vier spielen können, glücklich musst du deshalb nicht automatisch sein.“ ver­mutete ich.


Das Transzendente

„So wird es sein, aber sie empfinden sich wahrscheinlich meistens glücklich?“ erkundigte sich der Mann. „Genau weiß ich es nicht, aber Empfindungen von Schwermut sind mir nicht bekannt.“ antwortete ich ihm. „Ich glaube, dass ich es einfach gespürt habe. Du siehst es nicht, du hörst es nicht, aber nimmst es trotzdem irgendwie wahr.“ meinte der Mann dazu. „Das Transzendente haben sie also in mir erkannt.“ vermutete ich und lachte. Der Mann fragte nicht, aber seine Augen sagten, dass es ihn nach Erläuterung verlangte. „„Oculus non vi­dit, nec auris audivit“, „Was das Auge nicht gesehen, noch das Ohr gehört hat“ bezeichnet man als das Transzendente. Damit beschäftige ich mich fast aus­schließlich. Aber auch wenn du es nicht siehst und nicht hörst, und es sich nur um theoretische Gedankenkonstrukte handelt, ist es doch höchst immanent und dem Endlichen Verhaftet. Transzendenz ist ein philosophischer Begriff und steht für das, was das Gegenständliche Überschreitet. Für das Gute zum Bei­spiel, oder haben sie etwa in mir das Gute erkannt?“ scherzte ich. „Vielleicht auch das, aber es trug keinen Namen. Und genau weiß ich ja auch gar nicht, was ich erkannt habe, nur dass es Glück vermittelte, habe ich gespürt.“ ant­wortete der Mann. „Unsere Namen scheinen auch noch zum Transzendenten zu gehören, wäre es nicht angebracht, wenn wir sie uns gegenseitig nennen wür­den?“ schlug ich vor. „Natürlich, sonderbar, dass wir es nicht gleich zu Anfang getan haben. Julian Berger heiße ich, offiziell Dr. Julian Berger.“ erklärte der Mann. „Und ich, wie heiße ich denn? Cheyenne. Nein, so hat mein Großvater mich genannt, und enge Freundinnen nennen mich heute noch so, aber mein richtiger Name ist Charlotte Rosemann. Das reicht, nicht wahr? Die akademi­schen Titel brauchen wir nicht.“ berichtete ich. „Wieso, was machen sie denn beruflich?“ fragte er nach. „Na gut, ich bin Professorin am mathematischen In­stitut der Uni. Aber das hat ja mit unserer Unterhaltung nichts zu tun.“ erklärte ich. „Cheyenne, sind das nicht Indianer, aber das sagt man ja heute nicht mehr, Indigene, nicht wahr?“ fragte Herr Berger. „Ja, aber es hat sich auch zu einem Einzelnamen entwickelt. Ich habe in meiner Kindheit und Jugend sehr viel Zeit mit meinem Großvater verbracht.“ erklärte ich. „Da waren ihre Eltern sicher froh, dass sie kein Kindermädchen brauchten.“ vermutete Herr Berger. „Nein, nein, es ging von mir aus. In der Familie wurdest du darauf vorbereitet, wie du später mal werden solltest, immer frische Unterwäsche, nicht beim Es­sen mit dem Finger in der Nase bohren und in dieser Richtung Millionen Dinge mehr, ständig und immerwährend. In der Schule wurdest du darauf vorberei­tet, wie du später mal lernen und arbeiten solltest, immer fleißig und immer das tun, was die Lehrer wünschten. Bei meinem Großvater gab es das alles nicht, da sollte ich nichts werden und auch nicht irgendwelchen Anforderungen entsprechen. Mein Großvater freute sich einfach über mich, und mich machte es glücklich.“ erklärte ich. „Sie liebten ihren Großvater, nicht wahr, aber die Cheyenne, woher kam die denn?“ fragte Herr Berger. „Mein Großvater hat erzählt, dass die Kinder ständig auf der Straße gespielt hätten, als er klein gewesen sei, und die Jungs wären immer alle Indianer gewesen. An Karl May hätte das gelegen. Wie er mir erklärt hat, warum er den nicht mochte, daran muss ich heute immer noch jedes mal denken, wenn ich ein neues belletristisches Buch beginne. Die Mädchen seien genauso gute Indianer, erklärte er. Mich als Indianerin zu bezeichnen war eine Ehre und Wiedergutmachung für die Mädchen, die keine Indianer spielen durften, und Cheyenne ergab sich glaube ich einfach aus der Alliteration zu Charlotte. Ob mein Großvater mehr über die Cheyenne wusste, darüber haben wir nie gesprochen. Vielleicht kommen sie ja im 'Lederstrumpf' von Cooper vor, den hatte er nämlich gelesen. Ich war richtig stolz darauf. Ich habe meinen Großvater geliebt, aber er hat mir auch ungemein viel gegeben für mein Selbstwertgefühl, für mein Selbstbewusstsein. Bei ihm habe ich mich immer als vollwertiger, anerkannter Mensch gefühlt ganz egal wie alt ich war. In der Familie erlebst du das so nicht und in der Schule erst recht nicht.“ erklärte ich. „Vielleicht hängt ihre Ausstrahlung, die mich beeindruckt hat, doch weniger mit ihrer ererbten Neurotransmitterproduktion als mit ihrer als glücklich erfahrenen Sozialisation in Kindheit und Jugend zusammen.“ vermutete Herr Berger. „Ja, wenn du deine Eltern etwas fragst, enthält die Antwort immer die Information, dass du ein kleines, dummes Kind bist. Du hörst niemanden derartige Worte sagen. Deine Augen sehen auch nichts, und trotzdem empfindest du es so. Genauso wie bei ihnen. Das heißt du hörst es schon und siehst es auch, nur was dein Unbewusstes empfindet kannst du nicht verbalisieren. Es wird die Sprachmelodie, die Mimik, die Sprache der Augen, die Gestik und die Körpersprache sein, die dir einen Eindruck vermitteln, den du oft empfinden, aber nicht benennen kannst.“ erklärte ich. „Ihr Großvater verhielt sich aber anders, wenn sie ihn etwas fragten?“ vermutete Herr Berger. „Den habe ich gar nicht gefragt. Fragen passte nicht zu ihm. Wir müssten mal etwas diskutieren, hieß es immer. Allein die Tatsache des Diskutierens machte mich schon um drei Längen größer. Wer diskutierte denn sonst schon mit so einem kleinen Mädchen? Fragen und Antworten ist immer eine Einbahnstraße vom dominierenden Wissenden zum dummen Unwissenden. Diskutieren ist ein gemeinsamer Prozess und Austausch unter Gleichwertigen. Eine grundsätzlich andere Art der Kommunikation.“ antwortete ich. „Ich weiß kaum etwas von ihnen und habe doch das Empfinden, sie schon sehr gut zu kennen. Ein wundervoller Mensch müssen sie sein. Zum ersten mal kommt mir meine Kindheit und Jugend sehr dürftig vor.“ erklärte Herr Berger. „Sind sie in sozial schwachen Verhältnissen aufgewachsen?“ erkundigte ich mich. „Nein, keineswegs, deshalb meine ich das nicht. Aber wieso ich es so sehe, kann ich ihnen ja beim nächsten mal erklären.“ schlug Herr Berger vor. „Oh, Herr Berger, wie kommen sie denn auf so eine Idee? Dass ich mich überhaupt mit ihnen getroffen habe, bedeutet schon ein großes Entgegenkommen. Ich habe ihnen äußerst offen viel, im Grunde Intimes von mir erzählt. Warum ich es getan habe, weiß ich nicht. Aber ist das nicht mehr als ausreichend für den fremden Mann mit den sonderbaren Bedürfnissen? Dabei wollen wir's belassen, Herr Berger.“ reagierte ich. „Hat sie unser Gespräch denn gestört? Fanden sie etwas unangenehm? Aber sie haben keine Lust, sich mit so einem schlichten Mediziner zu beschäftigen, nicht wahr? Das kann ich im Grunde ja sogar verstehen. Nur ich empfinde es als äußerst schade für mich.“ antwortete Herr Berger darauf. „Ach, Herr Berger, sie machen sich doch oft negative Gedanken und blasen dann Trübsal, nicht wahr? Überhaupt nichts habe ich gegen sie, und ich bereue auch nicht, dass wir uns getroffen haben, nur ich meine, wir kennen uns doch gar nicht und haben nichts miteinander zu tun. Aber wenn es ihnen so viel bedeutet, können wir uns ja noch einmal treffen. Am nächsten Donnerstag geht es nicht. Wie heute in vierzehn Tagen, wäre ihnen das Recht?“ schlug ich vor.


Cousine Claire

„Bei dir wird es doch langsam auch Zeit. Aber wenn du keinen Mann erkennst, musst du schon auf einen Engel warten.“ wollte meine Cousine Claire scherzen, die auch anwesend war, als ich meine Mutter besuchte. „Das ist doch kein Pro­blem. Ich könnte es doch heimlich machen und dem Mann gar nichts sagen. Samenraub, verstehst du?“ scherzte ich zurück. Claire wollte nämlich Kinder haben und hatte schon zwei Operationen hinter sich. „Im Grunde bin ich jetzt ganz froh. Es ist höchstwahrscheinlich sowieso bald alles vorbei.“ erklärte sie ziemlich trocken. „Wieso? Zwischen dir und Oliver klappt es nicht mehr, weil du keine Kinder bekommen kannst?“ wollte meine Mutter erstaunt wissen. „Nein, nein, damit hat das nichts zu tun. Oliver ist ja total lieb und ehrlich. Beim ers­ten mal hat er gesagt, mit Liebe hätte es nichts zu tun, er sei eben ein Mann und habe nicht widerstehen können. Jetzt hat der Herr festgestellt, dass er die Isa offensichtlich doch liebt. Das sei ganz normal, versucht er mir zu erklären. Die Menschen seien eben keine monogamen Wesen, und er zählt mir auf, bei wem das nicht auch alles so wäre. Aber eine Menage à Trois das kann ich nicht. Liebe geht für mich nicht, wenn Isa mit im Bett liegt.“ berichtete Claire. „Es sind immer Männer, die zwei Frauen haben wollen, nicht wahr?“ vermutete Mutter. „Vielleicht ist es überwiegend so, aber keineswegs ausschließlich.“ be­merkte ich, „Es gibt durchaus auch Frauen, die in mehrere Männer verliebt sind, Simone de Beauvoir zum Beispiel. Wo die persönlichen Motivationen lie­gen, kann ich auch nicht nachempfinden, aber es gibt schon stichhaltige sozio­logische und politische Begründungen, die unsere gängigen Liebeskonzepte wie die Ehe als besitzergreifend, ökonomisch begründet und unfrei kritisieren.“ „Claire, du bist zu bürgerlich konservativ, nicht fortschrittlich genug. Stell dir vor, Isa würde schwanger, das Kind würde hinterher niemals wissen, in wel­chem Bauch es herangewachsen ist, das wär doch was.“ ironisierte Mutter. Richtig lachen konnte Claire nicht. „Ich werd es ertragen müssen. Was er auch getan hat, meine Liebe ist dadurch nicht verschwunden. Und dann, eine Frau, die weiß, dass sie keine Kinder bekommen kann, wer will die denn schon ha­ben?“ klagte Claire. Ich hätte gut etwas dazu sagen können, aber ich verstand mich schließlich auch als Philosophin. Die arme Claire unnütz ärgern, das woll­te ich auch nicht. Nur gut, das ich auf diesem ganzen Liebesmarkt nicht im Ge­schäft war.


Inga und die Evolution

„Und habt ihr euch fleißig geküsst?“ fragte Inga lachend, als ich ihr berichtete, dass ich den Kussmann von damals im Café angerufen und mich mit ihm ge­troffen hätte. „Nein, ein total biederer und ordentlicher Mensch ist er, keinerlei männliche Attitüden.“ erklärte ich. „Aber ich bitte dich, wenn er von einer Frau geküsst werden will, was kann er dann anders als ein Mann sein?“ Inga dazu. „Ja, natürlich ist er ein Mann. Aber er hat es erklärt, und das hatte mit der Be­ziehung Mann-Frau nichts zu tun.“ erwiderte ich. „Cheyenne, das geht nicht. Wir sind durch die Evolution so programmiert, dass uns beim anderen immer zuerst das Geschlecht auffällt und wir sie oder ihn danach beurteilen.“ erklärte Inga. „Du meinst also ich hätte beim ersten Blick festgestellt, dass Herr Berger kräftig ist, viele Mammuts und Wildschweine jagen kann und uns gut vor bösen Feinden und wilden Tieren wird schützen können? Deshalb würde ich ihn für sympathisch gehalten haben?“ wollte ich es genauer wissen. „Bestimmt, seit­dem du so gern an der Mammutkeule nagst.“ scherzte Inga, „Du siehst es doch bezogen auf heute, ob er intelligent und freundlich und was du dir sonst alles wünscht wirkt.“ „Du wirst es wissen, aber ich glaube es dir nicht. Die Bedeut­samkeit des Geschlechts soll genetisch auf unsere Frühmenschen zurückzufüh­ren sein, aber wie wir den anderen bewerten, soll neu sein und von heute stammen? Dann ist es keine biologisch evolutionäre Festlegung.“ lautete meine Meinung. „Evolutionär bedingt, aber mit zeitbezogener Anpassung. Den Män­nern fällt es ja schwerer sich anzupassen. Die stehen immer noch auf große Titten wie zu Urzeiten, auch wenn es heute gar keine Bedeutung mehr hat.“ scherzte Inga. „Der Berger hat aber nirgendwo den Mann raushängen lassen. Im Gegenteil, er hat sich kein bisschen aufgespielt, sondern immer nur ge­fragt.“ erklärte ich. „Er hat dir gefallen, du magst ihn, nicht wahr?“ wollte Inga wissen. „Inga, was habe ich denn mit diesem Berger zu tun? Ihm hatte mein Lächeln die trübe Laune vertrieben. Das hatte ihn fasziniert.“ erklärte ich. „Das sag ich ja auch. Wenn man mit dir zusammen ist, hast du immer das Gefühl, es geht dir gut.“ meinte Inga. „Geerbt hätte ich das, hat mir der Berger er­klärt, er ist nämlich Arzt.“ berichtete ich. „Ah, dann wirst du demnächst zu Dr. Berger gehen, wenn du ein Wehwehchen hast.“ vermutete Inga. „Hör doch auf Inga. Das ist doch Quatsch. Wir treffen uns noch einmal, und das war's.“ rea­gierte ich. „Cheyenne, was regst du dich auf. Das ist doch nicht schlimm. Ganz normal ist das, wenn du einen Mann nett findest.“ sah es Inga. „Für mich ist das nicht normal. Ich brauche so etwas nicht.“ bemerkte ich knapp. „So würde ich das nicht formulieren. Du willst deine Vorstellungen, die du damit verbin­dest, für dich nicht realisiert haben, aber grundsätzlich beruht das auf dem Ge­schlechtstrieb, den alle haben, du genauso gut.“ meinte Inga. „Ich weiß nicht, wahrscheinlich habe ich den aber in so kleiner Ausführung geerbt, dass er gar nicht auffällt.“ vermutete ich, und Inga lachte. „Im Gegenteil, das glaube ich überhaupt nicht. Du bist so eine vitale, lebenslustige, agile Frau, du wirst alles sublimiert haben. Woher sollten dein Engagement dein Enthusiasmus sonst kommen?“ sah es Inga. „Du meinst also es liegt nicht an meiner ererbten Pro­duktion von Glückshormonen, es ist alles nur sexuelle Befriedigung in subli­mierter Form. Wenn ich mich in einer Vorlesung voll verausgabe, käme das ei­nem sublimierten Orgasmus gleich?“ wollte ich es näher wissen. Inga lachte. „Cheyenne, so krass musst du es doch nicht sehen, aber dass die Libido als Movens allen lustbesetzten Handelns anzusehen ist, hat doch nicht erst Freud entdeckt. In Platons Gastmal wir der Eros schon als Förderer des Interesses an den schönen Künsten und der Wissenschaften bezeichnet, weshalb Sokrates im fleißig dienen wollte.“ inga dazu. Im Grunde hatte Inga ja Recht. Frauen verfügten ja genauso gut über einen Sexualtrieb wie Männer, nur wo dominierte denn das sexuelle Bedürfnis der Frau und in welcher weise? Unter lesbischen Frauen wahrscheinlich, aber da zog mich überhaupt nichts hin. Ich hatte ja auch nicht beschlossen, mich in der Mathematik als Sublimierung meiner libidinösen Bedürfnisse zu engagieren, nur es stimmte schon, hier war mein Reich, hier konnte ich mich ausagieren und Befriedigung finden. Aber die Diotima aus Patons Gastmahl wollte ich doch nochmal lesen.


Wie finden sie eigentlich meine Brüste?

„Herr Berger, haben sie ihrer Frau denn davon erzählt, dass sie in Cafés frem­de Frauen küssen.“ fragte ich ihn als wir uns wieder trafen. Er lachte und meinte: „Müsste man eigentlich tun, nicht wahr? Aber eine Frau habe ich gar nicht. Ich wohne mit einer Kollegin zusammen. Wir sehen uns nur selten we­gen der unterschiedlichen Dienste.“ „Ihre Lebensgefährtin also?“ vermutete ich. „Ich weiß es nicht. Eine genaue Bezeichnung gibt es für diese Art von Be­ziehung gar nicht. Ich würde eher sagen Wohngemeinschaft und ein bisschen mehr. Aber über das Glücksempfinden habe ich mit ihr schon gesprochen.“ er­klärte Herr Berger. „Ist ihre Kollegin denn immer glücklich, oder ist sie auch öf­ter mies gelaunt?“ wollte ich wissen. „Ich denke, bei fast allen wird es so sein, dass sie ihre Gefühlslage als unauffällig normal empfinden. Die Kollegin war al­lerdings der Ansicht, dass man sein Empfinden schon stark beeinflussen könne, und zwar durch positives Denken. Man müsse sein Denken kontrollieren und sich auf das Positive konzentrieren.“ berichtete Herr Berger. „Das Schreckliche, Grässliche, Unangenehme ereignet sich eben so, aber du denkst nur an das Schöne, nicht wahr?“ interpretierte ich es. „Genau, was auch geschieht, du kannst immer nur glücklich sein.“ bestätigte mich Herr Berger lachend. „Herr Berger, sagen sie mal, wie finden sie eigentlich meine Brüste?“ platzte ich un­vermittelt los. Herrn Bergers Mine verfinsterte sich nicht direkt, aber er blickte völlig konsterniert und sein Mund formte sich breit zu einem abfälligen, unsi­cheren Grinsen. „Was wollen sie? Was soll das?“ brachte er schließlich hervor. „Ich meine sie sind doch ein Mann und sehen mich als Frau. Und als Mann ach­ten sie doch auf so etwas.“ erklärte ich. Eine Pause, dann sagte Herr Berger: „Sie tun mir weh, Frau Rosemann, wissen sie das? Wir haben bisher nicht nur ganz normal, sondern offen, ohne die übliche Distanz unter Fremden miteinan­der geredet. Frau oder Mann das hat nie eine Rolle gespielt. Mir gefiel es sehr gut so. Was wollen sie? Wollen sie das alles zerstören? Wollen sie nicht mehr mit mir reden? Wäre es ihnen lieber, wenn ich sagte, es interessiert mich nicht mehr und ginge?“ fragte er. „Nein, nein, nein, Entschuldigung, Entschuldigung. Das war unmöglich von mir. Ein schlechter Scherz. Ich wollte sie mal als Mann testen.“ entschuldigte ich mich. „Machen sie das mit ihren Kollegen auch? Stel­len sie denen zwischendurch auch mal solche Fragen?“ erkundigte sich Herr Berger. „Die brauche ich nicht mehr zu testen, die kenne ich alle schon.“ ant­wortete ich. „Als Neutrum werden sie mich aber doch nicht sehen. Auch wenn es in unserer Unterhaltung keine Rolle spielt, ein Bild von mir als Frau werden sie schon haben.“ bemerkte ich. „Das möchten Frauen immer gerne wissen, wie sie von Männern gesehen werden, nicht wahr?“ vermutete Herr Berger. „Herr Berger!“ tönte ich laut mahnend, „Jetzt entwickeln sie sich doch zum Chauvi. Woher soll ihnen denn bekannt sein, was alle Frauen gerne wissen wollen. Machen sie sich niemals solche Gedanken und hüten sie sich davor, wenn es sie in Zukunft mal wieder überkommen sollte. 'Die Frauen' gibt es nicht und erst recht nicht die, über die alle Männer Bescheid wissen. Mich interessiert es auch nicht, wie sie mich sehen, sondern wie sie denken.“ verdeutlichte ich. „Das war ein übler Fauxpas, frauenfeindlich. Aber sie werden mich nicht dafür steinigen.“ vermutete er und lachte, „Männern wird das in der Sozialisation vermittelt, dass sie grundsätzlich wissen, was Frauen wollen, nicht war? Bei unserer Unterhaltung spielt ihr Bild als Frau keine Rolle. Ich halte sie für einen wundervollen Menschen, und das wirkt sich natürlich auf ihr Bild als Frau aus.“ erklärte Herr Berger. „Aber sich selbst halten sie nicht mehr für so toll?“ fragte ich. „Ich kam mir schon nicht schlecht vor, hatte immer die besten Zensuren und konnte studieren, was ich wollte.“ erklärte er. „Sehr ehrgeizig sind sie, oder?“ vermutete ich. „Nein, überhaupt nicht. Ich bin eher naturfaul. Meine Eltern waren im Tennisclub, also spielten meine Schwester und ich auch. Im Prinzip fand ich Tennis gar nicht schlecht, aber immer nur verlieren, da vergeht die Lust. Ich hätte üben, trainieren müssen, aber dafür war ich zu faul. Keineswegs muss ich überall der Erste, der Gewinner, der Beste sein.“ erklärte Herr Berger. „In der Schule war es aber schon so. Da wird man sie doch nicht nur gezwungen haben.“ meinte ich. „Das hatte aber mit Ehrgeiz nichts zu tun. Wenn du etwas nicht kannst, etwas nicht verstehst, gehörst du zu den Doofen, den Dummen. Das wäre eine Horrorvorstellung gewesen. Solange ich mich erinnern kann, war das so und hat sich bis zum Abitur gehalten. Wenn meine Arbeiten alle ausreichend, mangelhaft und ungenügend gewesen wären, hätte ich mich wahrscheinlich umgebracht. Wenn du immer der Beste bist, vermittelt dir das schon ein Gefühl, als ob du etwas Tolles wärst.“ erklärte Herr Berger. „Und jetzt sehen sie das nicht mehr so?“ wollte ich wissen. „Nein, ich hatte immer die besten Noten und bin im Grunde dumm und einsam geblieben.“ sagte Herr Berger. „Wie meinen sie das?“ wollte ich wissen. „Wie sie das als Kind schon gesehen haben, dass Elternhaus und Schule ihren Erziehungsauftrag an ihnen abarbeiten, auf solche Gedanken bin ich nie gekommen. Auf die eigentlich wichtigen Gedanken bin ich wahrscheinlich nie gekommen, weil ich einfach immer nur so weitergelebt habe, von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr. Immer nur gemacht, was gerade anlag und erforderlich war und war stolz, weil ich immer gelobt wurde.“ erläuterte Herr Berger. „Und sie selbst, der Julian Berger außerhalb der guten Schulnoten, wer war der? Hat der auch Indianer oder mehr Fußball gespielt?“ fragte ich scherzend. „Beides nicht.“ antwortete Herr Berger. Mit der Schule hatte ich schon sehr viel zu tun. Und dann erfährst du ja auch mehr, als du unbedingt wissen musst. Aber was hat das für einen Wert? Es bedeutet nichts. Du vergisst es wieder, genau wie das andere auch. Und wenn du so gute Noten hast, musst du natürlich Medizin studieren, wie all die anderen Idioten auch. Was habe oder hatte ich persönlich mit Medizin zu tun? Nichts, absolut nichts. Aber womit hatte ich denn zu tun? Mich persönlich, Julian Berger, gibt es den überhaupt. Sein Leben hat sich entwickelt, wie es von anderen vorgegeben war, immer und überall. Ich selbst komme an keiner Stelle vor. Aber es ist doch mein Leben, es gehört doch mir, ich kann es doch gestalten, wie es mir gefällt. Aber das kann ich überhaupt nicht. Ich weiß gar nicht, was ich tun müsste, um aus meinen Gewohnheiten rauszukommen.“ klagte Herr Berger. Natürlich hatte ich mit den jungen Studis, die sich weinend, ausweglos vorm Studienabbruch sahen, auch Mitleid. Aber mich mit ihnen solidarisch zu erklären, half ihnen kein bisschen. Sie mussten die Leistungen erbringen, einen anderen Weg gab es nicht. Aber Herr Berger wollte leben und wusste nicht wie. Ein guter und lieber Mensch war er bestimmt, ein Chauvi oder Macho auf keinen Fall. „Kann ihre Freundin oder Kollegin ihnen denn dabei nicht helfen?“ erkundigte ich mich. „Über so etwas sprechen wir nicht. Wir reden immer nur über Zufälliges.“ erklärte Herr Berger. „Also im Grunde haben sie kaum etwas miteinander zu tun, Wohngemeinschaft.“ vermutete ich. „Ja, ein sonderbares Verhältnis ist das. Mir mögen uns schon gut leiden, aber mehr ist da nicht. Ich würde mich gern selbständig machen, in einer Gemeinschaftspraxis, aber mit Natascha kann ich mir das nicht vorstellen. Da müsste doch schon etwas mehr sein.“ erklärte Herr Berger. „Was meinen sie damit?“ wollte ich wissen. „Na, dass eine intensivere Zuneigung, so etwas wie Liebe besteht. Dass sie Lust auf eine gemeinsame Zukunft haben.“ erläuterte Herr Berger. „Das können sie sich mit ihrer Kollegin aber nicht vorstellen?“ wollte ich wissen. „Wir finden uns gegenseitig ganz nett. Wir schlafen ja sogar auch manchmal miteinander, aber wenn sie morgen eine lukrativer Stelle bekommen könnte, ginge sie. Das wär's dann eben gewesen. Ich kenne es selbst nicht. Ich war noch nie verliebt, aber da müssen sie doch wohl ein tieferes Empfinden verspüren. Der Mann oder die Frau muss in ihnen doch ein Verlangen auslösen, nicht wahr?“ meinte Herr Berger. „Das glaube ich ihnen nicht. Wenn sie keine Liebe bekämen, würden sie ständig mit dieser sauertöpfischen Mine herumlaufen. Da würden sie auf die Dauer sogar krank und müssten zum Arzt.“ bemerkte ich scherzend. „Schon möglich, aber echte Liebe ist das doch nicht. Sie fühlen sich anerkannt, aber man lobt oder bewundert nur ihre Leistungen und sie beziehen es auf sich selbst.“ meinte Herr Berger. „Sicher ist das außerordentlich weit verbreitet, unter den berühmtesten Leuten wahrscheinlich am häufigsten, aber zumindest von ihrer Mutter und ihrem Vater, und bestimmt auch von ihrer Schwester werden sie doch wirkliche, uneigennützige Liebe erfahren.“ erklärte ich. „Ja, natürlich, wie konnte ich das übersehen? Aber der tumbe Allgemeinmensch sieht nur die Liebe zwischen Mann und Frau.“ Herr Berger dazu. „Dabei ist die Liebe zu Eltern und Freunden oft viel profunder und komplexer als die zwischen Mann und Frau.“ kommentierte ich. „Da spielt das Sexuelle dann die Hauptrolle, nicht wahr? Aber Zuneigung und Verbundenheit schafft es doch auch mit Sicherheit. Wenn sie miteinander schlafen, das ist doch nicht einfach Spaß wie ein gemeinsamer Jahrmarktsbesuch.“ erklärte Herr Berger. „Sondern?“ fragte ich nach. „Na, sie sind sich doch einander sehr nahe, wie sonst nie einem anderen Menschen.“ meinte Herr Berger. „Liebe entsteht dadurch aber trotzdem nicht?“ wollte ich wissen. „Ich weiß es nicht. Vielleicht kann man das generell gar nicht sagen. Aber Natascha und ich finden es sehr schön, mögen uns, empfinden hohe Wertschätzung für den anderen, aber Liebe müsste sich auf einer anderen Ebene abspielen, meine ich.“ sagte Herr Berger. „Herr Berger, sie wollen ihr eigenes Leben leben und wissen nicht wie. In vieler Hinsicht tun sie es sicher. Sie müssen es wahrscheinlich nur wahrnehmen und erkennen. Das wäre der erste Schritt. Der Mann, der einen Kuss von mir wünschte, das waren ganz allein sie. Da gab's keine Vorgaben und Verhaltenserwartungen. Ich würde ihnen gern mehr dazu sagen, wenn es sie interessiert, aber jetzt habe ich keine Zeit mehr.“ erklärte ich. „Ja, natürlich, liebend gern. Sollen wir uns wieder am nächsten Donnerstag hier treffen?“ schlug Herr Berger vor. „Das geht nicht. Ich habe im Moment außerordentlich viel zu tun.“ erklärte ich und überlegte, „Ach, wissen sie was, ich rufe sie an, wenn ich weiß, wann es mir auskommt. Wir können dann ja sehen, ob es ihnen auch passt. Kommen sie doch einfach zu mir. Kaffee oder Tee gibt’s bei mir, und sie bringen ein Stück Kuchen mit. Gedeckter Apfelkuchen muss es sein, keinesfalls Torte oder so etwas.“


Julians Besuch

Im Grunde waren sie ja beide kuriose Menschen. Leben zusammen, gehen mit­einander ins Bett, aber lieben sich nicht. So etwas hatte ich noch nicht gehört. Sehr praktisch, das wäre doch etwas für meine Cousine. Keine Liebesschmer­zen, wenn's nicht mehr klappt. Aber der Berger sucht ja schon eine tiefere Be­ziehung, er wünscht sich doch Liebe, weiß nur nicht wie. Eigentlich passte das ja nicht. Jemand der lebte, wie man es gewöhnlich so machte, wusste doch auch, wie das mit der Liebe zu funktionieren hatte. Zumal als Arzt hätte er doch bei vielen Frauen hervorragende Chancen. Ob er vielleicht besondere An­sprüche hatte, außergewöhnlich romantisch war? So einen Eindruck erweckte er jedenfalls nicht. Mir kam er ganz nüchtern, realistisch vor. Ja, als angeneh­men Menschen empfand ich ihn schon. Ich würde ihm helfen, zu sich selbst zu finden. „Ich habe alle Wände rausreißen lassen. Hier unten gibt es nur diesen Koch-Wohnraum und mein Arbeits-Schlafzimmer. Ja und das Bad natürlich. Hier unten ist mein Lebensbereich. Oben befindet sich nur alles Murx.“ erklärte ich Herrn Berger, als er mich besuchte. „Und ihr Mann, hat der seine Räume oben beim Murx?“ wollte Herr Berger wissen. „Das kann ich ihnen auch nicht sagen, wo der seine Räume hat. Ich weiß ja nicht mal, wo er sein könnte.“ er­klärte ich. Herr Berger hatte offensichtlich nicht auf Anhieb verstanden. „Herr Berger, ich bin Charlotte Roseman, eine vollständig, komplette Person ganz al­lein als Frau. Einen Mann brauche ich dazu nicht.“ „Entschuldigung, natürlich, das ist verflixt. Automatisch fragst du nach dem Mann, so ein Unsinn. Es tut mir leid.“ entschuldigte sich Herr Berger. „Ja, der Mann denkt so, weil man als Mann eben denkt, dass eine Frau doch auch einen Mann hat. Das war die All­gemeinheit und nicht der Herr Berger selbst. Wenn du dein eigenes Leben, dich selbst leben willst, musst du dir die Kinder anschauen. Die tun es bis zu einem bestimmten Alter selbstverständlich. Die leben, was sie ganz persönlich selbst motiviert. Sind voll involviert und mit ihrem ganzen Engagement dabei. Du hältst als Arzt deine Visite, wie man das eben von einem Arzt allgemein so er­wartet. Du selbst persönlich kommst da gar nicht vor. Dein wirkliches Ego ist da gar nicht beteiligt. Oh, Entschuldigung, sie natürlich. Ich habe die ganze Zeit du gesagt.“ erklärte ich. „Also mich stört das nicht. Im Gegenteil, mir, Juli­an persönlich, wäre das sogar lieber, aber ihnen wird es nicht Recht sein, nicht wahr?“ reagierte Herr Berger. Ob ich so etwas wollte? Eigentlich nicht, wieso denn? Es bedurfte einer Musterung, aber was wollte ich denn erkennen? Tage­lang war ich in der kommunikativen Welt immer nur, Frau Rosemann, sie. Und die Unterhaltung mit Herrn Berger, war das nicht sowieso schon eine Kommu­nikation, die 'Out of Bounds' stattfand? „Also gut, Herr Berger, ich bin einver­standen.“ sagte ich und lachte. „Aber wie soll ich sie denn nennen? Charlotte, nicht wahr? Oder wäre ihnen Cheyenne auch Recht? Ich bin dann übrigens der Julian und nicht mehr der Herr Berger.“ erklärte er. „Charlotte ist mein Vorname, Cheyenne ist eher so etwas wie ein Kosename oder auch Ehrennahme. Ich höre den eigentlich lieber. Aber gewöhnungsbedürftig ist das schon, wird es für sie, Entschuldigung, für dich, doch auch sein.“ vermutete ich. „Aber etwas, woran ich mich gern gewöhne. Ich habe mir in meinem Leben schon so vieles angewöhnt, von dem ich nicht weiß, wie ich es wieder los werden soll.“ erklärte der Mann, der jetzt Julian war. „Das ist auch sehr schwer. „Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche sind stärker als die Wahrheit.“ wusste schon Voltaire. Aber was willst du dir abgewöhnen, du musst zu deinem Leben finden, dann spielen die alten Gewohnheiten keine Rolle mehr.“ lautete meine Ansicht. „Ja, schön, aber wo soll das denn sein? Wo soll ich das den finden? Das hat es nie gegeben.“ widersprach Julian. „Du lügst, mein Lieber. Das ist nicht wahr. Du bist wahrscheinlich nur ein wenig zu blind, um es erkennen zu können. Als du hierher gekommen bist, hast du eine Vorstellung davon gehabt, was dich erwarten könnte. Ein Bild hast du gehabt. Von allem, an dass du denkst und was du tust, kreierst du dir Bilder, deine Assoziationen, deine Vorstellungen. Das bist du nicht selbst, aber der Mahler bist du. Du hast die Wahl, du kannst ein Bild mahlen, dass eine schlechte Kopie millionenfach verbreiteter Vorlagen ist, oder du kannst es kreativ wie ein wirklicher Mahler aus dir, mit den Farben deiner eigenen Empfindungen, Bedürfnisse und Gefühle gestalten.“ erklärte ich. „Ich widerspreche dir nicht, Cheyenne, nur kommt mir das sehr theoretisch vor. Meine eigenen Empfindungen, Bedürfnisse und Gefühle, wo sollen die bei einer Visite denn sein? Wie du es von den Kindern erzählt hast, kam mir eher wie ein Flow vor.“ meinte Julian. „Flow hin oder her, mag ja sein, dass es bei Erwachsenen nur so selten vorkommt, dass man es als Ausnahmezustand bezeichnet, aber im Grunde handelt es sich nur um die normale Form vollen, involvierten, harmonischen Lebens. Der Kranführer muss hundert Prozent konzentriert sein, die Primaballerina kann nicht beim Tanzen ans Einkaufen denken, und selbst für den Lehrer im Unterricht besteht immer 'High Noon'. Das kann in allen Bereichen vorkommen, normales Leben findet eigentlich enthusiastisch statt. Das andere sind öde, langweilige, nachgeplapperte Litaneien vorgegebener Rituale und Rollenkonkretisierungen. Die meisten Menschen leben nicht ihr eigenes Leben, nur es stört sie nicht wie dich.“ erklärte ich dazu. „Aber meine Visite, und da gäbe es ja tausend andere Dinge mehr, wie soll ich die denn kreativ, enthusiastisch aus mir selbst gestalten?“ fragte Julian und lächelte dabei. „Es gibt natürlich bestimmte Vorgaben, die du einhalten musst, aber das ist ja nicht das Problem. Du musst dich vorher damit auseinandersetzen, dich voll darauf einlassen, dich fragen wo und wie es dich persönlich betrifft. Welche Gefühle du wobei hast. Deine Gefühle sind ganz wichtig. Sie sollten für dich der Anlass sein, vielleicht etwas zu ändern. Wir sind es gewohnt, unsere wirklichen Gefühle gar nicht wahrzunehmen, können sie gar nicht erkennen. Dabei sind sie das Entscheidende.“ verdeutlichte ich. Wir unterhielten uns noch länger über Gefühle und gefühlsbetontes Leben. Julian Berger wollte wiederkommen, und wir wollten uns über seine ersten Schritte auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben unterhalten.


Tag mit Julian

Wir trafen uns immer wieder, obwohl es im Grunde nicht erforderlich gewesen wäre, denn das Prinzip, wie er zu seinem eigenen Leben finden konnte, war Ju­lian doch relativ bald klar. Wir unterhielten uns schon meistens über wichtige Fragen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens aber auch oft darüber, was uns gerade bewegte oder über interessante Ereignisse aus unserem Erfah­rungsschatz. Zu Beginn war Julian immer besorgt und fragte: „Stört es dich auch wirklich nicht?“, aber das hatte sich gelegt. Der Gedanke war mir aller­dings auch noch nie gekommen, das es angenehmer sein könne, wenn Julian jetzt ginge. Mir gefiel es ja auch. Es waren schon exzeptionelle Momente, wie sie in meinem übrigen Leben nicht vorkamen. Nein, Kaffeeklatsch war es nicht, darüber ging es weit hinaus, aber als wissenschaftliche Diskussionen konnte man es auch nicht bezeichnen. Eine treffende Bezeichnung für unsere Gesprä­che gab es im Kanon der üblichen Kommunikationsformen nicht. Es waren eher Befragungen. Wir fragten einander ständig. Nicht weil wir neugierig waren und alles vom anderen wissen wollten. Es war immer ein kleines Schauspiel, nicht nur zu hören, was Julian sagte, sondern wie er insgesamt reagierte. Julian konnte mir alles aus der Nase ziehen, nein, eine völlig misslungene Benen­nung, er förderte in mir die Lust, ihm meine Persönlichkeit zu offenbaren. Of­fen, echt und frei redeten wir, der Gesprächsstruktur von Kindern ähnelnd. So kam ich mir auch manchmal vor, als ob all das, was ich mir in meinen vielen Jahren an Verbrämungen zugelegt hatte, im Gespräch mit Julian fehlte. Julian kannte ich gar nicht anders. Von Anfang an hatte ich ihn so erlebt. Vielleicht war es das, was mich fasziniert hatte. Im Krankenhaus war er bestimmt der Herr Doktor, jedenfalls ein anderer als der, der Cheyenne besuchte. Ob mein erstes Lächeln damals im Café ihn schon dazu verführt hatte? Unsere Treffen erinnerten mich an Bella, eine frühere Schulfreundin von mir. Wenn ich zu mei­nem Großvater ging, freute ich mich. Das wurde mir bewusst. Meine Eltern, die gehörten ja zu mir, das war ich selbst. Aber Bella musste auch da sein. Wenn Bella morgens nicht in der Schule war, konnte der Tag nichts werden. Wenn Bella mich besuchte, oder ich zu ihr ging, dann war die Welt in Ordnung. Bella war einfach da, wenn sie es nicht war, stimmte etwas nicht. Wir sind auch heu­te noch gute Freundinnen, aber dieses Verhältnis ist in der Pubertät verloren gegangen. So ähnlich kam es mir bei Julian vor. Er hatte gesagt, ich würde ein Sonnenlächeln zeigen, jetzt kam es mir vor, als ob das immer dadurch entste­he, dass er bei mir ankomme. Der Tag schien eine andere Gestalt anzuneh­men. Ab jetzt war es der Tag mit Julian.


Nataschas Auszug

Seine Mitbewohnerin war ausgezogen. Sie hatte eine Stelle an einem Kranken­haus in einer anderen Stadt angenommen. „Bessere Bezahlung oder weshalb?“ erkundigte ich mich. „Das weiß ich nicht mal, aber wahrscheinlich sucht sie einen Mann.“ vermutete Julian. Das musste er näher erklären. „Eine feste Be­ziehung will sie ja auch nicht. Ich glaube, dass es ihr bei uns ganz gut gefallen hat. Nur ich bin schon seit ewigen Zeiten nicht mehr mit ihr ins Bett gegan­gen.“ erklärte er. Meine fragenden Augen verdeutlichten, dass ich von Julian etwas dazu hören wollte. „Ich konnte das nicht mehr. Absolut verlogen war das. Es ging ja nicht nur um sexuelle Befriedigung, das vielleicht auch, aber wir haben etwas gespielt, was es in Wirklichkeit gar nicht gab. Natürlich sucht ein Mensch sexuelle Befriedigung, aber du suchst auch Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit. Wir haben nicht beim Glas Wein gesessen und gesagt: „Lass uns ficken.“, wir haben für einen Abend und eine Nacht das große Liebespaar imitiert. Das konnte ich nicht mehr. Entweder ich bin in Natascha verliebt oder nicht, aber nicht für einen Abend so tun als ob.“ erklärte Julian. „Auch ein Schritt auf dem Weg zu dem Leben, das der Julian selbst ist?“ fragte ich lächelnd. „Ja, ganz bestimmt. Genauso wichtig wie das Erkennen deiner wirklichen Gefühle ist es, dass du dich nicht selbst belügst. Wahrscheinlich ist es bei der Hälfte der Erklärungen die du für dein Handeln parat hast, dass du sie nennst, weil es dir opportun erscheint.“ vermutete Julian. „Du meinst also, ich müsste mich fragen, ob meine Begründung auch wirklich zutrifft, oder ich es nur sage, weil es mir am günstigsten erscheint? Beruflich kann ich das gar nicht. In der Mathematik gibt es keine opportunen Begründungen.“ wusste ich. Mit Julian konnte ich auch über Mathematik sprechen. Wir hatten über die Volksphobie gegenüber Mathematik gesprochen und wodurch sie entstanden sein könnte. Wir hatten über Macht und Herrschaft geredet und über die unausrottbare Vorstellung, dass die Menschen zu allem, was sinnvoll oder notwendig sei, gezwungen werden müssten, selbst zu ihrem Leben. „Die Evolution wird uns vererbt haben, dass wir im Grunde alle faul, dumm und böse sind.“ scherzte Julian. „So abwegig ist das gar nicht. Wir sprechen immer von dem christlichen Menschenbild, das unser abendländisches Denken prägt. Das Neue Testament ist voller schöner Sprüche, nur haben die in der Praxis der zweitausendjährigen Geschichte kaum etwas bedeutet. Da galten eher die barbarischen Sitten aus den Wäldern Germaniens oder andere Machtgelüste nach dem Motto: „Auge um Auge“. Ich sehe die Basis unserer Zivilisation viel stärker bei den Griechen.“ verdeutlichte ich meine Position.


Inga und Julian

„Nein, nein und nochmals nein, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Nichts, absolut nichts, nirgendwo ein leichter Hauch von Amore. Wir können uns gut leiden. Die Gespräche machen Spaß, aber ob Julian ein Mann oder eine Frau ist, spielt nicht die geringste Rolle.“ versuchte ich es Inga, die es nicht glauben wollte, eindringlich zu verdeutlichen. „Ach, Inga, hör doch mit dem Blödsinn auf. Was bist du für ein Kind. Wir küssen uns nicht, überhaupt nicht und erst recht nicht ständig.“ wies ich Inga ab, die ja nichts von Julian wusste und kannte, außer dass er mich damals um einen Kuss gebeten hatte. Für Juli­an und mich existierte diese lapidare Episode schon gar nicht mehr. „Vielleicht wirkt ja bei euch das Inzesttabu, kommt euch vor wie Bruder und Schwester aus der gleichen Familie.“ scherzte Inga, „Ich kann mir das nicht vorstellen. Er sieht doch ständig die Frau und du den Mann, und da sollt ihr beiden die einzi­gen Menschen auf der Welt sein, die die üblichen Funktionen des Geschlechts­triebs dabei abschalten können?“ zweifelte Inga. „Du hast es ja selbst gesagt, dass alle positiven Beziehungen libidinös bedingt sind, aber sie müssen deshalb doch nichts mit sexuellen Gelüsten zu tun haben. Es ist nicht anders, als ob du mich besuchen kämst. Nur du hast ja nie Zeit.“ erklärte ich. „Du wirst schon Recht haben. Das ist ja auch im beruflichen Alltag so. Du hast mit Männern zu tun, in deren Gegenwart du dich wohlfühlst, aber nie an weitergehende sexuelle Beziehungen denkst.“ bestätigte mich Inga. „Du musst Julian einfach mal kennenlernen, damit sein Bild bei dir nicht auf diese unbedeutende Kussszene beschränkt bleibt. Wollt ihr nicht mal beide zu mir kommen? Hin und wieder hat er eine ganze Woche dienstfrei, da müssten wir doch einen gemeinsamen Termin finden können.“ schlug ich vor. „Ja, natürlich, gern. Wenn ihr euch immer trefft, wird es ja nicht ohne Einfluss auf dein Leben und deine Ansichten bleiben, und das muss ich doch schon mitbekommen, oder?“ scherzte Inga. „Ich muss Julian selbstverständlich fragen, ob ihm das auch Recht ist. Aber was könnte er dagegen haben?“ erklärte ich. Nur Julian gefiel es gar nicht, das Inga zu unserem Treffen käme. Er habe doch mit dieser Inga nichts zu tun, das sei doch meine Beziehung. Wahrscheinlich habe ich es sehr ungeschickt begründet. „Cheyenne, dir würde es doch auch nicht gefallen, wenn du von fremden Menschen taxiert werden solltest. Du kämst dir auch vorgeführt vor. Angenehm ist das doch nicht.“ erklärte Julian schließlich. Es bedurfte vieler, einfühlsamer und liebevoller Worte und Beispiele, um bei Julian dieses Empfinden aufzulösen. „Ich bin ja richtig neugierig darauf, diesen kuriosen Mann mal in echt kennenzulernen.“ scherzte Inga, als sie Julian begrüßte. Mit dem Sie und Du kamen wir durcheinander, bis es schließlich beim Inga, sie, und Julian, sie, blieb. „Wer fremde Frauen um einen Kuss bittet, zeigt ja, dass er über eine hohe kreative Energie verfügt, und das auszunutzen, kann ich mir doch nicht entgehen lassen, weißt du.“ scherzte ich. „Über hohe kreative Intelligenz werden sie verfügen, Julian. Haben sie das mal untersuchen lassen?“ setzte Inga es fort. „Das weiß ich auch ohne Tests.“ scherzte Julian, „aber Cheyennes Kreativität liegt noch weitaus höher als meine.“ „Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie hat doch gar keine Möglichkeit, die auszuleben und zu fördern. Mathematische Intelligenz wird sie ja schon haben müssen, aber da ist doch alles festgefügt in vorgegebenen Normen und Gesetzen. Raum für Kreativität, wo soll der in der Mathematik denn sein?“ wollte Inga wissen. „Oh! Ich bin zwar kein Mathematiker, aber Cheyennes Mathematik ist doch ihr Leben. Ohne ihr Leben ergäbe Cheyennes Mathematik ja keinen Sinn. Da liegen ihre enormen kreativen Kompetenzen.“ meinte Julian dazu. Inga musterte mich lächelnd. „Aber höchstmögliche kreative Entfaltung hängt die nicht auch mit libidinöser Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Harmonie zusammen?“ wollte Inga schelmisch wissen. Ob Julian sich denken konnte, auf welche Hintergründe Inga anspielte, weiß ich nicht. „Natürlich, kennen sie denn Menschen die intensiver Ausgeglichenheit vermitteln und Harmonie ausstrahlen als Cheyenne?“ wollte Julian wissen. „Ich sehe das genauso. Da brauchen sie Cheyenne nur anzuschauen, und die Harmonie, das ausgeglichene Strahlen und ihr leuchtendes Glück überträgt sich auf sie?“ vermutete Inga. Julian lachte auf. „Ja, wie eine Ikone, ich schaue Cheyenne an, Zufriedenheit, Wohlempfinden und das Glück dieser Welt liegen mir zu Füßen. Nein, wir freuen uns natürlich, wenn wir uns treffen, aber wir führen gehaltvolle Gespräche in einer wundervollen weise, und das erleben sie ja sonst außer über berufsspezifische Themen im Alltag so gut wie gar nicht. Wo es nicht um medizinische Fragen geht, spielt sich das meiste an der Oberfläche ab. Durch Cheyennes Kreativität hat sich sich zum Beispiel in meinem Leben manches sehr bedeutsam verändert.“ erklärte Julian. Das wollte Inga expliziter hören. „Na ja, ich war ein kleiner, ausgebeuteter, unbedeutender Stationsarzt. Ein unbedeutendes, armes Schwein, so empfand ich mich.“ begann Julian. „Und Cheyenne hat ihnen klar gemacht, was für ein toller Hecht sie doch sind.“ unterbrach ihn Inga mit ihrer Vermutung. „Inga, Inga,“ schüttelte Julian den Kopf, „als enge Freundinnen, werden sie sich gegenseitig gewiss viel vermittelt haben, aber ob sie von Cheyennes Weisheit viel angenommen haben, muss ich doch bezweifeln.“ Inga lachte und meinte: „Fördern sie meine Weisheit, Julian, ich bitte darum.“ „Cheyenne hat mir aufgezeigt, wie mein Leben funktioniert, im Wesentlichen fremdbestimmt und als Rollenkonkretisierungen der Allgemeinheit. Sie hat mir geholfen, mich selbst zu entdecken und mein eigenes Leben nach meinen wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen zu gestalten.“ erklärte Julian. „Aber das Gleiche wie vorher werden sie doch jetzt auch tun müssen. Sie können doch nicht als angestellter Stationsarzt plötzlich ein wildes, freies Leben führen.“ meinte Inga. „Inga, darum geht es doch nicht, das weißt du doch von dir selbst. Dich selbst zu leben, bedeutet doch nicht, aus allen Konventionen ausbrechen. Dann musst du ganz aussteigen, aber auch da wird es Grenzen geben. Wenn deine Libido und dein Bewusstsein ständig anderer Ansicht sind, keine Korrelationen bestehen, macht es dich krank. Das ist Allgemeingut. Aber die Anforderungen und Klischees der Allgemeinheit entsprechen auch nicht deinen wirklichen, menschlichen Bedürfnissen und Gefühlen, sondern sie dienen dem Funktionieren der fremdbestimmten, technologisierten Alltagsroutine. Vielleicht wirst du nicht so drastisch und so erkennbar krank, aber sie verhindern, dass du zu dir selbst, zu deiner Harmonie als Basis für das Erleben und Empfinden eines glücklichen Lebens kommen kannst.“ erläuterte ich. „Ihr solltet mich auch einladen.“ scherzte Inga, „Ich könnte auch noch viel lernen, von Cheyennes Weisheit und von ihnen auch, Julian. Ein bisschen kenne ich dich ja schon, Cheyenne, aber wo du das gelernt hast, ist bislang noch ein Geheimnis.“ erklärte Inga. „Das ist für mich selbst ein Geheimnis. Ich habe da nichts gelernt. Ich denke nur, dass die Art und Weise des Erlebens und der Gestaltung meiner sozialen Kontakte von klein an prägenden Einfluss auf mein persönliches Wohlgefühl hatten.“ interpretierte ich es. Am Telefon erklärte Inga, dass es ihr gut gefallen habe. Als ich sie nach Spuren von Liebesbeziehungen fragte, die sie vielleicht entdeckt hätte, lachte sie und stockte mit der Antwort: „Vielleicht ist das keine Liebe sondern eher Verehrung, das weiß ich nicht, aber für Julian bist du ganz eindeutig seine Göttin.“ „Du spinnst, Inga. Julian saugt mir nicht die Worte von den Lippen. Er und ich können genauso gut kontroverser Ansicht sein und uns streiten, wie wir beide auch.“


Weihnachtspläne

Seine Göttin, das hatte ich nicht direkt in Erwägung gezogen, aber sonst hatte ich mir doch auch schon oft Gedanken darüber gemacht, welche Bedeutung wir für einander hatten. Dass ich nicht schlicht eine gute Bekannte für Julian war, galt ja umgekehrt für mich genauso. Unsere Treffen hatten schon einen beson­deren Stellenwert, sowohl für Julian als auch für mich. Aber es war nicht ein­fach so, als ob man sich darauf freute, dass Sonntag wäre, weil damit ange­nehme Vorstellungen verbunden waren. Wenn mir etwas Besonderes gelang, etwas günstig verlaufen war, wenn ich etwas als Erfolg ansah, freute mich das natürlich, aber die Freude auf Julian, lag auf einer anderen Ebene, hatte eine andere Tiefe. Ähnliches war mir schon als Kind bewusst geworden. Lob und Anerkennung für eine gute Arbeit oder sonst etwas waren nicht schlecht, aber wenn ich zu meinem Großvater ging, freute sich mein Herz. Respekt, Achtung, Anerkennung bekam ich doch überall, ob Julian mir etwas Besonderes vermittelte? Dass ich ihn irgendwie beeindruckt hätte, waren damals im Café seine ersten Worte. Da kannten wir uns überhaupt nicht. Ob es immer noch dieses Unbenannte war, das ihn an mir beeindruckte? Trotzdem wirke es auf mich und ich gab es ihm zurück? Was es war, wussten wir ja nicht, aber bestimmt war uns von Anfang an klar, dass wir einander vertrauen konnten, das Fremdheit und distanziertes Verhalten fehl am Platze waren. Dass wir dem anderen gegenüber offen sein konnten, war vom ersten Gespräch an so gut wie selbstverständlich. Julian und ich kannten uns jetzt schon länger als ein Jahr. „Cheyenne,“ sagte Julian ernst und würdig, „ich bin vielleicht ein bisschen sentimental, und du musst direkt sagen, wenn du es nicht möchtest, das ist völlig o. k. Heiligabend hatte bei uns immer eine besondere Bedeutung, und wir treffen uns auch jetzt immer noch bei meinen Eltern, aber weißt du, was ich möchte, ich würde mich riesig freuen, wenn wir beide Heiligabend zusammen sein könnten.“ Ich war konsterniert. Was sollte ich denn dazu sagen? Heiligabend verbrachte ich auch zu Hause, aber es hatte nicht den Anstrich von etwas Sakrosanktem. Wenn ich in Skiurlaub gewesen wäre, hätte das nichts bedeutet. Na ja, wir hatten uns immer nur unterhalten. Nur ist ein falsches Wort, denn wenig war das keinesfalls, aber sonst, etwas gemeinsam zu unternehmen, auf die Idee waren wir noch nie gekommen. Da wäre 'Gemeinsam auf's Christkind warten' schon etwas Besonderes. „Und was machen wir dann? Spielst du den Weihnachtsmann?“ wollte ich scherzen. „Cheyenne!“ wurde ich ermahnt, „ich meine es ernst.“ „Entschuldigung, Julian, eine wundervolle Idee von dir. Ich wäre da nicht drauf gekommen. Aber Gedanken, was wir denn da machen wollen, sollten wir doch schon entwickeln, oder?“ erklärte ich. „Uns aneinander erfreuen und etwas dabei essen und trinken.“ schlug Julian vor. „Und was, was essen? Also ich gehe gern aus. Die kapriziösen Zubereitungen gefallen mir schon, aber zu Hause, da bin ich ganz schlicht. Überbackener Gemüseauflauf schmeckt mir zum Beispiel sehr gut.“ erklärte ich. „Ich würde mich sehr über eine Quiche freuen. Die bekomme ich so selten und die schmeckt mir ausgesprochen gut. Bekommen wir so etwas hin?“ erkundigte sich Julian. „Aber selbstverständlich. Was für eine möchtest du denn? Da gibt es ja verschiedene.“ bemerkte ich. „Am liebsten esse ich eine Quiche alsacienne“ erklärte Julian. „Zwiebeln, also Zwiebeln zu Weihnachten, ja famos, das gefällt mir. Ich kann noch ein ganz hervorragendes Süppchen. Eine Spargelkremsuppe nach eigenen Vorstellungen optimiert. Magst du so etwas?“ fragte ich. „Na klar, und als Nachtisch, was machen wir da?“ wollte Julian wissen. „Brauchen wir den? Die Quiche werden wir bestimmt nicht aufgegessen bekommen, aber wenn, dann nichts Pompöses. Ich esse am liebsten eine Mischung aus Quark und Schlagsahne mit Früchten.“ erklärte ich. So wollten wir's machen.


Heiligabend

Ganz ruhig war es draußen. Wahrscheinlich wartete man schon überall andäch­tig auf die Bescherung oder musste noch die letzten Verfeinerungen am Weih­nachtsbaum applizieren. Wir waren nicht religiös und dieser ganze weihnachtli­che Überschwang galt immer schon als sentimentaler Kitsch, aber sich völlig entziehen und so tun, als ob es Weihnachten gar nicht gäbe, konnte und wollte man auch nicht. Eine besondere Stimmung herrschte schon. So auch als Julian kam. Er hatte Wein mitgebracht, von dem er meinte, dass er besonders gut zu den Zwiebeln passe. Ich war schon mit der Suppe angefangen. Wundervoll, eine absolut neue Erfahrung. Daran hatte ich gar nicht gedacht und auch nicht denken können. Wir hatten schon mal gemeinsam in ein Buch geschaut, aber was bedeutete das schon gegenüber einem gemeinsamen Kocherlebnis. Eine außergewöhnliche Empfindung mit besonderer Nähe stellte das Kochen mit Ju­lian dar. Ob wir vielleicht demnächst immer bei unseren Treffen erst mal ge­meinsam kochen sollten? Gewiss würden viele Beziehungen länger halten, wenn die Partner öfter gemeinsam kochen würden. Du kannst nicht anders, als offen sein und aufeinander eingehen, dem anderen Raum geben für seine An­sichten. Du fühlst dich geborgen in dem gemeinsamen Vorhaben, vertraust einander, kannst dich fallen lassen, weil es ja nur ums Kochen geht. So banal und doch so wirkungsvoll. Selbstverständlich würden wir uns an den Esstisch setzen, hatte ich gedacht, aber nach unserer Kocherfahrung passte das gar nicht mehr. Bei einem Tisch konnte man die Glasplatte abheben. Wir legten sie über Unterlagen auf den Teppich und setzten uns auf Kissen. Auf alles, was uns einfiel, waren wir richtiggehend stolz. High waren wir wohl nicht direkt, aber mit der gesegneten Weihnachtsfreude hatte es auch nichts zu tun. Beim Essen bewunderten wir unsere Werke und lachten ständig. So eine leckere Spargelkremsuppe hatte es noch nie gegeben, und die Quiche musste von Zauberköchen zubereitet sein, so vorzüglich mundete sie unseren Ge­schmacksorganen. Zum Käse hatte ich einen schweren Rotwein geholt, denn da passte der feine Weiße wirklich nicht mehr. An einige Weihnachtsabende konnte ich mich noch erinnern, aber heute, das war wirklich ein Gipfelerlebnis. Alles, vom Kochen bis zum Essen hatte dazu beigetragen, vor allem aber unse­re lustigen Gespräche und Bemerkungen und das Lachen natürlich. Vergessen würde ich diesen Abend sowieso nicht, nur anders wollte ich Heiligabend in Zu­kunft auch nie mehr erleben. Nicht nur ich hatte mich absolut selbst erlebt, ich war mir sicher dass es für Julian kein bisschen anders war.


Wunder mit Julian

Welche Wunder konnten wir gestalten, wenn Julian dabei war. Gerade hatten wir einen Schluck Wein genommen. Ganz nah zu seinem Kopf kam ich mit mei­nem Mund. Ich sprach ihm fast ins Ohr, nicht spöttisch, aber ein wenig kitzelig, launig schon: „Julian, liege ich völlig falsch mit der Vermutung, wenn ich be­haupte, dass es Liebesgefühle sind, die du für mich empfindest?“ Die breites­ten Lippen zeigte Julians Mimik und Augen wie zwei kleine Sonnen. „Genau weiß ich es nicht, ich weiß ja gar nicht, wie sich Liebe anfühlt. Ich war doch noch nie richtig verliebt.“ antwortete er in gedämpfter Tonlage, aber auch nicht ganz ernst. „Aber, Julian, muss ich dir erklären, was du unter Liebe verstehst? Liebe ist, wenn eine intensive Zuneigung besteht, bei der du Lust auf eine ge­meinsame Zukunft hast und zusammen eine Gemeinschaftspraxis gründen willst. So hast du es gesagt.“ erklärte ich ihm. Wir lachten und umfingen uns. „Aber mit der Gemeinschaftspraxis, das müsste ich mir noch überlegen. Vielleicht hätte ich Angst, dass du das Gravitationsfeld der Massageliege berechnen würdest.“ scherzte Julian. „Das wäre durchaus denkbar, denn nur die Fakturierung wäre mir wahrscheinlich zu dürftig.“ meinte ich dazu. „Wie ist es denn für dich, Cheyenne?“ begann Julian in zwar freundlicher aber sonorer, ernster Stimmlage, „Du kannst ganz ehrlich sagen, was du empfindest. Dass du einen Mann liebst, werden deine Lippen wahrscheinlich gar nicht formulieren können und deine Gedanken siedeln Derartiges allenfalls im Transzendenten an.“ vermutete er. „Das brauchen meine Lippen nicht zu formulieren. Es gibt Millionen Männer und ich liebe nicht einen davon. Ich liebe den Menschen Julian, und einer von den Männern, die man so kennt, ist der nicht. Worin sollte also das Problem bestehen, zu sagen, dass ich tiefe Liebe für dich empfinde?“ fragte ich. „Cheyenne.“ sagte Julian nur in erstaunt, gedehnter Intonation und starrte mich mit großen Augen an. „Julian, du bist mein Liebster. Dass habe ich gerade gesagt. Wie sehr wir uns mögen und wie viel wir uns bedeuten, das haben wir gewiss längst erfahren, aber so ganz genau weiß ich ja auch nicht, wie das mit den Liebesgefühlen ist. Du kannst sie ja nicht vergleichen. Bei Inga hätte ich sicher kein Bedürfnis, sie anzufassen, zu berühren, sie zu streicheln. Bei dir könnte ich mir aber schon vorstellen, dass es unser Glück vermehren würde, wenn wir es täten.“ erklärte ich. Julian lachte. „Cheyenne, absolut genauso wie du empfinde ich es.“ sagte er und wir wollten uns umarmen. Im Grunde waren Umarmungen nichts Ungewöhnliches. Bei Abschied und Begrüßung machten wir es sowieso, aber auch sonst schon mal. Jetzt stockten wir, verharrten mit unseren Gesichtern direkt voreinander und starrten uns in die Augen. Was ich genau sah, ist mir gar nicht bewusst geworden, aber dass Julian mich jetzt küssen wollte, muss ich bestimmt erkannt haben, und er wird es bei mir gesehen haben. Zum ersten mal, es musste unseren wirklichen menschlichen Bedürfnissen entsprechen, denn es steigerte unser Glücksempfinden so deutlich, dass wir es noch zweimal wiederholen mussten. „Julian, mach das Licht aus.“ sagte ich, aber Julian lachte und wollte wissen, was los sei. „Ich will diese Frau nicht kennen. Ich kann ihren Anblick nicht ertragen.“ erklärte ich, „Weißt du, ich bin ja dabei, erlebe ja alles, finde es absolut wundervoll und bin glücklich. Aber du musst verstehen, dass ich das gar nicht sein kann. Wenn du mir bei unserem ersten Gespräch zu Heiligabend gesagt hättest, dass wir uns dann gegenseitig unsere Liebe erklären würden, Lust hätten uns zu küssen und zu streicheln, hätte ich mich totgelacht.“ Wir hatten uns auf den Teppich fallen lassen und betasteten vorsichtig unsere Gesichter „Da bist du dir selbst gegenüber auch nicht ehrlich gewesen. Ich weiß nicht, ab wann wir dazu hätten Liebe sagen müssen, nur unsere Gespräche waren sicher toll, aber das Entscheidende war doch, dass wir uns gegenseitig erlebten.“ meinte Julian. „Das habe ich schon so empfunden. Ich habe mich immer auf dich gefreut, aber ich durfte es doch nicht als Liebe verstehen.“ Die neue Kusserfahrung sorgte dafür, dass wir uns jetzt zwischendurch immer fleißig darin üben mussten. „Julian, das ist ein sehr wertvoller und guter Teppich,“ erklärte ich nach geraumer Zeit, „aber meine Knochen sind wohl nicht mehr so wertvoll und strapazierfähig wie in jungen Jahren. Sollen wir uns nicht eine bequemere Unterlage suchen?“ Wir legten uns aufs Bett, um weiter unser Glück bewundern zu können und Zärtlichkeiten auszutauschen. Im Wohnraum hatten wir alles stehen lassen. Was weiter geschehen sollte, wussten wir nicht, und es interessierte uns nicht. Wir hatten schon öfter bei mir auf dem Bett gesessen und uns unterhalten, allerdings nicht eng aneinanderliegend Zärtlichkeiten und Küsse ausgetauscht.


Erotische Gefühle

Ob ich Angst hatte, weiß ich nicht. Ein Mann war Julian ja schließlich doch. Zur Feier des Tages hatte ich extra mein kleines Schwarzes angezogen. Ob ich gleich spüren würde, wie sich mir Julians Hand unter den Rock schob. Nein, nein, das konnte nicht sein. Wenn er weitergehende erotische Bedürfnisse ver­spürte, würde Julian mit mir darüber reden. Da war ich mir absolut sicher. Aber Julian redete nicht. Nur zärtliche Liebesworte tauschten wir aus. Ich spür­te nicht seine Hand unter meinem Rock und Julian versuchte auch nicht mir das Kleid zu öffnen. „Mein Liebster, dass ich trotz allem auch eine Frau bin, das merkst du gar nicht?“ wollte ich seine Stimmungslage eruieren. „Aber natür­lich, Cheyenne, die wundervollste Frau dieser Welt bis du für mich und das nicht erst seit heute.“ antwortete Julian. „Aber Natascha, deine Kollegin, war eine andere Frau als ich?“ forschte ich weiter. „Bitte, Cheyenne, sprich nicht davon. Du tust mir weh. Mit Natascha hat das nichts zu tun, aber du bist für mich keine gewöhnliche Frau, ja irgendwie doch auch, aber wir haben uns ja nie als Mann und Frau verstanden, das hat nie eine Rolle gespielt. Du bist für mich absolut das Teuerste, aber ich sehe in dir keine Göttin, keine Madonna, du bist ganz normal, na ja, meine Königin vielleicht doch.“ erklärte Julian. „Ju­lian, ich meine, dich sonst eigentlich gut zu verstehen, aber was du jetzt sagen willst, ist mir völlig rätselhaft.“ formulierte ich meinen Eindruck. „Ich liebe dich, Cheyenne, wie sonst nichts auf der Welt, und dass du es von dir auch sagst, bedeutet für mich das größte Glück, das es geben kann. Nur wenn eine Frau und ein Mann sich lieben, spüren sie ja auch körperliches Verlangen. Für mich ist es aber so, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass wir beide Sex mit­einander hätten. Kannst du so etwas begreifen?“ stellte Julian es dar. Lachen durfte ich jetzt auf keinen Fall, obwohl es mich ja kolossal freute. „Nicht mich wirst du als Heilige sehen, wohl aber unsere Beziehung. Sie wird dir als dem Irdischen entrückt erscheinen, schwebt über dem schmutzig, banalen, ge­wöhnlichen Alltag, zu dem auch das irdische Verlangen nach Befriedigung se­xueller Gelüste gehört. Damit hat unsere Beziehung nichts zu tun. Sie schwebt eher auf einer Wolke, auf der wir uns vielleicht auch gar nicht als fleischliche, irdische Wesen erleben, sondern nur den Engel im anderen sehen. Irgendwann regnet die Wolke aus, wir stürzen ab und landen direkt im Eroscenter.“ wusste ich dazu. Julian grinste müßig. „Du machst dich lustig, Cheyenne, aber für mich stellt es ein massives Problem dar. Biologisch ist es doch eigentlich nicht möglich. Wir sind doch so programmiert, dass eine Frau und ein Mann eroti­sches Interesse aneinander haben. Das kann sich doch nicht verstecken. Es muss gegenwärtig sein, nur wir sehen es nicht, es wird zu uns sprechen, aber wir verstehen es nicht.“ sagte Julian. „Unsere erotischen Gefühle werden zu dem gehören, was die endlichen Dinge überschreitet. Im Transzendenten wer­den sie angesiedelt sein.“ konnte ich bemerken und mir das Lachen dabei ver­kneifen. „Ich will ja gar nicht scharf auf Sex sein, nur so wird es doch nicht funktionieren und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie ich da jemals rauskommen soll.“ meinte Julian. „Julian, ich wollte mich nicht über dich lustig machen. Aber du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen. Bestimmt stellt unsere Liebe, die ja fast undenkbar war, für uns beide etwas Exzellentes, etwas Edles dar. Mich drängt es auch nicht danach, dass wir beide Sex miteinander haben, keine Spur eines Bedürfnisses. Wir können unsere Liebe in Glücklichkeit leben, und wenn doch mal erotische Anwandlungen auftauchen sollten, werden wir es ja spüren. Wo willst du da ein Problem sehen?“ erklärte ich. Dafür bekam ich eine extra dicke, feste Umarmung mit Küssen und wonnestrahlendem Freudegesicht. Damit war das Thema Liebe und ihre Probleme mit dem sexuellen Verlangen glücklich abgehandelt. Wir konnten uns wieder dem exzeptionellen Abend und unserem denkwürdigen Ereignis zuwenden.


Nicht mehr allein

„Ich würde doch gern die Sachen wegräumen. Dass die Reste verderben ist ja zu schade.“ bemerkte ich. „Julian, sag mal, wenn wir beide sowieso nichts von­einander wollen, brauchtest du doch gar nicht im Gästezimmer zu schlafen. So ein dummer Abschied zur Nacht, wie passte der denn zu unserem heutigen Abend? Wir könnten weiter miteinander reden und zärtlich sein, bis wir schließ­lich einschlummerten. Fänd'st du das nicht gut.“ schlug ich vor. Eine weitere, zusätzliche Ungeheuerlichkeit. Nein, Fremde waren wir ja heute Nachmittag nicht, aber dass wir heute Abend zusammen im Bett liegen würden, wäre doch absolut undenkbar gewesen. Julians Mimik brachte überraschte Nachdenklich­keit zum Ausdruck, aber ablehnen konnte er das doch nicht. Eine neue, alles überbietende Erfahrung. Wann hatte ich mal mit jemandem gemeinsam im Bett gelegen? Als Kind bestimmt, aber als Erwachsene? Das müsste ich Inga erzählen, dass ich die Nacht von Heiligabend auf Weihnachten gemeinsam mit Julian im Bett verbracht hätte. Nicht nur Liebe und gegenseitiges Streicheln und Küssen fördern das Glücksempfinden, sonder ganz besonders die Erfah­rung, im Bett nicht allein, sondern mit der Liebsten oder dem Liebsten zusam­men zu sein. Unfassbar war das alles für mich. Als ich mich zum Schlafen leg­te, erschien es mir, als ob ich den Abend in einer Art Trance erlebt hätte. Oder war es vielleicht alles gar nicht wirklich geschehen, ich hätte es nur geträumt? Aber träumen kannst du nur, was schon in deinem Kopf ist, umwerfend Neues, von dem du bislang nichts weißt, kann dich nur die Wirklichkeit erleben lassen. Jetzt musste ich alte, nüchterne feministische Hexe allen erklären, dass ich mich verliebt hätte und zwar in einen Menschen, den man gemeinhin als Mann bezeichnete. Probleme würde ich damit nicht haben, wem auch immer ich was erzählen müsste. Ich brauchte nicht mehr an Positives zu denken. Wenn auch unsere Beziehung vielleicht nicht auf einer Wolke schwebte, sondern etwas völ­lig irdisch Reales war, so kam ich mir doch selbst immer leicht abgehoben vor, und Julian schien sich auch emotional ständig in einem der höheren Himmel zu bewegen. Wir hatten unser eigenes Wunder der Weihnachtsnacht erlebt. Wenn wir auch schon lange unbewusst damit schwanger gegangen waren, aber die Geburt unserer Liebe in Worten und Liebkosungen war am Heiligabend erfolgt. Dass wir gemeinsam ins Bett gehen konnten, brachte uns besonders in der Zu­kunft viele glückliche Erfahrungen. Julian verbrachte häufig die Wochenenden bei uns. Für mich gab es oft noch Arbeit für die Uni, aber das spielte keine Rol­le. Julian machte dann irgendwelche Besorgungen, hatte sich selbst etwas mit­gebracht oder stöberte in meiner Bibliothek. Als er zum ersten mal meine Bü­cher sah, war er ganz erstaunt, meinte wohl, ich hätte nur Rechenbücher. „Mein Lieber, auch für einen Arzt und nicht nur für eine Mathematikerin kann es ratsam sein, unsere Kultur tiefer zu verstehen als aus Anatomie-Atlanten.“ hatte ich gemahnt, und Julian meinte, dass die kulturelle Bildung bei vielen Mediziner sich sehr an der Oberfläche bewege. Wir hatten mittlerweile wohl alle Quiche Sorten ausprobiert und diverseste Gemüseaufläufe kreiert, denn gemeinsam zu kochen und zu essen bildete immer einen kleinen Höhepunkt.


Praxiteles Wandlungen

Gemeinsam Sex haben zu müssen, zu wollen oder zu sollen, daran dachte ich schon gar nicht mehr, obwohl ich mir nicht sicher war, dass meine nicht subli­mierten libidinösen Rudimente, nicht langsam wieder zu keimen begännen. Ich hatte schon mal so ungewöhnliche Vorstellungen. Es war Spätsommer, ich hat­te gerade geduscht und Julian kam ins Bad. „Cheyenne, ich finde dich wunder­schön. Aber das habe ich dir ja schon tausendmal gesagt. Für mich bist du die schönste Frau der Welt. Wenn ich Bildhauer wäre, würde ich von dir eine Sta­tue erschaffen. Ich würde vor den Bundestag zitiert, weil ich verbotener weise eine Göttin erschaffe. Man wollte dich sehen und alle von Angela Merkel bis Wolfgang Schäuble wären einhellig der Meinung, das du tatsächlich schön wie eine Göttin seist, und ich dürfte weiterarbeiten.“ erzählte Julian lachend. „Komm, mein Praxiteles, willst du deine Phryne nicht mal in den Arm nehmen?“ forderte ich Julian lachend auf. Nackt gesehen hatten wir uns schon oft, aber dabei noch nie umarmt oder angefasst. „Der Phryne gefällt es, deine Hand auf ihrem Rücken zu spüren. Kannst du mal ein bisschen streicheln?“ bat ich. „Julian, du musst es offen sagen, wenn es dir unangenehm sein sollte, aber ich fände es toll, wenn du das überall am Rücken machen könntest, möchtest du?“ erkundigte ich mich. Julian hatte noch nicht seinen Pyjama an. In Hemd und Hose kniete er sich neben mich auf's Bett und ließ vorsichtig eine Hand über meinen Rücken gleiten. „Ein bisschen Öl wäre nicht schlecht, und es duftet auch angenehm.“ bemerkte ich und beschrieb Julian, wo er das Massa­geöl finden konnte. Was für ein Gefühl? Das sollte Julian jetzt jeden Abend ma­chen, oder er sollte erst gar nicht wieder aufhören. Entspanntes Wohlempfin­den empfand ich schon, aber ich spürte auch, wie es begann, mich zu erregen. Und jetzt? Kurzes Erstaunen und Nachdenken. Ich sammelte mich, wurde ganz verhalten und still. Vorher hatte ich heftiger geatmet. Ich richtete mich auf, umfing Julian und zog ihn mit aufs Bett. „Julian, das hast du ganz wundervoll gemacht. Ein herrliches Gefühl, deine Hände auf meinem Rücken, meinem Po und an meinen Beinen zu spüren. Ich bin total begeistert. Und du, empfindest du auch so? Quatsch, was rede ich? Das geht ja gar nicht. Aber wie ist es denn für dich?“ wollte ich wissen? „Ich weiß nicht?“ stammelte Julian nur. „Nein, das geht nicht, das musst du schon wissen, und ich will es auch erfahren.“ befahl ich. Julian schaute mich genau an aber mit freundlichen Augen. „Du möchtest gerne, dass wir Sex miteinander hätten, nicht wahr?“ vermutete er. Woher wollte er so etwas denn wissen? „Du, Julian, was empfindest du denn, das wollte ich gerne hören.“ stellte ich nochmal klar, aber Julian antwortete nicht, sondern vergrub sein Gesicht in den Haaren an meinem Hals. Seine Mimik zeigte ein Lachen, als er wieder auftauchte, aber an seinen Augen erkannte ich, dass sie feucht gewesen waren. „Was meinst du, ob Praxiteles und Phryne sich auch körperlich geliebt haben, und er erst so das an sich Schöne in ihr entdecken konnte, das ihm die Möglichkeit gab, die Aphrodite von Knidos nach ihr zu gestalten?“ vermutete Julian. „Man weiß es nicht, er hat es ja nicht erzählt, aber der Eros soll ein großer Daimon, ein großer Philosoph, ein gewaltiger Zauberer, Giftmischer und Sophist sein, wusste Diotima in Platons Gastmahl.“meinte ich. „Mir würde es ebenso gelingen, eine Statue der Aphrodite nach dir zu gestalten. Mir ist es auch zuteil geworden, das an sich Schöne lauter, rein und unvermischt zu erblicken, ich konnte das göttlich Schöne in seiner einzigartigen Gestalt erblicken! Ob Eros mir auch einen Trunk gemischt hat, während ich dich streichelte?“ wollte Julian wissen. „Du bist es, der möchte, dass wir uns körperlich lieben?“ fragte ich ungläubig. „Bei mir ist alles völlig konfus. Ich weiß überhaupt nicht, was ich im Moment wirklich will, aber es kommt mir vor, als ob das Streicheln bei mir alles verändert hätte. Warum haben wir so etwas nicht schon viel früher gemacht. Wir wussten klar: „Wir wollen es nicht.“ und haben der Möglichkeit für die Lust, einzutreten, die Tür zugehalten.“ bejammerte Julian. „War die Tür nicht bislang auch verschlossen? Und von uns beiden hatte doch niemand den Schlüssel, sie zu öffnen.“ lautete meine Ansicht. „Vielleicht hast du Recht, aber wir haben unsere Ansicht auch, was wir sonst nie tun, wie einen feststehenden Fakt konserviert.“ bemängelte Julian. „Du meinst, wir hätten sie prozessual gestalten sollen. Du hast Recht.“, sagte ich lachend, „Sie ist ja Teil unserer Liebe, die wir unbedingt als Prozess betrachten. Aber das war doch gestern. Interessiert uns denn, was gestern war? In Zukunft werden wir auch die Pflege unserer erotischen Gefühle prozessual und kreativ gestalten, da bin ich mir sicher, oder siehst du das anders?“ wollte ich mich versichern. Wir schliefen an diesem Abend noch nicht direkt miteinander, aber wir schliefen zum ersten mal nackt zusammen im Bett und ich konnte Julians Haut befühlen und streicheln, wozu ich früher schon mal Lust gehabt hätte, es aber als irrsinnig verworfen hatte. Julian hatte vor Freude geweint, als er spürte, dass beim Streicheln meines Rückens erotisches Begehren in ihm erwacht war, sollte ich auch vor Freude weinen, weil ich mir zum ersten mal vorgestellt hatte, dass es mir gefallen könnte? Wohl eher nicht. Ich war vielmehr maßlos erstaunt über mich selbst, aber ich empfand auch Zufriedenheit, weil ich mir eine auch sexuell harmonische Zukunft vorstellen konnte.


Sklavin des Patriarchats

„Meine Liebe, jetzt hast selbst du dich als Sklavin dem Patriarchat zur Verfü­gung gestellt.“ klagte Inga. „Niemandem stelle ich mich als Sklavin zur Verfü­gung und erst recht nicht dem Patriarchat. Du weißt, dass ich es für ein Unwort halte. Nur wie es sich entwickelte, hat mich doch selbst gequält, Inga, aber ich kann und kann nichts entdecken.“ meinte ich zu Julians Mann sein. „Zu Anfang merkst du es nicht, da bist du blind dafür, willst nur das Schöne sehen, was dich glücklich macht. Später wird es dir auffallen.“ meinte Inga. „Inga, was redest du? Zu Anfang! Wann soll der Anfang denn sein? Ist er jetzt, war er letztes Jahr Weihnachten? Der Anfang war damals im Café. Spä­ter, das ist es schon ganz, ganz lange, nur ich habe später nichts gemerkt.“ er­klärte ich dazu. „Ich weiß es ja nicht, vielleicht hast du auch nur einfache kli­scheehafte Vorstellungen. Über viel Erfahrung mit Männern verfügst du ja nicht.“ Inga dazu. „Ich mag ja naiv sein, aber dass Julian kein Mann wie alle anderen ist, das steht für mich absolut fest.“ war ich überzeugt. „Natürlich, Ju­lian ist genauso anders, wie jeder Mensch anders ist, sonst würdest du ja nichts Besonderes an ihm finden, aber ein Mann kann in unserer Gesellschaft nicht anders als Mann zu sein. Dadurch, dass du ihn einen Mann nennst, machst du ihn zum Mann, zu einem von denen, der das ist, was unsere Gesell­schaft unter Mann versteht.“ erklärte Inga. „Ich habe ihn ja gar nicht Mann ge­nannt.“ scherzte ich, „Aber im Ernst, wenn du den Mann oder die Frau gibst, dann sind das doch immer Rollenbilder, die du da abspielst, verhältst dich, wie du meinst, dass ein Mann wie du es so tun müsste. Das hat es bei uns im Grunde von Anfang an nie gegeben. Wir waren gar nicht Mann und Frau, nicht Arzt und Mathematikprofessorin, wir waren immer nur ausschließlich wir selbst.Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte sich alles niemals so entwickeln können.“ erläuterte ich. „Ob das überhaupt geht? Ob du dich frei von jedweden Rollenerwartungen machen kannst, ob du nicht grundsätzlich immer irgendwel­che Rollenvorstellungen und -erwartungen konkretisierst?“ bezweifelte Inga. „Ich würde dir zustimmen, immer, überall, wo du auch bist, gibst du eine Vor­stellung, wie du meinst, dass du dich in der Uni verhalten müsstest, spielst die Frau, für die du dich beim Einkaufen hältst. Du kannst nicht einfach sagen, jetzt lege ich es mal ab und bin nur noch ich selbst. Du machst es automatisch. Warum es sich bei uns anders entwickelt hat, das kann ich gar nicht ganz ge­nau sagen. Wahrscheinlich beruht es auf Wechselwirkung. Wenn Julian direkt, offen und ehrlich spricht und fragt, dann ist es dir unmöglich, die große Zaube­rin zu markieren. Ja, so ähnlich wie es sonst nur bei Kindern vorkommt, so sind wir miteinander umgegangen.“ erläuterte ich. „Wie sehr es mich auch freuen würde, wenn du dein Leben lang so glücklich bliebest wie jetzt, brauche ich nicht zu sagen, aber du solltest auch nie vergessen, dass ihr nicht zwei Löf­fel von dem gleichen Pudding seid. Ihr wart, seid und bleibt immer zwei eigen­ständige andere Wesen mit einer jeweils anderen Geschichte, anderen Gedan­ken und anderen Empfindungen, die du nicht verstehen und nicht nachempfin­den kannst. Daraus können sich Veränderungen ergeben, die du nicht erwartet hattest und nicht kennen konntest. Ich denke, jede Liebe, auch eure, sollte nicht ausschließen, dass es eines Tages 'aquis submersus' heißen könnte.“ warnte Inga. „Storm, die Novelle von Storm meinst du, 'Im Wasser ertrunken', nicht wahr. Dazu gibt es bei uns nicht die geringsten Bezüge. Nur was du ge­sagt hast, Inga, ist im Grunde doch nicht mehr als ein Gemeinplatz. 'Panta rhei', alles fließt, alles verändert sich, nichts anderes hast du gesagt. Natürlich gilt das allgemein auch für die Liebe, aber ob die Beziehung zwischen Julian und mir dauerhafter sein wird oder nicht, dazu sagt es nichts. 'Das Ewige regt sich fort in allen. Denn alles muss in Nichts zerfallen, wenn es im Sein behar­ren will.' so hat Goethe es formuliert. Für die Liebe gilt das erst Recht, aber das sehen viele eben nicht. Sie meinen ihr Glück konservieren zu können. Für uns stellt es eine Fortführung und Weiterentwicklung des Austauschprozesses dar, der vor langer Zeit begonnen hat und den wir lange nicht als Liebe benen­nen wollten. Einerseits hat unsere Liebe durch die vielen Gespräche eine hohe Komplexität erreicht, andererseits verfügt sie über vielfältige, liebevolle ge­meinsame Erfahrungen. Wir haben zwar zusammen kein Haus gebaut, aber was war den jedes unserer Treffen anders als ein Akt der gegenseitigen Zunei­gungsbezeugung. Mit oberflächlicher, emotionaler Liebesschwärmerei hat un­sere Beziehung doch nun wirklich nichts zu tun. Wenn sie nicht auf so einer profunden Basis gründete, wäre das Wort Liebe niemals über meine Lippen ge­kommen. Deshalb, Inga, sehe ich hoffnungsvoll einer dauerhaften Zukunft ent­gegen.“ begründete ich meine Zuversicht.

 

Die großen Wunder

Bella hatte immer schon in den Ferien vor Schuljahresbeginn das neue Lese­buch durchforscht auf der Suche nach heißen Geschichten und wundervollen Gedichten. Das brauchte ich nicht mehr. Bella würde es mir nicht verheimli­chen. Ich hatte immer schon zu Beginn des Schuljahres das neue Mathebuch durchgearbeitet, aber davon wollte Bella nichts hören. Obwohl es schon Inter­essantes gab, vor allem, wenn du es selbst entdecktest, aber die großen Wun­der der Rechenkünstler offenbarten sich mir nie. Im Grunde war doch alles schlicht, normal und natürlich. Das eine ergab sich aus dem anderen. Genauso lief es später nicht weiter, die Komplexität und Differenziertheit erweiterte sich schon in erheblichem Umfang und machte meinen Beruf auch dadurch span­nend, aber Wunder? Wunder bedeuteten früher für mich Grimms Märchen mit Heiligen, die man deshalb glauben musste. So etwas kam in der Mathematik nicht vor. Und jetzt? War das nicht noch viel irrealer als das Märchen vom Fi­scher und seiner Frau? Wenn mich die gute Fee nach meinen Wünschen ge­fragt hätte, wäre mir nichts eingefallen als dass ich reich und schön und eine tolle Künstlerin sein wollte. Bestimmt ahnte es die Fee und hat mich besser nicht gefragt. Ihre Wunder konnte kein noch so diabolischer Mathematikzaube­rer errechnen. Waren die wirklichen Wunder also doch nicht, wie mich mein Großvater hatte vermuten lassen, in den Rechenkünsten sondern in der Kunst der Liebe zu finden? Mir kamen meine Veränderungen immer noch so unglaub­lich vor, dass ich öfter daran zweifelte, ob sich das alles tatsächlich in der Wirklichkeit abspielte. Oder geschah es schon gar nicht mehr auf dieser Welt, und ich befand mich längst bei Maheo, dem großen Gott der Cheyenne, im Himmel?

 

 

FIN

 

"The power of a smile is such
that even drawing a happy face
on a piece of paper makes your lips turn up."

Unknown Saying

 

 

Ausgefranst war mein Mund und mein Kopf musste leer sein. Mit nur kurzen Unterbrechungen hatte ich den ganzen Tag gequasselt. Diese Donnerstage waren Hundstage. Und dann auch noch die Sprechstunde zwischendurch. Jammernde junge Männer erlebte ich häufig, trotzdem freute es mich nicht. Was tat ich mir nur für Qualen an? Reich und schön musst du sein und etwas Besonderes bringen, dann kannst du glücklich werden. Die meisten Menschen sind jedoch weder schön noch reich und können auch nix. Mir ging es nicht anders. So sah ich mich jedenfalls. Nur mich als unglücklich zu empfinden, wollte mir selbst an Tagen, an denen die Sonne Ausgehverbot hatte, weil graue Wolkenteppiche ihr den Zugang zu uns versperrten, nicht gelingen. Ob ich noch erwartete, die großen Wunder dieser Welt zu entdecken, weiß ich nicht, aber die Hoffnung darauf war so früh in meiner Kindheit implementiert worden, dass sie sich wohl beim Gehirnwachstum mit angelegt hatte. Ob Charlotte, die feministische Professorin für Mathematik noch die Wunder dieser Welt entdecke, und was sie dabei alles zu bewältigen hatte, weiß die Geschichte.

 

 

La Cheyenne – Seite 27 von 27

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.08.2014

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