Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Die braune Frau
Selbstbestimmtes Leben

 

Erzählung

 

"Un sourire peut faire naître une amitié; Un mot peut mettre fin à une chicane; Un regard peut faire naître l’amour; Une personne peut changer une vie."

Proverbe français

 

Ich meinte schon, dass Baabaa, der Hund, mich möchte. Alles Unfug. In den Verhaltenskategorien seiner Rudelwelt würde er die Wahrnehmung meiner Person einordnen. Heute konnte ich das so nüchtern sehen, früher hätte es mir entsetzlich weh getan. Auch wenn ich den Hund immer für meinen treuesten Freund gehalten hatte, dass er ein anderer und niemals wie ich war, stand immer fest. Ob mir das bei Louis auch so klar war, weiß ich nicht genau. Er hatte auch genervt, und ich war froh, als er ging. Wenn ich mit Baabaa hätte reden können, wie gut hätten wir uns verstanden, wie sehr hätten wir einander in all unserer Unterschiedlichkeit respektiert. Mit Louis konnte ich ja reden und hatte es auch immer getan. Nur was ich verstand, war im Laufe der Zeit immer weniger geworden, und mein Interesse, ihn verstehen zu wollen, hatte zunehmend abgenommen. Dass er für mich jemand anders war, sah ich schon, und das zunehmend immer mehr. Nur es weckte kein verstärktes Interesse, sondern förderte das Empfinden von Fremdheit. Zwanzig Jahre waren wir zusammen gewesen. Meinen Bedürfnissen nach Vertrauen, Freundschaft, Sicherheit und Liebe hatte Louis denen nicht entsprochen? Doch schon. Da war ich mir sicher. Aber war es bei Louis anders als bei Baabaa? Waren es nicht auch meine Vorstellungen, meine Bilder von Liebe und Zuneigung, in die ich verliebt war? Aber wir konnten ja miteinander sprechen, uns gegenseitig verstehen, konnten sagen, was wir dachten und empfanden. Zum Abfassen von Kaufverträgen, Dienstanweisungen und auch wissenschaftlichen Untersuchungen reicht die Sprache völlig aus, aber wenn sich Menschen gegenseitig verstehen wollen, bin ich mir da nicht mehr sicher. Wenn du von Liebe, Zuneigung oder Vertrauen sprichst, ist das verbindende Gleiche minimal und ziemlich unbedeutend gegenüber dem großen Berg an Vorstellungen und Bildern, die nur mit deiner Person und deinem Erlebebens- und Erfahrenshintergrund verbunden sind. In vielfältigem, liebevollem, gemeinsamem Handeln kann es sich vielleicht zeigen, dass eurem Verständnis von Liebe sehr viel Gleiches anhaftet, aber allein das emphatische Schwärmen für die eigenen Vorstellungen vom anderen, zeugt nicht von tiefgreifender Liebe, die auf gegenseitigem Verständnis beruht. Doch was ich an Louis zu Beginn so sehr gemocht hatte, war immer mehr in der Routine des Alltags verblichen, und das Zentrale, was den Kern deiner Zuneigung bildet, das du aber nicht formulieren kannst, existierte einfach nicht mehr. Louis gehörte eben dazu.

 

Die braune Frau - Inhalt

Die braune Frau 3

Baabaa 3

Balkonmann 4

Verstehen nicht möglich 8

Emotional nicht unangenehm 8

Mahlers fünfte Sinfonie 10

Keine Freunde 13

Kern des menschlichen Wesens 14

Verschwinde Elias 16

L'amour avec un baiser 17

Körperkontakte 18

„Elias, geh nicht weg.“ 20

Große Freiheit und Liebe 22

 

 

Die braune Frau - Baabaa

Baabaa nervte. Er war schon Baabaa der IV. Nie hätte ich das zu denken ge­wagt und so ganz richtig heute auch nicht. Im Ausland hielten sich meine Ge­danken in letzter Zeit häufig auf. Bislang hatte ich für sie wohl eine kleine Hei­mat gehabt, jetzt wunderte ich mich oft, dass ich noch nicht früher darauf ge­kommen war. Baabaa gehörte schon zu mir in meinen frühesten Kindertagen, an die ich mich selbst gar nicht erinnern kann. Bekannte hatten meine Eltern gefragt, ob wir einen kleinen Hund haben wollten, einen jungen schwarzen Hund mit gelben Füßen. Meine Eltern wollten es mal versuchen. Mutter hatte mir immer den englischen Nursery Rhyme 'Baa, baa, black sheep' in abgewan­delter Form vorgesungen, wozu ich bei dem 'naughty girl' immer gekitzelt wur­de. Natürlich hatte sie es mir erklärt, und weil der Hund ja auch so schwarz war, musste er Baabaa wie das schwarze Schaf heißen.

 

„Baa, baa, black sheep,
Have you any wool?
Yes, sir, yes, sir,
Two bags full;
One for the master,
And one for the dame,
But none for the naughty girl
Who lives in our lane.“

 

Ich wuchs mit Baabaa auf und er mit mir. Baabaa war mein Freund, mein Bru­der, mein Liebster. Er war etwas in meinem Herzen, was andere Mädchen dort nicht hatten. Als Kind hat mir Baabaa außerordentlich viel bedeutet. Das bleibt auch im Nachhinein so, aber bei Baabaa II hätte man sich schon fragen müs­sen. Baabaa IV war auch außerordentlich lieb und absolut folgsam, nur was hatte meine Persönlichkeit mit diesem Hund zu tun? Ich beschäftigte mich mit dem Bild, das ich von diesem Hund hatte, und das war hirnverbrannt. Meine Vorstellungen von Freundschaft, Treue, Verbundenheit, wie man sie unter Menschen kennt, nur der Hund kannte nichts davon. Man konnte schlussfol­gern, wann er sich wie verhalten würde, aber warum er was tat, wie es in sei­nen Genen festgelegt war, das würde nie ein Mensch je verstehen oder sogar nachempfinden können, genauso wenig wie er das Weizenkorn versteht, das einen riesig langen Halm mit einer vollen Ähre bildet. Baabaa, das war also im­mer nur ich und meine Bedürfnisse gewesen, und dabei musste es sich um sehr tief in mir verankerte handeln. Bedürfnisse wonach denn? Vertrauen, Freundschaft, Sicherheit, Freude, Zuneigung? Ich liebte Baabaa schon, aber dass er mir keine Liebeslieder singen würde, war immer klar, nur ich meinte schon, dass er mich möchte. Alles Unfug. In den Verhaltenskategorien seiner Rudelwelt würde er die Wahrnehmung meiner Person einordnen. Heute konnte ich das so nüchtern sehen, früher hätte es mir entsetzlich weh getan. Auch wenn ich den Hund immer für meinen treuesten Freund gehalten hatte, dass er ein anderer und niemals wie ich war, stand immer fest. Ob mir das bei Louis auch so klar war, weiß ich nicht genau. Er hatte auch genervt, und ich war froh, als er ging. Wenn ich mit Baabaa hätte reden können, wie gut hätten wir uns verstanden, wie sehr hätten wir einander in all unserer Unterschiedlichkeit respektiert. Mit Louis konnte ich ja reden und hatte es auch immer getan. Nur was ich verstand, war im Laufe der Zeit immer weniger geworden, und mein Interesse, ihn verstehen zu wollen, hatte zunehmend abgenommen. Dass er für mich jemand anders war, sah ich schon, und das zunehmend immer mehr. Nur es weckte kein verstärktes Interesse, sondern förderte das Empfinden von Fremdheit. Zwanzig Jahre waren wir zusammen gewesen. Meinen Bedürfnissen nach Vertrauen, Freundschaft, Sicherheit und Liebe hatte Louis denen nicht entsprochen? Doch schon. Da war ich mir sicher. Aber war es bei Louis anders als bei Baabaa? Waren es nicht auch meine Vorstellungen, meine Bilder von Liebe und Zuneigung, in die ich verliebt war? Aber wir konnten ja miteinander sprechen, uns gegenseitig verstehen, konnten sagen, was wir dachten und empfanden. Zum Abfassen von Kaufverträgen, Dienstanweisungen und auch wissenschaftlichen Untersuchungen reicht die Sprache völlig aus, aber wenn sich Menschen gegenseitig verstehen wollen, bin ich mir da nicht mehr sicher. Selbst bei so simplen Wörtern wie 'Tisch'. Eine Platte mit vier Beinen, das war das Gemeinsame, worin wir uns verstanden, aber in der Komplexität meiner Assoziationen zu dem Wort Tisch hatten sie in der Regel braune Beine aus Holz, während Louis mehr an Küchentische dachte. Bei jedem Wort war das so, aber es störte nicht. Wenn du jedoch von Liebe, Zuneigung oder Vertrauen sprichst, ist das verbindende Gleiche minimal und ziemlich unbedeutend gegenüber dem großen Berg an Vorstellungen und Bildern, die nur mit deiner Person und deinem Erlebebens- und Erfahrenshintergrund verbunden sind. In vielfältigem, liebevollem, gemeinsamem Handeln kann es sich vielleicht zeigen, dass eurem Verständnis von Liebe sehr viel Gleiches anhaftet, aber allein das emphatische Schwärmen für die eigenen Vorstellungen vom anderen, zeugt nicht von tiefgreifender Liebe, die auf gegenseitigem Verständnis beruht. Doch was ich an Louis zu Beginn so sehr gemocht hatte, war immer mehr in der Routine des Alltags verblichen, und das Zentrale, was den Kern deiner Zuneigung bildet, das du aber nicht formulieren kannst, existierte einfach nicht mehr. Louis gehörte eben dazu, in gleichem Maße, wie ich Teil seiner Alltagswelt war. Besondere Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zuneigung, das bekam ich schon bald nicht mehr zu spüren. Selbst Schuld bin ich. Warum habe ich mich nicht darum gekümmert? Aber ich habe es einfach so hingenommen, es war mir egal. Emotional nahmen mich unser Sohn, Baabaa und mein Beruf ein, wozu da noch nach Liebe in der Ehe fragen. Aus dem ehemals gefühlvoll verliebten Paar war eine Organisation zur bestmöglichen Bewältigung des Alltags geworden.

 

Balkonmann

Der Müll war abgeholt worden wie jeden Freitag. Vor dem übernächsten Haus holte auch jemand die Mülltonnen wieder rein. Er sagte etwas, aber ich ver­stand ihn nicht. Er kam zu mir, lachte und erklärte: „Da ist ja die braune Frau.“ habe ich nur gesagt.“ „Die braune Frau? Ich bitte sie, wie kommen sie denn auf so etwas. Das müssen sie aber nicht sagen. Das ist beleidigend für mich.“ antwortete ich ihm. Er stutzte kurz. „Um Himmels Willen, nein, so habe ich das doch keinesfalls gemeint. Wie sollte ich denn darauf kommen? Überhaupt nichts weiß ich von ihnen, außer dass sie braunes Haar haben.“ entschuldigte sich der Mann, der offensichtlich sofort verstanden hatte, warum ich nicht die braune Frau sein wollte. „Ich sehe schon mal vom Balkon aus, wie sie im Garten mit dem Hund spielen. Andere Nachbaren sehe ich ja auch schon mal, aber sie fallen mir immer auf.“ erklärte der Mann. „Sie mögen Frauen mit braunen Haaren.“ mutmaßte ich. Der Mann lachte schallend auf. „Nein, nein, ich schaue mir keine Magazine mit schönen Frauen an und suche welche mit braunen Haaren. Ich verstehe mich ja selbst nicht. Ich kenne überhaupt nichts von ihnen, habe sie noch nicht einmal sprechen gehört. Sie könnten ja eine zickige, keifende Hexe sein, nichts weiß ich, und trotzdem drängt es mich, ihnen zuzuschauen. Erklären sie es mir, warum das so ist. Ich wüsste es zu gern.“ sagte der Mann. Ich wollte etwas dazu sagen, aber hier auf dem Bürgersteig bei den Mülltonnen? Mein Vorschlag lautete: „Kommen sie doch mit rein, dann können wir bei einem Kaffee weitere Untersuchungen zu der braunen Frau anstellen, nur ich muss noch ganz kurz etwas einkaufen. Kann ich sie anrufen, wenn ich zurück bin?“ Was für ein Unsinn. Diesen unbekannten Balkonmann zum Kaffee einzuladen. Ich verspürte Lust dazu, als ob es mich kitzelte. Waren das schon Auswirkungen meines Alleinseins? Fand es toll, wenn ich mal jemanden hatte, mit dem ich reden konnte? Das große Wunder meiner Freiheit preisend hatte ich Ellen mein jetziges Leben dargestellt, und sie hatte alles in den Orkus der Wert- und Bedeutungslosigkeit gerissen. Zum asozialen Menschen würde ich mich entwickeln, hatte sie prophezeit. Dass es nicht gut sei für den Menschen, allein zu sein, könne ich schon in den ersten Sätzen der Bibel lesen. Dabei handele es sich nicht um reale Geschichten, sondern um uralte metaphorische Weisheiten. Bis in die Nacht hatten meine Freundin und ich, ohne zu einer Conclusio zu kommen, weiter diskutiert. Ich war eben einfach froh, und das wollte ich mir von keinem Menschen und keinen Argumenten nehmen lassen. Niemandem brauchte ich zu erklären, weshalb ich den Balkonmann zum Kaffee eingeladen hatte, genau wusste ich es allerdings auch selbst nicht einmal. „Da hab' ich ja richtig Angst.“ sagte er. „Wieso, sind sie ein ängstlicher Mensch?“ so ich. „Nein, bei dem Hund, meine ich.“ er darauf. „Ich könnte ihn ja in den Garten schicken, aber das mag er gar nicht. Dann steht er die ganze Zeit vor der Tür und winselt. Aber sie brauchen keine Angst zu haben, der tut ihnen überhaupt nichts.“ erklärte ich. „Ist das denn nicht ein Rottweiler oder so etwas?“ fragte der Mann. „Nein, nein,“ lachte ich auf, „bei unserem ersten Hund hat ein Bekannter erklärt, der müsse einen Maulkorb tragen, das sei nämlich ein ganz gefährlicher Hund, der kleine Kinder totbisse. Das sei eine absolute Promenadenmischung und mit Sicherheit kein Rottweiler, hat der Tierarzt meiner Mutter erklärt. So musste es dann auch bei den folgenden sein, schwarz aber mit Sicherheit kein Rottweiler.“ „Man sagt ja, dass es auch viel auf die Erziehung ankäme.“ meinte der Mann. „Na klar, genau wie beim Menschen auch. Viele wollen ja gerade scharfe Hunde haben, die auch Menschen angreifen. Sie trainieren es sogar direkt.“ wusste ich. „Scharfe Hunde gibt es doch unter Menschen auch.“ kommentierte der Mann. „Dazu gehören sie aber nicht, oder?“ wollte ich wissen. Der Mann war gemein. Er antwortete gar nicht, sondern grinste nur. Jetzt fragte ich aber ernst: „Kennen sie denn Menschen oder haben mit welchen zu tun, die sie als scharfe oder harte Hunde bezeichnen würden?“ „Ach, ich denke gar nicht in diesen Kategorien. Dabei handelt es sich doch auch eher um Slangausdrücke, aber im Mannschaftssport beim Eishockey und Fußball zum Beispiel da machen doch manche einen ziemlich bissigen Eindruck.“ antwortete der Mann. Warum, kann ich gar nicht sagen, war eben gut aufgelegt und hatte Lust zu scherzen. Ich wusste ja auch von dem Balkonmann nichts, aber trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass er ein Sportfan wäre. „Sie schauen viel Sport im Fernsehen, nicht wahr?“ fragte ich. Wieso durchschaute er mich denn? Lag es vielleicht an meiner Intonation, wie ich gefragt hatte? „Fremder Mann, sie amüsieren sich über mich. Tun sie das, aber wollen sie mir nicht wenigstens sagen, wie sie heißen?“ bat ich ihn. Ich sagte ihm, dass ich Linn Hengelei sei, die Frau mit den braunen Haaren und nicht mehr die braune Frau. Elias Brender versprach, nur noch an Linn mit den braunen Haaren und nicht mehr an die braune Frau zu denken. „Herr Brender, sie wollten mir erklären, warum sie mir immer so gerne zuschauen.“ erinnerte ich ihn. „Immer! Ich bin ganz selten auf dem Balkon, und wenn sie dann zufällig auch draußen sind, fallen sie mir auf. Aber warum, das weiß ich doch selbst nicht. Sie wollten es mir doch sagen.“ „Hm“ merkte ich an. So ein unsinniges Gespräch. Wie sollte ich ihm erklären, warum er mir gerne zuschaute? Aber ich hatte Laune. „Jah, wenn sie es nicht wissen, dann muss es ganz tief in ihnen verborgen sein, in frühester Kindheit wahrscheinlich. Hatten sie vielleicht im Kindergarten eine Freundin mit braunen Haaren?“ suchte ich nach einer Erklärung. Herr Brender lachte und schüttelte den Kopf. Dass er mich nicht ernst nahm, kann ich nicht direkt behaupten, aber offensichtlich spürte er, dass ich es primär für einen Jux hielt. „Tante, Mutter, Schwester oder sonst eine geliebte weibliche Person mit braunen Haaren in frühen Kindertagen vielleicht?“ schlug ich vor. „Nein, auch das nicht.“ reagierte Herr Brender lächelnd. „Oder später jemand, der ihnen emotional viel bedeutet hat, Frau, Geliebte, Freundin?“ ein weiterer Vorschlag von mir, aber Herr Brender schüttelte den Kopf. „Das kann doch nicht sein, dass sie keine Frau mit braunem Haar kennen. Das ist doch nichts Ungewöhnliches oder Besonderes, dass eine Frau braunes Haar hat.“ „Natürlich kenne ich auch Frauen mit braunen Haaren, aber keine zu denen ich nähere Beziehungen hätte. Mir ist auch noch nie eine Frau wegen ihrer braunen Haare aufgefallen. Das nehme ich gar nicht wahr.“ erklärte Herr Brender. „Vielleicht sind es ja bei mir auch nicht die braunen Haare. Die fallen ihnen nur ins Auge.“ mutmaßte ich. „Aber was denn sonst? Ihre Kleider sind immer unterschiedlich. Doch ja, ihre Art, sich zu bewegen ist immer gleich.“ erklärte Herr Brender. „Und das gefällt ihnen, wie ich mich bewege. Da müssen sie immer hinschauen. Wie bewege ich mich denn?“ wollte ich wissen. „Ach, Linn, sie bringen mich jetzt darauf. Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht. Aber harmonisch, beschwingt, leichtfüßig sieht es schon aus. Nicht wie die stabile, gestandene Familienmutter. Hatten oder haben sie Ballettunterricht?“ fragte er. „Herr Brender, ich bin eine stabile, gestandene Familienmutter, aber sie sehen mich als ihre Primaballerina im Tutu beim Tanz der jungen Schwäne. Was haben sie nur für Wunschprojektionen. Da fliegt ein Geier vorbei, aber sie wollen einen Schmetterling gesehen haben. Als Kind war ich allerdings schon in einer Ballettschule.“ meinte ich dazu. „Um Himmels Willen, Tschaikowski, dann würden sie mich abschrecken. Das ist altes, romantisches Ballett, bei dem es um artistische Sprünge und Pirouetten geht. Im Tanztheater wird mit dem Körper eine Geschichte erzählt. Das tun wir im Grunde immer, wenn wir kommunizieren. Der ganze Mensch spricht, nicht nur sein Mund. Der Text der Worte bildet nur einen kleinen Teil der Information, die wir vermitteln. Sprachrhythmus und -melodie, Mimik und Gestik sagen viel, und auch der Körper erzählt eine Geschichte.“ erklärte Herr Brender. „Und mein Körper? Hat der ihnen auch schon eine Geschichte erzählt, wenn sie ihn beobachtet haben?“ erkundigte ich mich schelmisch, weil es mich freute, zu sehen, wie es Herrn Brender leicht peinlich wurde. Nein, nein, es freute mich nicht. Was hatte ich denn mit diesem Mann vom Balkon zwei Häuser weiter zu tun? Herr Brender lächelte kurz und meinte: „Ja, er erzählt mir dass sie ihren Hund lieben, das ist doch so, nicht wahr?“ Dass er ein Schelm sei, brauchte ich ihm nicht zu sagen, er wusste dass ich ihn dafür hielt. „Doch ja, das muss man wohl so sagen, ich liebe ihn schon.“ reagierte ich völlig ernst. „Aber so ganz richtig auch wieder nicht, oder?“ vermutete Herr Brender. „Ich bitte Sie, verlieben sie sich in eine Hündin und wollen sie heiraten? Und von der anderen Liebe, die nicht auf Gegenseitigkeit beruht, gibt es tausend Variationen. Sie können ja sogar ihr Auto lieben.“ meinte ich dazu. „Obwohl ihr Hund sie nicht liebt, gehen sie doch so liebevoll und freundlich mit ihm um. Ihr Körper sagt mehr über sie selbst, als ihre Worte. Er spiegelt ihr inneres Empfinden, ihre psychische Verfasstheit wieder, und da wirken sie sehr ausgeglichen und freudig beschwingt.“ erklärte Herr Brender. „Sind sie Psychologe?“ erkundigte ich mich. „Nein, wie kommen sie darauf?“ fragte er. „Ach nichts, ich meine nur so.“ reagierte ich. Nur so, gibt es nicht. Vielleicht ist dir der Grund selbst nicht bewusst, aber ein Grund oder Anlass existiert immer. Herr Brender verstand sehr gut. Er hatte mich ja nur manchmal kurz beobachtet, aber wenn ich mit dem Hund im Garten spielte, war ich in der Tat gut aufgelegt. „Nein, ich bin an der Uni, Amerikanistik, als Privatdozent.“ erklärte er. „Zum Professor hat's nicht gereicht? Nein, Entschuldigung, so wollte ich das nicht fragen.“ erklärte ich. Herr Brender schmunzelte. „Ich bin ja Professor, nur darf ich mich hier nicht so nennen. Meine USA Professur wird hier nicht anerkannt, aber meinen amerikanischen Titel darf ich hinter meinem Namen trotzdem führen.“ erklärte Herr Brender. „Hinter ihrem Namen? In den USA geht man wahrscheinlich mit Namen völlig anders um. Die Kleinen bei uns in der Schule sagen: „Herr Brender, du.“ Sie machen es umgekehrt. Sie sagen: „Linn, sie.“ vermutete ich. Herr Brender lachte: „Nein, nein, das hat mit den USA nichts zu tun. Entschuldigen sie, Frau Hengelei, dabei handelt es sich um eine Gewohnheit bei uns im Institut. Wir sind zwar nicht verwandt oder innig befreundet, aber wir haben ständig miteinander zu tun. Das 'Sie' bleibt schon, aber immer den Nachnamen zu nennen, finden wir zu distanzierend.“ erläuterte Herr Brender. „Wie man jemanden tituliert, drückt das nicht Respekt und Anerkennung aus, die man dem Gesprächspartner entgegenbringt? Und bei 'Linn, sie' ist das in erforderlichem Maße gewährleistet? Zu meinem Sohn sage ich nur 'Florian, du'. Wo bleiben da Respekt und Anerkennung?“ wollte ich wissen. Herr Brender grinste nur. „Zu Zeiten des Feudalismus hat man sogar „Euer Hochwohlgeboren“ oder so etwas gesagt, aber dass sie wenigstens den Plural bei mir verwenden, ist ja auch schon was. Herr Brender, sie nehmen das alles, glaube ich, überhaupt nicht ernst.“ lautete mein Vorwurf. Nach dem Lachen erklärte er: „Linn, wenn ich ein Kind wäre, und mit dir zanken wollte, würde ich sagen: „Du hast doch angefangen.“ „Das sagen sie lieber nicht, Elias Brender. Dass sie mir gern vom Balkon aus zuschauen, haben sie schon gesagt, aber ob sie auch Lust hätten, sich nochmal mit mir zu unterhalten, das müssen sie noch sagen.“ schlug ich vor. „Ja doch. Wann und wie denn?“ fragte er. „Wieder nach der Müllabfuhr, oder gefällt ihnen das nicht?“ erkundigte ich mich. „Schon, aber da müsste ich vier Wochen warten. Wir machen das im Wechsel.“ erläuterte Herr Brender. „Das ist ihnen zu lange, oder? Aber auf dem Balkon müssen sie da nicht oft noch länger warten, bis sie mich mal wieder sehen?“ meinte ich dazu und ergänzte, „O. k., ich rufe sie an, und dann machen wir einen Termin aus.“


Verstehen nicht möglich

Als ob ich mich schütteln müsste, damit sich das gerade Erlebte geordnet in mir setzen könnte. Aber da war doch nichts. Ein kleiner Waschweibertalk, weil mich irgendein Mann gern beobachtete. „Tun sie das weiter und erfreuen sie sich daran.“ hätte ich dem Voyeur sagen sollen. Eine absolute Juxlaune, dass ich ihn zum Kaffee eingeladen hatte. Und jetzt wollte ich mich sogar nochmal mit ihm treffen. Fand ich ihn vielleicht interessant, hielt ihn unbewusst für einen interessanten Mann? Mich interessierten keine Männer, schon lange nicht mehr. Natürlich gab es interessante Leute, aber sie interessierten mich als Mensch, nicht als Mann. Meine Liebe zu Louis war nicht weniger einseitig als zu Baabaa auch. Natürlich gehörte Louis nicht zu einer anderen Spezies.. Wir konnten schon miteinander reden und meinten, uns gegenseitig zu verstehen. Aber das war die Oberfläche der gleichen soziokulturellen Gemeinschaft in der wir lebten und aufgewachsen waren. Im Grunde waren wir völlig andere Men­schen. Nicht viel anders wird es bei jedem und jeder sein. Kein Baum ist wie der andere, aber das menschliche Wesen ist noch unendlich differenzierter und filigraner als die Äste, das Wurzelwerk und der Stamm eines Baumes. Louis war kein Intellektueller, er lebte im technisch naturwissenschaftlichen Bereich, und das seit frühen Tagen seiner Sozialisation. Gebildet war er schon, aber er erlebte die Welt anders als ich, auch wenn wir uns zu Anfang meinten, über vieles gut unterhalten zu können, weil ich Mathematik und Physik studiert hat­te. Anders kann es nicht sein, in seiner Komplexität wirst du einen anderen Menschen nie erfassen und verstehen können. Du musst schon dein Leben für dich führen. Was sollte ich mit diesem Menschen vom Balkon? Ihn anrufen und ihm sagen, dass ich mich doch nicht mit ihm treffen wollte? Das war mir auch zu dumm.


Emotional nicht unangenehm

„Hallo, Elias. Nein, peinlich ist mir das nicht, aber doch sehr gewöhnungsbe­dürftig.“ begrüßte ich ihn. Er schmunzelte nur. „Warst du schon wieder öfter auf dem Balkon und hast nach mir geschaut? Ich habe dich nicht gesehen, aber ich weiß ja auch gar nicht, auf welchem Balkon du erscheinen könntest.“ erklärte ich. „Ach, Linn, vergiss das doch mit dem Balkon. Da bin ich so gut wie nie, weil ich keine Zeit und keine Lust dazu habe, und erst Recht gehe ich nicht auf den Balkon, um dich zu sehen.“ antwortete Elias. „Weiß du, ich habe mich mal etwas gefragt. Mein Sohn ist ausgezogen, weil er da wohnt, wo er studiert und es keinen Grund mehr für ihn gab, hier zu wohnen. Meinen Mann habe ich gefragt, was für einen Grund es gäbe, dass er bei mir wohnen müsse. Er konnte keinen triftigen Grund nennen und ist ausgezogen. Ich frage mich, was für einen plausiblen Grund es gibt, dass wir beide uns unterhalten, oder sollten wir es nicht lieber bleiben lassen?“ erklärte ich. Lachen war es nicht, das Elias Mimik formte, aber in gewisser weise wonnevolle Züge hatte sein Gesichtsausdruck schon. Er blickte mich kurz intensiv an und meinte: „Wenn du es nicht möchtest, gehe ich sofort wieder. Das ist doch absolut klar Linn. Allerdings, es ist mir aufgefallen, dass du nur kausale Gründe genannt hast. Dass dein Mann und du sich getrennt haben, wird gewiss auch andere Gründe gehabt haben, da bin ich mir sicher. Linn Hengelei das ist doch mehr als die rationalen Erklärungsmuster ihres Bewusstseins. Ich habe deine rationalen Begründungen gehört, aber zusätzlich empfinde ich etwas, das überhaupt nichts damit zu tun hat.“ „Das ist nicht wahr. Ich habe meinen Mann tatsächlich gefragt, welche Gründe er noch sehe, bei mir wohnen zu bleiben.“ widersprach ich. Elias hob nur die Augenbrauen und schmunzelte leicht. Eigentlich wollte ich gar nicht, dass er wieder ging. „Na ja, eine Vorgeschichte hat es natürlich schon gegeben, und Empfindungen spielten gewiss eine wesentliche Rolle, aber was du jetzt empfindest, das musst du auch benennen, sonst können wir uns doch nicht verstehen.“ Elias schaute mich sinnierend an. „Nein, Linn, das möchte ich nicht. Sonst sagst du wieder, ich sähe einen Schmetterling, obwohl ein Geier vorbei geflogen sei.“ sagte er. „Aber wird das denn nicht immer so sein, dass du nur das erkennst, was dein Kopf, der Kopf von Elias Brender, aus dem macht, was er wahrgenommen hat?“ merkte ich an. „Natürlich, wie sollte es anders sein. Ist das nicht in Ordnung, oder stört dich daran etwas?“ fragte Elias. „Nein, nein, ich will da nichts verändern. Nur wenn ein Botaniker das Wort Cardamine pratensis benutzt, wissen alle Botaniker auf der ganzen Welt, dass damit das Wiesen-Schaumkraut gemeint ist, wenn aber jemand von Liebe spricht, gibt es keine zwei Menschen auf der Welt, die darunter völlig Identisches verstehen.“ erklärte ich. „Du meinst also, man sollte so etwas lieber nicht sagen. Wenn du sagst: „Ich liebe dich.“ sagst du nur, was du darunter verstehst, für den Geliebten bedeutet es aber etwas völlig anderes.“ sagte Elias und lachte. „Na ja, Zusammenhänge gibt es im Verständnis schon, aber sie können sich sehr an der Oberfläche bewegen.“ meinte ich dazu. „Wie meinst du das? Dass man es nicht so ernst meint?“ fragte Elias. „Nein, damit hat es nichts zu tun. Du kannst es schon sehr ernst meinen, es kommt darauf an, wo deine Verständnisbasis angesiedelt ist. Man weiß allgemein, was das so ist, mit der Liebe. So siehst du es auch, nach diesen Mustern und Klischees, die dir die Allgemeinheit heute bietet. Dein eigenes, tiefes Empfinden kennst du gar nicht. Du weißt nicht, wer du selbst wirklich bist, und den anderen siehst und verstehst du erst recht nicht in seiner Tiefe.“ erläuterte ich. „Hast du es so erlebt? Hast du im Nachhinein festgestellt, dass dein Mann und du euch nicht wirklich verstanden habt?“ wollte Elias wissen. „Elias, was geht dich das denn an. Schau mir schön weiterhin vom Balkon zu, das reicht.“ reagierte ich. „Entschuldigung, Linn, ich wollte nicht persönlich werden. Bei mir ist es ja auch zur Trennung gekommen. Allerdings nicht, weil ich meine, dass wir uns von Anfang an im Grunde nicht richtig verstanden hätten. Ich dachte, unsere Beziehung bestehe in unseren Köpfen, in unseren Gefühlen füreinander, und da sei sie so ähnlich wie konserviert. Das war aber eine Fehleinschätzung. Liebe kann nur gelebt werden, und eine jahrelange Fernehe ist da tödlich. Du lebst in anderen Welten und zurück kannst du nur räumlich aber emotional niemals.“ erklärte Elias. Das er nicht mit seiner Familie sondern wegen der Nähe zur Uni in dem ziemlich schmalen Nachbarhaus wohnen würde, hatte ich mir schon gedacht. „Und jetzt suchst du eine neue Frau. Dabei ist dir aufgefallen, wie gut es dir gefallen würde, wenn sie braune Haare hätte.“ wollte ich wissen. Elias lachte. „Nein, das hat mir alles sehr weh getan. Manchmal bildet es den Kern dessen, wie ich mein Leben bewerte. Aber im Grunde steht es ja nur für einen kleinen Teil. Alles andere ist doch wundervoll gelaufen. Nur wenn ich es hätte ahnen können, wäre ich in den USA geblieben. Weißt du, Linn, so etwas Ähnliches möchte ich auf keinen Fall nochmal erleben. Das bedeutet für mich, jedes Risiko auszuschließen.“ stellte Elias seine Lage dar. Jedenfalls wollte er nichts von mir. Das war ja schon mal klar, aber ich glaube schon, dass er mich gut leiden mochte. Und ich? „Elias, einen einsichtigen Grund, weshalb wir uns unterhalten müssen, hast du nicht genannt, aber wenn ich die gesamte Linn Hengelei befrage, muss ich sagen, dass es ihr emotional nicht unangenehm war. Stellt es sich für dich auch so dar? Hättest du Lust, dass wir uns nochmal beim Kaffee treffen?“ erkundigte ich mich. Wir wollten wieder telefonieren.


Mahlers fünfte Sinfonie

Dass Louis mich nicht verstanden hatte und verstehen wollte, hatte mich geär­gert, aber vielleicht viel es ihm auch schwer, mich zu verstehen. Einfach konn­te es nicht sein, denn zum Beispiel jetzt verstand ich mich selbst überhaupt nicht. Ich brauchte keinen neuen Freund für Kaffeekränzchen. Trotzdem hatte ihn mein Unbewusstes automatisch zu einem weiteren Treffen eingeladen. Ge­wöhnlich war es nicht, wie das Gespräch mit Elias sich entwickelte. Wenn ich zum Beispiel an Tom Steiner dachte. Ein netter Kollege, wir mochten uns und hatten uns auch schon öfter gegenseitig besucht, nur die Atmosphäre war da­bei völlig anders. Auch in Gesprächen mit Kolleginnen konnte eine durchaus freundliche Stimmung herrschen. Wenn ich mit Elias sprach, dominierte ein an­deres Feeling. Die Distanz müsste doch eigentlich viel größer sein, weil mir nichts an ihm vertraut war. Vielleicht war sie es ja offiziell auch, aber auf einer anderen Ebene empfand ich sie als äußerst gering. Ich fühlte mich gelöst, leicht, freudig gestimmt, so wie es war, wenn ich mit dem Hund im Garten spielte. Bestimmt sah Elias mich so, wirkte es auf ihn so, als ob das der umfas­sende Ausdruck meiner Persönlichkeit wäre, und das wirkte auf mich zurück. Es musste mir wohl gefallen, denn im Grunde war ich das ja auch.


Bevor ich Elias wegen des nächsten Kaffeedates anrief, meldete er sich. Ob ich klassische Musik möge, Mahler zum Beispiel. Die Philharmonie gebe einen Ma­lerabend, allerdings keine Lieder. Ob ich Lust hätte, mitzukommen. Völlig ver­wirrt erklärte ich, dass ich es mir überlegen müsse. Das ging doch zu weit. Er mochte ja ganz nett sein, aber gemeinsam mit ihm etwas zu unternehmen, nein, das wollte ich nicht. Gemeinsam ins Konzert, was war denn schon dabei? Wäre ich mit einem Kollegen darauf gekommen, hätte ich mit Sicherheit kei­nerlei Bedenken gehabt. Und warum bei Elias? Er musste mir Angst machen, es musste etwas geben, das mich bei Elias verunsicherte. Ich hatte ja über­haupt nichts mit ihm zu tun, aber trotzdem kam es mir vor, als ob er mir sehr nahe wäre, näher als jeder Kollege. Erklären konnte ich mir das nicht. Aber gemeinsam ins Konzert gehen, was könnte denn da geschehen? Ich ging gern in die Philarmonie, und dann auch noch Mahler, nur leider war ich meistens allein, deshalb kam es seltener vor. Als ob ich die Blätter eines Gänseblümchens befragte, ich soll, ich soll nicht. Betrug war es, denn dass ich sollte, hatte mein Unbewusstes längst entschieden. Ich fühlte mich wohl in seiner Anwesenheit, dabei kannte ich diesen Elias Brender doch überhaupt nicht. Hatte seine Körpersprache, seine Mimik und Gestik und der Klang seiner Stimme mir auch etwas mitgeteilt, das bedeutsamer war als seine Worte? Schon möglich, nur ich hatte es nicht verstanden. Ich schon, mein Unbewusstes, nur das weigerte sich, es meinem Bewusstsein zu verraten. Sollte ich blind meinen Gefühlen und Empfindungen folgen? „Lieber Herr Brender, sparen sie sich solche albernen Komplimente. Ich bin nun mal eine schöne Frau und habe ein schönes Kleid an. Das ist einfach die Wirklichkeit. Was gibt es da zu bewundern?“ reagierte ich auf Elias Bemerkungen zu meinem Aussehen. „Es stimmt, die meisten zeigen in ihrem Auftreten und ihrem Erscheinungsbild nur den Schein, was man bei dir sieht, ist jedoch die absolute Wirklichkeit.“ kommentierte Elias lachend. „Genauso ist es. 'Die Welt ist alles, was der Fall ist', wusste schon Wittgenstein.“ meinte ich dazu. Der Mahler Abend bestand so gut wie ausschließlich aus der fünften Sinfonie. Ein gemischtes Bild mit vielfältigen Eindrücken. Beim Adagietto merkte ich, das ich noch träumen kann. Träumen konnte ich schon. Beim Lesen abends fiel ich meistens träumend in den Schlaf, aber das waren die Träume der gewöhnlichen Alltagsfrau von heute. Meine Träumereien als Kind hatte ich als Studentin verloren. Meine Träume als Kind waren freier, offener, blumiger. Ich träumte nicht von Königssöhnen oder Zauberfeen, weite Landschaften in denen ich meine Seele ausbreiten konnte und glücklich war, zeigten sich mir als Bilder. Das Adagietto rief diese Erinnerungen in mir wach. Elias und ich schauten uns öfter zwischendurch an und kommunizierten lächelnd mit unserer Mimik. Beim Adagietto spürte ich, wie eine Hand über meinen Handrücken strich. Oh je, was machte ich denn jetzt? Sagen: „Elias, lass das, bitte.“? Hätte ich eigentlich tun müssen, aber so krass jetzt laut etwas sagen, da wusste ich auch nicht. Ich tat, als ob ich's gar nicht bemerkt hätte. Nachher würde ich es ansprechen. Fasziniert waren wir beide, mussten es durch eine Umarmung vor der Garderobe bekunden. Beim Essen meinte Elias: „So eine Sinfonie hat viel Ähnlichkeiten mit einem Menschen. Als ob sie zusammengerollt oder -gefaltet und in ein Kleid oder einen Anzug gesteckt worden wäre, und du bekommst immer nur eine kleine Klangsequenz zu hören. Du meinst aber, darin den Menschen zu erkennen.“ „Rudimentär ist es immer nur, was ein anderer Mensch dir von sich zeigt, meinst du. Und hinzu kommt noch, dass die Wirkung auf dich total von deiner Person abhängig ist. Wie sollen sich Menschen da verstehen können?“ erklärte ich dazu. „Ich denke schon, dass es große Unterschiede im Verständnis gibt. Vielleicht hängt das auch mit deiner Empathie, deiner Möglichkeit, dich einfühlen zu können, zusammen.“ erwiderte Elias. „Und worauf hat dich dein emphatisches Einfühlungsvermögen aus den Klangsequenzen, die du von mir bisher wahrgenommen hast, schließen lassen?“ wollte ich von Elias wissen. Er lächelte, schaute mich an, schaute in den Raum und erklärte dann: „Es gibt eigentlich gar keinen rationalen Grund, es ist einfach nur mein Gefühl, aber es scheint mir, als ob Mahlers Fünfte äußerst gut zu dir passen würde. Es kommt mir vor, als ob ich dich mit dieser Sinfonie fast in deiner Komplexität erkennen könnte.“ Was sollte ich denn dazu sagen? Im Grunde gefiel es mir ja sogar, das zu hören. Aber ich glaube er mochte mich. Sein Streicheln vorhin war mehr als eine unüberlegte Gefühlsäußerung. „Das hört sich sehr schön an, Elias. Mir gefällte die Fünfte auch sehr, aber ob ich mich völlig damit identifiziere, weiß ich nicht. Dir gefällt sie aber offensichtlich noch mehr, das heißt ich gefalle dir. Nur derartige Gedanken musst du ganz schnell wieder aus deinem Kopf vertreiben, sonst können wir nicht wieder gemeinsam ins Konzert gehen und auch keinen Kaffee mehr trinken. Nichts wird’s dann mehr zwischen uns geben. Ich bin ein eigenständiger Mensch, vielleicht mit der Komplexität einer Sinfonie, aber eine eigenständige, freie Blume reicht mir auch schon. Ich bin eine Margerite, die allein ihren Platz zum Wachsen braucht und Raum, um ihre Blüte entfalten zu können. Eine Liane, die nur leben kann, wenn sie sich um einen anderen schlingt, bin ich nicht.“ stellte ich meine Ansicht dar. „Entschuldigung, Linn, wenn ich dir zu nahe getreten bin. Ich suche keine neue Frau und will mich nicht verlieben, das weißt du ja, aber dass ich sehr freundliche Gefühle für dich habe, kann ich doch vor mir selbst nicht verheimlichen. Deine Sicht der isolierten Margerite und der verflochtenen Liane teile ich so nicht. Auch wenn du meinst, niemand kann einen anderen Menschen wirklich verstehen, bist du doch auf die Kommunikation mit ihnen angewiesen. Linn Hengelei, das ist im Wesentlichen die Frau, wie sie sich aus der Kommunikation mit ihren Mitmenschen entwickelt hat. Es gibt so gut wie nichts in dir, was du nicht von anderen hast. Kein Wort würdest du sprechen oder verstehen können. Die anderen sind nicht diejenigen, die du als Liane zum Aussaugen gebrauchst, sie bilden den Dünger für die Margerite, ohne den sie verkümmern und verwelken würde.“ erklärte Elias. „Ich habe doch nichts gegen andere Menschen und erst recht nichts dagegen, mit ihnen zu reden. Ich verspüre nur nicht das geringste Bedürfnis, mich selbst aufzugeben, weil ich mich mit einem anderen Menschen angeblich so gut verstehe.“ meinte ich dazu. „Empfindest du dich denn durch irgendjemanden gedrängt, so etwas zu tun?“ erkundigte sich Elias lachend. „Ja, durch dich zum Beispiel.“ antwortete ich. Offensichtlich waren wir wieder im Quatschbereich gelandet. Elias große Augen fragten nur verwundert. „Wenn du mir das Händchen streichelst, wohin soll das denn führen?“ wollte ich wissen. „Linn, keinerlei Intention, das Adagietto zwingt dich einfach zu taktilen Kontakten, wenn ein befreundeter Mensch neben dir sitzt.“ erklärte es Elias.


Keine Freunde

Befreundete Menschen waren wir also. Gut das zu wissen. Elias war demnach mein Freund und ich war seine Freundin. Nein, so nicht. Es waren doch eindeu­tig keine singulären Akte nettter Kommunikation, sondern es handelte sich um einen Prozess, dessen Tendenz in der Intensivierung der Beziehung lag. Und es würde sich nie leugnen lassen, dass es sich dabei um Elias den Mann und Linn die Frau handelte. Es gab nur eins, jetzt alles radikal beenden, denn wie sich der Prozess entwickeln würde, das hätte ich nicht in der Hand. Ich meinte, mich ganz normal wie immer zu verhalten, aber Elias fragte sofort: „Stimmt etwas nicht, Linn?“ „Doch, alles. Du weißt, Elias, dass ich dich für einen äu­ßerst netten und beachtenswerten Menschen halte, zumindest nach dem Weni­gen, was ich von dir kenne. Es gibt auch nichts, was ich hätte beklagen kön­nen. Nur, Elias, wie es sich mit uns entwickelt, wird nicht aufzuhalten sein, und das will ich nicht. Ich brauche keinen Freund und ich bin auch nicht deine Freundin. Ich will das nicht mehr. Du bist ein netter Mensch, aber wir müssen es beenden, weil ich es so nicht weiter möchte.“ erklärte ich. Natürlich brauch­te Elias Zeit, aber er sagte nur schlicht: „Du möchtest nicht, dass wir uns wei­terhin beim Kaffee treffen oder sonst etwas miteinander zu tun haben. Wenn das so ist, werde ich es zu akzeptieren haben, was sonst.“ „Elias, das hat über­haupt nichts mit dir zu tun. Es gibt keinen Hauch eines irgendwie gearteten Vorwurfs. Ich sehe nur mich, und dass ich es für mich nicht so weiter möchte.“ erläuterte ich noch. „Linn, ich habe verstanden. Mir fällt auf, dass ich mich emotional schon sehr stark involviert habe. Das sollte ich nicht tun. Es wird mir nicht leicht fallen, dich nicht mehr sehen zu können.“ erklärte Elias. Damit war das Gespräch beendet, innige Verabschiedung, und dann ging Elias. Hatte ich etwas anderes erwartet? Vielleicht, dass er versuchen würde, meine Entschei­dung abzuändern? Nein, nein, es war schon richtig so. So hatte ich es ja ge­wollt. Auch in der nächsten und übernächsten Woche war es richtig so. Mir fiel auf, wenn ich jetzt mit Baabaa im Garten war, dass ich immer nach den Balko­nen vom übernächsten Haus schaute, ob ich vielleicht jemanden sähe, der Eli­as hätte sein können. Warum dachte ich an ihn? Was hatte er mir bedeutet, was hatte er mir gegeben? Nichts. Na klar, wenn jemand dich spüren lässt, dass er dich gut leiden mag, bereitet dir das immer ein angenehmes Gefühl. Was sagt das darüber aus, wie ihr euch untereinnander verstehen könnt. Die lebendige, freundliche Frau mit den harmonischen Bewegungen hatte er in mir gesehen, das schmeichelte mir, so wollte ich mich selbst gerne sehen und meinte, es auch wieder sein zu können. Aber wenn er mich mit Mahlers Fünfter verglich, musste er auch etwas anderes gesehen haben, nur wie denn, er wusste doch nichts von mir. Das wenige, was ich von ihm wusste, war auch für mich völlig irrelevant. Dass ich ein Empfinden hätte, ihn zu verstehen, wieso sollte ich so etwas sagen? Es war einfach dieses Gefühl des Wohlempfindens, wenn wir zusammen waren. Als ob ich sagen müsste: „Wenn Elias da ist, geht’s mir gut.“ Das gab es jetzt nicht mehr. Warum konnte ich es nicht aus meiner Erinnerung streichen, das würde es jetzt nie mehr geben. Nur je länger es her war, dass wir uns zum letzten mal gesehen hatten, umso häufiger schienen meine Gedanken es aufzuwärmen. Abends im Bett sowieso, aber auch tagsüber. Immer wieder musste ich das Adagietto hören und meine Seele träumte dabei, gemeinsam mit Elias über die sanften panonischen Hügel zu gleiten. Als ich mit meiner rechten über meinen linken Handrücken strich, musste ich wohl wach werden. „Linn, du bist dabei, verrückt zu werden. Bas­telst die einen Elias-Tick zusammen. Was ist es denn, was du eigentlich suchst?“ Nichts. Was sollte ich denn suchen? Mir ging es außergewöhnlich gut seitdem ich allein lebte, ich war so frei wie nie zuvor in meinem Leben. Empfin­dungen von Vertrauen, Freundschaft, Sicherheit, Freude, Zuneigung hatte ich in die Beziehung zu meinem Hund interpretiert, klar, dass Baabaa von all dem nichts verstand. Ein anderer Mensch würde die Worte hören und auch etwas anderes darunter verstehen als du. Bildete ich mir etwa ein, dass es bei Elias anders sein könnte? Nichts weiß ich von dem, immer an ihn denken musste ich. Ich akzeptierte es ja nicht, aber was dich bewegt, schert sich nicht um die Anweisungen deines Bewusstseins. Ja ich vermisste ihn, Elias fehlte mir, da gab es nichts zu deuteln. Mit der Zeit würde es sich abschwächen und verlieren, aber es schien wie ein Grundbedürfnis von mir zu sein, für das ich in Elias eine Entsprechung sah. Nur genau das wollte ich doch nicht, meine Wünsche und Träume in einem anderen Menschen erfüllt sehen. Elias war und blieb ein anderer, den ich nicht verstehen und erkennen würde. Meinem Bewusstsein war das klar, nur meine Gefühle weigerten sich, so zu empfinden.


Kern des menschlichen Wesens

„Elias!“ tönte ich, als er plötzlich beim Einkaufen vor mir stand. Ein breitgezo­gener Mund, von dem ich nicht wusste, ob er lachen oder weinen wollte. Er­staunen lag gewiss auch in unserem Blick, aber die Sehnsucht ließ sich nicht verleugnen. Kurzes Anstarren und wir fielen uns um den Hals. Wie sehr wir uns beide vermisst haben mussten, war der Intensität und Dauer der Umarmung zu entnehmen. Wir hielten uns an den Armen, blickten uns an, sprachen den Namen des anderen. Verschollene mussten sich wiederentdeckt haben. „Ich glaube, das war nicht ganz richtig, was wir gemacht haben, oder?“ vermutete ich mit einem Lächeln. Wir wollten schnell einkaufen, und ich sollte dann zu Elias kommen, damit uns Baabaa nicht nerven konnte. „Weißt du, Linn, als ich in den USA war hat mich meine Arbeit sehr beschäftigt, an meine Frau und meine Ehe, musste ich ganz bewusst denken, sonst waren meine Gedanken immer mit anderem angefüllt. Jetzt wollte ich gar nicht an dich denken, es war ja vorbei, und trotzdem warst du immer da. Kannst du mir das erklären?“ sag­te Elias. „Elias, du Schelm, immer soll ich dir erklären warum dich etwas wozu drängt. Wird es nicht etwas Ähnliches sein, was dich drängt, mir im Garten zu­zuschauen? Nicht die braunen Haare, aber tief in deinem Innersten wird es sich schon befinden.“ vermutete ich. „Das denke ich auch. Ich habe ja mittlerweile mehr von dir erlebt als deine braunen Haare und deine Bewegungen im Gar­ten.“ meinte Elias. „Aber du weißt doch nichts von mir, außer dass ich einen Hund, einen Sohn und einen Mann, der nicht mehr da ist, habe. Was willst du denn von mir kennen?“ wollte ich wissen. „Du kannst mir deine ganze Biografie erzählen, und ich kenne trotzdem nichts von dir. Bei den meisten Menschen ist es so, dass du ihr Erscheinungsbild wahrnimmst mit der ganzen Entourage an Applikationen, die dir verdeutlichen, wie sie von dir wahrgenommen werden wollen, den wirklichen Menschen selbst aber kannst du gar nicht erkennen. Mir ist es zu Anfang nicht direkt bewusst geworden, aber gespürt haben werde ich es sofort. Die Frau, die draußen im Garten mit dem Hund spielt, das ist Linn selbst, wirklich und ganz persönlich. Kein bisschen anders ist es bei den Ge­sprächen zwischen uns gewesen, das war immer die natürliche, wirkliche Linn und niemals eine Frau, die sich mir als irgendwer zeigen wollte, die ich als eine ganz bestimmte Person sehen sollte. Wundervoll ist es, dich so zu erleben und es wirkt auch auf mich. Dir gegenüber irgendeine Rolle spielen zu wollen, das würde alles zerstören.“ erklärte Elias. „Du kannst mich dann authentisch erfas­sen, die Linn die ich wirklich bin. So siehst du Wesentliches von mir und das ist für das Verständnis von Menschen untereinander bedeutsamer als alles Wissen um das, was dann nur noch Äußerlichkeiten wären. Ich glaube aber schon, dass ich mich anderswo auch an Rollenvorgaben orientiere. Ganz frei sein da­von kannst du doch nicht. Aber wenn wir zusammen waren, gab's die nicht. Das hat uns außerordentlich gut gefallen, nicht wahr?“ sah ich es. „Ich meine, es hat uns nicht nur gut gefallen, es ist wie ein Wunder. Du kannst den anderen zwar nicht in seiner ganzen Komplexität erfassen, das geht niemals, aber du erkennst den Kern seines Wesens, und das ist ungeheuer viel. Da ist wirklich alles andere, was ihn sonst ausmacht, wie pompöses Beiwerk. Tiefgründiger kannst du einen anderen Menschen nicht verstehen, als in ihm das zu erkennen, was ihn wirklich als Menschen ausmacht.“ erläuterte Elias. „Ich glaube, dann sind wir doch Freunde, nicht wahr? Das Bewusstsein muss sich da raushalten. Ob du willst oder nicht, spielt keine Rolle, es ist einfach die Faktizität der Ereignisse. Aber, Elias, wenn du mich so tief menschlich erkennst, was ist dir denn immer erschienen, wenn du an mich gedacht hast?“ fragte ich neugierig. Elias lachte auf. Warum fragte ich so einen Unsinn? Wollte ich gern liebevolle, bewundernde Komplimente von ihm hören? „Ach, Linn, ich könnte jetzt tausend Dinge nennen, die mir bei dir gut gefallen, ja auch dein braunes Haar, aber das bewirkt es doch nicht, weshalb ich an dich denken muss. Du sagst es ja selbst, es muss etwas in meinem tiefsten Innersten sein, das du ansprichst, das mich bewegt und von dir träumen lässt. Nur muss es etwas sein, dass natürlich zu mir gehört, aber sich in meinem Unbewussten befindet, und meinen Erklärungen und meiner Sprache nicht zugänglich ist.“ antwortete Elias. „Aber, mein Lieber, „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“, sagt Wittgenstein.“ kommentierte ich und lachte. Elias lachte ebenfalls. „Bist du dir sicher, dass er es so gemeint hat? „Wenn man nicht genau Bescheid weiß, soll man lieber das Maul halten.“?“ fragte Elias nach. „Nein, das glaube ich auch eher nicht. Aber wie du es von dir darstellst, sind das nicht Gefühle von sehr starker Zuneigung? Ich dachte, du wolltest dich nicht wieder verlieben.“ reagierte ich. „Linn, ich weiß nicht, wie du deine Gefühle für mich benennst, aber dass du auch ein Verlangen danach verspürtest, mich zu sehen, wirst du doch nicht bestreiten. Ist es denn nicht gleichgültig, wie wir es benennen. Reicht es nicht, wenn wir sagen, dass wir gute Freunde sind, die sich gut verstehen und sich gerne treffen?“ meinte Elias dazu. „Ja, so ist es gut. Das sollten wir demnächst öfter tun. Du meldest dich einfach, wenn du Zeit hast, und ich sage, ob es mir passt.“ erklärte ich.


Verschwinde Elias

Ob das Wetter kalt ist oder heiß ist, so ist es eben. Was willst du daran än­dern? Bei mir war es auch eben so. Ändern wollte ich daran ja auch nichts. Es war schon in Ordnung so, und anders hätte es ja auch gar keinen Zweck ge­habt. Elias kam jetzt immer häufiger, und bald verging kein Tag mehr, an dem wir uns nicht wenigstens kurz auf einen Kaffee gesehen hatten. Ich sei gleich fertig mit den Vorbereitungen, er solle sich doch ein Buch mitbringen, sagte ich, wenn ich noch zu tun hatte. Nicht nur ins Konzert gingen wir gemeinsam, alles Mögliche machten wir zusammen. „Elias, ich teile deine Ansicht zur Inter­pretation unserer Beziehung. Wie hätte ich mich sonst dir schon bald so nahe fühlen können. Völlig echt und direkt waren wir zueinander, wie Kinder. Und das von Anfang an. Das sehe ich auch so, aber trotzem ist und bleibt da die Pflanze Linn, die eine ganz andere ist als die, die Elias heißt. Wenn du von Lie­be sprichst, sehe ich all die Bilder und Assoziationen, die sich in meinem Leben dazu angesammelt haben. Es ist mein Liebestraum. Davon sprichst du aber nicht, kannst du gar nicht sprechen. Du sprichst von dem, was sich für dich in deinem Leben dazu angehäuft hat. Das wird zwangsläufig immer so sein und immer so bleiben.“ erklärte ich. „Man könnte ja alles aufschreiben, was sich für dich zeigt und was sich für mich darstellt. Und wenn wir feststellen, dass es viele Gemeinsamkeiten gibt, wissen wir, dass wir uns lieben.“ meinte Elias und lachte, „Du hast es nicht gewusst, warum du immer an mich gedacht hast. Das Entscheidende ist das Gefühl und bei der Liebe erst Recht.“ „Aber gerade die Gefühle sind doch bei jedem unterschiedlich. Du kannst niemals das gleiche Gefühl haben wie ich.“ lautete mein Kommentar. „Da hast du schon Recht, aber sie harmonisieren miteinander. Du wirst nicht etwas völlig anderes darunter verstehen als ich. Die Möglichkeit sich emphatisch einfühlend zu verstehen ist sehr groß. Wenn jemand sagt, dass er traurig ist, wirst du nicht etwas völlig anderes darunter verstehen.“ erklärte Elias. „Du meinst also bei Liebe, Vertrauen, Zuneigung, Freude kommt es auf das Verständnis gar nicht an, sondern nur auf das Gefühl?“ hatte ich ihn verstanden. Elias lachte auf. „Nein, keineswegs. Beides ist wichtig. Nur dein Gefühl vermittelt dir die Lust, den anderen besser verstehen zu wollen. Es drängt dich, sich mit ihm auszutauschen mit allen Visionen, Vorstellungen und Imaginationen, die du dir bilden kannst.“ Elias dazu. Das geschah ja bei uns sowieso und unablässig. Wie anders gestalteten sich unsere Gespräche? Welch wundervolle Situation? Ich war befreundet mit einem lieben Menschen, den ich sehr mochte und war doch völlig frei. Jeden Tag könnte ich sagen: „Elias, verschwinde.“. Als ich es gedacht hatte, schämte ich mich vor mir selbst, vor meinem eigenen Irrsinn. „Verschwinde, Elias.“ könnte ich sagen, wie sollte das denn wohl funktionieren? Natürlich wollte ich es ja auch gar nicht, aber frei war ich doch nicht mehr. Ein eigenständiges Leben führten wir schon, auch wenn wir ab und zu gemeinsam einkaufen gingen, nur ein Leben ohne Elias, das war nicht wünschenswert und nicht mehr vorstellbar. Baabaa hatte immer zu mir gehört, und der Mann Elias war offensichtlich doch nicht so ein fremdes Wesen, das mich letztendlich genauso wenig verstehen konnte wie der Hund. Elias hatte es gesagt: „Unser Verständnis füreinander ist deshalb komplexer und unsere Beziehung ist fundamentaler, weil wir einander als die, die wir wirklich sind, mit unseren tatsächlichen Gefühlen und Bedürfnissen erkannt haben.“. So wollte ich auch leben, immer und überall, und nicht nur, wenn Elias bei mir war. „Meine Mutter hat früher gesagt, die Menschen hätten alle eine gespaltene Persönlichkeit. Sie träten immer in verschiedenen Rollen auf. Ist das bei dir auch so, Elias? Bist du auch jemand ganz anders, wenn du in der Uni bist, als wenn wir zusammen sind?“ wollte ich wissen und Elias lachte. „Du hast es ja selbst gesagt, dass man aus den Rollenvorgaben nicht ganz rauskommt. Das läuft ja automatisch ab.“ meinte er. „Mag sein, aber ich denke schon, dass du dir dessen bewusst werden kannst. Du könntest dich bei allem, was du in der Uni tust, doch fragen: „Was hat das mit mir zu tun? Wie und wo betrifft mich das persönlich? Welche Empfindungen habe ich dabei? Sind die Gefühle des Menschen Elias, der sich mit Linn trifft, dabei tangiert?“, soltte sich das nicht jeder immer fragen?“ schlug ich vor. Elias überlegte. „Du meinst ich wäre sonst unehrlich. Ich würde sagen: „Ich tue dies oder jenes jetzt deshalb.“, und in Wirklichkeit müsste ich sagen: „Ich tue es, weil ich meine, dass man es als Dozent so tun müsse.“. Kein wirklicher Grund von mir selbst, sondern Orientierung am Allgemeinverständnis.“ interpretierte es Elias. „Genau, und das ist die Oberfäche. Das bist niemals du selbst. So habe ich gelebt, und ich glaube, die meisten Menschen leben so. Sie werden sich nie gegenseitig wirklich erkennen, sondern sich immer nur verstehen in den Rollenvorgaben und Klischees, wie man so denkt, wie man es allgemein so zu sehen gewohnt ist.“ fügte ich hinzu. Wir sprachen noch öfter darüber, wie wir unser Leben in allen Bereichen gefühlsbetont an unseren wirklichen Bedürfnissen orientieren könnten.


L'amour avec un baiser

Eingeengt oder in irgendeiner Art zu etwas gezwungen empfand ich mich durch Elias in keiner weise. Er stellte nicht nur eine Bereicherung meines Lebens dar, wir waren in unserem Glück aufeinander angewiesen. Was hatte das noch mit eigenständigem Leben zu tun. Alle Lobpreisungen der großen Freiheit des Al­leinseins, wo waren sie geblieben? War das, was ich erlebte, eine neu Form von Liebe? Ich wusste es nicht. So gefiel sie mir jedenfalls besser, als alles was ich davon gehört hatte und kannte. Obwohl der Block, dass ich mich niemals wieder verlieben wollte, noch immer eisern feststand. Bei Don Giovanni erklär­te ich Elias: „Wenn dich während der Oper deine taktilen Bedürfnisse mal wie­der übermannen sollten, hätte ich nichts dagegen, wenn du mir das Händchen streicheltest.“ Das hatte zur Folge, dass wir uns fast während der gesamten Oper die Hände hielten. In den weniger klangvollen Opern zu Hause verfuhren wir nicht anders. Wo und wann es ging hielten wir uns die Hände. Mal strei­chelte Elias meinen Handrücken mit den Figerkuppen seiner anderen Hand, mal gab ich ihm ein Küsschen auf seinen Handrücken. Im Grunde waren es ja nur lapidare Spielchen, aber mir erschien es, als ob sich durch das gegenseiti­ge Händehalten in unserer Beziehung etwas Wesentlich geändert hätte. Wenn seine Hand in meiner lag, spürte ich nicht nur, das, was er anderen so achtlos zur Begrüßung reichte, sondern ich meinte den ganzen Elias zu empfinden. Der wonnevolle Ausdruck seiner Mimik bezeugte, dass Elias auch mehr empfand. „Wenn ich als Kind Lust hatte, habe ich mir einfach Baabaa geschnappt und mit ihm gebalgt und getobt. Warum muss ich jetzt an so etwas denken? Hast du eine Erklärung dafür?“ fragte ich und lachte. „Na klar, du würdest dir gern Elias schnappen und mit ihm balgen und toben, aber da traust du dich nicht.“ erklärte Elias lachend. „Irgendwie hast du schon Recht, dass ich mehr von dir möchte als nur deine Hand, aber andererseits will ich es auch nicht. Ich wüsste auch gar nicht, was ich tun sollte.“ meinte ich dazu. „Ist es für dich immer noch verboten, zu sagen, dass wir uns lieben? Wenn du das zugestehen könn­test, wäre es doch möglich, das wir uns mit unseren Lippen küssen und nicht nur den Handrücken mit den Lippen berühren.“ meinte Elias. Ich wusste nicht. Im Grunde hatte er ja Recht. Zu sagen: „Wir lieben uns nicht.“ wäre in der Tat albern, aber ich jetzt einfach so einen Mann küssen? Das konnte ich doch gar nicht. Endlos blickten wir uns grinsend an. Elias fuhr mir mit seinem Zeige­finger über die Wange. Langsam kam er zu den Lippen und touchierte sie sanft. „Nein, Elias, ich kann das nicht.“ unterbrach ich ihn. „Macht doch nichts.“ sagte er nur, „Wenn du es willst, werden wir es schon irgendwann tun.“ Wieder schauten wir uns gespannt grinsend an. Jetzt untersuchte ich Eli­as Gesicht. „So kannst du doch gar nicht küssen. Deine Lippen sind ja ganz trocken.“ erkannte ich. Elias befeuchtete sie mit seiner Zunge. Ich stupste sie mit einem Finger und dann seine Nase. „Linn, komm.“ sagte er fast flehentlich. Auch wenn eine gewisse Unsicherheit herrschte, hatte es doch auch neckische Züge. Ich kam mit meinen Lippen zu Elias Mund, während sich unsere Augen groß anblickten. Nur kurz berührten sich unsere Lippen. Während wir unsere Köpfe zurücknahmen sagte unsere Mimik abfällig: „Das war doch kein Kuss.“ Also nochmal. „Ich kann das nicht.“ war total vergessen. Ich wusste gar nicht was ich tat und erlebte. „Elias, das reicht.“ brach ich das Küssen ab, als es mir vorkam, dass ich nicht weit vom Orgasmus entfernt sei. Nein, so hatte ich es eigentlich doch nicht gewollt, aber was ich wirklich wollte wusste ich auch nicht. Nie hatte ich das Bedürfnis gehabt, einen Mann für's Bett zu benötigen, aber wenn ich mein Bewusstsein für eine kurze Zeit hätte ausschalten könnte, ich weiß nicht, was dann mit Elias und mir geschehen wäre. Es lag nicht allein an Elias. „So etwas machen wir aber nicht wieder, oder?“ mahnte ich. „Linn, war das denn nicht toll, hat es dir denn nicht gefallen?“ fragte Elias. „Ja, schon, aber so will ich das doch gar nicht.“ antwortete ich. „Wie nicht 'so', wie denn?“ wollte Elias wissen. „Elias, ich will doch nicht mit dir ins Bett.“ tönte ich. „Wer spricht denn davon? Wie kommst du denn darauf?“ Elias dazu. „Ja, solche Gefühle hatte ich aber.“ erklärte ich. „Du meinst, wir sollten dann mit dem Küssen lieber warten, bis wir auch gemeinsam ins Bett wollen.“ schlug Elias scherzend vor. „Ganz verwirrt bin ich. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist.“ meinte ich. Mit den Worten: „Komm zu mir, meine Liebe.“ umfing Elias meinen Kopf und legte ihn an seine Schulter.


Körperkontakte

Vielleicht erkannte Elias den wirklichen Menschen Linn und ihre wirklichen Ge­fühle, ich kannte sie offensichtlich nicht mehr. Unser Zusammensein war im­mer von einem Hochgefühlempfinden begleitet. Dann lebten wir voll, hatten wir es genannt. Jede Zelle war wach und gespannt. Höchste Vigilanz bei entu­siastischer Stimmungslage. Im Unterricht war es oft nicht ganz unähnlich nur beruhte es auf einer völlig anderen Basis. Natürlich hatte unsere Beziehung Auswirkungen auf uns insgesamt und wirkte auch nach außen. Freunden und Bekannten fielen Veränderungen auf. Unsere Beziehung das waren unsere Ge­danken, Empfindungen und Gefühle verbunden mit unserem kommunikativen Austausch. So war es doch gut. Konnte unsere Beziehung nicht in unseren Köpfen bleiben? Natürlich könnte sie das. War das gegenseitige Händehalten schon etwas anderes? Ach wo, es stellte doch nur ein Sinnbild unserer Verbun­denheit und Gemeinsamkeit dar, die Basis unsers Glücks, das wir jetzt direkt in die Hand nehmen konnten. Oder handelte es sich doch primär um das Berüh­ren des Körpers von Elias und brach somit die Schranke des Zugangs zum Tabu körperlicher Beziehung? „Andreas ich weiß nicht, wie es für dich ist, ob du in mir das Mädchen, die Frau gesehen hast? Du bist mir nie als Mann vorge­kommen, hast niemals entsprechende Rollenattitüden gezeigt. Natürlich weiß ich, dass wir Mann und Frau sind, aber es kam mir eher vor, als ob wir Ge­schwister wären. Das war immer sehr schön und anders möchte ich es auch nicht. Nur als wir uns geküsst haben, wurde es mir plötzlich ganz komisch und ich habe mich unabsichtlich ekstatisch ausgetobt. Es war, als ob beerdigte Be­reiche meiner Libido plötzlich auferstanden wären. Weißt du, Elias, das will ich alles nicht. Mit einem Mann ins Bett zu gehen, das war für mich immer ein Me­netekel für den Verlust jeden Restes an Eigenständigkeit. Ich will ja auch jetzt nicht mit einem Mann ins Bett, das warst doch du. Aber das will ich auch nicht. Für unsere Beziehung sehe ich eher eine Gefahr darin. Ich möchte, dass es so bleibt, wie es war. Deshalb sollten wir wohl am besten in Zukunft jeden Körperkontakt meiden, auch kein Händchenhalten mehr.“ empfahl ich. Elias schwieg. Er starrte mich lange skeptisch an. „Ja, wenn wir uns berühren, wollen wir über kurz oder lang doch immer mehr, und das wird letzten Endes ins Bett führen. Streicheln und Befühlen ist eben der Beginn der körperlichen Liebe.“ fügte ich für seine ungläubigen Augen hinzu. „Ich weiß nicht, Linn, welche Bilder sich dir im Zusammenhang mit körperlicher Liebe und Unfreiheit zeigen, aber sind wir beide denn noch frei? Einerseits sind wir in unserem Glück total aufeinander angewiesen und trotzdem fühlen wir uns außerordentlich frei, vielleicht wegen der Liebe. Bislang hatte das nichts damit zu tun, ob wir zusammen ins Bett gingen oder nicht. Aber, wenn es dir unangenehm ist, dass ich dich anfasse, werde ich es natürlich nicht mehr tun.“ erklärte Elias. „Elias, wie kannst du nur so reden? Ich will das nur nicht mit dem Sex. Das ist eine ganz andere Ebene und folgt ganz anderen Motivationen und Bedürfnissen, die mit gegenseitigem Verstehen nichts zu tun haben.“ erwiderte ich. „Ich denke schon, dass ich verstehe. Du liebst deine Freundin, liebst deine Mutter, das hat mit Sex nichts zu tun. Bei uns war es bislang kein bisschen anders, und so wünscht du es dir wieder. Zumindest dein Bewusstsein, ob deine Gefühle so bedenkenlos damit einverstanden sind, möchte ich bezweifeln. Es ist doch geschehen, Linn. Wir haben es doch beide als herrlich empfunden, uns gegenseitig die Hände zu halten und zu streicheln. Vielleicht können wir sagen, wir hätten es besser nicht getan, aber wir haben die Erfahrung gemacht und können es nicht ungeschehen machen.“ erklärte Elias. „Du meinst, es ist sowieso schon alles zu spät. Über kurz oder lang werden wir doch irgendwann gemeinsam im Bett landen. Aber ich will das nicht, Elias. Das hat doch mit gegenseitigem Verstehen nichts zu tun.“ erwiderte ich. „Ach, Linn, wenn wir nicht zusammen ins Bett wollen, werden wir es nicht tun. Nur deine Beschlüsse und deine Gefühle harmonieren nicht immer miteinander. Nichts zwingt uns dazu, miteinander ins Bett zu gehen, nur dass Sex mit gegenseitigem Verstehen nichts zu tun hat, das sehen längst nicht alle so. Maria, die Mutter von Jesu, hat gesagt, sie könne nicht schwanger werden, weil sie keinen Mann erkenne. Heute würde man pejorativ sagen, weil sie mit niemandem ficke. Als Erkenntnisprozess wurde der Koitus also bewertet.“ erläuterte Elias. „Du spinnst, dass du ficken willst, ist das Drängen deiner Libido nach sexueller Befriedigung, und hat mit dem Bedürfnis, den oder die andere kommunikativ verstehen zu wollen, nichts zu tun.“ stellte ich klar. „Ich glaube, du hast Recht. Eigentlich dürfte das überhaupt nicht funktionieren. Die Frau und der Mann empfinden dabei doch etwas völlig anderes. Einer kann niemals den anderen total verstehen. Das würden wir gegebenenfalls völlig anders machen, nicht war. Wir würden uns gegenseitig genauestens darüber informieren, was wir empfunden haben.“ so Elias Perspektiven. „Und warum tun sie's dann trotzdem so gern?“ wollte ich wissen. „Ich glaube, das ist bei allem so. Den gleichen Erfahrenshintergrund hast du sowieso nicht, und du brauchst auch nicht ähnliche Gefühle zu haben, entscheidend ist, dass es miteinander harmoniert. Im Konzert hast du ganz andere Gefühle als der Dirigent, oder der Oboist, aber alle sind dabei glücklich.“ meinte Elias dazu. „Du meinst also, meine Setzungen seien künstlich und theoretisch und würden nicht mit meinen Gefühlen harmonieren. Es sei angebrachter, nicht irgendwelche Anforderungen zu konstruieren, sondern meinen wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen zu folgen?“ wollte ich mich rückversichern. „Genau, Linn, das ist es doch, was du mir immer rätst und ja grundsätzlich auch deine Maxime ist. Nur bei Beziehungsfragen steht da manchmal dein ideologischer Überbau im Weg.“ Elias dazu. Dann dürfen wir uns aber nicht oft so leidenschaftlich küssen, sonst werde ich dir irgendwann die Kleider vom Leib reißen, und dich vergewaltigen.“ warnte ich. Das geschah jedoch nicht, aber was geschehen sollte und würde, wussten wir beide nicht.


„Elias, geh nicht weg.“

Keineswegs lebten wir zusammen. Wir schliefen ja sowieso beide in unseren Wohnungen, und sonst verbrachten wir unsere freie Zeit gemeinsam. Elias hat­te immer sehr viel zu tun, nicht selten sogar noch spät am Abend, und ich hat­te ja auch nicht Freizeit, wenn ich aus der Schule kam. Abendbrot gab's so gut wie immer gemeinsam und wenigstens einen Kaffee am Spätnachmittag. Die Wochenenden gehörten natürlich uns. Manchmal war Florian zu Besuch. Er verstand sich auch gut mit Elias und mochte ihn, aber wie sollte auch Moms Boy ihren Liebsten nicht mögen. Er hatte meine Position, allein leben zu wol­len, zwar akzeptiert, hielt es aber für eine Reaktion auf die Erfahrungen mit Louis und teilte nicht meine Ansicht, einen anderen Menschen grundsätzlich nicht verstehen zu können. Meine Mutter hatte gesagt, Hunde würden davon ausgehen, dass es nur vernünftige Menschen gebe. Wenn Menschen Blödsinn und Witze machten, das könnten Hunde nicht verstehen. Es verwirre sie und mache sie nervös. Ich hatte mit Baabaa jedoch nur Quatsch und Blödsinn ge­macht, nur Toben, Balgen, Fangen spielen. Offensichtlich hielt Baabaa mich für den vernünftigsten Menschen dieser Welt überhaupt, den Obermenschen. Er wich nicht von meiner Seite. Warum Florian mich auch für den Obermenschen hielt, hatte mit Balgen und Raufen sicher nichts zu tun, es führte nur dazu, dass Louis langsam das Interesse an ihm verlor, wenn er sich immer bei mir rückversichern musste. Da hätte ich es schon merken müssen, dass selbst für kleine Kinder Wirkung und Anerkennung ein Prozess mit Wechselwirkung ist. Florian spürte, dass Louis nicht daran gelegen war, ihn möglichst in seiner Komplexität als Mensch wahrzunehmen, sondern in ihm das Klischee eines un­vollkommenen Kindes sah. Bewusst wurde Florian das sicher nicht, er spürte nur, dass er nicht so für voll genommen wurde wie von mir, und das wirkte auf Louis zurück. Im Grunde hatte es sich ja immer so abgespielt, dass ich letzten Endes meinen Gefühlen gefolgt war. Verstehen wollte ich es schon, aber meine Emotionen gaben eindeutig der Beziehung zu Elias den Vorrang, auch wenn es nicht selten in krassem Widerspruch zu meinen Verherrlichungen des Alleinle­bens stand. Alles egal war mir keinesfalls. Dass ich mich nicht in der Liebe ver­lieren und mich aufgeben würde, stand absolut fest. Und auch wenn ich Elias noch so komplex und tiefgreifend verstand, blieb er doch immer der eigenstän­dige Andere. Unsere Sucht nach gegenseitigem Austausch war immer span­nend, und konnte niemals die Tendenz haben, sich gegenseitig okkupieren zu wollen. Alles war offen. Ob es auch einem grundsätzlichen, wirklichen mensch­lichen Bedürfnis entsprach, zu schmusen, sich zu streicheln und und Zärtlich­keiten auszutauschen? Jedenfalls empfand ich es so. Baabaa hatte es gern, er suchte den Körperkontakt, vielleicht höchste Genugtuung, wenn seine Alpha­wölfin ihm größte körperliche Nähe gewährte. Die gewährten wir uns zwar auch gern und oft, aber ein Bedürfnis diesen Elias nackt neben mir im Bett lie­gen haben zu wollen, hatte sich bislang noch nicht entwickelt. Die sonderbaren Gefühle vom ersten Kuss damals stellten sich nicht erneut wieder ein. Mussten sie ja auch nicht. Zu Anfang hatten wir darüber diskutiert, unter welchen Be­dingungen es dazu kommen könnte. Aber nach kurzer Zeit hatten wir das un­sinnige Gespräch abgebrochen mit der Conclusio, wenn es eben dazu komme, würde es sich schon entwickeln und sonst eben nicht. Es entwickelte sich je­doch nichts, und letzten Endes war das ja auch in meinem Sinne. Nicht im Sommer, wenn Elias es liebte, mir ausgiebig Dekolleté und Schultern zu küs­sen. Als sehr angenehm empfand ich es schon, aber den Wunsch mit Elias ins Bett zu wollen, weckte es trotzdem nicht. Im Januar besuchten wir gemeinsam Gioachino Rossinis, 'Barbier von Sevilla'. Gleich zu Beginn schon hatte ich ein unterschwellig kitzliges Gefühl. Elias war für mich zugegen wie nie. Als ob sich die Oper mit seinem Kopf in mir abspielte. Bei Figaros Arie 'Una voce poco fa' mussten wir uns während der Oper küssen. Bei mir zu Hause umarmten und küssten wir uns wieder. Wir warfen unsere Mäntel ab. Streichelten, drückten und rieben unsere Körper aneinander. Ich hatte Elias Hemd aufgeknüpft, wollte seine Haut spüren. „Elias, geh nicht weg.“ flehte ich fast während einer kurzen Liebkosungsspause. Er machte zwar im Moment keinerlei Anstalten dazu, aber es wäre üblich gewesen. Mit dem Kopf fragte ich: „Wohnzimmer oder Schlaf­zimmer?“ Langsam entblätterten wir uns auf dem Bett und freuten uns dabei wie Kinder. „Oh, Linn. Oh, Linn.“ sagte Elias immer wieder, als wir uns nackt in den Armen hielten. Später war ich es, die mehrmals „Oh, Elias.“ sagte. Was es wohl weg­lässt, dieses singuläre „Oh.“ Ob es einfach ein Ausdruck der Verwun­derung, des Erstaunens, des Entzückens ist, für den näher bezeichnende Worte fehlen? Unerwartet, überraschend und tief beeindruckend muss das Gefühl dessen der es äußert schon sein. „Oh, wie wundervoll. Oh, wie göttlich. Oh, das hätte ich von dir nicht gedacht.“ wären wahrscheinlich zu triviale Äußerun­gen gegenüber diesem alles umfassenden, singulären „Oh.“ gewesen. Be­stimmt war dies mein tiefstes wirkliches Gefühl, das meine Sinne immer ge­sucht hatten, nur ich kannte es vorher ja gar nicht. Als ob die Haut meiner Wange der Pink Star, der teuerste Diamant der Welt sei, betasten Elias Finger­kuppen sie vorsichtig, ob­wohl er sie schon hundert mal gestreichelt hatte. Aber so kostbar wie im Mo­ment waren wir uns noch nie vorgekommen. Einfach bei­einanderliegen und die Haut, den Körper des anderen fühlen können, so war das nicht. Eine Erschei­nung musste es sein. Elias, den ich sonst aus Gedanken, Worten und Werken kannte, erlebte ich jetzt transformiert in einer neuen Seinsform. Ich empfand, dass wir uns längst in jeglicher Form vereinigt hatten, als wir schließlich auch miteinander schliefen. Wozu es jedoch erst nach sehr langer Zeit kam. Natür­lich erklärten wir uns nicht gegenseitig detailliert, was wir empfunden hatten, wir sagten gar nichts. Auch am nächsten Morgen nicht, außer kleinen Formali­täten. Wahrscheinlich war unsere Liebe so komplex und tiefgreifend, dass sie verbaler Kommunikation nicht mehr bedurfte. Worte wa­ren überflüssig. Unsere Mimik und Gestik, unsere Augen und unsere Körper schienen sich viel besser ohne störendes Geplapper zu verstehen. Ob der kör­perlichen Liebeskommuni­kation doch eine hilfreiche Funktion im Prozess des gegenseitigen Verstehens und Erkennens zukam? Jedenfalls hatten wir uns bis­lang gegenseitig so noch nicht wahrgenommen. Was sollte dagegensprechen, es in Zukunft öfter zu ver­suchen, zumal meine Angst vor dem fremden nackten Mann in meinem Bett absolut verflogen war.


Große Freiheit und Liebe

Hatte ich jetzt die letzten Reste von Freiheit und Eigenständigkeit verloren? Hatte mich wieder in Liebe mit einem Mann verbunden, war abhängig von die­ser Liebe und ließ sie bestimmend in mein Leben eingreifen? So hätte ich es wohl beurteilen müssen, und so hätte ich es vorher auch bewertet. Du kannst nicht anders, als alles nur zweckrational und funktional zu denken, und so han­delst du auch, bei allem und immer. In deinen Genen wird es nicht festgelegt sein, aber so ist unsere Welt überall organisiert. Das bezieht sich nicht nur auf wirtschaftliches und politisches Handeln, sondern du wirst es als kleines Kind nie anders kennenlernen, dass unser technologisiertes Alltagshandeln auf diese Weise zu funktionieren hat, in allem auch in der Beziehung unter Menschen. Deshalb dürfte es die Liebe eigentlich gar nicht geben, denn dabei funktioniert die Welt anders rum. Das Prinzip des kalkulatorischen Handelns ist hier aufge­hoben. Es erfreut dich, zweckfrei geben und schenken zu können und du wirst beschenkt, weil es deinem Liebsten Freude macht, dich ohne Bedingungen und Forderungen glücklich zu sehen. Dabei wird es sich um grundlegende mensch­liche Bedürfnisse und Gefühle handeln. Das unser kulturelle Entwicklung das Prinzip der Liebe nicht zur Prämisse allen Handelns in allen Bereichen entwi­ckelt hat, sondern uns zu kalkulatorischen Wesen konstruiert, führt dazu, dass wir vieles nicht verstehen können, weil wir es nicht in seiner wirklich menschli­chen Bedeutung erkennen und empfinden. Selbst wenn ich mich als nicht mehr frei und selbständig hätte sehen wollen, meine Gefühle hielten nichts von die­ser Einschätzung. Ich empfand mich stark und sicher wie nie zuvor. Meine Lie­be zu Elias hatte mir nichts genommen und mich nicht beschränkt. Elias gab mir Kraft und bestärkte mich. Vielleicht hatte Ellen doch Recht, dass es nicht die Bestimmung des Menschen sei, allein zu sein. Andererseits kann das Zu­sammensein, die Gemeinsamkeit, die Liebe oder wie immer du es nennst, das größte Problem darstellen. Das wir einander suchen und zusammen sein wol­len, ist in unseren Genen fest­gelegt, aber nicht wie man sich versteht und wie es funktionieren könnte. Und wenn es schon gut für den Menschen ist, nicht al­lein zu sein, dann war es kei­nesfalls so, dass es einen Mann gab, dem Gott zur Belustigung eine Frau ge­schenkt hatte. Das hatten sich Männer ausgedacht und aufgeschrieben. Wenn, dann war da zuerst die Frau. Das sah man doch bei uns. Zuerst war da die braune Frau, der ein Freund geschenkt worden war. Zum Mann entwickelte er sich und ließ so für beide das vollendete Glück mög­lich werden.

 

 

FIN

 

 

"Un sourire peut faire naître une amitié; Un mot peut mettre fin à une chicane; Un regard peut faire naître l’amour; Une personne peut changer une vie."

Proverbe français

 

Ich meinte schon, dass Baabaa, der Hund, mich möchte. Alles Unfug. In den Verhaltenskategorien seiner Rudelwelt würde er die Wahrnehmung meiner Person einordnen. Heute konnte ich das so nüchtern sehen, früher hätte es mir entsetzlich weh getan. Auch wenn ich den Hund immer für meinen treuesten Freund gehalten hatte, dass er ein anderer und niemals wie ich war, stand immer fest. Ob mir das bei Louis auch so klar war, weiß ich nicht genau. Er hatte auch genervt, und ich war froh, als er ging. Wenn ich mit Baabaa hätte reden können, wie gut hätten wir uns verstanden, wie sehr hätten wir einander in all unserer Unterschiedlichkeit respektiert. Mit Louis konnte ich ja reden und hatte es auch immer getan. Nur was ich verstand, war im Laufe der Zeit immer weniger geworden, und mein Interesse, ihn verstehen zu wollen, hatte zunehmend abgenommen. Dass er für mich jemand anders war, sah ich schon, und das zunehmend immer mehr. Nur es weckte kein verstärktes Interesse, sondern förderte das Empfinden von Fremdheit. Zwanzig Jahre waren wir zusammen gewesen. Meinen Bedürfnissen nach Vertrauen, Freundschaft, Sicherheit und Liebe hatte Louis denen nicht entsprochen? Doch schon. Da war ich mir sicher. Aber war es bei Louis anders als bei Baabaa? Waren es nicht auch meine Vorstellungen, meine Bilder von Liebe und Zuneigung, in die ich verliebt war? Aber wir konnten ja miteinander sprechen, uns gegenseitig verstehen, konnten sagen, was wir dachten und empfanden. Zum Abfassen von Kaufverträgen, Dienstanweisungen und auch wissenschaftlichen Untersuchungen reicht die Sprache völlig aus, aber wenn sich Menschen gegenseitig verstehen wollen, bin ich mir da nicht mehr sicher. Wenn du von Liebe, Zuneigung oder Vertrauen sprichst, ist das verbindende Gleiche minimal und ziemlich unbedeutend gegenüber dem großen Berg an Vorstellungen und Bildern, die nur mit deiner Person und deinem Erlebebens- und Erfahrenshintergrund verbunden sind. In vielfältigem, liebevollem, gemeinsamem Handeln kann es sich vielleicht zeigen, dass eurem Verständnis von Liebe sehr viel Gleiches anhaftet, aber allein das emphatische Schwärmen für die eigenen Vorstellungen vom anderen, zeugt nicht von tiefgreifender Liebe, die auf gegenseitigem Verständnis beruht. Doch was ich an Louis zu Beginn so sehr gemocht hatte, war immer mehr in der Routine des Alltags verblichen, und das Zentrale, was den Kern deiner Zuneigung bildet, das du aber nicht formulieren kannst, existierte einfach nicht mehr. Louis gehörte eben dazu.

 

Die braune Frau – Seite 22 von 22

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Tag der Veröffentlichung: 19.07.2014

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