Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Utas Stiftung
True to myself

 

Erzählung

 

 

"To be true to myself, to be the person that was on the inside of me, and not play games. That's what I'm trying to do mostly in the whole world, is not bullshit myself and not bullshit anybody else."

Janis Joplin

 

„Geronimo, ich finde es wunderschön so, aber der Zustand einer Trance, die uns gemeinsam ins Bett hinübergleiten lässt, wodurch soll der sich denn entwickeln. Ich befürchte, dass es dazu so nicht kommen wird.“ Geronimo lachte und antwortete: „Ich denke auch, dass er sich durch Streicheln, Küssen und Reden nicht von selbst ergibt. Wir werden es einfach tun müssen.“ „Was meinst du, sich einfach so ausziehen und gemeinsam nackt ins Bett gehen? Huch, da hätte ich aber Bedenken.“ meinte ich dazu. „Wieso, würdest du dich schämen?“ wollte Geronimo wissen. „Nein, das nicht, aber ich wüsste ja gar nicht, was dann geschähe. Vielleicht bekäme ich Angst und würde am ganzen Körper zittern, zum Beispiel.“ erwog ich. „Dann würde ich dich in den Arm nehmen und dich besänftigen.“ schlug Geronimo für diesen Fall vor. „Oder ich sagte: „Fass mich nicht an.“ Das könnte doch auch sein.“ gab ich zu bedenken. „Aber, Uta, wir fassen uns doch jetzt auch immer an. Wir zwei lieben uns doch. Gibt es eine Situation, mit der wir nicht für uns beide befriedigend fertig geworden wären? Warum sollte es sich im Bett anders entwickeln?“ monierte Geronimo. „Du bist ein Optimist, mein Lieber. Du meinst, weil wir uns lieben, wird für uns immer alles glücklich ausgehen, selbst wenn wir uns auf etwas so völlig Unsicheres einlassen, wie einfach miteinander ins Bett zu gehen.“ sah ich es. „Uta, ich würde doch nicht kommen und sagen: „So, jetzt gehen wir miteinander ins Bett.“. Es müsste schon eine äußerst liebevolle Atmosphäre herrschen, in der wir unsere Liebe intensiv spüren, in der wir zärtlich zueinander sind und glücklich darüber, dass wir uns gegenseitig gehören. Und in so einer Situation würdest du dann plötzlich sagen: „Komm mit, Geronimo.““ malte Geronimo die Szenerie. „Komm mit, würde ich sagen und meinte, komm mit ins Bett. Das würdest du wissen und mir dann auch folgen. 'Komm mit, Geronimo' wäre also das Stichwort?“ vergewisserte ich mich. Ernst war ich schon seit Beginn des Gespräches nicht mehr, aber jetzt platzte ich los. Gab es für mich an Geronimo auch etwas Erotisches? So direkt sah ich das nicht, aber wie mich unsere Küsse berührten und wie ich es empfand, wenn er mir mit seiner Hand über den Rücken fuhr, was für andere Gefühle sollten das denn sein als erotische. „„Komm mit, Geronimo.“ würde ich jetzt sagen. Hast du verstanden?“ fragte ich. Hatte Geronimo offensichtlich nicht. Nachdem er kurz erstaunt geblickt hatte, fragte er verwundert: „Wieso? Wohin?“ „Ich dachte, du wüstest dann Bescheid. Hast du doch gesagt.“ ich darauf. „Was? Jetzt? Wir beide sollen jetzt direkt zusammen ins Bett gehen?“ „Na, siehst du, du machst es also doch nicht. Warum sagst du es dann?“ beschwerte ich mich. „Uta, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll? Ist das nicht sehr plötzlich?“ gab Geronimo zu bedenken. „Sollte es doch sein, hast du extra gesagt, ich sollte es plötzlich sagen.“ belehrte ich ihn, worauf er mich umschlang und drückte. „Du bist nicht nur die wundervollste Frau, sondern auch die lustigste und süßeste.“ flüsterte er mir ins Ohr und biss mir anschließend ins Ohrläppchen. „Du bist ein Kindskopf, Geronimo. Ob wir zusammen ins Bett gehen oder nicht, das ist doch eine ernsthafte Frage.“ mahnte ich, nur ich konnte mich selbst vor Lachen nicht halten. Dass Geronimo auch nicht ganz ernst war, konnte man dem Tonfall entnehmen, in dem er sich entschuldigte. „Uta du bist für mich auch körperlich das Ideal einer schönen Frau.“ erklärte Geronimo plötzlich. „Ah ja? weil ich so wirklichkeitsnah und realistisch bin, nicht wahr? Du spinnst, Geronimo, ich bin über vierzig und da ist der Körper einer Frau kein Schönheitsideal mehr.“ widersprach ich. „Schau mal, die Uta von Ballenstedt, die Naumburger Uta, ist schon mehrere Jahrhunderte alt. Sie wäre die Frau mit der er am liebsten Essen gehen und den Abend verbringen würde, hat Umberto Eco in seiner Geschichte der Schönheit erklärt. Kannst du den Hauch eines Grundes erkennen, weshalb das für mich bei Uta von Grohmann anders sein sollte. Wenn du die oberflächlichen Kriterien einer geometrischen Gebrauchsästhetik anwendest, magst du Recht haben, aber mein Blick, und der Blick der Liebe generell, sieht die Schönheit wesentlich umfänglicher.“ erklärte Geronimo. „Du siehst also auch meine schöne Seele. Ja, und der Adel, der mir innewohnt. Nenn mich in Zukunft, bitte, immer von Grohmann.“ scherzte ich, „Die Uta bedeutete ja einen revolutionären Wandel in der Darstellung von Persönlichkeit und psychischem Ausdruck, gehört das auch zu deinen Schönheitsimpressionen bei mir? Aber du hast schon Recht, das Schöne allgemein, umfänglich zu erkennen, das würde Platons Vorstellungen entsprechen und nicht die heute gebräuchliche Vulgärkonnotation von der sogenannten 'platonischer Liebe'. So sehe ich es auch. Dann wärst du sicher mein Ekkehard, auch wenn du zum Geschlecht der Isobaren gehörst, die ja an sich keinen ästhetischen Wert verkörpern, aber du bist für mich das denkbar schönste Isobärchen überhaupt und liegst voll auf meiner Luftdrucklinie.“ kommentierte ich.

 

 

 

Utas Stiftung - Inhalt

Utas Stiftung 4

Schwarzer Block 4

Neues Leben 5

Pias Geburtstagsparty 6

Geronimos Besuch 9

Lass es, Geronimo 11

Keine Treffen mehr 12

Liebeskummer 13

Total verknallt 14

Ernüchternde Information 16

Urlaub in den Cevennen 17

Abschied von Geronimo 19

Neues Geschlecht 22

Ich bin noch fruchtbar, Geronimo! 23

Einen Dom für das neue Leben stiften 27

Wohnungsfragen 30

Weihnachten begehen 34

Tanjas neue Mutter 38

Tanja, Geronimo und Uta gemeinsam 39

Schweres Leben 41

Verbrüderung auf dem Rasen 42

Epilog 44

 

 

Utas Stiftung - Schwarzer Block

Im Schein der späten Nachmittagssonne auf der Terrasse sitzen und einen Tee trinken, ein Gefühl von Ausgeglichenheit und Milde verband ich damit, und die orange werdende Sonne, stimmte auch mein Gemüt warm und wohlig. Durst hatte ich direkt nicht, deshalb trank ich nicht den Tee. Immer trinken die Men­schen. Wahrscheinlich ist es ihnen angeboren, permanent zu trinken, um die­ses Gefühl von Durst gar nicht erst aufkommen zu lassen. Du kannst natürliche alle möglichen Flüssigkeiten zu dir nehmen, aber unser Alltag wird dominiert von Kaffee und Tee. Vielleicht gibt es noch einige Schwerarbeiter, die wie der englische König sagen: „Wozu brauche ich Tee, wenn ich Bier habe?“, aber die Anzahl wird gewiss immer geringer. Ebenso ist in Frankreich längst nicht mehr wie früher, Wein das dominierende Getränk und in der Provence sicher nicht mehr der Pastis. Mit Kaffee oder Tee verbinde ich unterschiedliche Assoziatio­nen. Kaffee ist für mich das Getränk des Alltags. Morgens, vor der Arbeit kommt nur Kaffee in Frage, und so ähnlich läuft es den ganzen Tag über. Tee passt besser zu Besonnenheit und Entspannung. Bei einer Tasse Tee verführt es mich leicht zum Träumen, Spinnen und Sinnieren. Du hast Durst. Dein Kör­per braucht Flüssigkeit. Du musst und willst etwas trinken, um dein Verlangen zu befriedigen. Du hast Hunger, dein Körper braucht Nahrung. Du isst etwas, und der Hunger ist gestillt. Aber was hast du, wenn dein Sexualtrieb nach Be­friedigung verlangt? Sexuelle Bedürfnisse oder sexuelles Verlangen? Schon möglich, nur so spricht niemand, dafür gibt es eine Unmenge an pejorativen, vulgären Wörtern und Slangausdrücken, die nicht gesellschaftsfähig sind. Warum gibt es dafür nicht klare, neutrale, nichtbewertende Bezeichnungen wie Hunger oder Durst, natürlich ist der Sexualtrieb doch genauso gut? Um mein Problem zu lösen, hätte ich wahrscheinlich die ganze abendländische Kulturge­schichte und Moralphilosophie durchforsten müssen, und dürfte dabei die Psy­chologie und Soziologie nicht vergessen. Die Befriedigung des Sexualtriebs ist eben ein komplexer Vorgang, der fast den ganzen Menschen und seine vergan­genen und augenblicklichen kulturellen Bedingungen einbezieht und nicht nur ein klar zu beschreibender, umgrenzter physiologischer Prozess wie Essen und Trinken. Es gab zwar keine festgefügten politischen Blöcke mit allumfassenden theoretischen Systemen, die alles erklären konnten und alles bestimmten, mehr, aber alles neu gab es nicht, völlig frei, offen und natürlich, als ob es un­sere Geschichte mit all ihren Implikationen nicht gegeben hätte, waren wir deshalb keineswegs. Der Kapitalismus hatte gesiegt, und Frank war und blieb ein kapitalistischer Stinker, aber gesiegt hatte er trotzdem nicht. Er selbst wusste es nur gar nicht, weil er zu dumm war, es zu erkennen. Ebenso wie es mit der Geschichte und Kultur der gesamten Menschheit ist, kannst du auch bei dir selbst nachträglich nichts ungeschehen machen oder löschen. Wie gerne hätte ich gesagt: „Jetzt ist endlich ein Schlussstrich gezogen. Ein neues Leben fängt an. Was vorher war ist wertlos und schlecht. Es soll nicht mehr existie­ren.“ Meine Kinder wären mir in der Nacht plötzlich neu von einer Fee ge­schenkt worden. Nur die Wirklichkeit ist deinem Wunsch, etwas Geschehenes eliminieren zu wollen, nicht wohlwollend gesonnen. Wozu brauchte ich das denn noch, wozu brauchte ich noch die Erinnerung daran? Deine höchsten Gü­ter, sind die, welche dich emotional tief bewegen. Nichts übersteigt deine Be­ziehung zu Menschen, die du liebst, und die dich lieben. Das Grässlichste ist si­cher, wenn ein geliebter Mensch stirbt, aber direkt danach kommen Streit und Hass. Ich dachte nicht ständig daran, es war ja auch schon sechs Jahre her, aber in irgendwelchen Zusammenhängen tauchten immer wieder Erinnerungen an diesen schwarzen Block in meinem Leben auf. Vergessen? Dazu würde es niemals kommen.

 

Neues Leben

„Natürlich, jederzeit kannst du ein neues Leben beginnen.“ wollte mich Alena, meine innigste Freundin, überzeugen. Alena war meine Seele. Wir hatten uns schon als Kinder beim Geigenunterricht kennengelernt und direkt gespürt, dass wir auf dem gleichen Floß saßen. Ständig ist das Meer des Lebens von heftigen Stürmen gepeitscht, und irgendwann geht jedes noch so stolze Schiff unter. Da brauchst du jemanden, der mit dir zusammen auf dem Floß sitzt, das euch ret­ten kann. Frank saß nicht bei mir auf dem Floß, hatte nie dort gesessen, nur ich hatte es nicht erkannt, hatte auch gar nicht danach gefragt. „Schau mal, wie viele Menschen sind durch Drogen oder sonst was in Lebenszusammenhän­ge geraten, die sie nie gewollt hätten. Nur dadurch, dass sie einen radikalen Schnitt machen und ein neues Leben beginnen, können sie da wieder raus kommen.“ erklärte Alena. „Das ist die Erscheinung, und sie ändern auch sicher vieles an den Umständen, aber ein neues Leben kann es für einen Menschen niemals geben, du mit deiner Geschichte bleibst immer dabei, außer bei der Wiedergeburt, da wird es vielleicht anders sein.“ meinte ich dazu. „Uta, du bist pessimistisch, das ist dein Problem.“ Alena darauf. „Alena, das ist doch Quatsch. Ich sehe doch nicht alles schwarz, und Depressionen habe ich auch nicht, nur alles als wundervoll zu glorifizieren, bedeutet doch, unrealistisch die Wirklichkeit zu leugnen.“ entgegnete ich. „So meine ich das doch nicht, das weißt du ja, aber du hast doch immer viele unterschiedliche Möglichkeiten, woran du denkst und denken willst. Es hat dich damals tief verletzt und dich emotional äußerst stark ergriffen, als dir deine geliebte, kleine Tanja erklärt hat, sie fände euch hässlich, und so eine Frau wie du möchte sie niemals wer­den. Tanja weiß es heute bestimmt gar nicht mehr, aber dir stößt es immer wieder auf. Das ist das alte Leben. Es sollte auch für dich vorbei sein, du soll­test lieber daran denken, wodurch du Tanja heute eine Freude bereiten könn­test. In deinem neuen Leben siehst du die Welt neu, und denkst jeden Tag und immer daran, was sie dir Wundervolles zu bieten hätte. Du musst das Positive auch sehen wollen. Ein neues Leben heißt für mich, neu denken.“ erläuterte Alena. Sie war diejenige auf unserem Floß, für die immer Land in Sicht war. Na ja, wollen würde ich es ja schon gern, ob ich es mir nur fest vornehmen und meine Gedanken kontrollieren müsste? Pia war auch so eine. Meine Freundin Pia musste auch so eine sein wie ich. Ich liebte sie, und wir tanzten immer vor Freude, wenn wir zusammenkamen. Alena war für mich gedanklich eine feste Burg, voller Selbstvertrauen, auf sie konnte man sich immer verlassen. Bei mir selbst hielt ich das nicht mehr für ratsam und bei Pia wäre ich wohl auch lieber vorsichtig. Nur bei Pia hatte es völlig andere Gründe als bei mir. „Natürlich hätte ich schon gern einen festen Freund, mit dem du gemeinsam eine Perspektive für dein weiteres Leben siehst, aber wenn du feststellst, dass es so nicht werden kann, was willst du da machen?“ erklärte Pia. Aller Voraussicht nach würde die Suche danach aber immer erfolglos bleiben. Pia hatte zwar immer einen Mann, aber immer nur für mehr oder weniger kurze Zeit. Ob ihre Suche nach einer dauerhaften Beziehung nur eine oberflächliche, verbale Äußerung war, konnte ich natürlich nicht feststellen, nur schienen die Partnerwechsel Pias Lebensgefühl in keiner weise zu beeinträchtigen. Pia war ein äußerst lebenslustiger Mensch. Sie war intelligent und gebildet, liebte Musik und Philosophie und bot eine elegante, gutaussehende Erscheinung. Dass es für sie kein Problem darstellte, einen neuen Liebhaber zu finden, konnte ich gut verstehen. Aber es musste doch auch jedes mal Disharmonien und Auseinandersetzungen geben, bevor man sich trennte. Pia erweckte aber den Eindruck, dass sie es in ihrer Erinnerung, in ihrer Geschichte auslöschen könne. Wenn ich sie fragte, warum es mit Rainer denn nicht geklappt hätte, erklärte Pia nur lapidar: „Ach, wir waren eben doch sehr verschieden. Uns ist klar geworden, dass wir ganz andere Bedürfnisse hatten, die wir gemeinsam nicht würden befriedigen können.“ Na schön, so würde ich es auch gern sehen können, aber ich hatte es zu tief in meine Psyche gelassen, hatte mich damit identifiziert. Unsere Beziehung, das war ich, das war mein Leben, und dann hatte es sich so entwickelt, wie ich es für mich nie gewollt und auch gar nicht für möglich gehalten hätte. Ich hatte eine Frau erlebt, die nicht ich war, und die ich nicht sein wollte. Es war aber geschehen, diese Frau befand sich also auch in mir. Ich konnte es nicht leugnen. Mein Selbstbild taugte nicht mehr. Wozu ich sonst noch wohl in der Lage wäre, wenn die Umstände entsprechendes Verhalten nahe legten? Selbstachtung? Wovor sollte ich die denn haben? Und das war doch nicht etwas, was ich mir mal so eben positiv einreden konnte, wie Alena es wünschte.


Pias Geburtstagsparty

Meine Beziehungen hatten sich insgesamt gelichtet, aber schon seit längerer Zeit. Ich war zu stark beschäftigt und konnte mich nicht mehr so viel um Freunde und Bekannte kümmern. Wenn ich ehrlich war, musste ich auch ge­stehen, dass ich weniger Lust dazu hatte. Begonnen hatte es schon damals während der Auseinandersetzungen mit Frank, da konnte und wollte ich manchmal niemanden sehen. Seit der Trennung hatte sich mein Sozialleben aber keineswegs erweitert oder ausgedehnt. Es verlief eher in die Richtung, dass ich mich zunehmend isolierte. Pia hatte Geburtstag. Die Fèten bei Pia empfand ich aber immer als ein Freudenfest. Sie hatte stets wundervolle Leute eingeladen, und die Hälfte von ihnen kannte ich in der Regel vorher noch nicht. Dieser übliche Partysmalltalk kam nie auf, du konntest immer geistreiche Un­terhaltungen führen. Einmal hatte ich fast den ganzen Abend mit einem Diri­genten gesprochen, der sich bemühte, mir alle möglichen Sinfonien gefühlvoll nahe zu bringen. Zu so einem Menschen wie Frank würde der sich niemals ent­wickeln können, meinte ich. Aber bei Frank hätte ich das ja auch nicht vermu­tet. Ein wenig schlicht war er wohl schon immer, eine Melange eben, bei dem im Kopf einiges vermischt war. Aber was spielte das bei der Liebe für eine Rol­le? Bei welchem Mann vermutet eine Frau das nicht? Du gehst erst mal davon aus und findest bald Bestätigung, dass er manches nicht so dezidiert verspürt, dass es ihm im Sozialen an dem dir vertrauten Feingefühl mangelt. Trotzdem kann er äußerst lieb und nett sein, ein Mann eben. Geronimo war auch ein Mann. Ein Italiener wahrscheinlich und vielleicht ein Macho. Aber solche Män­ner hätte Pia gar nicht eingeladen. Geronimo war auch kein Italiener sondern absolut Deutscher. „Nein, nein, meine Eltern sind auch keine Italiener, auch keine Kinder von Gastarbeitern. Im Grunde haben sie mit Italien nichts zu tun. Sie möchten nur liebend gern Italiener sein. Ist das nicht verrückt?“ erklärte Geronimo und lachte. Und ich, wusste gar nicht warum, musste auch lachen. „Du bist aber lieber Deutscher, nicht wahr? Und deine Eltern, warum wollen die gern Italiener sein? Sie könnten doch jederzeit auswandern.“ erklärte ich. „So weit geht die Liebe wahrscheinlich doch nicht. Sie haben nur einen italienisch Namen, weil vor mehreren Jahrhunderten wohl mal ein Italiener hierher ge­kommen sein muss. Vielleicht als Musiker oder Geigenbaumeister bei einem Fürsten. Keiner weiß es genau, aber die ganze Verwandtschaft Varga sieht sich als Italiener und ist stolz darauf.“ erläuterte Geronimo. „Und du bist nicht stolz? Das ist aber schade.“ meinte ich. Geronimo lachte. „Wieso wäre es gut für mich, ein stolzer Italiener zu sein?“ wollte er wissen. „Na, das macht doch ein wundervolles Gefühl. Sonst quälst du dich mit Selbstzweifeln und grübelst über deine Missetaten, und so kannst du immer denken, wie wundervoll ist die Welt, weil ich ein Italiener bin.“ erklärte ich auch nicht ganz ernst. Geronimo lachte wieder. „Du meinst, ich sollte es mir auch lieber einreden, dann hätte mein Leben einen positiven Sinn. Kritik, Vorwürfe und Zweifel an mir selbst hätten da keine Chance. Machst du dir denn immer kritische Gedanken über dich selbst?“ wollte Geronimo wissen. Ich war mir unsicher, was ich sagen soll­te. Geronimo war ja ein völlig fremder Mensch, aber konnte ich ihm nicht gera­de deshalb offen erzählen, was mich bewegte? Einen vertrauensvollen Eindruck erweckte er schon, aber bei derartigen Einschätzungen und Prognosen traute ich mir selbst nicht mehr. Allerdings, Geronimo irgendetwas vorschwätzen, das mochte ich auch nicht mehr. „Nein, so nicht. Nur zu meinem Leben gehören auch Phasen, mit denen ich überhaupt nicht zufrieden bin.“ erklärte ich. Dann erzählte ich, wie die große Liebe sich später in Hass, Verachtung und Verleum­dung verwandelt hätte. Ich hätte mich genauso daran beteiligt, obwohl ich so ein Verhalten für mich eigentlich als unmöglich einschätze. Es sei aber gesche­hen und gehöre jetzt eben auch zu meinem Leben. „Zur Furie hast du dich also entwickelt und wolltest deinem Mann mal zeigen, wo die Glocken hängen.“ ver­mutete Geronimo. Jetzt, als Geronimo es sagte, musste ich lachen. „Ja, so ähnlich hat es bestimmt ausgesehen.“ bestätigte ich ihn. „Und wo ist heute dein Problem?“ fragte Geronimo. Ich wusste auch nicht. Im Moment spürte ich überhaupt nichts von einem Problem. Bei Pia auf der Fète sein und Geronimo alles erzählen können, wo willst du da noch ein Problem haben. „Geronimo, so ein Mensch wie damals, wollte ich vorher nicht sein und will es nie wieder sein. Es ist aber geschehen und gehört zu mir. Das bin ich also auch.“ erläuterte ich. „Ich sag es mal ganz stark vereinfachend: Du hast dich als guten Menschen gesehen und möchtest dich auch so sehen. Dann ist aber eine Situation einge­treten, die dich mit dem Bösen konfrontiert hat, und du hast dich darauf einge­lassen. Das ist es, was dich heute noch beschäftigt. Du bist dir nicht mehr si­cher, wer du selbst bist. Das ist schrecklich und entmutigend, nicht wahr?“ sagte Geronimo. Ich nickte Zustimmung. „Uta.“ sagte er nur und lachte mich an. Ich verstand nichts, aber es machte ein gutes Gefühl, und ich formte auch eine Lachmimik. „Ich könnte dir jetzt eine Vorlesung halten. Das ist eines der Hauptthemen in meinem Beruf. Ich bin Philosoph an der Uni, und das Gute stellt schon seit Platon ein zentrales Thema dar. Aber so möchtest du sicher nicht darüber reden. Es geht dir ja um deine Gefühle und dein Selbstbild. Mag sein, dass Menschen lieber das Gute erleben und tun wollen, aber einen gene­tisch determinierten guten Menschen gibt es nicht. Jede und jeder trägt immer die Möglichkeit zu beidem in sich. "Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?" hat Alexander Solschenizyn mal gesagt. Mag sein, dass der liebe Gott es nicht so gern gesehen hat, aber wie du dich verhal­ten hast, ist absolut menschlich natürlich und normal. Irgendwelche Vorwürfe im Nachhinein solltest du dir deshalb keinesfalls machen, es sei denn du bist masochistisch und liebst es, dich selbst zu quälen.“ erläuterte Geronimo. Ich grinste verlegen, wusste gar nicht was ich dazu direkt sagen sollte. „Ich war aber entsetzlich, habe meinen Mann beleidigt und desavouiert, eine richtig böse Hexe. Das habe ich doch gemacht. Normal soll das sein?“ fragte ich. „Das kann entsetzlich quälend sein, sich selbst so zu erleben, wie man keinesfalls sein möchte. Ich verstehe das gut. Nur dein Bild von dir war nicht komplex ge­nug, wer das für sich ausschließt, hat ein beschränktes Bild von sich. Jede und jeder muss damit rechnen, dass er in Situationen kommen kann, in denen er handelt, wie er es eigentlich nicht gewollt hätte. Ich kenne dich ja gar nicht, nur das kann ich mir von dir auch nicht vorstellen, würde dich zu gern mal so erleben.“ meinte Geronimo. „Wir können es ja mal proben, aber nein, keines­falls. Ekelhaft ist das für mich.“ machte ich deutlich. „Was für ein Mensch möchtest du denn gerne sein, wie sieht die Uta aus, die du dir wünschen wür­dest und die du meinst zu sein ohne die temporäre Hexe?“ wollte Geronimo wissen. Ich lachte auf. Nein, Verlegenheit spielte da nicht mehr mit, dafür war es ja schon längst zu offen, nur ganz genau wusste ich es eigentlich selbst nicht. Wir entwickelten mein Wunschselbstbild gemeinsam und lachten uns schief dabei. „Würdest du es so für das Idealbild einer Frau von vierzig Jahren halten?“ wollte ich von Geronimo wissen. „Das kommt ja immer darauf an, welche Kriterien du anlegst. Für mich persönlich heute ist es schon als Idealbild zu sehen, weil es sehr wirklichkeitsnah und damit real ist. Die gängigen alten Vorstellungen vom idealen Menschen sind doch alle ins Irreale überzogen, sind mehr theoretische Forderungen, die niemand im alltäglichen Leben wirklich er­füllen kann.“ erklärte Geronimo. „Ich würde auch gern mal dein Selbstbild und deine Idealvorstellungen kennenlernen.“ wünschte ich. Ob er das jemals in ei­ner anderen Situation einem fremden Menschen von sich erzählt hätte? Warum tat er es jetzt? Na klar, ich hatte es auch gemacht, und es war sehr lustig ge­wesen. Dass ich Geronimo dadurch vieles, im Grunde doch recht Intimes von mir offenbart hatte, war mir gar nicht bewusst geworden. Jetzt, bei Geronimo fiel es mir auf. Wir machten es natürlich auf die bewährte weise mit meinen Impulsen, Ergänzungs- und Verbesserungsvorschlägen. Trotzdem glaubte ich, Geronimo besser und vor allem tiefer kennengelernt zu haben, als wenn er mir seine ganze Biographie erzählt hätte. Vor allem auch, wie er es darstellte, wie er auf meine Einwände reagierte, worüber und wie er lachte, zeichneten für mich ein Bild von ihm, worüber bei seinem Selbstbild gar nicht explizit gesprochen worden war, worüber man auch nicht sprechen konnte, was mir aber als das Entscheidende galt. Ob Idealmensch oder nicht, das war mir ziemlich egal. Alena war eindeutig eine Frau, wie ich sie mir wünschte, auch wenn ich Pia liebte, aber bei ihr hätte ich da schon eher Bedenken. Geronimo passte gar nicht in den Bereich, wie ich mir Männer vorstellen konnte. Natürlich sind die Charaktere der Männer heute vielgestaltiger als die hergebrachten Klischees, aber du kannst einen Jungen, dessen Sozialisation in dieser Gesellschaft stattfindet, nicht davon fernhalten, sich als Mann zu verstehen und auch entsprechende Verhaltens- und Denkweisen zu zeigen. Das war auch bei Ruben, meinem Sohn, nicht anders. Er war zwar kein kleiner Macho, aber vieles sah und empfand er eben völlig anders als Tanja, seine Schwester. Geronimo war kein Mann, jedenfalls nicht so, wie ich mir einen Mann vorstellen konnte. Er war ja kein Psychiater, aber er hörte mir zu, als ob er bei jedem Satz, den ich sagte, meine Seele erkennen könne. Für mich war aber das Erstaunlichste, dass es ihn nie drängte, von sich zu erzählen, sich darzustellen und bewundern zu lassen. Warum tat er das nicht? Er brauchte doch genauso gut Anerkennung wie andere Männer auch. Indirekt versuchte ich es herauszufinden. „Es wird so sein, dass Männer häufig auf diese untaugliche weise versuchen, Anerkennung zu finden. Bei Frauen ist es das schöne Kleid oder ihr Aussehen. Philosophen brauchen so etwas nicht. „Alles gehört den Göttern. Die Götter sind Freunde der Weisen. Freunden ist alles gemeinsam. Es folgt: Alles gehört den Weisen.“ hat Diogenes es aus seiner Tonne erklärt. Kann es Wichtigeres geben, was ein Philosoph nicht längst hätte?“ scherzte Geronimo und lachte. Geronimo hatte Lust zu scherzen und lachte gern. Voller Ironie waren oft seine Antworten und Fragen. Er schien zu spüren, was mich erfreute. Dass es oft lustig war, gefiel uns schon, aber wir diskutierten sehr ernsthaft über Anerkennung und Beziehungen, Selbstbewusstsein und das Bewusstsein überhaupt und darüber, was unter dem Ich zu verstehen sei. Dass wir dabei oft ins Philosophische gerieten, erweckte den Anschein wissenschaftlich fundierter Diskussionen. Warum sollten wir denn aufhören, als fast alle Gäste schon gegangen waren? Uns persönlich trieb doch nichts. Ein Grund, unsere Unterhaltung zu beenden, würde niemals gefunden werden können, was mittlerweile weniger an den diskutierten Themen lag, als an der Lust der Teilnehmer miteinander zu kommunizieren. „Geronimo ist der größte lebende Philosoph.“ erklärte Pia, als wir schließlich doch gehen wollten, „Vielleicht sollte man sagen, der lebendigste.“ korrigierte sich Pia und ließ uns lachen. Natürlich mussten wir uns noch weiter unterhalten. Der lebendigste Philosoph wollte und sollte mich besuchen kommen.


Geronimos Besuch

Ich öffnete Geronimo die Tür und fiel ihm zur Begrüßung um den Hals. In dem Moment, als ich es tat, hätte ich es gern rückgängig gemacht. Wie konnte ich nur? „Bestimmt bin ich so froh, dass wir unser Gespräch endlich fortsetzen können.“ erklärte ich es scherzend und entschuldigend dem zwar leicht er­staunten, aber schmunzelnden und glücklich blickenden Geronimo. „Ich dachte schon, du hättest dich gefreut, mich endlich wiederzusehen.“ reagierte Geroni­mo auch nicht ganz ernst. Ich grinste nur. Wahrscheinlich hatte mein Unbe­wusstes mich genau deshalb so handeln lassen, aber so etwas durfte mein Be­wusstsein nicht erfahren. Wir gingen gemeinsam in die Küche. „Kaffee oder Tee?“ wollte ich wissen. „Wenn es dir egal ist, plädiere ich für Tee. Da be­kommt man schönere Gedanken.“ erklärte ich. Ruben kam rein. „Das ist Ru­ben, mein Sohn, er steckt gerade im Abitur.“ stellte ich ihn vor, „Und das ist Geronimo. Nein, um Himmels Willen, Professor Dr. Geronimo Varga ist das. Ich habe Herrn Varga auf der Fète bei Pia kennengelernt.“ „Und hast ihn gleich ab­geschleppt?“ vermutete Ruben. „Ruben, bitte, benimm dich. Ich schleppe grundsätzlich nie einen Mann ab. Und gewöhne dir ab, in diesem Slang Verbal­injurien zu verbreiten.“ ermahnte ich Ruben und zu Geronimo, „Er will immer erwachsen sein, hat aber offensichtlich noch Übungsbedarf in dieser männli­chen Kraft- und Vulgärsprache.“ Ruben lachte nur, als er wieder ging. „Ich bin da auch nicht firm. Ich brauchte da auch noch Übung.“ scherzte Geronimo. „Ja, ich erkläre dir, was du für ein Schwein bist, und du beschimpfst mich dafür. Nein, nein, das will ich nicht und kann ich nicht.“ erklärte ich. „Was du an dir für so negativ hältst, hat doch auch einen positiven Aspekt. Du hast dich nicht unterkriegen lassen, hast dich behauptet und gewehrt. Das solltest du auch so sehen. Eine starke Persönlichkeit hast du allemal. Du sagst, es gehört zu dir, weil es geschehen ist, aber das warst nicht wirklich du selbst. Du hast mir am Abend bei Pia imponiert, weil du so ehrlich du selbst warst, nichts gespielt und vorgetäuscht. Wundervoll, so möchte ich auch sein können, immer nur wirklich mich selbst leben. Kein Spiel, kein Theater, aber im Alltag existiert nur das.“ erklärte Geronimo. Ich? Immer ganz authentisch? Wie schön, nur lebte ich doch gar nicht so. War ich denn nicht vollgestopft mit Rollenanforderungen, mit den allgemeinen Vorstellungen eines Habitus dem ich in meinem Leben ge­recht zu werden hatte? Aber Geronimo hatte Recht, an dem Abend bei Pia existierte das alles nicht. Es gab kein Bild von dem ich meinte, dass Geronimo diese Uta so sehen sollte. Ich war in unserer Unterhaltung schon der nackte Mensch Uta direkt, wie ein Kind, als ob all dass, was das spätere Leben mir umgehängt hatte, in dieser Situation von mir abgefallen wäre. Bestimmt war auch das ein Grund, weshalb ich mir wünschte, das Gespräch mit Geronimo möge nie enden. „Mir kam es aber auch nie so vor, als ob du etwas spieltest, mir etwas vorgeführt hättest. Sicher ist es so, wie du sagst, dass es allgemeine Alltagspraxis ist, sich etwas vorzuführen, sich zu zeigen und zu reden wie je­mand, der man in Wirklichkeit gar nicht ist, aber verarschen sich die Menschen da nicht eigentlich gegenseitig?“ fragte ich. „Na klar, du siehst immer nur die Erscheinung und nie den komplexen Menschen an sich. Das nutzen die Leute aus und konstruieren ihr Erscheinungsbild so, dass sie meinen, man würde sie besonders positiv einschätzen.“ Geronimo darauf. „Hast du bei mir denn den komplexen Menschen Uta gesehen, wenn ich doch nichts gestellt und verbogen habe?“ wollte ich wissen. „Nein, das kannst du prinzipiell nie, aber es gibt schon erhebliche Unterschiede, und je umfänglicher die Komplexität deines Er­kennens ist, umso größer ist dein Bedürfnis sie noch zu vertiefen und zu erwei­tern. Bei jeder Tür, die du öffnest, siehst du zehn weitere und bist neugierig, auch sie zu öffnen.“ erklärte Geronimo. „Du meinst, dadurch dass und wie wir uns bei Pia kennengelernt haben, ist eine Beziehung zwischen uns entstanden, die keinesfalls nur oberflächlich ist, sondern uns neugierig aufeinander ge­macht hat?“ wollte ich wissen. „Muss ich dazu etwas sagen, Uta? Empfindest du das denn nicht selbst?“ antwortete Geronimo.


Lass es, Geronimo

Ich wusste gar nicht was ich empfand. Es machte ein äußerst angenehmes Ge­fühl, wenn Geronimo bei mir war, und ich mich mit ihm unterhalten konnte. Er kam jetzt öfter. Warum und weshalb, danach fragten wir nicht und wollten auch gar nicht darüber sprechen. Es gefiel uns eben und löste Glücksgefühle aus. Meine bösen Erinnerungen und Selbstzweifel verschwanden immer mehr. Ein Quantum Lebenslust, von dem ich erst jetzt merkte, dass es mir unendlich lange gefehlt hatte, war mir zurückgegeben worden. Wozu musste ich da noch krampfhaft nach positiven Gedanken für den Tag suchen, wenn ich wusste, dass Geronimo heute kommen würde. Sah so mein neues Leben aus? „Geroni­mo, empfindest du unsere Gesprächssituation immer noch so wie damals, als wir uns bei Pia kennengelernt haben, oder siehst du es so, dass es sich im Lau­fe der Zeit verändert hat?“ wollte ich wissen. Geronimo überlegte bevor er ant­wortete: „Nichts bleibt so, wie es ist. Nichts wiederholt sich. Es ist immer ein Prozess, und da kommt es auf die Entwicklung an.“ „Du sprichst sybillinisch, Geronimo. Wie hat sich der Prozess denn konkret entwickelt?“ hakte ich nach. Geronimo grinste und druckste: „Uta, wir sehen uns wenigstens einmal in der Woche. Da könnte das Bedürfnis und die Lust erlahmen. Dann hätten wir es wahrscheinlich einschlafen lassen. Aber bei mir ist das Bedürfnis und die Lust permanent gewachsen. Am liebsten würde ich dich jeden Tag sehen. Primär sind für mich nur die Tage von Bedeutung, an denen wir uns treffen.“ Was soll­te ich denn dazu sagen? Das war doch mehr als eine indirekte Liebeserklärung. Über alles nur denkbare hatten wir offen und direkt gesprochen, über unsere Beziehung hatten wir lediglich erklärt, dass sie nicht oberflächlich sei. Offen­sichtlich hatte sich Geronimo darüber aber schon Gedanken gemacht. Ich er­lebte unsere Beziehung ja auch, aber mehr als sie für wundervoll zu halten, gestattete mein Bewusstsein anscheinend nicht. „Geronimo, ich empfinde un­sere Treffen doch auch als wundervoll, belebend und glücklich. Ich bin sicher, es beeinflusst mein Leben enorm, dass wir miteinander sprechen, und wie wir es tun, nur wie du es erklärt hast, geht es dir nicht ausschließlich um unsere Gespräche, sondern vor allem auch um mich persönlich. Ich weiß ja gar nicht mal, ob du verheiratet bist oder eine Partnerin hast. Das ist auch gleichgültig, denn von mir aus wird sich in diese Richtung nichts entwickeln. Ich halte dich für einen beachtlichen, großartigen Menschen und ich mag dich auch sehr, aber mit Liebe zu einem Mann wird es in meinem Leben niemals wieder etwas geben können.“ stellte ich unmissverständlich klar. Geronimo wollte natürlich wissen, wieso. Wir diskutierten darüber, und mein Hauptargument war, dass ich es für ein Risiko mit nicht abschätzbaren Folgen hielte, wozu mich nichts zwinge, dies noch einmal einzugehen, was ich auch auf Grund meiner Erfah­rungen nicht tun würde. „Aber, Uta, lass es uns doch mal genau betrachten und analysieren, so kann es sich doch bei uns niemals entwickeln.“ erklärte Geronimo. „Mag ja sein, nur auf meinen Glauben verlasse ich mich nicht.“ meinte ich dazu. Ich blieb bei meinem strikten Verdikt, dass es keine Liebesbeziehung geben könne. „Du magst es ja zurückweisen, aber für mich ist es trotzdem so, ich sag es mal einfach direkt, dass ich es vor mir selbst nicht leugnen kann, dich zu lieben. Auf Grund deines Verhaltens war ich mir sicher, dass es für dich auch so wäre. Ich glaube, dass du in diesem Falle dir selbst gegenüber nicht ehrlich bist.“ erklärte Geronimo. „Lass es Geronimo, es wird sich da nichts entwickeln und damit basta.“ reagierte ich leicht erregt.


Keine Treffen mehr

Geronimo kam auch weiterhin, aber in der Atmosphäre unserer Treffen war seit dem Gespräch über Liebe eine dunkle Wolke aufgezogen. Die Gespräche waren nüchterner und es wurde kaum noch gelacht. „Uta, das mit der offenen Ehrlichkeit in unseren Gesprächen stimmt nicht mehr.“ erklärte Geronimo eines Tages. „Wo glaubst du die Unehrlichkeit zu erkennen?“ wollte ich wissen. „Das du keine Liebesbeziehung mehr willst, bist nicht du selbst. Es sind nicht deine wirklichen, persönlichen Gefühle. Du hast dir rational ausgedacht, wohin eine Liebesbeziehung führen könnte, und was dabei rausgekommen ist, willst du nicht nochmal erleben. Es ist ein theoretisches Konstrukt deines Bewusstseins. Auch wenn dich die Situation von damals heute nicht mehr belastet, aus dei­nen Erinnerungen verschwunden ist sie aber keinesfalls. Eine Art Phobie hat sich bei dir gebildet, eine Angst, dass es wieder zu ähnlichen Situationen kom­men könnte, gleichgültig wie berechtigt sie ist oder nicht.“ erläuterte Geroni­mo. „Du quälst mich, Geronimo, wer oder was zwingt mich denn, einen Mann zu lieben. Ich mag dich doch schrecklich gern, aber damit nervst du mich. Ak­zeptiere es doch einfach, dass ich, wie eine Vielzahl anderer Frauen auch, als Single leben möchte.“ erwiderte ich. Das fiel Geronimo aber wohl schwer. Ein­mal hat er es noch gesagt, dass es ihm auch weh täte, mich zu sehen und im­mer daran denken zu müssen, dass wir uns nicht lieben dürften. Geronimos Besuche nahmen ab, bis er eines Tages erklärte: „Ich ertrag das nicht mehr, Uta, die Freude dich zu sehen wird überwogen von dem ständig gegenwärtigen Wissen, dass mein Begehren niemals Erfüllung finden wird. Ich liebe dich ein­fach, und bei unseren Treffen höre ich ständig iterativ das Verbot: „Du darfst es nicht.“. Das ertrag ich nicht länger. Da kann ich besser von dem träumen, was hätte sein können, als dich zu sehen, und immer hören zu müssen: „Wird es niemals geben.“. „Du wirst also nicht mehr zu mir kommen? Hast du das gesagt?“ fragte ich mit ungläubiger Stimme den Tränen nahe. Die kamen, als Geronimo gegangen war. Wie sollte das denn gehen? Geronimos Besuche ge­hörten zu meinem Leben. Ich brauchte sie, sie waren das Licht, das meinen Alltag freudig erleuchten ließ. Geronimo tat es weh. Er meinte, in Wirklichkeit würden wir uns lieben, ich untersagte es mir nur selbst, es erkennen zu dür­fen. Woran wollte er das denn festmachen. Auf keinen Menschen, außer viel­leicht auf Alena, freute ich mich so sehr wie auf Geronimo. Das war schon so, und ich freute mich auch vorher und nachher über seinen Besuch. Alena liebte ich, das war klar und Geronimo dann doch eigentlich genauso. Nur er war eben ein Mann, und als Mann durfte ich ihn nicht lieben. Das war ein striktes Tabu. Tanja fragte, ob wir uns gestritten hätten, als Geronimo nicht mehr kam. Sie hatte unsere Streitigkeiten von damals nicht vergessen. Auch wenn wir es möglichst vor den Kindern zu verbergen versucht hatten, ganz vermeiden ließ es sich nicht, dass sie auch einiges mitbekamen. „Schatz ich habe dir doch erklärt, dass ich mich nicht wieder in einen Mann verlieben würde, weil wir beide so etwas Schreckliches wie damals nie wieder erleben wollen.“ versuchte ich es ihr zu erklären. „Aber Geronimo wollte gern, und jetzt ist er sauer, weil du nicht willst.“ vermutete Tanja. „Nein, meine Süße, so einfach ist das nicht. Geronimo liebt mich ganz doll. Und mittlerweile glaube ich, dass ich ihn wohl auch liebte, aber ich durfte ja nicht.“ erläuterte ich. „Aber Geronimo ist doch ein ganz anderer Mann als Papa, den würdest du doch niemals so anschreien.“ klärte Tanja mich auf. Das war ja eine ganz neue Sichtweise der Ereignisse, die schon so lange zurücklagen. Tanja hatte also nicht eine Mutter, die sich grundsätzlich auch zur Furie entwickeln konnte, sondern es kam auf den Mann an, der war der Auslöser und damit eigentlich Schuldige. Und Geronimo glaubte sie so gut zu kennen, dass sie das erlebte, exaltierte Verhalten von mir bei ihm nicht für möglich hielt. Das hatte Geronimo mir ja auch zu verdeutlichen versucht, dass eine derartige Entwicklung für uns nicht möglich sei. Aber nein, ich wollte mich keinesfalls wieder in irgendwelche Abhängigkeiten begeben. Dass Geronimo nicht mehr kam, war jedoch mehr als schade. Zu Anfang machte es mich ganz nervös, wenn Geronimo eigentlich hätte kommen müssen, er aber nicht da war. Ich konnte mich bei anderen Arbeiten nicht konzentrieren. Sah Geronimo sprechen, hörte seine Stimme. Ich träumte von ihm, und dachte auch sonst oft an ihn. Es kam sogar vor, dass ich am Schreibtisch saß und einfach anfing zu heulen. Trauer überfiel mich, als ob er gestorben sei. Das Schlimmste aber war, dass meinem Leben diese freudigen Erlebnisse fehlten. Tage, an denen ich mich auf Geronimos Besuch freuen konnte, gab es nicht mehr. Im Grunde war ich in meinem Glücksempfinden schon abhängig von ihm. Hatte ich alles falsch gemacht? Mein Verhalten in der Auseinandersetzung mit Frank störte mich nicht mehr, jetzt grübelte ich darüber, was ich hätte tun können, wie ich mich hätte verhalten müssen, damit Geronimo auch noch weiterhin gekommen wäre. Ich hätte nur zu sagen brauchen: „Wie schön, Geronimo, ich liebe dich auch.“ Wir wären uns um den Hals gefallen. Ein Problem hätte es nie gegeben. Ich schmunzelte vor mich hin. Aber was hätte es denn für reale Möglichkeiten gegeben? Geronimo hatte mich erpresst, mit Liebe erpresst. Entweder du liebst mich, oder ich komme nicht mehr und will nichts mehr von dir wissen. Auch wenn ich doch überhaupt keine Möglichkeit sah, ständig beschäftigte mich Geronimo. Stets imaginierte ich etwas mit ihm oder dachte an Gewesenes, wobei ich langsam die gemeinsamen Situationen mehr und mehr glorifizierte. Einen Tick würde ich bekommen. Was sollte das denn? Wenn ich doch gar keine Beziehung zu einem Mann wollte, warum verhielten sich meine Gedanken dann so, als ob ich nicht ohne könnte. Ich brauchte einen Therapeuten, der mich von meinem Geronimo-Wahn heilte.


Liebeskummer

Depressiv war ich nicht, kam aber öfter ins triste Sinnieren. Ich weiß nicht, welche Anwandlungen mich überfielen. Wir saßen gemeinsam beim Abendbrot. „Ihr seid die Ärmsten.“ verkündete ich und strich dabei Ruben, der direkt ne­ben mir saß, über die Wange. „Das stimmt zwar, aber sagst du auch warum? Bestimmt weil wir noch so klein und dumm sind.“ reagierte der. Ich grinste ihn an und hob die Augenbrauen. Er liebte diese kleinen Unterstellungen, und mir gefiel es an ihm. „Ich meine, weil ihr mit so irren Eltern leben müsst.“ antwor­tete ich nur kapp. „Hast du etwas angestellt, oder ist es immer noch wegen da­mals?“ wollte Tanja es genauer wissen. „Schon wegen damals auch, aber das ist gegessen.“ meinte ich. „Na, die feine, gesittete Art war das ja wohl nicht. Aber ich verspüre überhaupt kein Bedürfnis, dass ich euch wieder zusammen sehen möchte, eigentlich nie. Im ersten Moment war ich froh, dass es vorbei war, und dann war ich froh, dass du da warst. Mir wurde bewusst, dass Papa im Grunde nie so richtig da war, zumindest nicht in mir, in meinen Genen si­cherlich, aber nicht in meinen Gefühlen.“ erklärte Ruben. „So habe ich das nie gesehen. Ich habe nie so darüber nachgedacht, aber jetzt, wo du es sagst, wird es mir auch deutlich. Ein zu Hause ohne Mama könnte es niemals geben. Papa ist ehr so ein netter Onkel, der immer ganz freundlich zu mir ist.“ sah es Tanja. „Deshalb sind wir so arm dran, weil wir das als Kinder erlebt haben?“ erkundigte sich Ruben erstaunt. „Nein, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Mal mache ich diesen Unsinn mal jenen. Im Moment habt ihr eine Mutter, die mit zweiundvierzig Liebeskummer hat.“ antwortete ich. Die beiden schauten sich an und prusteten los. „Wegen Geronimo? Hat er eine neue Freundin, und jetzt bist du eifersüchtig?“ fragte Tanja. „Ach wo, ich bin doch gar nicht seine Freundin. Das habe ich ihm doch verboten. Aber ich muss immer an ihn den­ken, träume von ihm und weine sogar, weil er nicht mehr kommt.“ erklärte ich. „Oh, Mama, so etwas wünsche ich mir auch. Einen Freund, der immer an mich denkt, der von mir träumt und weint, wenn ich nicht bei ihm sein kann. Ist das bei Geronimo denn auch so? Wie macht man so etwas denn?“ wollte Tanja wissen. „Ganz einfach,“ wusste Ruben, „du nimmst dir einen Jungen, sagst ihm: „Ich liebe dich.“, und dann träumst du, dass es so wäre.“ „Du bist gemein, Ruben. Mama träumt nichts, die will es doch gar nicht. Die sagt ja trotzdem, dass sie nicht verliebt wäre.“ schimpfte Tanja. „Aber wie können wir dir denn helfen?“ wollte Ruben wissen, „Im Grunde ist das doch kein Problem. Beim nächsten Elternsprechtag sagst du einfach, deine Mutter könne nicht kommen, der ging's nicht so gut. „Oh je, was hat sie denn?“ „Liebeskummer“ antwortest du einfach.“ „Ja, müsstest du nicht auch zum Arzt? Sonst hat man vielleicht ein Bein gebrochen, und bei Liebeskummer ist doch die Seele oder das Herz gebrochen, nicht wahr?“ schlug Tanja vor. „Komm, ich drück dich mal ganz fest. Das bringt bestimmt schon ein bisschen Linderung.“ erklärte sie, als sie aufstand, um zu mir zu kommen. Ruben schlang auch seine Arme um mich und beide hielten mich fest an sich gedrückt. Mir kamen fast vor Glück die Trä­nen. Wozu ich Geronimo brauchte, wäre mir in diesem Moment bestimmt nicht eingefallen.


Total verknallt

Ganz Unrecht hatte Ruben ja nicht. Es war ja alles in meinem Kopf, meine Ge­danken, meine Wünsche, meine Vorstellungen, meine Träume. Trotz meiner zweiundvierzig Jahre war ich nicht in der Lage, diese Spinnereien zu unterbinden. Vielleicht würde es sich ja mit der Zeit abschwächen, was ich aber nicht glaubte. Dann müsste ich wirklich zum Therapeuten, so lächerlich es mir auch vorkam. Zunächst wollte ich aber mal mit Alena darüber reden, vielleicht hätte sie ja eine Idee. „Uta, was soll ich denn dazu sagen? Gibt es eine Frage, die individueller und persönlicher sein könnte? Ob du dich in Geronimo verlieben willst oder nicht, das kannst und musst nur du ganz allein entscheiden.“ erklärte Alena. „Ich habe mich doch entschieden. Das ist ja die Crux. Du musst mir helfen, Alena, ich leide. Befreie mich von meiner Geronimo Psychose.“ bettelte ich. „Oh Schreck, siehst du ihn schon öfter bei dir im Haus herumlaufen?“ witzelte sie. „Ganz so weit ist es noch nicht, aber wenn das nicht aufhört, wird es sicher nicht mehr lange dauern.“ scherzte ich. Alena wollte jetzt alles genau erfahren, ich sollte von Anfang an erzählen. Als ich damit geschlossen hatte, dass ich jetzt am liebsten von Geronimo träume, obwohl ich es gar nicht wolle, formte Alena eine Mimik mit liebevoll, breitem Lächeln, legte eine Hand auf jede Wange und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Eine Geste, die zwischen uns noch nie vorgekommen war. „Ich bin ja keine Psychologin, Uta, aber dass du und Geronimo euch auf der Fète bei Pia direkt ineinander verknallt habt, steht für mich absolut fest.“ versicherte Alena. „Aber das Wort 'Liebe' ist kein einziges mal gefallen. Wir haben zwar darüber gesprochen, aber allgemein. Das hatte mit unserer Beziehung nichts zu tun. Wir haben nicht einmal über unsere Beziehung gesprochen, überhaupt nichts Zärtliches ausgetauscht und uns natürlich nicht geküsst, bis heute nicht.“ erwiderte ich. „Aber, Uta, das sind doch alles nur Adjuvantien, die eine nette Beifügung sind, aber doch niemals die Liebe selbst. Streichelst und küsst du deine Mutter oder mich? Doch, zur Begrüßung oder zum Abschied gibt es Küsschen, aber doch keine leidenschaftlichen Liebesküsse. Wenn du mal versuchst, es von außen zu betrachten, kannst du dir da vorstellen, dass ein Mann und eine Frau, die sich auf einer Party treffen, sich so unterhalten wie ihr? Ihr habt nicht über irgendetwas geredet, sondern euch gegenseitig, wie man so sagt, eure Herzen geöffnet.“ bewertete es Alena. „Ja, und Geronimo hat mich sehr tief blicken lassen. Das stimmt schon. Wir waren offen, frei und ehrlich wie Kinder. Das kannst du zu anderer Zeit gar nicht bewusst so arrangieren. Es hat sich einfach so aus der Situation entwickelt.“ meinte ich dazu. „Weil ihr verliebt wart, euch gegenseitig schenken wolltet. Das wirkt eben, da kannst und willst du nichts mehr verlogen vorspielen. Die interessanteste Diskussion kannst du beenden, aber es ging ja nur nebenbei auch um das Thema. Mit deinem Liebsten kannst du reden, über was du willst, seine Person ist das Interessante. Du weißt, dass Geronimo zu dir gehört, er soll bei dir sein und dich nicht verlassen. Ein Ende soll es niemals geben.“ erläuterte Alena. „Liebesrausch schon auf der Fète. Schön und gut, aber Geronimo ist und bleibt doch nun einmal ein Mann. Da hat die Liebe doch auch andere Komponenten. Ich habe aber bis heute noch nichts in der Richtung verspürt, kein Hauch von Begierde und Begehren.“ wandte ich ein. „Ah ja, bei Ruben, der ist ja mittlerweile auch ein junger Mann, empfindest du aber sexuelle Gelüste, oder liebst du ihn nicht mehr?“ wollte Alena wissen. Ich lachte, aber klar geworden war mir nichts. „Dass du deine sexuellen Bedürfnisse auch ohne Liebe befriedigen kannst, zweifelst du doch wohl nicht an. Sexuelle Lust, das ist dein Geschlechtstrieb, Liebe ist die höchste Form menschlicher Kommunikation, Verlangen nach Austausch auf sozialer Ebene, und hat mit dem Geschlechtstrieb originär nichts zu tun.“ belehrte mich Alena. „Also bei der Liebe ist die Libido gar nicht beteiligt?“ wollte ich es genauer erfahren. Alena lachte. „Natürlich, bei allem was dir Lust bereitet, ist die Libido beteilig, auch bei der Lust am Geigespielen. Bei der Liebe handelt es sich aber primär um die Lust am gegenseitigen Austausch. Was habt Geronimo und du denn anders gemacht, als eure Lust am gegenseitigen Austausch zu praktizieren, immer und immer wieder. Das fehlt dir jetzt, und danach sehnst du dich. Was ihr euch bei euren Treffen erzählt habt, war bestimmt wichtig, aber vorrangig war es, den anderen zu erleben, sich emotional in der ganzen Person auszutauschen. Eure Treffen bestanden nicht vorrangig aus verbalen Äußerungen, sondern waren hauptsächlich immer wieder neu Liebesszenarien.“ deutete es Alena. „Du meinst also, es wäre völlig absurd, zu sagen: „Ich werde dich nicht lieben können.“ weil ich es längst praktiziere. Nur persönlich weiß ich ja kaum etwas von ihm. So ein Mann wie er, wird doch verheiratet sein oder eine Partnerin haben. Darüber haben wir zum Beispiel nie gesprochen.“ erklärte ich. „Da kann ich dir auch nicht helfen. Ich weiß nur, wie er heißt und dass er Philosophie Prof ist. Ich kenne ihn persönlich gar nicht, aber da kann Pia dir doch sicher mehr sagen.“ meinte Alena.


Ernüchternde Information

Das tat Pia auch. „Nein, verheiratet ist er nicht. Keine Familie und so, aber er lebt mit einer Frau zusammen. Näheres weiß ich da aber auch nicht. Ich weiß nur, dass sie Neele heißt. Warum er sie nicht zur Fète mitgebracht hat, kann ich nicht sagen. Ich hätte ihn ja mal fragen können, nur das kann vielfältige Gründe haben.“ erklärte Pia. „Bestimmt hat er Streit mit ihr gehabt und ist deshalb sofort auf mich abgefahren. Aber ich habe ihm ja auch erzählt, wie streitsüchtig ich bin.“ meinte ich. „Du?“ fuhr Pia lachend auf. „Uta!“ sagte sie mahnend, als ich ihr erklärte, wieso ich das meinte, „vergiss das doch endlich mal. Das ist doch Schnee von gestern. Da will heute niemand mehr etwas von hören.“ „Jetzt ist es auch für mich gegessen, aber lange beschäftigt hat es mich schon.“ meinte ich dazu. „Ich hätte dir gar nicht zugetraut, wie du dich damals gewehrt hast. Ob ich das auch könnte, wüsste ich nicht. Frank, das ist doch, mit Verlaub gesagt, ein Proll. Ich wüsste gar nicht, wie ich mit so etwas umgehen sollte. Ich fand dich stark und tapfer.“ erklärte Pia, lachte und um­armte mich.


Jetzt wusste ich also, dass ich Geronimo längst liebte, hatte aber von seiner Lebensgefährtin nie etwas erfahren. Warum hatte Geronimo mir das ver­schwiegen. Es gab nichts, was wir voreinander zu verschweigen gehabt hätten, für Geronimo aber offensichtlich doch. Mein Geronimo konnte das nicht sein. Bei dem gab es in seiner Offenheit keine dunklen Bereiche, wo ich nicht hin­schauen durfte. Ich wusste ja auch gar nicht, warum er es mir verschwiegen hatte. Vielleicht hatte er ja Streit mit seiner Partnerin und suchte deshalb eine Liebhaberin. Als er feststellen musste, dass es definitiv mit mir nichts werden konnte, hat er sich entschieden, doch lieber das Verhältnis mit ihr wieder zu reparieren. Oder er hatte mehrere Utas, nicht nur mich. Da kümmert er sich eben um eine andere, bei der es mehr werden kann, wenn's bei mir gar nicht geht. Nein, nein, nein, das ist doch alles Unsinn. So blind kann ich doch gar nicht sein, aber verschwiegen hat er mir ja schon etwas, und das passt für mich nicht zu ihm, es beschädigt mein Bild. Jedenfalls ist es von einer Farbe, die mit den anderen nicht harmoniert. Wenn es auch unsinnig war, zu sagen: „Ich liebe Geronimo nicht.“, seine Maitresse wollte ich aber auf keinen Fall sein. Dass die Menschen nicht monogam sind, ist wissenschaftlich erwiesen. Eine Konsequenz daraus sei, dass man mehrere Menschen lieben könne. Na klar, ich liebe ja auch mehrere Leute, aber einen Mann zu lieben, der gleichzeitig noch mit einer anderen Frau ins Bett ginge, das könnte ich nicht ertragen. Mag sein, dass es an meiner bourgeoisen Sozialisation liegt, aber das bin ich eben, und niemand kann mich zwingen, anders zu empfinden, auch wenn es Leute gibt, die das vielleicht locker praktizieren. Es würde mir nicht mehr so schwer fallen, auf diesen Geronimo verzichten zu müssen. Der Glorienschein, der sein makelloses, leuchtendes Bild umgab, war zerbrochen.


Urlaub in den Cevennen

Jetzt gab's erst mal Urlaub, Sommerferien. Ruben hatte sein Abitur bestanden und befand sich zur Zeit in Mexico. Tanja wollte nach Israel und ich mit zwei Freundinnen in die Cevennen. Zwei Wochen wandern auf Stevensons Spuren. Aber ohne Esel sondern Backpacking. Mir gefiel die Vorstellung, beim Wandern auch immer einen Eselfreund dabei zu haben, grundsätzlich nicht. Dass man einen Packesel gehabt hätte, wäre natürlich nicht schlecht gewesen, aber ein Esel würde doch auch störrisch werden, und es vorziehen, an diesem Ort zu verweilen, anstatt die Wanderung in unserem Sinne fortzusetzen. Was sollten wir drei Frauen denn da wohl machen? Bei Lucy, Marie und mir war mit derar­tigen Verhaltensweisen nicht zu rechnen. Wir bezeichneten uns zwar als Freun­dinnen, aber dabei handelt es sich ja um einen absolut unspezifischen Sam­melbegriff, der sowohl deine engste Intimfreundin als auch Frauen umfasst, mit denen du mal ein wenig näher zu tun gehabt hast. Bei den Inuit gäbe es bestimmt hundert verschiedene Benennungen. Von Lucy und Marie wusste ich, was sie machten und dass wir uns gut leiden mochten, viel mehr nicht. Ob eine von ihnen auch störrische Anwandlungen bekommen konnte, und eventuell beim Wandern nicht mehr weiter gehen würde, darüber war mir nichts be­kannt. Anstrengend war es schon. Das sollte es ja auch sein, aber ich war so etwas nicht gewohnt. Das Gepäck war schwer. Ich hatte zwar keine Ballkleider mitgenommen, aber ich konnte ja auch nicht nur ultraleichte Nylon- und Tüll­sachen einpacken. Trotzdem war es berauschend, die Vegetation, das köstlich mediterran warme Wetter, die alten Dörfchen und kleinen Orte, so ähnlich hät­te ich es gern jeden Tag. Von heute auf morgen immer seine Last ein Stück­chen weiter tragen. Aber war es so nicht überhaupt längst? Nein, eine Last, die ich zu schleppen hätte, war mein Leben nicht. Unangenehmes und Lästiges gab es natürlich, aber es dominierte nicht mein Lebensgefühl, auch die Angele­genheit Geronimo nicht. In die Cevennen hatte ich ihn offensichtlich auch nicht mitgenommen, genauso wenig wie die Kinder. Lucy hatte auch zwei und Marie sogar drei Kinder. Die hatten sie genauso wie ich auch zu Hause gelassen, real und mental. Nicht nur die Mütter, auch die Hausfrauen waren nicht mitgekommen, und nicht die Apothekerin, nicht die Studienrätin und nicht die Regierungsrätin. Nur die nackten Waschweiber waren hier. „Diese Bezeichnung mit der diffamierenden Konnotation ist eine absolute Unverschämtheit. Wenn es wirklich so ist, dass Frauen mehr und lieber reden, dann deshalb, weil sie es besser können.“ konstatierte Lucy. „Sie sind rhetorisch besser drauf als Männer, nicht wahr?“ vermutete ich. „Nein, sie können besser zuhören als Männer. Die meinen, sie hörten nur den Klang des Gesagten, würden es kombinieren und die Bedeutung interpretieren. Für Frauen bedeutet zuhören eher zuschauen. Sie erleben die gesamte Gesprächspartnerin mit ihrer Mimik, Gestik und Körpersprache. Dabei erfahren sie oft viel mehr, als der Text ihrer Worte vermittelt. Vor allem erfahren sie viel über die Person selbst, die mit ihnen spricht. Das macht neugierig und ist es, was das Gespräch eigentlich interessant macht.“ erläuterte Lucy. Das hatte Geronimo gleich am ersten Abend bei Pia so gemacht, fiel mir ein. „Männer sind also gesprächsblind, als ob sie in einer Arie nur den Text verstehen wollten, aber den Gesang nicht hörten.“ hatte Marie es verstanden. „Ja, bei einem Gespräch handelt es sich niemals nur um eine Ansammlung von Klängen, von Wörtern und ihren Bedeutungen, es ist immer ein kleines Schauspiel, bei dem das Gesehene viel mehr sagen kann als der Text.“ bestätigte Lucy. Wir unterhielten uns viel über Kommunikation, Sprache und Verständnis. Lucy hatte Germanistik studiert, aber sie dozierte keineswegs ihr Wissen über Semantik. Es war für alle äußerst interessant und informativ. Mir wurde deutlich, dass wir uns auch durch die Gespräche tiefer kennenlernten, als wenn wir uns gegenseitig etwas von uns erzählt hätten. Vor allem aber die Art und Form des Umgangs miteinander. Sie war geprägt von Zutrauen und ehrlich offener Freundlichkeit. Vierzehn Tage liebevolles Verhalten bei gemeinsamer Plackerei. Das hatte uns so eng zu einander gebracht, wie ich es mir gar nicht hätte vorstellen können. Stevenson hatte ihn auf der Schatzinsel gesucht, wir hatten den Schatz in den Cevennen gefunden, ohne Esel, nur durch uns selbst.


Als ob dieser Urlaub mir nicht nur zwei neue, eng vertraute Freundinnen ge­schenkt, sondern mir selbst auch Kraft und Stärke vermittelt hätte. Ich emp­fand mich nicht mehr als eine den Geschehnissen ausgelieferte Frau, selbst würde ich gestalten wollen, wie meine Tage glücklich werden könnten. Die Wir­kung der Atmosphäre, in der wir uns in den Cevennen bewegten, hatte mich beeindruckt. Starken Einfluss auf das Empfinden und allgemeine Hintergrund­gefühl bewirkte sie. Ich sehnte mich hier nicht nach kleinen, alten Häuschen, Macchie und Kastanienbäumen, Kitschträume hatte ich nicht. Aber in den Ce­vennen symbolisierten Natur und Kultur ein Bild gewachsener Harmonie und Ästhetik von Natur und Kultur, das den Wünschen und dem Anblick der Men­schen entsprach. So war es hier genau nicht. Für das Bedürfnis nach Natur konntest du in den Wald fahren, und zur Kultur konntest du ins Museum oder die Oper gehen. Der Alltag war dominiert von der allgemein technologisierten Welt, wie sie den Bedürfnissen der Wirtschaft entsprach. Dem angepasst funk­tionierte auch dein Verhalten. Ich wollte nicht meine ganze Umwelt ver­menschlichen, ästhetisieren und nach natürlichen Gesichtspunkten gestalten, aber mein Verhalten könnte ich ändern. In allem wollte ich ästhetischen, na­türlichen und den wirklichen menschlichen Bedürfnissen Entsprechendem den Vorzug geben. Gleich jetzt direkt wollte ich damit beginnen. Beim Auspacken hatte ich Lust zu singen und tat es auch, anstatt nach dem gesitteten Bild der besonnenen Mutter in fortgeschrittenem Alter zu schweigen. Meine Lust, meine Gefühle würde ich leben, das war der Anfang.


Abschied von Geronimo

Nein, vergessen hatte ich Geronimo nicht und auch nicht die wundervolle Zeit, die ich erlebt hatte, nur jetzt würde ich es einmal abschließend mit ihm klären müssen. Ich rief ihn an. „Uta, Uta, Uta!“ tönte er ins Telefon, „Warte, ich gehe eben in einen anderen Raum. Meine Liebe, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll? Es wird einen Grund geben, weshalb du mich anrufst. Ich hoffe, es ist et­was Erfreuliches, was du mir mitteilen möchtest.“ „Ich wollte dich fragen, ob wir uns mal treffen könnten?“ sagte ich nur. „Immer und überall, wann und wo du möchtest, na fast jedenfalls“ antwortete Geronimo. „Wie gewohnt, am Frei­tagnachmittag bei uns, käme dir das aus?“ fragte ich noch. Jetzt bekam Gero­nimo aber einen Kuss zur Begrüßung als er kam. Wenn ich ihn sowieso schon liebte, konnte ich ihn doch auch küssen. Natürlich war er für mich nicht mehr der Geronimo von damals, aber sehen wollte ich ihn schon lieber so. „Uta, was machst du? Wie geht es dir?“ fragte er. „Danke, für die Nachfrage. Geronimo, wirst du wohl, bitte, aufhören, so einen Stuss zu reden.“ schimpfte ich. „Ent­schuldigung, aber ich bin, glaube ich, nervös, und da entfahren einem schon mal solche Floskeln. Weiß du, ich habe mir das mal überlegt. Natürlich schmerzt es, dich zu sehen und zu wissen, dass wir uns nicht lieben dürfen, aber dich überhaupt nicht, niemals mehr zu sehen, das ist unerträglich. Wir brauchen uns ja nicht so oft, wie damals zu treffen, aber hin und wieder würde ich dich äußerst gern sehen, auch wenn es mit der Liebe nichts werden kann.“ erklärte Geronimo. Dazu schwieg ich. Ich liebte Geronimo doch immer noch. Ich liebte einfach diesen Menschen, egal ob er noch sieben andere Weiber hat­te oder nicht. Verrückt nicht wahr, aber was konnte ich denn daran machen. „Geronimo, ich habe mir auch viele Gedanken gemacht, habe hin und her überlegt und alles geprüft.“ sagte ich. „Und bist zu dem Schluss gekommen, dass deine Entscheidung nicht richtig war.“ unterbrach mich Geronimo. „Willst du mal, bitte, nicht so vorlaut sein, du Naseweis, mich ausreden lassen und mir zuhören.“ mahnte ich scherzhaft. „Ja, im Grunde hast du schon Recht. Wir haben gesagt, alles sei ein Prozess, der sich auch immer anders entwickeln könne. Ich hatte aber eine Setzung gemacht, dass es so sei und sich niemals ändern könne. Das war dumm. Ich hätte es doch wissen müssen. Die vernünf­tige, milde Frau hätte sich niemals so entwickeln wollen, und doch ist es ge­schehen.“ erklärte ich. „Es ist dir also nicht mehr verboten, das wir uns lieben dürfen?“ wollte Geronimo es genau wissen. „Es ist mir sogar klar geworden, dass es völlig absurd war, zu sagen: „Ich liebe dich nicht. Ich darf dich nicht lieben.“, weil wir uns schon am Abend bei Pia ineinander verliebt haben. Unse­re Treffen hatten die Bedeutung von Liebesspielen, bei denen wir unsere Liebe gepflegt und weiter vertieft haben.“ verdeutlichte ich. Geronimo schaute un­gläubig erstaunt und schien gar nicht zu verstehen, was er hörte. „Fälschlich so bezeichnete Platonische Liebe also, Liebe ohne die sexuellen Implikationen.“ interpretierte Geronimo. „Quatsch, ich liebe meine Kinder. Ist das platonische Liebe? Wenn du Liebe wirklich im Sinne Platons verstehst, vielleicht, aber nicht in ihrer vulgären Konnotation. Es hantelt sich einfach schlicht um Liebe, um das Zentrale, das im Verlangen nach gegenseitigen kommunikativen Austausch liegt.“ widersprach ich. Geronimo blickte mit skeptisch staunender Mimik. In ihm schien sich etwas zu bewegen, das er aber noch nicht klar erkennen und benennen konnte. „Trotzdem wird dies heute unser letztes Treffen sein, und es wird auch keine weiteren in größeren Abständen geben. Den Geronimo, den ich geliebt habe, gibt es nicht. Das Bild war eine Fälschung. Es trug einen Makel, den ich nicht erkannt habe. Ich war zu dir in allem völlig offen, weil ich dir absolut vertraute. Du hast dieses Vertrauen enttäuscht. Betrogen hast du mich nicht, aber du hast mir etwas verborgen. Wusste Neele denn davon, dass du Freitags immer bei mir warst? Wahrscheinlich hast du es ihr auch verheimlicht. Geronimo, das ist nicht der Mensch, den ich liebte. Dessen Offenheit hätte nicht diese dunklen Ecken gehabt, in denen er etwas versteckte, was ich nicht wissen durfte. Ich weiß nicht, weshalb du mich liebst. Ich denke schon dass es ehrlich ist, aber deine Freitagsgeliebte kann ich nicht sein. Wenn du eine Kebse brauchst, bin ich diejenige, die dafür absolut ungeeignet ist.“ Geronimo hatte mir nur staunend zugehört und mich mit ungläubiger Mimik angestarrt. „Uta!“ entfuhr es ihm nur. Er griff nach meinem Unterarm und umfing ihn direkt über dem Handgelenk. Er starrte mir so tief in die Augen, dass ich mir ganz klein vorkam, mich schuldig fühlte und mich am liebsten versteckt hätte. „Uta,“ sagte er wieder und nach kurzer Pause, „warum hast du mich denn nicht ein einziges mal gefragt?“ Geronimo schüttelte den Kopf und holte tief Luft. Abstreiten würde er es ja nicht können. Pia hatte mir doch nichts vorgelogen, warum denn auch sollte sie? „Ja, du hast Recht. Ich lebe mit einer Frau zusammen. Nur wir sind nicht verheiratet und nicht verliebt. Doch, Liebe ist es bestimmt schon, muss es ja wohl sein, und verliebt waren wir ganz zu Anfang möglicher weise auch. Aber so richtig mit Liebesrausch, das hat es nie gegeben, deshalb sind wir nicht zusammengezogen. Während des Studiums schon haben wir uns kennengelernt, mochten uns gut leiden und meinten, es sei doch schöner gemeinsam eine Wohnung zu haben, als isoliert in unterschiedlichen, getrennten zu leben. Gemeinsam im Bett waren wir zu Anfang schon, aber unsere Beziehung an sich, stellte nie unser dominierendes Zentrum dar, weder für Neele noch für mich.“ berichtete Geronimo. „Uta, glaubst du mir nicht? Wie käme ich dazu, dir etwas vorzumachen? Hast du das jemals von mir erlebt?“ fuhr er fort, weil ich ihm wohl mit ungläubig skeptischem Blick lauschte. „Nein, aber du hast mir etwas verheimlicht.“ reagierte ich. „Uta, bitte, kannst du es nicht lassen. Ich habe dir nichts verheimlicht. Deiner Interpretation fehlt jegliche Basis. Unsere Arbeit, wir selbst waren unser Zentrum. Die Arbeit wurde immer mehr, zuerst im Examen, dann bei der Promotion und immer weiter, auch heute noch. Wir leben wie Geschwister in einer Familie, nein wie in einer WG. Das wir ein Mann und eine Frau sind, spielt keine Rolle. Doch, mit einem Mann könnte ich mir das nicht so vorstellen.“ erklärte Geronimo. „Und da hast du nach einer richtigen Geliebten Ausschau gehalten?“ vermutete ich. „Uta, bitte, wie redest du denn? Du sprichst mit mir, Geronimo, ist dir das nicht bewusst?“ beklagte er sich. „Doch, schon, natürlich, Entschuldigung, aber mir geht so vieles durcheinander. Ich glaube, dass ich dich übermäßig geliebt habe. Dann kam die Enttäuschung, die mich tief getroffen hat. Jetzt sagst du: „Es gab keinen Grund.“. Ich kann bei meinen Gefühlen und Empfindungen nicht einfach so hin und her schalten. Ich hatte mich auf ein Leben eingestellt, in dem Geronimo nicht mehr vorkam.“ erläuterte ich. „Uta, ich habe keine Frau, keine Freundin, keine Geliebte gesucht, im Gegenteil. Die Konnotation des Wortes Liebe hat immer auch so einen leicht süßlichen, irrealen Beigeschmack. Irgendwann siehst du es als nüchterner, cooler, realistisch denkender Mensch so: „Ich brauche derartige sentimentale Gefühlswallungen nicht.“ Neele sieht es für sich nicht anders. Wir sind absolut zufrieden mit dem Leben in unserer WG. Bedarf nach Liebesrausch verspürt keiner.“ erklärte Geronimo. „Und wieso hast du dich dann in mich verliebt?“ fragte ich ganz simpel. Mir ging's schon wieder besser, fühlte mich leichter und empfand die Verwirrung nicht mehr so. Geronimo lachte auf. „Ich habe mich doch gar nicht in dich verliebt. Deswegen habe ich bestimmt nicht mit dir gesprochen. Es hat mich bewegt. Bewusst wollte ich es lange nicht wahr haben, aber die Liebe hast du nicht in der Hand. Du kannst nicht über sie verfügen. Sie verfügt über dich und bestimmt, was du zu denken und zu empfinden hast. Mit den gängigen Klischees von Liebe hatte das bei uns ja auch nichts zu tun. Wir haben uns nur unterhalten und waren völlig eingenommen davon. Wahrscheinlich wohl mehr von uns beiden, als von dem, worüber wir gesprochen haben.“ erklärte Geronimo. „Und jetzt? Was geschieht jetzt? Möchtest du, dass wir uns wieder so unterhalten wie früher, oder willst du sofort mit mir ins Bett?“ fragte ich und lachte los. Ein leicht mahnendes „Uta“ bekam ich zu hören. „Du vertraust mir wieder voll, nicht wahr?“ erwartete Geronimo Bestätigung, „Dann würde ich dich schon gern einmal umarmen und drücken.“ Mit verschmitztem Lächeln blicken wir uns an, bevor wir zur Tat schritten. Ob Geronimo mich den restlichen Nachmittag umfangen halten wollte? Meinetwegen, ich fand es herrlich. Mag sein, das liebevolle Worte das Herz erwärmen, aber körperlich warme Umarmungen brauchen deine Gefühle genauso gut, um Wonne zu empfinden. Ich spürte Geronimos Hand auf meinem Rücken. Nein, nein, es erregte mich keinesfalls, aber wie ich es empfand, ließ mich deutlich erkennen, das ich Lust auf mehr haben könnte. Mein erotisches Lustempfinden war also trotz der Jahre nicht verwelkt und vertrocknet? Zur Verabschiedung gab es wieder eine innige Umarmung, als ob Geronimo nicht bis zum nächsten Freitag fortbliebe, sondern auf eine dreijährige Weltreise ging. In die Leidenschaft des Kusses legten wir alle Liebesgefühle für den anderen, die uns unser emotionaler Haushalt zur Verfügung stellte.


Als Geronimo gegangen war, empfand ich mich völlig konsterniert. Was hatte ich alles erlebt? Was war mit mir geschehen? Alles verwirrt und durcheinander. Unser letztes Treffen würde es sein. Geronimo hatte meinen Verdacht als un­begründet aufgelöst. War er sofort automatisch wieder der alte? Meine Ver­dächtigungen und Zweifel, meine Enttäuschung, der Entwurf eines anderen Bil­des von Geronimo, die Vorstellung vom Ende unserer Beziehung, das war doch alles geschehen. Geronimos Erklärung konnte das doch nicht löschen und un­geschehen machen. Vielleicht war es auch gut so. Mein Bild von Geronimo war zu ideal und deshalb zu wenig komplex. Ich hatte ausgeblendet, dass er, wie jeder andere auch, mit unerwarteten Situationen konfrontiert werden könnte, in denen er sich verhielt, wie ich es ablehnen würde. Aber dann müsste ich ihn ja bewerten, sein Verhalten beurteilen. Das konnte und wollte ich nicht. Ich würde diesen geliebten Menschen fragen, und er würde mir seine Gründe erklären. Nur in der Praxis hatte ich mich ganz anders verhalten, hatte über ihn geurteilt, ohne die Hintergründe zu kennen. Ich sah mich selbst bedroht, verletzt, mein Vertrauen missbraucht, betrogen. Geronimo war mir der Nächste gewesen, aber noch näher wirst du wahrscheinlich immer dir selbst bleiben.


Neues Geschlecht

„Geronimo, wie wir uns umarmt haben, das hat mir sehr gut getan. Unser Kuss, so empfinden Mädchen bestimmt beim ersten mal. Aber nein, da sind sie scheu und unsicher. Mir kam es eher vor, als ob wir all unsere Sehnsucht, die uns unbewusst seit dem Abend bei Pia bewegt, hineingelegt hätten, aber ganz neu und wie zum ersten mal war es schon.“ erklärte ich. „Uta, ich hab's ja schon mal gesagt, dass ich dich liebe. Es wird gewiss so sein, dass sich die Ausgestaltung unserer Liebe auf emotional kommunikativer Ebene vollzogen hat, aber ich habe in dir auch immer die Frau gesehen, die begehrenswerte Frau. Aber das durften ja alles nur Wunschprojektionen sein.“ erläuterte Gero­nimo. „Und in welcher Form begehrst du mich? Hast du uns beide in deinen Projektionen ficken gesehen?“ fragte ich und lachte. „Uta, du bist unmöglich. Da fragst du dich, woher dein Sohn Ruben das haben könnte.“ Geronimo dar­auf. Ich grinste nur und blickte ihm forschend in die Augen. „Dir gefällt also mehr an mir als nur meine schöne Seele. Du würdest dir wünschen, dass nicht nur unsere Herzen, sondern auch unsere Körper sich ganz nahe kämen. Weißt du, Geronimo, eigentlich müsste ich sagen: „Geht nicht. Ist vorbei.“ Für mich war das in meinem Leben eigentlich abgeschlossen, nur das galt ja für den Kuss genauso gut. „Aber das war doch Geronimo.“ habe ich mich vor mir selbst entschuldigt. Trotzdem bist du ein Mann, oder nein, du hast ein eigenes Ge­schlecht, das mit den in dieser Gesellschaft üblichen Männerbildern nichts zu tun hat.“ verdeutlichte ich. „Vom Geschlecht der Varganer bin ich, nicht war? Deine ganzen alten Verdickte bezüglich Männer treffen für diese Menschen nicht zu.“ suchte Geronimo Bestätigung. Ich lachte und meinte: „Viele schöne Geschlechter wären möglich. Du könntest vom Geschlecht der Isobaren sein oder wärst einer von den Endoplasmatischen Retikulatoren, wie wäre das? Aber, Geronimo, Grundsätzlich abgeneigt bin ich ja gar nicht. Du bist es ja, versuchen könnten wir doch alles Mögliche. Die Erfahrung der Gefühle beim Umarmen und Küssen haben mich schon ein bisschen neugierig gemacht, nur ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie so etwas denn ablaufen könnte. Also so eins nach dem anderen drehbuchmäßig abhandeln, das wollte ich auf keinen Fall, das könnte ich nicht ertragen.“ „Dir wäre es lieber, wenn es mehr einem unbewussten Trance ähnlichem Zustand des Hinübergleitens entsprä­che.“ vermutete Geronimo. Wir glitten aber ganz bewusst und real in die Küche hinüber, denn Geronimo blieb zum Abendbrot, und Tanja hatte schon einiges bereitet. Zweifellos mochte Tanja Geronimo. Sie hatte sich mal länger mit ihm unterhalten, und mir anschließend vorgeschwärmt. Aber jetzt machte sie Gero­nimo verliebte Augen und ihre Mimik glänzte, als ob er gerade in ihrem Herzen Platz genommen hätte. Möchtest du dies oder jenes, soll ich das zubereiten oder lieber …? Dabei bot Tanja Geronimo alles an, was unser Vorrat hergeben konnte. „Tanja, Tanja, stop.“ unterbrach sie Geronimo lachend, „du bist zu lie­benswürdig, aber mir schmeckt fast alles. Es geht mir nur darum, dass mein Magen befriedigt wird, da würde auch ein schlichtes Käsebrot reichen.“ „Oh, oh, Geronimo, da liegst du aber voll daneben.“ gemahnte Tanja. Sie klärte Ge­ronimo über die kommunikative Bedeutung des gemeinsamen Speisens auf und machte deutlich, dass der Wert der gustatorischen Genüsse für den Men­schen bedeutsamer sein könne als der Nährwert. „Wenn ich meinen Jelly-Pud­ding habe, dann esse ich auch, aber satt zu werden spielt dabei überhaupt kei­ne Rolle.“ verdeutlichte Tanja. „Stimmt absolut,“ bestätigte sie Geronimo, „Wenn du ein Glas Wein trinkst, geht es niemals darum, deinen Durst zu lö­schen.“ Dann sprachen die beiden weiter übers Essen, verfluchten Schnellim­biss und Mac Donalds als Kulturschänder und kamen zu anderen kulturellen Bereichen. „Tanja und Geronimo, ich höre euch gerne zu, aber könnten wir vielleicht schon mal zu essen beginnen. Ihr könntet euch ja dabei weiter unter­halten.“ schlug ich vor. Tanja schien leicht high. Worüber sie sich so freute? Ich vermute, sie war so glücklich, weil Geronimo und ich uns wieder vertragen hatten. Wir nehmen es oft gar nicht wahr, aber junge Menschen und Kinder trifft es viel härter, mit Unstimmigkeiten, Ärger und Streit leben zu müssen als Erwachsene mit der gegerbten Haut ihrer gebrauchten Seele. Das Mama und Geronimo sich wieder vertragen haben und glücklich miteinander sind, was kann es Wohltuenderes geben?


Ich bin noch fruchtbar, Geronimo!

Geronimo kam jetzt öfter kurz vor dem Abendbrot und blieb am Abend. Eine selige Atmosphäre. Wir unterhielten uns dann nicht nur verbal wie früher, son­dern konnten auch mit dem Austausch von Zärtlichkeiten kommunizieren. Wir streichelten und küssten uns, aber es hielt sich in Grenzen. Wir waren ja schließlich vernunftbegabte Erwachsene und keine crazy verliebten Teenies, die ständig knutschend aneinander klebten. Nach Längerem bemerkte ich eines Abends: „Geronimo, ich finde es wunderschön so, aber der Zustand einer Tran­ce, die uns gemeinsam ins Bett hinübergleiten lässt, wodurch soll der sich denn entwickeln. Ich befürchte, dass es dazu so nicht kommen wird.“ Geroni­mo lachte und antwortete: „Ich denke auch, dass er sich durch Streicheln, Küssen und Reden nicht von selbst ergibt. Wir werden es einfach tun müssen.“ „Was meinst du, sich einfach so ausziehen und gemeinsam nackt ins Bett ge­hen? Huch, da hätte ich aber Bedenken.“ meinte ich dazu. „Wieso, würdest du dich schämen?“ wollte Geronimo wissen. „Nein, das nicht, aber ich wüsste ja gar nicht, was dann geschähe. Vielleicht bekäme ich Angst und würde am gan­zen Körper zittern, zum Beispiel.“ erwog ich. „Dann würde ich dich in den Arm nehmen und dich besänftigen.“ schlug Geronimo für diesen Fall vor. „Oder ich sagte: „Fass mich nicht an.“ Das könnte doch auch sein.“ gab ich zu bedenken. „Aber, Uta, wir fassen uns doch jetzt auch immer an. Wir zwei lieben uns doch. Gibt es eine Situation, mit der wir nicht für uns beide befriedigend fertig ge­worden wären? Warum sollte es sich im Bett anders entwickeln?“ monierte Ge­ronimo. „Du bist ein Optimist, mein Lieber. Du meinst, weil wir uns lieben, wird für uns immer alles glücklich ausgehen, selbst wenn wir uns auf etwas so völlig Unsicheres einlassen, wie einfach miteinander ins Bett zu gehen.“ sah ich es. „Uta, ich würde doch nicht kommen und sagen: „So, jetzt gehen wir miteinan­der ins Bett.“. Es müsste schon eine äußerst liebevolle Atmosphäre herrschen, in der wir unsere Liebe intensiv spüren, in der wir zärtlich zueinandern sind und glücklich darüber, dass wir uns gegenseitig gehören. Und in so einer Situa­tion würdest du dann plötzlich sagen: „Komm mit, Geronimo.““ malte Geroni­mo die Szenerie. „Komm mit, würde ich sagen und meinte, komm mit ins Bett. Das würdest du wissen und mir dann auch folgen. 'Komm mit, Geronimo' wäre also das Stichwort?“ vergewisserte ich mich. Ernst war ich schon seit Beginn des Gespräches nicht mehr, aber jetzt platzte ich los. „Das ist alles sehr schön überlegt, Geronimo, aber wenn wir zusammen ins Bett wollen, gehört dazu nicht auch Lust und sexuelles Verlangen?“ wollte ich wissen. „Und so etwas verspürst du nicht, oder?“ vermutete Geronimo. „Ich weiß nicht so recht, aber neugierig bin ich schon, und süß finde ich dich auch öfter.“ erklärte ich. „Süß? Wie kann ein Mann denn süß sein?“ Geronimo erstaunt. „Na klar, ich halte dich für großartig und unsere Liebe erwärmt nicht nur mein Herz, du verursachst auch ein Geschmacksempfinden wie süßer Honig. Oder schmecken Männer grundsätzlich alle wie Bitternüsse. Viele möchten sicher als herb und holzig gelten, aber eine süße Seele kann jeder haben, Männer genauso gut wie Frau­en.“ klärte ich Geronimo auf. „Und hat der Geschmack von süßem Honig denn etwas Erotisches?“ wollte Geronimo erfahren. „Ganz genau weiß ich das auch nicht, aber für Bären doch bestimmt, oder? Findest du an mir denn etwas Ero­tisches?“ wollte ich wissen. Geronimo umschlang mich, lachte und küsste mich. „Alles an dir,“ begann er, „aber nein, das ist zu pauschal und trivial. Wie du dich bewegst, wie du sprichst, deine Mimik und deine Art zu denken, wie du lachst und deine Freundlichkeit das wirkt anregend und animierend auf mich. Vor allem aber gefällt es mir, dein Gesicht anzuschauen. Das hat mir damals gleich beim ersten Anblick gefallen. Es ist länger, kantiger, aber keineswegs herb. Man kann auch nicht einfach sagen es wirkt nüchtern, ernst oder streng sogar und klug, es ist vielschichtig und birgt alle Möglichkeiten in sich, wie bei einer veritablen Hexe eben. Nein deinem Gesicht fehlt diese kindlich, weibliche Gefälligkeit, an der sich viele Frauen in ihrem Aussehen orientieren.“ Was soll­te ich dazu denn sagen? Handelte es sich um Komplimente? Sicherlich, aber so sah er mich eben. Und ich? Gab es für mich an Geronimo auch etwas Eroti­sches? So direkt sah ich das nicht, aber wie mich unsere Küsse berührten und wie ich es empfand, wenn er mir mit seiner Hand über den Rücken fuhr, was für andere Gefühle sollten das denn sein als erotische. „„Komm mit, Geroni­mo.“ würde ich jetzt sagen. Hast du verstanden?“ fragte ich. Hatte Geronimo offensichtlich nicht. Nachdem er kurz erstaunt geblickt hatte, fragte er verwun­dert: „Wieso? Wohin?“ „Ich dachte, du wüstest dann Bescheid. Hast du doch gesagt.“ ich darauf. „Was? Jetzt? Wir beide sollen jetzt direkt zusammen ins Bett gehen?“ „Na, siehst du, du machst es also doch nicht. Warum sagst du es dann?“ beschwerte ich mich. „Uta, ich weiß gar nicht was ich sagen soll? Ist das nicht sehr plötzlich?“ gab Geronimo zu bedenken. „Sollte es doch sein, hast du extra gesagt, ich sollte es plötzlich sagen.“ belehrte ich ihn, worauf er mich umschlang und drückte. „Du bist nicht nur die wundervollste Frau, son­dern auch die lustigste und süßeste.“ flüsterte er mir ins Ohr und biss mir an­schließend ins Ohrläppchen. „Du bist ein Kindskopf, Geronimo. Ob wir zusam­men ins Bett gehen oder nicht, das ist doch eine ernsthafte Frage.“ mahnte ich, nur ich konnte mich selbst vor Lachen nicht halten. Dass Geronimo auch nicht ganz ernst war, konnte man dem Tonfall entnehmen, in dem er sich ent­schuldigte. „Du hast Tanja gesagt, unser ganzes Leben sei von philosophischen Fragestellungen durchwachsen, nur wir hätten für alles oberflächliche, banale und zum großen Teil falsche Antworten. Siehst du es so, dass die Frage, ob wir zusammen ins Bett gehen und was dort geschieht, auch philosophische Kom­ponenten beinhaltet?“ wollte ich wissen, als wir uns auf dem Weg ins Schlaf­zimmer befanden. „Oh, Uta,“ lachte Geronimo auf, „du bist wirklich absolut ...“ Dann stockte er. Was er wohl sagen wollte? Absolut Banane etwa? „Ganz ent­scheidend, Uta. Das Zusammenleben der Menschen wird immer nur als sozio­logische Frage gesehen, aber was gäbe alles Zusammenleben für einen Sinn, wenn es die Liebe zur Weisheit nicht gäbe. Tiere wären wir. Denkst du nicht auch, dass wir im Bett sehr weise miteinander umgehen sollten.“ sah es Gero­nimo. Ich dachte nur heimlich, es würde heute Abend mit uns sowieso nichts werden, weil wir für jeden Anflug von Weisheit viel zu bekloppt wären. Trotz­dem machte es Spaß, und das war nicht nur oberflächlich albern. Wir waren ja schon ältere Menschen, aber sich gegenseitig beim Ausziehen helfen, sich da­bei entdecken und zu streicheln empfanden wir bestimmt so spannend, wie Kinder, die aufs Christkind warten. Immer wieder grinsten wir uns schelmisch an. Sich Haut an Haut nackt zu umarmen und die Körper aneinander zu drücken, das war ein ganz anderes Erlebnis und hatte mit dem gewöhnlichen Umarmen nichts gemeinsam. Bestimmt hatte es auch erotisch Wirkungen, das Primäre lag aber darin, Geronimos Körper wirklich, direkt, haptisch zu erfah­ren. Kleidung war eine Maske, die den Zugang zu seinem Körper verbarg. Jetzt waren wir zwei nackt im Bett, aber schienen gar nicht zu wissen, was wir da sollten. „Uta du bist für mich auch körperlich das Ideal einer schönen Frau.“ er­klärte Geronimo plötzlich. „Ah ja? weil ich so wirklichkeitsnah und realistisch bin, nicht wahr? Du spinnst, Geronimo, ich bin über vierzig und da ist der Kör­per einer Frau kein Schönheitsideal mehr.“ widersprach ich. „Schau mal, die Uta von Ballenstedt, die Naumburger Uta, ist schon mehrere Jahrhunderte alt. Sie wäre die Frau mit der er am liebsten Essen gehen und den Abend verbrin­gen würde, hat Umberto Eco in seiner Geschichte der Schönheit erklärt. Kannst du den Hauch eines Grundes erkennen, weshalb das für mich bei Uta von Grohmann anders sein sollte. Wenn du die oberflächlichen Kriterien einer geo­metrischen Gebrauchsästhetik anwendest, magst du Recht haben, aber mein Blick, und der Blick der Liebe generell, sieht die Schönheit wesentlich umfängli­cher.“ erklärte Geronimo. „Du siehst als auch meine schöne Seele. Ja, und der Adel, der mir innewoht. Nenn mich in Zukunft, bitte, immer von Grohmann.“ scherzte ich, „Die Uta bedeutete ja einen revolutionären Wandel in der Darstel­lung von Persönlichkeit und psychischem Ausdruck, gehört das auch zu deinen Schönheitsimpressionen bei mir? Aber du hast schon Recht, das Schöne allge­mein, umfänglich zu erkennen, das würde Platons Vorstellungen entsprechen und nicht die heute gebräuchliche Vulgärkonnotation von der sogenannten 'platonischer Liebe'. So sehe ich es auch. Dann wärst du sicher mein Ekkehard, auch wenn du zum Geschlecht der Isobaren gehörst, die ja an sich keinen äs­thetischen Wert verkörpern, aber du bist für mich das denkbar schönste Iso­bärchen überhaupt und liegst voll auf meiner Luftdrucklinie.“ kommentierte ich. „Du hast also festgelegt, dass ich zum Geschlecht der Isobaren gehörte, Vargas wäre nicht gut?“ erkundigte sich Geronimo. „Nein, dann hättest du doch mit all deinen bekloppten Verwandten das gleiche Geschlecht. Endoplas­matischer Retikulator wäre natürlich noch besser. Den hättest du gemeinsam mit deinen Genen in jeder Zelle. Etwas, das Mann heißt, suchst du in deinem ganzen Körper vergebens.“ schlug ich vor. „Aber etwas das Frau heißt gibt es bei dir auch nirgendwo.“ Geronimo dazu. „Aber Mamma, die gäbe es. Nur zum Geschlecht der Mütter oder Brüste möchte ich nicht so gern gehören. Ich könn­te mir vorstellen, dass ich zum Geschlecht der Cevennolas gehörte, das würde zu mir passen.“ erklärte ich. Natürlich musste ich erklären wieso. Wir kamen ins diskutieren wie sonst auch, nur dass wir dabei nackt im Bett saßen oder lagen, unser Gespräch von Scherzen durchzogen war, die beim Lachen jedes mal Anlass boten, sich zu umarmen. Das gefiel mir äußerst gut, aber wir konn­ten uns ja demnächst nicht vor jeder Umarmung erst ausziehen. Es war schon weit nach Mitternacht, als ich mich bemüßigt fühlte, Geronimo auf etwas auf­merksam zu machen. „Geronimo, wenn ein Mann und eine Frau zusammen ins Bett gehen, tun sie das nicht zu dem Zwecke des gemeinsamen Kopulierens?“ wollte ich geklärt haben. Geronimo lachte sich wieder schief, und ich lachte so­wieso ständig. „Uta, wenn wir zusammen ins Bett gehen, können wir tun und lassen, was wir wollen, und was uns gefällt. Gleichgültig ob wir miteinander diskutieren, die Betten aufschlitzen oder kopulieren. Es gibt niemanden, der uns da irgendetwas vorschreiben könnte.“ stellte es Geronimo dar. „Du hast schon Recht, aber sind wir denn nicht selbst davon ausgegangen, dass es dazu kommen würde?“ wand ich ein. Dazu kam es auch nach einiger Zeit, vor allem dadurch, dass wir herausgefunden hatten, dass uns die Umarmungen noch besser gefielen, wenn man sich dabei bewegte und aneinander rieb. Während des Fickens fuhr ich plötzlich auf: „Ich bin noch fruchtbar, Geronimo!“ Wir lach­ten uns schief. Ich erklärte, dass aber nichts passieren könne, weil ich morgen oder übermorgen meine Menses bekäme. Aber einfach so weiter machen ging nicht mehr. Wir sprach darüber, ob man dabei ernst sein müsse, und unterhiel­ten uns weiter. Ich war am meisten erstaunt über mich selbst, dass ich es als total angenehm empfunden hatte und vor allem auch, wie es dazu gekommen war. Es musste schon eine Art Trance gewesen sein. Dass ich in meinem nor­malen Alltagsbewusstsein derartige Bedürfnisse entwickeln könnte, war für mich wirklich nicht mehr vorstellbar. Es war aber geschehen, und es freute mich, dass dies jetzt auch zu mir gehörte. Wir brauchten uns nicht mehr zu umarmen, denn wir lagen direkt aneinander. Ich lag vor Geronimo, als ob ich auf seinem Schoß säße. Nach einigem Streicheln und Küssen, entwickelten sich diese sonderbaren Bedürfnisse wieder und wir schliefen nochmal miteinander, jetzt aber ohne Unterbrechung. Ich befand mich danach in einem anderen Land. Hier konnte man nur wonnevoll, glückstrunken lächeln, sich von Geroni­mo sanft küssen lassen und sein Wänglein zart touchieren, bevor einem die Augenlieder geschlossen wurden und der Schlaf einen auf seinen Armen da­vontrug.


Einen Dom für das neue Leben stiften

Die Nacht hatte uns verändert. Auf die körperliche Nähe, die wir unbekleidet im Bett genossen hatten, wollten wir offensichtlich auch in bekleidetem Zu­stand nicht verzichten. Allein an der Kaffeemaschine stehen, das ging nicht mehr. Tanja hatte uns gehört. Wir mussten uns hinsetzen, sie würde alles ma­chen, auch den Kaffee bekämen wir serviert. Eier sollten wir unbedingt essen, egal in welcher Form, sie würde sie uns zubereiten. „Hühnerbrühe ist auch sehr gesund und kräftigend.“ empfahl sie. „Meine liebe, allersüßeste Tanja, ich bin nicht krank, nicht schlapp und nicht bedürftig. Ich bin so gesund, fühle mich so gut und strotze vor Kraft und guter Laune wie sonst nie.“ erklärte ich lachend. Ein kurzer, musternder Blick und Tanja umschlang meinen Hals, verwuselte mir die Haare und zum Abschluss bekam ich von dem glücklich lächelnden Ge­sicht ein Küsschen auf Stirn und Nasenspitze. Handelte es sich dabei um den Initiationsritus zur Aufnahme in den Kreis der jungen, geschlechtsreifen und geschlechtstüchtigen Frauen? Um ehrlich zu sein, ein bisschen kam ich mir auch selbst so vor. Mit der alten Frau Grohmann und ihren jämmerlichen An­sichten zur Sexualität wollte ich nichts mehr gemein haben. Gehörte das auch zum neuen Leben? Aber das war ja nicht ich, die allein für sich ihr Körperbild und ihre Körperlichkeit verändert hatte. Geronimo und ich, wir hatten gemein­sam eine neue Form gefunden, unserer Liebe auch körperlich Ausdruck zu ver­leihen. Ein Adjuvans oder eine unbedeutende Beifügung war es keinesfalls. Es stärkte und förderte unser Zusammengehörigkeitsgefühl im zentralen Bereich und war ein neues wundervolles Erleben. Tanja schien es äußerst interessant und lustig zu finden, das Geronimo und ich zusammen geschlafen hatten. Sie grinste immer schelmisch. Plötzlich ließ sie kopfschüttelnd ein mahnendes: „Geronimo, Geronimo!“ vernehmen. Auf Geronimos erstaunt, lächelnd fragen­de Mimik erklärte sie: „Na, meine Mama verführen, wie kann man?.“ Noch wäh­rend wir alle lachten, reagierte Geronimo abstreitend: „Ich? Die, die, deine Mutter hat mich aufgefordert: „Kommst du, Geronimo?“ hat sie gesagt und meinte, ich solle mit ihr ins Bett kommen. Das hätte ich doch sonst niemals getan.“ „Geronimo, willst du es nicht vorziehen zu schweigen? Wenn du ein Philosoph bleiben möchtest, würde ich dir dringend dazu raten.“ empfahl ich. „Und, hat's euch gefallen? Macht ihr's nochmal?“ wollte Tanja, die ihren selbst zubereiteten Jelly Pudding schlürfte schelmisch grinsend, provokant wissen. „Stimmt, darüber haben wir überhaupt nicht gesprochen. Ich glaube aber, eher nicht. Warum sollten wir? Wir wissen doch jetzt, wie's geht.“ erwog ich, wobei sich Tanja an ihrem Jelly verschluckte. Wir machten's aber immer wieder, je­den Freitag, aber zunächst mal gingen wir spazieren. Beim Spazierengehen hatte die letzte Nacht auch ihre Spuren hinterlassen, so close together, so dicht an dicht, wie bei den Spatzen im Haselstrauch, war es sonst nicht. Liebe war ein Prozess mit dem Verlangen des Austausches in Worten, Sprache und Visionen. Zum Hören und Sehen schien jetzt das Verlangen hinzu gekommen, den Geliebten oder die Geliebte auch am Tage haptisch wahrnehmen zu kön­nen. Ganz jung musste ich geworden sein in dieser Nacht, denn ein wenig wie ein in die Jahre gekommenes Teenymädchen kam ich mir schon vor. Bestimmt war es anfänglicher Übermut, der sich mit der Zeit legen würde. Aber das Be­dürfnis, Freitagsabends gemeinsam ins Bett zu gehen, legte sich auch nicht. „Kommst du, Geronimo?“ brauchte ich gar nicht mehr zu sagen. Es war einfach üblich. „Geronimo, jeden Freitag gehen wir selbstverständlich gemeinsam ins Bett, hast du keine Befürchtung, dass es zu einem Ritual verkommen könnte?“ gab ich zu bedenken. „Ich bin immer davon ausgegangen, dass wir miteinan­der schliefen, weil es uns gefiel, weil wir es wollten. Der Gedanke, dass wir es täten, weil die Regularien eines Rituals uns dazu zwingen würden, ist mir nie gekommen. Wir brauchen ja nicht miteinander zu schlafen, wenn wir's nicht wollen. Es gibt nichts, was uns dazu zwingen könnte.“ sah es Gironimo. „Sollen wir uns dann nicht mal einfach ein wenig erzählen, uns aneinander kuscheln und ein bisschen zärtlich sein?“ schlug ich vor, und so wollten wir's heute ma­chen. Das taten wir auch, nur im Laufe der Zeit, ich weiß gar nicht genau warum, tauchten diese sonderbaren Bedürfnisse doch wieder auf. So funktio­nierte es also nicht. Am nächsten Freitag erklärte ich: „Also ich lese immer abends im Bett, wenn ich allein bin.“ Bei Geronimo verhielt es sich nicht an­ders. Folglich nahmen wir unsere Bücher und lasen. Nach geraumer Zeit er­zählten wir uns, was wir gelesen hatten. Ich sollte eine Passage vorlesen. Da­bei lag ich auf dem Bauch und das Buch vor meiner Nase. Geronimo strich mir während des Vorlesens vom Nacken bis zu den Fersen über den Rücken und wieder rauf. Beim dritten mal ließ ich den Kopf auf's Buch fallen und jammerte: „Geronimo, so wird das nix. Aber mach, bitte, weiter.“ „Das ist doch alles abso­luter Nonsens. Wenn wir Lust darauf haben, dann tun wir's eben. Warum wol­len wir versuchen, es uns selbst zu verbieten. Was schert uns ein Ritual oder nicht? Wenn wir keine Lust haben, werden wir's schon bleiben lassen.“ schimpfte ich anschließend wütend. „Genau,“ bestätigte mich Geronimo, „es ist ja auch gar nicht immer Freitag, manchmal ist es schon Samstag.“ „Ja, siehst du, ob Freitag oder Samstag, was spielt das für eine Rolle? Wahrscheinlich wol­len wir es immer, weil so lange Zeit dazwischen liegt. In einer Woche haben die Bedürfnisse genügend Zeit, um zu wachsen und anzuschwellen. Wenn wir jeden Abend zusammen wären, würden wir's mal machen, dann in den nächs­ten Tagen nicht und dann vielleicht mal wieder.“ erklärte ich, wobei sich Gero­nimo schief lachte. „Bist du dir sicher, dass deine Bedürfnisse nicht auch im Verlaufe eines Tages anschwellen könnten?“ wollte Geronimo scherzen. „Gero­nimo!“ ermahnte ich ihn böse, „für mich ist das eine sehr ernsthafte und be­deutsame Angelegenheit. Ich habe mich bei meiner Einschätzung und meinem Urteil einfach so, 'nach Gutdünken' würde man sagen, entschieden. Das gibt es aber gar nicht, dabei handelt es sich immer darum, was du meinst, wie man es so allgemein hin sehen und einschätzen würde. So sah mein Leben in vielen Bereichen aus, das tun und denken, wie's die Allgemeinheit eben so machen würde. Ich selbst kam dabei gar nicht vor, nur das ist mir überhaupt nicht be­wusst geworden. Ich hätte ja auch gar nicht gewusst, was das denn sein könn­te, was ich persönlich wirklich wollte. Mir dir zusammen habe ich es entdeckt, habe mich selbst entdeckt. Auch wenn wir scherzen und albern sind, ist es für mich doch etwas äußerst Bedeutsames, fast Heiliges.“ erklärte ich. „Sehr dane­ben, der Scherz, Entschuldigung, aber mich betrifft das nicht so direkt. „Ein Weiser prüft und achtet nich, was der gemeine Pöbel spricht.“„ erklärte Geroni­mo und lachte. „Das kenn ich. Was ist das?“ wollte ich wissen. „Zauberflöte, Tamino.“ sagte Geronimo. „Ah ja,“ erinnerte ich mich und sang ebenfalls von Tamino, „Dies Bildnis ist bezaubernd schön.“ „Nicht anders ist es für mich. „Weisheitslehre sei mein Sieg; Uta, das holde Mädchen, mein Lohn!“ zitierte Geronimo weiter. „Ich sehe das aber mittlerweile alles ein bisschen anders als in der Zauberflöte. Ein neues Leben hat für mich auch begonnen, obwohl ich immer meinte, mit meinem alten ganz zufrieden sein zu können. Wir haben ja auch darüber gesprochen, ich definierte mich über meinen Beruf. Ich war Phi­losoph, und um Philosoph zu sein, war ich geboren. Das war mein Leben, alles andere gehörte zu Entourage. Durch dich und unsere Liebe hat sich alles ver­ändert.“ erklärte Geronimo. „Jetzt musst du Freitags immer zu mir kommen.“ wollte ich scherzen. Damit hatte ich mich aber wohl vergriffen und wurde durch ein mahnendes „Uta“ gerügt. „Die Philosophie ist mir auf jeden Fall äußerst wichtig und wird es auch immer bleiben. Nur das Leben selbst ist viel umfängli­cher, reichhaltiger und vielfältiger. Wie kann da in angeeignetem, erlerntem Können und Wissen der Sinn deines Lebens liegen, der dich sagen lässt: „Dazu bin geboren.“? Du bist immer mehr als dieser formale, technologische Bereich. Du bist in erster Linie ein Mensch, der das ist, was er in der Kommunikation mit seinen Mitmenschen und seiner Umwelt geworden ist. Es gibt kein Wort, das du sprechen oder verstehen kannst, was du nicht von anderen hättest.“ erläuterte Geronimo. „Ja, aber auch wie du selbst kreativ damit umgehst.“ er­gänzte ich. „Genau.“ bestätigte mich Geronimo, „Die höchste, menschlichste und wertvollste Form der Kommunikation findet in der Liebe ihren Ausdruck. Wir haben die Liebe zwischen uns kreativ zu einem neuen Leben für uns beide gestaltet. Mein Leben befand sich in einem kleinen, festgefügten Gebäude um­schlossen von starren Mauern, unser neues Leben passt da nicht rein. Es braucht große, freie Räume und verlangt ein prächtiges Ambiente.“ erklärte Geronimo. „Ich kann sehr gut nachempfinden, was du sagst. Wie sahen denn die Wände der Hütte meines alten Lebens aus? Klappernde Bretter waren sie aus Klischees, Rollenanforderungen und Verhaltensvorgaben der Allgemeinheit. Der Mainstream mit Volkesmeinung durchströmte mein Haus. Du hast völlig Recht, da kann mein neues Leben nicht nicht stattfinden und sich entwickeln. Es ist doch menschlich so prachtvoll, das es auch prachtvolle Räu­me benötigt. Ein Schloss, eine Kathedrale vielleicht, au nein, ich weiß, unser neues gemein­sames Leben benötigt einen Dom.“ erklärte ich und lachte eben­falls wie Gero­nimo, „Ja, Uta von Grohmann und Ekkehard von Varga, bekannt als der Gero­nimo, werden ihrem neuen Leben in Liebe einen Dom stiften.“ „Wundervoll, hohe Hallen und weite Räume wären genau das was unser neues Leben ver­langte, keinerlei Einengung und keine Begrenzung, Freiheit sollte un­ser Leben haben und auch empfinden können.“ ergänzte Geronimo. „Und wir wären ge­boren, um dieses Kunst- und Wunderwerk menschlicher Gemeinsam­keit in der Liebe ständig zu erweitern und zu vervollkommnen.“ folgerte ich. „Der Dom­chor, Uta und Geronimo, würde dann in Lobpreisungen das Prinzip der Liebe verherrli­chen. Aber ich kenne nur „die Liebe ist eine Himmelsmacht.“ Wir wür­den eben neue Texte schreiben, vielleicht könnte das eine Aufgabe in unserem neuen Le­ben sein, das Prinzip der Liebe auch auf andere Bereiche des Alltags­lebens zu übertragen.“ schlug ich vor. „Aber dazu müssten die Men­schen selbst mal erst ihre wirklichen Bedürfnisse und Gefühle erkennen kön­nen.“ gab Gero­nimo zu bedenken. „Aber wenn der Domchor am Abend vorm zu Bett gehen den Abendsegen sänge, das würde doch unseren wirklichen Be­dürfnissen ent­sprechen, oder?“ wollte ich mich versichern. „Absolut. Anschlie­ßend würden wir uns zu unserer Liegestätte im Zentrum des Mittelschiffs bege­ben.“ bestätigte mich Geronimo. „Die hohen Gewölbe bildeten den gestirnten Himmel über uns und der Schatten des Mondes würde uns durch die bunten Gläser ein sanftes Schlafliedchen zuwispern.“ ergänzte ich.


Wohnungsfragen

Ein erhebendes Gefühl seine Persönlichkeit gemeinsam mit Geronimo in die­sem von uns gestifteten Dom der Liebe, der unser neues Leben symbolisierte, beheimatet zu wissen, nur Einkaufen, Putzen, Wäschewaschen, Kochen, Bü­geln und Müllentsorgen fanden weiter in den gleichen angestammten Räum­lichkeiten des Alltags statt, wie wir es bislang immer schon gewohnt waren. „Mama, weiß du, ich hab mal gedacht.“ begann Tanja. Immer begann Tanja so. Es war ihr Introiusritual, wenn sie mit mir Kontakt aufnehmen, etwas be­sprechen wollte. Das hatte sie sich schon in früher Kindheit angewöhnt. Natür­lich war ich die Mutter und sie die Tochter, ich die Erwachsene und sie das Kind. So war es auch gut, und daran wollte niemand etwas ändern, aber ich habe Tanja niemals wie ein unmündiges Kind behandelt. Das hätte ich auch gar nicht gekonnt, denn mein Unbewusstes musste sie wohl ohne meine exak­te Kenntnis zu so etwas Ähnlichem wie einer kleinen Heiligen stilisiert haben. Folglich waren wir ein Team, ein Team von Beraterinnen. Das hatten wir nie of­fiziell erklärt, aber wir verfuhren so. Dass wir Kombattantinnen waren im ge­meinsamen Kampf gegen die Widrigkeiten des Alltags, wo immer sie sich zeig­ten und in jeder Form, in der sie auftraten, dass hatten wir amtlich beschlos­sen. Wenn Tanja erklärte, dass sie mal gedacht habe, konnte dem alles folgen, alltäglich Triviales genauso wie schwerwiegendste Probleme, oder einfach ein paar Sätze, mit denen sie verdeutlichte, dass sie gerne mit mir schmusen wür­de. Heute hatte sie sich mal gedacht: „Es ist doch nicht verständlich, dass Ge­ronimo nicht bei uns wohnt. Hier hätte er doch sogar viel mehr Platz als bei sich. Warum zieht er nicht zu uns?“ Ich erklärte, dass man so etwas Neele und auch Geronimo nicht antun könne. Sie seien zwar nicht verheiratet, aber es bestünde eine so lange liebevolle Beziehung zwischen den beiden, dass es äu­ßerst weh tun würde, genauso als ob man ein sich über Jahre liebendes Paar auseinanderrisse. Völlig gelogen war das ja nicht, aber die Idee, dass Geroni­mo ja auch zu uns ziehen könnte, hatten meine Gedanken noch nicht gewagt, zu entwickeln. Tanja ging auf meine Erklärung gar nicht ein. „Uns gefällt es doch allen, wenn wir am Samstagmorgen gemeinsam frühstücken. Würde es uns am Freitag, Donnerstag, Mittwoch, Dienstag und Montag etwa nicht gefal­len? Du liebst es am Freitagabend nicht allein ins Bett zu gehen, sondern freust dich, dass Geronimo da ist. An den anderen Wochentagen gefällt es dir aber besser, allein zu sein? Mama, warum versagen wir uns diese Freude. Sonst wa­ren wir auch immer zu dritt. Das war doch viel besser.“ argumentierte Tanja. Widersprechen konnte ich ihren Argumenten nicht, nur würde das eine andere Welt bedeuten. Jetzt gehörte unsere Welt von Montag bis Freitag Tanja und mir. Wir waren die Alleinherrscherinnen, und das gefiel uns doch, warum soll­ten wir daran etwas ändern wollen. Dass Geronimo am Wochenende kam, war ja wunderschön, aber wenn er immer hier wäre, würde das meine Welt verän­dern, und danach konnte ich kein Verlangen verspüren. „Du hast nur Angst, dass du kontrolliert wirst.“ tönte Tanja giftig, da ihr meine Reserviertheit sicher nicht verborgen geblieben war, „Wenn dich einer kontrollieren könnte, dann wäre ich das. Aber dein geliebter Geronimo kontrolliert der etwa Neele? Das könnte der überhaupt nicht, andere Menschen kontrollieren. Geronimo weiß al­les, aber niemals weiß er etwas besser und sagt dir, was du zu tun oder zu denken hättest.“ „Jetzt weiß ich endlich, warum ich ihn liebe.“ scherzte ich. „Aber dann können wir ihm doch auch nicht sagen, was er zu tun hat. Nein, ohne Scherz, für mich ist es eine bedeutsame Frage, die ich nicht jetzt hier ad hoc beantworten kann. Vor allem aber kommt es doch auf Geronimo an, wie er es sieht. Vielleicht schließt er es für sich völlig aus, anders als jetzt leben zu wollen, dann waren unsere Überlegungen sowieso für den Wind.“ erklärte ich. Tanjas Beratungsbedarf in der Angelegenheit 'Gemeinsam leben mit Geronimo' schien gedeckt. Vielleicht wollte sie ja auch nur meine Ansicht erkunden. „Ge­ronimo, alles ist völlig offen. Was auch immer du sagst, alles ist absolut kor­rekt, ich wollte mit dir nur mal darüber reden, weil Tanja es angesprochen hat. Sie fände es nicht schlecht, wenn du auch bei uns wohnen würdest. Wäre das für dich vorstellbar?“ erkundigte ich mich. „Ich weiß, mit mir hat Tanja auch schon öfter darüber gesprochen.“ erklärte Geronimo, und ich dachte nur: „Aha, sie mal die Gangster!“ sagte es aber natürlich nicht. Er habe auch schon mit Neele darüber gesprochen, die habe es lapidar abgetan und erklärt, dass sie damit gerechnet habe. Er hätte es angezweifelt. „Schau mal, Geronimo, diese Welt ist nicht für die Ewigkeit, und von allem, was auf ihr geschieht währt nichts ewig. Unser Zusammenleben gefällt mir zwar äußerst gut, aber dass es ewig so bleiben könnte, davon bin ich nie ausgegangen.“ hat Neele gesagt. Ich glaube fast, mir fällt es schwerer als ihr. Neele geht fest davon aus, dass es nach dem Abitur mit Tanjas Studienplatz in Köln klappt, und Tanja dann zu ihr zieht. Da freuen sich beide jetzt schon drauf.“ wusste Geronimo, und ich konn­te nur staunen. Hinter meinem Rücken hatten diese Gangster schon fast alles organisiert und mich erst als letzte halbherzig ins Benehmen gesetzt. Vermut­lich hatte Tanja dazu geraten, weil sie mich für den problematischsten Unsi­cherheitsfaktor hielt. „Tanja fände es nicht schlecht, wenn ich auch bei euch wohnen würde, aber du schon?“ vermutete Geronimo und lachte. „Du machst dich über mich lustig. Warum tust du das?“ fragte ich ernst. „Uta, seit wann verstehst du keinen Spaß mehr?“ Geronimo darauf. „Spaß ist das nicht, für mich wenigstens nicht. Geronimo, dass nicht nur meine Augen sich freuen, dass es meine Gefühle anhebt und mein Herz erwärmt, wann immer ich dich sehe, jederzeit und überall, darüber brauchen wir doch nicht zu reden, doch es gibt auch etwas Schwerwiegendes, das mit dir nichts zu tun hat. Nie wieder wollte ich mit einem Mann zusammenleben. Das sollte in meinem Leben kei­nesfalls mehr vorkommen. Dieser feste Entschluss hatte schon etwas mit mei­nen Erfahrungen zu tun aber nicht ausschließlich. Selbständig und eigenständig wollte ich mein Leben führen und dabei nicht immer auf die Bedürfnisse eines anderen Rücksicht nehmen müssen. Dann bist du nicht mehr frei, sondern ab­hängig. Es ist aber doch mein Leben, für das nur ich allein verantwortlich bin, und das ich so gestalten will, wie es mir gefällt. Niemand hat mir da reinzure­den oder Rücksichtnahme zu fordern. Frei sollte mein Leben sein, frei und nur mir selbst gehören, immer, für den Rest meines Lebens. Neele und du, ihr mögt in eurer WG ähnlichen Struktur jeder für sich unabhängig euer eigenes Leben haben, aber bei einer Liebesbeziehung, ist es doch selbstverständlich, dass du auf den anderen Rücksicht zu nehmen hast. Ich glaube, es wird mich zerreißen. Einerseits möchte ich nichts lieber als dich immer bei mir haben, was aber meinen Vorstellungen völlig zuwider liefe.“ erläuterte ich. Geronimo schwieg und schaute ins Leere. Wahrscheinlich versuchte er gerade zu verdauen, was er von mir gehört hatte. „Uta, ich glaube, dass ich gut nachempfinden kann, was du gesagt hast, aber sind das denn nicht die Bilder und Klischees aus deinem alten Leben? Nein, nein, das ist ja heute verbreitete Alltagsrealität, dass in Beziehungen Herrschaftsverhältnisse existieren. Meistens dominiert der Mann.“ begann Geronimo. „Genau, das wollte Frank auch. Eine Ungeheuerlichkeit war das. Jeder hätte mir alles sagen können, aber nicht Frank. Ich glaube, ich habe ihn nie so richtig für voll genommen. Liebe war das doch schon, habe ich wenigstens gemeint. Bestimmt gab es etwas an mir auszusetzen oder zu bemängeln. Jede und jeder hätten das erkennen dürfen, nicht aber Frank. Dass er meinte, es doch zu können, war für mich der Gipfel. Was er gesagt hat, war schon schlimm, aber dass es dieser Junge war, der sich mir gegenüber erdreistete, das hat mich zur Weißglut gebracht. Ich glaube, Herrschaft gab's da ganz eindeutig, aber die durfte nur bei mir liegen.“ fiel mir dazu ein. „Auch wenn es sehr häufig der Fall ist, die Liebe nimmt dadurch Schaden, wenn sie nicht schon geschädigt ist. Herrschaft ist etwas, das dem Prinzip der Liebe völlig zuwiderläuft. Hier gibt es nur selbstloses und zweckfreies Geben und Beschenkt werden, Dominanz und Unterordnung, ein Oben und Unten kommen da nicht vor, würden überhaupt nicht passen und zerstörten das Prinzip.“ erläuterte Geronimo. „Du sagst, alle Menschen suchen Liebe, das glaube ich auch, nur genauso scheinen sie nach Herrschaft und Dominanz zu suchen. Viele Paare, die lange zusammen sind, werden gar nicht mehr wissen, was das ist 'Liebe'. Sie haben sich einfach an das Leben mit dem Papa als Chef gewöhnt. Liebe zu verlieren, das ist schlimm, aber direkt danach kommt es, angestammte Gewohnheiten aufgeben zu sollen.“ versuchte ich mich. „Du meinst, wenn wir unsere Liebe verlieren, ist das nicht so schlimm, denn unsere Gewohnheiten zu pflegen, wird uns auch gefallen.“ interpretierte mich Geronimo und lachte. Ernst bleiben konnte ich auch nicht. Das mahnende „Geronimo!“ klang daher auch eher gespielt, „Wenn du weiter so redest, werde ich es mir besser doch nochmal überlegen.“ „Du hast dich also schon entschieden?“ fragte Geronimo nach. „Ja, aber mit unsicherem Herzen. Ich konnte der Verlockung nicht widerstehen.“ antwortete ich. „Uta, wir müssen die Perspektive wechseln. Du hast nur alles Nachteilige aus einem Zusammenleben dargestellt. Wir leben doch schon zusammen im Dom unseres gemeinsamen Neuen Lebens. Fühlst du dich da etwa unfrei oder behindert durch Rücksicht nehmen müssen?“ begann Geronimo. „Ja, in unserer ideellen Welt.“ sinnierte ich. „Nein, Uta, unser neues Leben ist doch nichts Ideelles. Wir wollen unsere Liebe gemeinsam kreativ weiterentwickeln und fördern. Das sollten wir am Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag auch tun, in allem was wir machen. Der oder die andere ist nicht jemand der die eigene Freiheit einengt, sondern sie weiterentwickeln und ausdehnen hilft. Ich sehe unser Zusammenleben als einen Gewinn für uns beide, der mir allein versagt wäre. Willst du dir nicht überlegen, ob du es für dich auch so sehen könntest?“ fragte Geronimo. Tanja kam herein. „Ach, übrigens, Tanja, Geronimo, wird demnächst zu uns ziehen.“ erklärte ich. Mit: „Ach, ja?“ reagierte sie nur, als ob ich gerade die trivialste Banalität dieser Welt verkündet hätte. Ich blickte sie an und erklärte mit lachender Mimik: „Du Hexe.“ Jetzt lachte Tanja auch. „Ja, Mama, ich habe gedacht: „Das macht die nie.““ Geronimo und Tanja mussten intensive Blicke wechseln. Eine Siegerfaust hatten sie nicht hochgereckt, aber die Mimik von beiden sagte genau das. Ein kurzer Moment noch, und Tanja viel Geronimo um den Hals. Prüfend schien Tanja meine Würdigkeit zu mustern, bevor sie erklärt: „Du auch, Mama. Es ist dir mit Sicherheit nicht leicht gefallen.“ und mich ebenfalls umarmte. „Ihr Triefnasen,“ schimpfte Tanja, „das ist doch absolut das Größte, und ihr sitzt hier und palavert nur. Das müssen wir doch feiern.“ „Und wie? Mit Singen und Tanzen und Wein und Bier und Kola saufen?“ wollte ich geklärt haben. „Ich glaube, das wird nix mit euch beiden. Ihr seid viel zu trottelig. Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Ich würde zum Beispiel für alle einen Jelly spendieren.“ schlug Tanja vor. „Au ja, eine Wackelpeter Party.“ freute sich Geronimo. „Sag das nicht Geronimo. Das ist ein hässliches deutsches Wort, kling wie von dem alten Sachsenherzog mit der Axt aus dem Wald geschlagen. Es gibt in der deutschen Sprache viele so unharmonische Wörter. Das scheint aber niemanden zu stören. Die Brüder Grimm haben bestimmt fleißig gearbeitet, aber man hätte die deutsch Sprache lieber von Komponisten auf Harmonie, Rhythmus und Wohlklang überprüfen lassen sollen.“ postulierte Tanja. Sprache, ihr Klang, ihre Entstehung war zum heißen Thema mit absolut unterschiedlichen Ansichten geworden. War das die Party? Mir fiel plötzlich ein: „Tanja, wo bleibt denn eigentlich dein Jelly?“ Es wurde klar, dass für uns nicht Tanzen und Saufen die Höhepunkte einer Party darstellen konnten, sondern dass unsere Party am besten aus einem kontroversen Diskurs zu bestehen hatte. Tanja würde das nie können, was ich gebracht hatte, einen anderen Menschen herabwürdigend zu behandeln, weil er etwas gesagt hatte, was ihr missfiel oder was sie für falsch hielt. Aus der Schule müsste sie es doch eigentlich gewohnt sein, es war doch gängige Praxis, auch von Lehren gegenüber Schülerinnen und Schülern. Dass es nur an Geronimo lag, konnte nicht sein, auch wenn die beiden jetzt die Kombattanten waren im Kampf gegen die Widrigkeiten, die Uta ihren Plänen in den Weg legen könnte. „Wirst du schon vor Weihnachten zu uns ziehen? Au ja, mach das doch.“ wünschte sich Tanja. „Ihr beide wollt nur gemeinsam auf's Christkind warten.“ kommentierte ich. „Au, Mama!“ Tanjas Reaktion und zu Geronimo, „Das ist dir sicher auch schon aufgefallen. Ich glaube, die möchte manchmal ein Kind sein, damit sie immer nur Quatsch und Blödsinn machen kann.“ „Du magst keine Kinder, oder?“ mutmaßte Geronimo. „Doch, schon, aber so alte?“ Tanja darauf. „Du liebst Kinder, weil sie so offen, ehrlich und direkt sind. Das bist du auch manchmal, nein öfter, nein meistens. Ich finde, dass du und Uta, ihr beide euch in sehr vielem ähnlich seid, wie Zwillinge. Hast du das von Uta geerbt, oder dir im Laufe des Lebens angeeignet? Es könnte ja auch sein, dass Uta etwas von dir übernommen hat.“ wollte Geronimo erfahren. „So wird es sein. Ich werde alles von Tanja übernommen haben. Sie ist nämlich bei uns die Vordenkerin.“ erklärte ich. „Siehst du!“ verwies Tanja Geronimo auf mein Verhalten. „Was würde dir denn besser gefallen? Eine ernste, griesgrämige Frau, wäre dir die als Mutter lieber?“ wollte Geronimo wissen. „Nein, Lust auf Jux hat Mama eigentlich immer wohl gehabt. Es gab aber auch Zeiten, in denen sie meistens ernst war und nicht viel Lust hatte, Spaß zu machen. Aber in letzter Zeit ist es ja ganz schlimm geworden. Ob das am Alter liegt? Wird man da kindischer?“ mutmaßte Tanja. „Sag so etwas nicht. Das ist böse. Uta geht es gut. Sie ist glücklich. Kennst du das denn nicht von dir selbst, dass du bei Glück und Freude übermütig werden kannst, und Lust auf Scherzen und Albernes bekommst?“ mahnte und erklärte Geronimo. „Wegen dir ist das, von dir kommt es, dass sie so glücklich ist, nicht wahr?“ vermutete Tanja. Geronimo und ich lachten nur stumm. „Wenn du bei uns bist, machst du dann, dass ich auch glücklich werde?“ wollte sie noch weiter erfahren. Nachdem wir ausgelacht hatten, bemerkte Geronimo: „Tanja, immer wenn ich dich sehe, kommt es mir vor, als ob du jetzt auch schon glücklich wärst. Außerdem wollten du und Neele doch auch zusammen glücklich werden.“ „Schon, aber das ist noch so lange hin. Neele wird über ein Jahr lang ganz allein sein.“ jammerte Tanja. „Du und Geronimo, ihr werdet Neele nicht öfter besuchen, nein? Ich werde sie jedenfalls häufiger zu uns einladen.“ machte ich klar. Tanja und Neele hatten sich auch gleich bei Neeles erstem Besuch ineinander verliebt. Wenn jemand sagt, er braucht dir nur in die Augen zu schauen, und er kennt deinen Charakter, dann ist das genauso ein Humbug als wenn er sagt, er könne deine Zukunft in den Linien deiner Hand erkennen. Aber Neele musste, wenn sie mit Fremden zusammenkam, etwas sehen können, was uns und anderen Menschen verborgen blieb. Ihr gelang es, mit wenigen Worten das Vertrauen des anderen zu erwecken, und sie wusste sofort, wodurch sie ihn zum Lachen bringen konnte. Auf Tanja hatte das auch gewirkt. Sie hatten sofort sehr intime, ernste Gespräche geführt, in deren Zusammenhang Tanja Neele gewarnt hatte, dass es ratsam sei, als Frau nie leichtfertig apodiktische Aussagen bezüglich Männern zu verkünden. Mit der Zeit wurde immer häufiger gelacht, bis die beiden sich nur noch vor Lachen bogen. So kannte selbst Geronimo Neele nicht. Ich mochte Neele auch. Das Geronimo keine engere Beziehung zu ihr hatte, sondern sogar das Bestehende verkommen ließ, konnte ich nicht verstehen. Neele war nicht nur klug und gebildet, sie war kommunikativ äußerst kompetent und sozial sehr aufgeschossen. Zumindest uns gegenüber. Sie wirkte auch allgemein recht attraktiv und hätte sicher mit Leichtigkeit an jedem Finger zehn Männer haben können. Aber wer will das schon? Nicht wenigen ist schon einer allein zuviel Mann, so wie's bei mir ja auch war. Aber mit Neele und einem Mann, das würde auch sowieso nicht funktionieren, weil sie menschlich immer die Überlegene wäre. Irgendwann spürt ein Mann das doch, und ertragen kann es so gut wie keiner.


Weihnachten begehen

Neele war für den ersten Weihnachtstag eingeladen. Da sollte es ein opulentes Festmal geben, das wir gemeinsam geplant hatten und gemeinsam zubereiten wollten. Eine große Session, bei der man nicht wusste, worin das größere Er­lebnis bestand, in der Zubereitung der Speisen oder ihrem Verzehr. Entweder haben die Menschen im abendländischen Kulturkreis ein Weihnachtsgen oder es müssen in frühester Kindheit während des Gehirnwachstums schon Weihnachtsbahnen gewachsen sein. Auch wenn du den ganzen sentimentalen Weihnachtskitsch verurteilst und ablehnst, aber Heiligabend einfach als Donnerstagnachmittag empfinden, das geht nicht. Der Tonfall der Gespräche klingt samtener und der Rhythmus getragener. Die Mimik ist bereit, jederzeit ein freundliches Lächeln zu präsentieren. Am Wissen, dass jetzt Heiligabend ist, kann es allein nicht liegen. Im tiefsten Unbewussten muss es verankert sein, den ganzen Menschen, seinen Körper, sein Denken und Handeln und vor allem sein Empfinden, in weihnachtliche Wohlstimmung zu bringen. Es mag tausend Arten geben, sich zu freuen, aber die Weihnachtsfreude hat eine spezielle Natur. Du kannst dich über tolle Geschenke oder das köstliche Essen freuen, aber die eigentliche Weihnachtsfreude ist das nicht. Sie ist eine Zirkelfreude, eine Freude ohne Grund. Der einzige Grund besteht darin, dass jetzt Weihnachten ist, und da freut man sich, weil Weihnachten ist. Das ist dauerhaft und setzt sich kontinuierlich fort. Doch spätestens in der Nacht nach dem zweiten Weihnachtstag wird der Freude plötzlich der Faden abgeschnitten. Warum und wodurch weiß niemand ganz genau, aber es ist doch schade, dass die Menschen sich nicht auch nach Weihnachten grundlos freuen können. Diese anhaltende Freude außerhalb von Weihnachten zu erzeugen, ist noch nie jemandem in nennenswertem Umfang gelungen. Wir freuten uns auch am Heiligabend. Es musste schon bei jeder und jedem von uns Glückshormone freisetzen, dass wir vier heute so harmonisch zusammen sein konnten. Ruben musste seine neuesten Erfahrungen und Erlebnisse präsentieren, und wir hörten gespannt und kommentierend zu. Ein Ersatz für die Weihnachtsgeschichte? Ein allgemeines Gespräch entwickelte sich daraus, bei dem viel gelacht wurde. Anders konnte es gar nicht kommen. Nur sonnig und lieb wie das liebe Jesuskindlein, so musste man sich schon verhalten. Es war eben Weihnachten.

Am zweiten Weihnachtstag kam jede und jeder der konnte und wollte. Wir hat­ten ein großes Büfett bestellt, aber das würden die Kinder schon leer futtern. Tanja war die Tagesdirektorin der Damen und Herren aus der jüngeren Gene­ration. Sie konnte nicht nur mit detaillierten Kenntnissen über den Wert, die Herstellung und den Genuss von Jelly Pudding brillieren, sondern verriet auch ihre Informationen aus dem geheimen Wissen über die Liebe zwischen Frau und Mann. Pias temporärer favorite lover war Cellist bei den Philharmonikern. Er hatte sein Instrument zwar nicht dabei, aber wenn er sprach, konnte man nur schwer sagen, ob es sich um seine Worte, oder die Klänge seines Cellos handelte. Köstlich, wie eine Oper empfand ich das Gespräch mit ihm. Er würde gewiss auch nicht zu einem der gebräuchlichen Männerklischees passen. „Wenn er statt des Cellos dich im Arm hält, beginnst du dann auch zu klingen?“ wollte ich von Pia wissen. Sie stutzte kurz und tönte dann lachend: „Absolut, aber absolut, meine Liebe.“ „Und bei euch bleibt es jetzt immer so?“ fragte sie. „Pia, bei uns ist nichts so, das immer so bleiben könnte. Es gibt keinen Zu­stand, den wir konservieren wollten. Du siehst eine schöne Blume, aber das ist nur die Erscheinung. Tatsächlich ist bei ihr alles immer in Bewegung. Sie lebt. Wenn das zum Stillstand kommt, verwelkt sie und stirbt. Bei der Liebe ist das kein bisschen anders. Sie ist ein Prozess des gegenseitigen Austausches, ist Teil deines Lebens, muss selbst lebendig sein. Wenn sie zum Stillstand kommt, und du sagen kannst: „So ist es.“, ist sie tot.“ Pia dachte nach. „Ich komm dich mal besuchen, dann können wir noch weiter darüber reden.“ sagte sie dann. Alena war natürlich immer über alles informiert. „Geronimo, der sitzt aber mit dir auf deinem Floß.“ vermutete Alena scherzend und lachte. „Alena, wir befinden uns doch gar nicht mehr in Seenot. Wir sind gerettet, sind an Land gegangen. 'Unser Land' heißt das Land, wo wir angekommen sind. Für unser gemeinsames neues Leben haben wir schon einen Dom gestiftet und errichtet.“ stellte ich klar. Alena schien gar nichts klar. Ihre schelmisch, skeptische Mimik und ihre fragenden Augen, sagten, dass sie nähere Erläuterungen wünschte. „Na, in den alten Baracken aus von Mainstream angespülten Treibgut kann doch unser neues Leben kein Zuhause mehr finden.“ begann ich und erklärte dann weiter. Wir standen uns dicht gegenüber. Alena hörte nur zu und ihre Gesichtszüge formten die Sonne eudämonistischer Wohlgemutheit. Alena legte ihre Arme um meine Taille. „Der 'Hans im Glück' trug auch einen Goldklumpen in seinen Armen, bei mir ist das jetzt kein bisschen anders. Nur das Gold von dem Hans bestand aus dem materiellen Metall und war letzten Endes doch nicht von so großem Wert. Mein Goldklumpen besteht aus purem Glück, dem Kostbarsten was es überhaupt gibt auf dieser Welt. Niemals darfst du auch nur ein einziges Gramm davon verkaufen. Egal, was man dir auch immer dafür bieten mag.“ sagte sie. Zwischen unseren Gesichtern bestand noch eine geringe Distanz, aber die Augen in unserer lächelnden Mimik sagten uns, dass es die zwischen unseren Seelen nicht mehr gebe. „Du hast schon Recht. Ich denke, dass bei sehr vielen Menschen die Persönlichkeit in ärmlichen Verhältnissen untergebracht ist. Aller Prunk und Glamour können darüber nicht hinweg täuschen. Es gibt sogar immer mehr Leute, die für sich nie ein Haus, eine Heimat gefunden haben. Sie sind gänzlich unbehaust, versuchen in den Ersatzwohnungen der allgemeinen Oberflächlichkeit unterzukommen und bezeichnen dies dann als ihr Zuhause, als ihre Heimat. Eigentlich brauchte jeder frei Mensch große Räume, in denen er seine Gedanken frei ausleben lassen kann, nur wer kann das schon von sich behaupten, wirklich frei zu sein. Ihr werdet es in eurem neuen Leben soweit wie möglich versuchen, nicht wahr?“ erklärte Alena.


Lucy schlug vor, im Sommer in Schottland zu wandern, da sei es zwar nicht so warm, aber die schottische Urtümlichkeit habe auch ihren besonderen Reiz. „Im Sommer? Da hat Tanja gerade ihr Abitur, aber die wird sowieso mit Neele auf Weltreise sein, oder vielleicht fahren sie auch ins Sauerland. Bei den bei­den weiß man nie. Nur Schottland, das ist doch öde. Mit Macbeth und seiner Frau sind gewiss auch die Hexen tausendmal auf den Bühnen dieser Welt ge­storben.“ äußerte ich meine wenig lustvolle Ansicht. „Aber Nessie, Nessie gibt’s doch noch in Schottland.“ wusste Marie. „Das ist in der Tat ein unglaubliches Phänomen, oder nein, es ist ganz natürlich und typisch menschlich.“ erklärte ich. „Da haben Wissenschaftler bewiesen, dass es so ein Urviech nicht geben kann. Trotzdem suchen sie den ganzen See ab mit hochsensibelsten Sensoren und Tauchgeräten. Nichts. Nur die ortsüblichen Fische. Aber es gibt immer noch Leute, die felsenfest behaupten, Nessie gesehen zu haben.“ „Deine Augen mögen vielleicht ehrlich wie Filmkameras sein, aber dein Kopf sagt dir, was du siehst, und der lässt dich nur das sehen, was du sehen willst.“ erklärte Lucy dazu. „Beim Hören ist es doch kein bisschen anders.“ meinte Marie, „Du hörst das, was du hören und gehört haben willst. Selbst beim Denken, ist es da denn viel anders? Es folgt deinen Wünschen, und in der gesamten Wissenschaft taugen viele Untersuchungen nichts, weil der Herr Professor alles so arrangiert hat, dass die Untersuchungsergebnisse seine vorgefasste Meinung bestätigten. In der Pharmaindustrie ist das doch auch heute nicht anders. Kein angesehener Wissenschaftler wird etwas feststellen, das der Firma nicht gefallen könnte. Dann war das sein letzter Auftrag.“ „Es scheint in der Tat so,“ sinnierte ich, „dass Wirklichkeit das ist, was in unseren Köpfen geschaffen wird. Die tatsächliche Wirklichkeit interessiert uns nicht besonders.“ „Ich könnte ja etwas dazu sagen, aber ich höre lieber euch drei Grazien zu.“ bemerkte Geronimo. „Chauvi!“ schimpfte ich, und Lucy fragte mich ernst: „Bist du an einen Chauvi geraten?“ Vor Lachen konnte ich nicht antworteten, obwohl Gespräche unter Frauen über Männer einen besonderen Stellenwert haben. Unabgesprochen und unerklärt scheint jede Frau zu spüren, dass der Level ihrer Gesprächsebene weit oberhalb der Seins- und Denkweisen von Männern angesiedelt ist. Aber das gilt nur für diese Gespräche unter Schwestern. Auf andere Bereiche übertragen können Frauen das nicht. Marie schien der Chauvi auch nicht zu stören. Ihre Mimik zeigte ein Wonnelächeln, und es ist nicht auszuschließen, dass es seinen Grund auch darin hatte, dass Geronimo sie unter den drei Grazien subsummiert hatte. Geronimo sollte doch etwas zur Wirklichkeit sagen, bat sie ihn. „Es gibt zwei philosophische Richtungen, die gegensätzliche Ansichten zur Wirklichkeit vertreten. Aber man sollte es am besten mit Demokrit halten.“ begann Geronimo. „Demokrit? Ist das nicht der mit den Atomen?“ unterbrach ihn Marie. „Genau,“ fuhr Geronimo fort, „der hat schon vor zweitausend Jahren erklärt: "In Wirklichkeit erkennen wir nichts; denn die Wahrheit liegt in der Tiefe." „Ganz Recht, in der tiefsten Tiefe von Loch Ness, da wo auch Nessie wohnt und wo unsere Träume, Wünsche und Sehnsüchte ihr Zuhause haben. Das sind doch auch Wahrheiten, unsere Träume, Wünsche und Sehnsüchte, nicht wahr, Geronimo?“ vermutete Lucy. „Nein, nein, nein. Nicht das jetzt.“ wehrte Geronimo ab, der wohl ein philosophisches Kolloquium befürchtete. „Lass uns doch lieber übers Christkind reden, da kann ich sicher noch viel von euch lernen.“ schlug er lachend vor. „Beim Christkind sind die Weisen und das Kind durch einen Stern zusammengeführt worden, wie war das denn bei euch? Hat euch auch ein Stern zusammen gebracht?“ wollte Marie wissen. „Ich weiß nicht, nach oben habe ich gar nicht geschaut. Es war ja Abend und ziemlich dunkel in Pias Garten. Da sah ich Geronimo. Er war für mich das Licht in der Finsternis.“ erklärte ich. „Und du, Geronimo, war es für dich auch so?“ fragte Lucy. „Natürlich, warum wohl sollte ich sonst zu ihr gefahren sein? Weil ich die Flamme suchte.“ antwortete Geronimo. „Aber jetzt herrscht doch bei euch gar keine Finsternis mehr.“ erkundigte sich Lucy näher. „Das ist schon so, aber durch die Abwesenheit von Finsternis allein werden die Tage nicht hell und glücklich strahlend. Dazu bedarf es schon der faszinierenden Leuchtkraft von Geronimos Wesen und Denken.“ erläuterte ich. Weil ich lachte, lachten die anderen auch, aber untergründig empfand ich es nicht ausschließlich als lächerlich überzogen, ein bisschen kam es mir schon so vor. Dass wir im Sommer nach Schottland mussten war klar, auch wenn das mit der Wirklichkeit noch längst nicht hinreichend geklärt war.


Tanjas neue Mutter

Tanja war es jetzt, die beim Aufräumen, nachdem die letzten Gäste gegangen waren, nur Nonsens redete und albernen Blödsinn machte. Als sie erklärte, es sei frauenfeindlich, dass sie noch nie zu Weihnachten einen Panzer geschenkt bekommen hätte, alle Jungen bekämen Panzer geschenkt, vermutete ich: „Dir geht’s gut, meine Liebe, Erniedrigte und Diskriminierte, nicht wahr. Woran liegt's?“ „Na, war doch alles klasse, oder find'st du nicht?“ Tanja darauf. „Du meinst Weihnachten, und was hat dir da so gut gefallen?“ erkundigte ich mich. „Ach, einfach alles insgesamt. Das passte doch ausgezeichnet zusammen. Aber auch alles einzelne war stark. Wir vier allein zusammen, das war doch wohl echt groovy, und mit Neele kochen war das denn nicht der Hammer, aber auch heute, die Madames samt Anhang das war doch absolut lustig. Die Mira von der Lucy ist übrigens total gut drauf, blickt alles sofort und ist irre lustig. Wir wollen uns demnächst treffen. 'ne absolut helle Lady.“ erläuterte Tanja. „Kein Wunder, sie hat ja auch 'ne helle Mutter.“ ich darauf. Tanja blickte unde­finierbar, und ich ergänzte: „Im Gegensatz zu dir.“ Als ob es bei ihr klick ge­macht hätte, schaltete sie um auf lebhafte Mimik. „Aber liebste Mama Uta, das denkbar hellste Team, das sind doch wir beide. Wer wollte das denn wohl jemals bezweifeln.“ erklärte sie zwar mit lächelnder Mimik, aber es war reinster Aus­druck von Liebe, der sie diese Worte sprechen ließ. Gern hätte ich Tanja ange­fasst, meine Liebste berührt. Als Kind hätte ich sie gestreichelt, bei deinem Mann geht das auch, nur bei jungen, pubertierenden Damen gibt es da ein Tabu, die mögen das in dieser Zeit gar nicht. „Lucy hat auch etwas zu dir ge­sagt. Sie meinte das überaus anerkennend und positiv, aber ob es dir gefällt, da bin ich mir nicht so sicher.“ erklärte ich. „Du machst mich neugierig. Erzähl schon, was sie gesagt hat.“ forderte Tanja. „Lucy meinte, du hättest so eine natürliche erotische Ausstrahlung. Du seist das Idealbild eines natürlichen, wirklichen Menschen. So eine Tochter hätte sie auch gern.“ erzählte ich. „Die blöde, kann sich doch bei Mira wohl nicht beschweren.“ kommentierte Tanja. „Ich habe sie gefragt, was sie denn für dich bieten würde. Nein, mit Geld seist du nicht zu kaufen. Da müsse sie schon etwas anderes bieten, ihren Mann zum Beispiel. „Ja, ja.“ sagte sie sofort, „wie oft denn?““ berichtete ich. Wir lachten, und Tanja fragte: „Bei den beiden läuft's nicht richtig, oder?“ „Lucy sagt, sie hätten unterschiedliche Entwicklungen gehabt, seinen andere Menschen ge­worden, nicht mehr die von früher, und sie seien sich selbst auch andere ge­worden. Dabei habe sich die große Liebe verflüchtigt. Sie sind ja beide sehr ge­bildete, freundliche Menschen und mögen sich auch gut leiden, aber mehr eben nicht. „Das bekommst du niemals wieder hin, kannst nichts zurückdrehen und zu reparieren ist da eh nichts.“ sagt Lucy.“ erläuterte ich. „Das kapier ich nicht.“ meinte Tanja forsch, „Vier Jahre sehen Omi und ich uns nicht. Dann sag ich ihr: „Es hat sich so vieles geändert in den vier Jahren, tut mir leid, mit Lie­be da ist jetzt nichts mehr.“ Pf, ich lach mich tot. Liebe verschwindet doch nicht einfach.“ „Ich glaube, Liebe kann schon sehr unterschiedlich sein. Natür­lich jede Liebe ist bei jedem Menschen immer unterschiedlich, aber ich meine es gibt Liebe, die sehr fundiert und komplex ist, und andererseits Liebe, die sich eher im temporären emotionalen Überschwang bewegt. So etwas ist natürlich fragiler und mit der voraussichtlichen Dauer haperts da auch.“ erklärte ich. „Eure Liebe bewegt sich aber doch voll im emotionalen Überschwang.“ sah es Tanja. „Wir, wieso das denn, wir sind doch immer absolut bieder und distinguiert.“ protestierte ich. „So äußerlich vielleicht schon, aber wenn du von Geronimo sprichst oder nur an ihn denkst, bist du emotional voll ausgebucht.“ bewertete es Tanja. Ich musste lachen. „Vielleicht handelt es sich dabei um ein zusätzliches Sahnehäubchen, aber tiefgründig und umfassend war unser Liebe schon, als wir noch gar nicht wussten, dass es sich um Liebe handelte. Wir haben schon am Abend bei Pia, als wir uns kennenlernten, gleich unsere Seelen ausgetauscht.“ wusste ich zu erläutern. Tanja schmunzelte. „Weißt du, dass du für mich auch eine ganz andere geworden bist?“ begann Tanja, „Natürlich warst du immer eine Frau, eine Frau, die auch liebte, Ruben, Alena und mich, aber eine Frau, die einen Mann liebt, zärtlich zu ihm ist, mit ihm ins Bett geht, ihn begehrt, die gab es nicht, das warst du nicht. Diese Frau ist neu geboren worden. Sonderbar war es schon, aber sie gefällt mir. Jetzt gehört sie immer mit dazu, ist Teil des Bildes, das sich mir zeigt, wenn ich 'Mama' sage. Das ist wundervoll und gut so. Etwas von der Liebe verloren gegangen? Absoluter Quatsch. Umfänglicher wäre das falsche Wort, aber ich glaube, unsere Liebe hat durch die Veränderungen ein fülligeres Volumen erhalten.“ Eine ernste Mimik zeigten unser beider Gesichter und nur ein sanftes, verständnisvolles Lächeln zierte sie, als wir uns schweigend anblickten. „Wem das Herz voll ist, der schweigt, wenn er weise ist, und nicht „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“, eine dumme und falsche Redensart, nicht wahr?“ begann ich. „Ja, es ist absolut geil, dass wir miteinander reden können, aber verstehen würden wir uns auch so.“ ergänzte Tanja. Jetzt hatten wir aber beide gegenseitig nach unseren Händen gegriffen, die auf dem Küchentisch lagen. Mit zärtlich Sein und liebevollem Streicheln hatte das auch nichts zu tun. Ein Ausdruck der Verbundenheit war es, nicht 'Brüder reicht die Hand zum Bunde', sondern Uta und Tanja, denn die Freude schöner Götterfunken war uns beiden garantiert.


Tanja, Geronimo und Uta gemeinsam

Die Mnestik, das Gedächtnis, ist den Menschen doch freundlich gesonnen, auch bei mir. An meine unmöglichen Verhaltensweisen hatte ich zwar manchmal denken müssen, aber im Alltag unserer Familie tauchten Erinnerungen an Frank nicht auf. Tanja, Ruben und ich, wir gehörten dazu, das war unsere Fa­milie. Als Ruben ging, riss es einen Krater auf, und es benötigte einige Zeit, bis für Tanja und mich das Leben zu zweit glücklich und selbstverständlich war. Aber Geronimo? Na klar, als Neuen konnte man ihn nicht bezeichnen. Er war ja am Wochenende immer bei uns gewesen, aber jetzt, jeden Tag und jederzeit? Das war doch sehr ungewohnt und sonderbar. Dazu gehört hatte er bislang nicht, aber jetzt sollte das plötzlich selbstverständlich sei. Immer war Geroni­mo da, auch abends im Bett, jeden Abend. Ich konnte immer nach ihm greifen. Mein Teddy hatte früher auch immer griffbereit bei mir im Bett gelegen. Aber Geronimo war warm und glatt und fleischig, und zu allem Überfluss konnte er auch noch sprechen. In meinen Teddy damals hatte ich abends immer viele Gefühle von Liebe, Sanftheit und Zärtlichkeit investiert, bei Geronimo überkam mich manchmal das Bedürfnis, alles in ihn zu investieren, was mein Gefühlshaushalt zu bieten hatte. Schön war es schon, dass ich erwachsen geworden war. Jeden Abend einen Geronimo bei dir im Bett zu haben, das geht ja sonst nicht. Auch tagsüber war dieser Mensch immer anwesend und konnte mich einengen und Rücksichtnahme fordern. Da war ich nicht die einzige, die es so gesehen hatte. Sieh es wie die anderen, dann ist es bestimmt falsch, das konnte man ja nicht behaupten, aber dass es mit dir persönlich nichts zu tun hat, dass es nicht aus dir selbst resultiert, das stimmt immer. Mein praktisches Handeln hatte daher auch mit den Theorien über das Zusammenleben keine Berührungspunkte. Ich fühlte mich nicht durch Geronimo eingeengt, sondern nutzte ihn aus. Bei allem und jedem, was ich tat und dachte, fragte ich Geronimo: „Siehst du das nicht auch so?“ oder „Bist du da ganz anderer Ansicht?“ „Uta, du nervst mit deiner trivialen Fragerei.“ hätte Geronimo sagen können. Aber nein, genau das tat er nicht, sondern machte es ebenso wie ich. Überall und immer suchte er Bestätigung und fragte mich nach meiner Meinung. Entscheidungsunsicherheit, Bedarf an Bestätigung, sich vergewissern? Damit hatte das alles nichts zu tun. Neckische Spielereien waren es einer amourösen, kommunikativen Kontaktaufnahme und -pflege. Neu und ungewohnt war unser Leben durchs Geronimos permanente Präsenz schon geworden, aber keinesfalls in unangenehmer weise. Ob und wann wir sagen würden: „Geronimo gehört selbstverständlich dazu wie Tanja und ich.“, wer wollte das schon festlegen. Um die Zeit des Frühstücks waren wir auch immer alle in der Küche gewesen. Tanja und Ruben hatten immer noch etwas nachzuschauen oder einzupacken, jeder kümmerte sich um sich selbst. Die Hektik, die dabei herrschte, nahm ich gar nicht wahr. So wahr es eben üblich. Aber Geronimo, morgens hektisch in der Küche? Ihn erst liebevoll wecken, denn die Frequenzen des Summens meines Weckers konnten Geronimos Schlaftiefen niemals erreichen, und anschließend hektischer Morgenkaffe? Zu Tanja passte es genauso gut nicht. Sie wollte keinen Wecker, der sei schrill, krächzend und nervig. Ein Wecker wolle die Menschen beim Wachwerden vergrämen, während ich ihr den neuen Tag zeige, wenn ich sie wecke. Beim Abendbrot waren wir drei zwar in der Regel auch immer zusammen, aber das gemeinsame Frühstück glich einem Hochamt unseres Zusammenseins. Nicht das Frühstück war das Bedeutsame, wir drei wollten den Tag jeder mit den anderen beginnen. „Als Kind hatte ich Geigenunterricht.“ erzählte ich, „Alena und ich, wir warteten immer bis die andere fertig war. Wir redeten ein paar Worte und gingen nach Hause. Nichts war passiert, aber für mich waren es die bedeutendsten Momente der Woche. Alles andere war normaler Alltag. Die Liebste treffen, einfach nur gemeinsam mit der Liebsten zu sein, die Gefühle sind so gravierend, dass sie durch nichts übertroffen werden können. Daran muss ich denken, wenn wir hier zusammen sind und gemeinsam den Tag beginnen.“ „Sonst war ich morgens meistens erst ziemlich brummig. Beim Zeitunglesen am Kaffeetisch verflog das. Jetzt lese ich keine Zeitung mehr beim Frühstück, aber ich kann auch gar nicht mehr brummig sein.“ erklärte Geronimo, „Wenn ich meine Augen aufschlage, sehe dein Gesicht mit der vom Schlaf zerzausten Wuschelmähne und deine Lippen, die sich langsam auf meine zubewegen, will sich die Brummigkeit einfach nicht einstellen. Das funktioniert absolut nicht.“ „Früher haben die Leute immer vor Freude getanzt, wenn sie zusammenkamen. Heute ist das alles reglementiert. Ich empfinde unser gemeinsames Frühstück symbolisch wie einen Begrüßungsfreudentanz, wir begrüßen gemeinsam den neuen Tag.“ erläuterte Tanja ihre Empfindungen. „Ja den neuen Tag sehe ich auch. Ich denke dabei aber keineswegs daran, was mich heute beim RP oder sonst wo erwarten könnte. Meine Gedanken sind nur hier bei uns. Ich sehe die Sonne aufgehen, und das bleibt so. Jeder Tag, den wir gemeinsam beginnen, ist für mich ein Sonnentag.“ legte ich meine Assoziationen dar.


Schweres Leben

Auch wenn trotz Regen, Schnee und Eiseskälte bei uns immer die Morgenröte herrschte, waren wir doch froh, als die Tage kamen, an denen die Strahlen der Sonne wieder die nötige Wärme mitbrachten, sodass wir draußen auf der Ter­rasse sitzen konnten. „Der Tee ist ein Symbol für das Leichte, Sanfte, Zartlebi­ge, deshalb lieben die Menschen ihn so. Er stellt eine Alternative zur Schwere und den Qualen ihres Alltagslebens dar.“ verkündete Tanja. Kurze Pause. „Ah ja, verrätst du uns denn auch, wo das Schwere und die Qualen in deinem Le­ben liegen?“ wollte ich wissen. „Na, ist doch klar. Gehst du etwa aus Lust und Freude zum RP? Du musst. Etwas Schöneres als die Schule kann ich mir nicht vorstellen? Zwangsweise gehe ich hin, weil es keine Alternative gibt. Bei dir, Geronimo, da weiß man ja nicht so genau, aber es gibt doch für dich auch si­cher vieles, was du lieber bleiben ließest, wenn du es nicht müsstest. Alles nur Pflichten und Verpflichtungen. Ja und der ganze Haushaltskladderadatsch, ist da etwas dabei, wonach es deine Libido drängt? Immer nur notwendig, muss, soll, zu allem bist du gezwungen, das ist das Schwere.“ erläuterte Tanja. Gero­nimo hörte nur interessiert zu. „Und wenn wir beide miteinander reden, zu wel­cher der sieben Qualen gehört das für dich?“ fragte ich launig. Tanja sah mich nur grinsend an. Sie sagte nichts. Das ich etwas dazu sagen würde, war ihr klar. „Du hast völlig recht, Tanja, man muss schon einiges zur Aufrechterhal­tung der Lebensverhältnisse tun, aber das müssen sie alle, jeder Mensch. Das bin nicht ich, mit mir persönlich hat das nichts zu tun. Das ist das Leben von allen, aber mein Leben das bin ich persönlich, da wo ich der Mensch, Uta Groh­mann, bin und es schon von Geburt an war. Das ist der Mensch, der mit seinen Mitmenschen und seiner Umwelt kommuniziert. Daraus bin ich geworden, und das bin ich auch heute noch. Das ist mein Leben. Eine Qual ist es nicht, es ge­fällt mir und macht mir sehr viel Freude. Ich lebe mein Leben gern und beson­ders da, wo die Kommunikation am intensivsten und emotional tiefgreifendsten ist, in der Liebe. Schwere und Qualen dominieren nicht mein Leben. Ich fühle mich äußerst wohl und bin glücklich.“ erklärte ich. „Die absolute Eudaimonia also.“ meinte Geronimo, „Dazu könnte man allerdings schon unterschiedliche Vorstellungen haben.“ „Es ist mein Leben, und nur ich weiß, dass es glücklich ist. Das war nicht immer so, aber jetzt bin ich sicher, dass es so ist, und das lasse ich mir durch keine Kritik am Eudämonismus ausreden.“ bestärkte ich meine Ansicht. „Grundsätzlich ist das aber nicht möglich. Es hat lange Zeiten und viele Menschen gegeben, und es gibt sie ja heute auch noch, für die be­stand das Leben hauptsächlich aus Not, Hunger, Krankheiten und Tod.“ kom­mentierte Geronimo. „Das streite ich doch gar nicht ab. Aber immer und über­all haben die Menschen auch Lieder gehabt, und die beklagten nicht nur die Qualen und Nöte. Mensch wollen sich freuen, wo immer auf der Welt, ein wirk­liches menschliches Bedürfnisse, das Gefühl von Freude zu erleben.“ erklärte ich. „Ja, und diese grundverlogene Kirche hat den Menschen erklärt, sie sollen sich freuen, wenn's ihnen hier schön dreckig geht, dafür geht’s ihnen dann nach dem Tod umso besser.“ steuerte Tanja bei. Sie war eine absolute Kir­chenhasserin und sah in der Verlogenheit und Widernatürlichkeit der katholi­schen Kirche die Basis aller Verlogenheit und Unaufrichtigkeit in der Kultur un­seres Lebens heute. „Und weshalb trinken wir dann Tee?“ fragte Tanja scher­zend. „Weil Tee genau zu meinem Leben passt. Er stellt das Äquivalent dar. Er verkörpert den harmonischen Gleichlang, in dem sich mein Leben auch gestal­ten soll.“ erklärte ich. „Ich weiß nicht,“ meinte Tanja, „Leben ist auch eins von die­sen Sammelwörtern mit unterschiedlichsten Konnotationen, nur wenn du vom Leben eines Mensch sprichst, meine alle das Gleiche, was mit der Geburt be­ginnt und mit dem Tod endet. Es ist ja in gewisser weise auch richtig. Meine Gene werde ich nie ändern können, aber mein Leben im Kindergarten und jetzt, das soll das gleiche Leben sein? Ich denke, du führst als anderer Mensch ein Leben in anderen Welten. Die Tanja aus der Grundschule, das bin ich nicht mehr. Mein Kinderleben ist vorbei. Ein anderes Leben hat mit der Pubertät be­gonnen.“ „Jetzt hat für dich das Erwachsenenleben, dein zweites Leben begon­nen?“ erkundigte ich mich. Nein, so sehe ich das nicht. Ich denke es ist ein Le­ben als junger Mensch, das bis etwa fünfundzwanzig dauern wird, und dann beginnt das Erwachsenenleben, in dem du dich jetzt befindest.“ berichtigte mich Tanja. „Ich war in meinem Leben als fünfundzwanzigjähriege Frau aber sehr dumm, hielt mich für klug, intelligent und gebildet, verstand aber nichts.“ erzählte ich. Tanja wollte es natürlich erläutert haben. „Ich dachte, wie sie alle dachten und kam mir toll vor, wenn ich den Anforderungen in besonderem Maße entsprach. Überheblich war ich, aber der Durchblick fehlte mir absolut. Da hat sich ja auch alles entwickelt mit Familie und dem anschließenden großen Clash. In meinem neuen Leben danach, wäre alles anders, dachte ich. Für die abgeklärte, weise Frau hielt ich mich, die alles kannte und alles erlebt hatte. Absoluter Unfug, in meinem Denken und meinen Ansichten war ich total die Gleiche geblieben, nur hatte ich massive Enttäuschungen erlebt. Ein neues Leben gibt es nicht, du bleibst dir selbst immer erhalten. Aber du hast völlig Recht, das muss nicht so sein. So wie du nicht mehr die Tanja aus dem Kinder­garten bist, so bin ich nicht mehr die abgeklärte Frau mit dem enttäuschten Liebesleben.“ erklärte ich meine Lebenswandlungen.


Verbrüderung auf dem Rasen

Richtig heiß war es schon Ende April. Ich schlug vor, den Tisch und die Sessel doch von der Terrasse ins Gras zu setzen und dort unseren Tee oder Kaffee zu trinken. „Wozu das?“ meinte Tanja, „Wir nehmen uns einfach zwei Decken und legen uns ins Gras.“ „Au ja, da können wir gleich ein Sonnenbad nehmen.“ er­gänzte ich scherzend. Ungewohnt war es schon, als wir drei nebeneinander auf dem Rasen lagen. Links lag ich, Geronimo rechts und das Guerillakind in der Mitte. Geronimo fand es wohl auch lustig und witzelte, wie so oft, mit Tanja. Plötzlich schien es eine Rauferei zu geben. Was gesagt worden war, hatte ich gar nicht mitbekommen. Ich erlebte nur wie Geronimo lachte und Tanja sich auf ihn schwang, um ihn weiter intensiv zu kitzeln. „Tanja, Tanja!“ flehte er nur im Lachen. Tanja beugte sich zu ihm runder und blickte Geronimo intensiv an. Nicht mit voller Lautstärke und fast würdig getragen sprach sie dann: „Ge­ronimo, weißt du, dass ich dich auch sehr, sehr mag?“ Eine kleine Pause, dann fuhr sie fort: „Ich kann das sehr gut verstehen, dass Uta sich in dich verliebt hat.“ und nach kurzer Unterbrechung, „Du bist ein guter Mensch“. Jetzt lächtel­te Tanja. „Und süß bist du manchmal auch ein bisschen.“ fügte sie mit launi­gem Gesicht hinzu. „Wie süßer Honig?“ schlug Geronimo fragend vor. „Das vielleicht auch, aber ich würde eher sagen, wie Himbeerjelly, das ist fruchtiger, frischer, lebendiger. Das passt besser zu dir. Mit breitem Grinsemund blickten sie sich gegenseitig in die Augen, die nur sagen konnten, wie tief sich Tanja und Geronimo verstanden, und bevor Tanja von Geronimo herunterstieg, er­klärte sie noch: „Geronimo, wenn Mama mal nicht da ist, gehört die Nacht uns, nicht wahr?“ „Vieles war zwar lustig, aber ich glaube es war sehr bedeutsam.“ erklärte ich, als wir ausgelacht hatten. „Das war doch eine Erklärung, dass Ge­ronimo jetzt zu deinem engsten Beziehungskreis gehört, nicht wahr?“ vermu­tete ich und Tanja nickte Bestätigung. „Darf ich wissen, wer noch dazu gehört?“ fragte Geronimo. „Na, ich natürlich und Ruben.“ antwortete ich. „Und Omi“ warf Tanja ein. „Und mit Neele, wie ist es da, gehört die auch dazu?“ er­kundigte ich mich. „Demnächst wahrscheinlich.“ erklärte Tanja. „Ein kleiner er­lauchter Familienkreis also ganz dicht an deiner Seele. Und ich gehöre jetzt auch dazu. Danke Tanja“ sagte Geronimo. Er hatte sich dabei halb aufgerich­tet, schräg über Tanja gebeugt und gab ihr einen richtigen Kuss. Nein, Verle­genheit war es nicht, die Tanjas leicht verwunderte Mimik formte, eher ein we­nig überraschendes Glück. Sie meinte später, dass sie und Geronimo jetzt noch enger und selbstverständlicher zusammengehörten als ohne Kuss. „Aber, Tan­ja, einen kleinen Wermutstropfen bei der Verbrüderung mit Geronimo gibt es doch. Bei ihm weiß man nie, wie lange es anhalten wird. Er lehnt den ganzen Italien-Hype seiner Verwandten zwar ab, aber in seinen Adern fließt italieni­sches Blut und da ist man sich nie sicher. Wenn ich ihm eines Tages mit Goe­the zuflüstern werde:


„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl? Dahin!
Dahin möcht' ich mit dir,
O mein Geliebter, ziehn.“


wird er nicht widerstehen können und mir folgen müssen.“ warnte ich. „Oh, Mama,“ stöhnte Tanja über meinen Scherz auf, „hast du vergessen, was Gero­nimo Lucy und Marie erklärt hat? Für dich gilt es offensichtlich in besonserem Maße: "In Wirklichkeit erkennen wir nichts; denn die Wahrheit liegt in der Tie­fe."“


Epilog

Es musste sich um ein originär menschliches Gefühl handeln, dass ich es lieb­te, sinnierend allein bei einer Tasse Tee auf der Terrasse zu sitzen, aber es handelte sich gewiss um die assoziierten Empfindungen, die ich damit verband. Ausgeglichenheit, Ruhe, warmer Tee und frei fliegende Gedanken, geben dir das Gefühl, selbst leicht abgehoben über dem zu schweben, was dich in der Technologie des Alltags bewegt. Allerdings sinnierte ich nicht mehr über Hun­ger und Durst oder die sexuellen Bedürfnisse. Vor allem aber träumte ich nicht mehr davon, Geschehenes ungeschehen machen zu wollen. Ich hatte es nicht verarbeitet, konnte in meinem Leben keine Harmonie entwickeln. Der authen­tisch lebende Mensch, den Geronimo in mir erkannt hatte, war ich im Alltag nie gewesen. Primär hatte ich mich an den Rollenerwartungen der Allgemeinheit orientiert, was notgedrungen zu Disharmonien führte. Keineswegs lebte ich im Einklang mit mir selbst. Doch die Uta, die ich vor zwei Jahren sah, gab es nicht mehr. Es hatte sich so vieles für mich verändert in dieser Zeit. Aber war es so nicht überhaupt. Ständig verändert sich etwas und nicht erst im Rückblick von zwei Jahren. Nur du nimmst es gar nicht wahr. Lebst den Tag, als ob es der von gestern oder vorgestern gewesen sei. So konnten sich die Tage für mich nicht mehr abspielen. Keineswegs schleppte ich meine Last jeden Tag ein Stück weiter, aber ich wollte ihn immer wie eine neue wundervolle Etappe erle­ben, einen Schritt weiter auf dem Weg zum Glück, dass wir letztendlich nie voll erreichen werden, aber jeder Schritt auf dem Weg ist auch schon mit Glücks­gefühlen verbunden. Ein neues Leben hatte sich für mich mit Sicherheit entwi­ckelt, auch wenn ich mich selbst und meine Geschichte hatte mitnehmen müs­sen. Wenn ich Geronimo morgens wachküsste, und er Augen und Mund zu ei­nem noch schlaftrunkenen Lächeln formte, zeigte sich ihm die aufgehende Sonne, die neue Sonne dieses unseres neu beginnenden Tages. Nicht ein einzi­ger Tag durfte sich so entwickeln oder gestalten, dass wir ihn später lieber un­geschehen gemacht hätten. „Neues Leben heißt, neu denken.“ hatte Alena ge­sagt. Gewiss dachte ich anders als damals, aber bei mir hatte es mit neuem Handeln und neuer harmonischer Kommunikation begonnen. Mit Liebe, die sich meiner bemächtigt hatte, obwohl ich es doch eigentlich nicht wollte.

Mit Marie und Lucy in Urlaub zu fahren, brachte garantiert tiefgreifende Er­kenntnisse und emotional gewichtige Erfahrungen mit sich. Urlaub mit Geroni­mo, wozu? Jeder Tag war Urlaub mit Geronimo. Aber vielleicht konnten wir ja bei den Leuten in der Auvergne auch wie Georges Brassens Hinweise auf den schlichten, wirklichen und guten Menschen erhalten, oder in Griechenland neue Ansichten zu Behausungsformen entwickeln, wenn wir nach Spuren suchten, wo sich die Tonne des Diogenes befunden haben könnte. Ich hatte Lust, Gero­nimo und mich an anderen Orten und in anderen Zusammenhängen zu erle­ben. Vielleicht gab es ja noch außerhalb unseres gewöhnlichen Horizonts Spu­ren des Denkens und Seins, die sich nur Geronimo und mir in gemeinsamem Bemühen offenbaren würden.

 

FIN

 

"To be true to myself, to be the person that was on the inside of me, and not play games. That's what I'm trying to do mostly in the whole world, is not bullshit myself and not bullshit anybody else."

Janis Joplin

 

„Geronimo, ich finde es wunderschön so, aber der Zustand einer Trance, die uns gemeinsam ins Bett hinübergleiten lässt, wodurch soll der sich denn entwickeln. Ich befürchte, dass es dazu so nicht kommen wird.“ Geronimo lachte und antwortete: „Ich denke auch, dass er sich durch Streicheln, Küssen und Reden nicht von selbst ergibt. Wir werden es einfach tun müssen.“ „Was meinst du, sich einfach so ausziehen und gemeinsam nackt ins Bett gehen? Huch, da hätte ich aber Bedenken.“ meinte ich dazu. „Wieso, würdest du dich schämen?“ wollte Geronimo wissen. „Nein, das nicht, aber ich wüsste ja gar nicht, was dann geschähe. Vielleicht bekäme ich Angst und würde am ganzen Körper zittern, zum Beispiel.“ erwog ich. „Dann würde ich dich in den Arm nehmen und dich besänftigen.“ schlug Geronimo für diesen Fall vor. „Oder ich sagte: „Fass mich nicht an.“ Das könnte doch auch sein.“ gab ich zu bedenken. „Aber, Uta, wir fassen uns doch jetzt auch immer an. Wir zwei lieben uns doch. Gibt es eine Situation, mit der wir nicht für uns beide befriedigend fertig geworden wären? Warum sollte es sich im Bett anders entwickeln?“ monierte Geronimo. „Du bist ein Optimist, mein Lieber. Du meinst, weil wir uns lieben, wird für uns immer alles glücklich ausgehen, selbst wenn wir uns auf etwas so völlig Unsicheres einlassen, wie einfach miteinander ins Bett zu gehen.“ sah ich es. „Uta, ich würde doch nicht kommen und sagen: „So, jetzt gehen wir miteinander ins Bett.“. Es müsste schon eine äußerst liebevolle Atmosphäre herrschen, in der wir unsere Liebe intensiv spüren, in der wir zärtlich zueinander sind und glücklich darüber, dass wir uns gegenseitig gehören. Und in so einer Situation würdest du dann plötzlich sagen: „Komm mit, Geronimo.““ malte Geronimo die Szenerie. „Komm mit, würde ich sagen und meinte, komm mit ins Bett. Das würdest du wissen und mir dann auch folgen. 'Komm mit, Geronimo' wäre also das Stichwort?“ vergewisserte ich mich. Ernst war ich schon seit Beginn des Gespräches nicht mehr, aber jetzt platzte ich los. Gab es für mich an Geronimo auch etwas Erotisches? So direkt sah ich das nicht, aber wie mich unsere Küsse berührten und wie ich es empfand, wenn er mir mit seiner Hand über den Rücken fuhr, was für andere Gefühle sollten das denn sein als erotische. „„Komm mit, Geronimo.“ würde ich jetzt sagen. Hast du verstanden?“ fragte ich. Hatte Geronimo offensichtlich nicht. Nachdem er kurz erstaunt geblickt hatte, fragte er verwundert: „Wieso? Wohin?“ „Ich dachte, du wüstest dann Bescheid. Hast du doch gesagt.“ ich darauf. „Was? Jetzt? Wir beide sollen jetzt direkt zusammen ins Bett gehen?“ „Na, siehst du, du machst es also doch nicht. Warum sagst du es dann?“ beschwerte ich mich. „Uta, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll? Ist das nicht sehr plötzlich?“ gab Geronimo zu bedenken. „Sollte es doch sein, hast du extra gesagt, ich sollte es plötzlich sagen.“ belehrte ich ihn, worauf er mich umschlang und drückte. „Du bist nicht nur die wundervollste Frau, sondern auch die lustigste und süßeste.“ flüsterte er mir ins Ohr und biss mir anschließend ins Ohrläppchen. „Du bist ein Kindskopf, Geronimo. Ob wir zusammen ins Bett gehen oder nicht, das ist doch eine ernsthafte Frage.“ mahnte ich, nur ich konnte mich selbst vor Lachen nicht halten. Dass Geronimo auch nicht ganz ernst war, konnte man dem Tonfall entnehmen, in dem er sich entschuldigte. „Uta du bist für mich auch körperlich das Ideal einer schönen Frau.“ erklärte Geronimo plötzlich. „Ah ja? weil ich so wirklichkeitsnah und realistisch bin, nicht wahr? Du spinnst, Geronimo, ich bin über vierzig und da ist der Körper einer Frau kein Schönheitsideal mehr.“ widersprach ich. „Schau mal, die Uta von Ballenstedt, die Naumburger Uta, ist schon mehrere Jahrhunderte alt. Sie wäre die Frau mit der er am liebsten Essen gehen und den Abend verbringen würde, hat Umberto Eco in seiner Geschichte der Schönheit erklärt. Kannst du den Hauch eines Grundes erkennen, weshalb das für mich bei Uta von Grohmann anders sein sollte. Wenn du die oberflächlichen Kriterien einer geometrischen Gebrauchsästhetik anwendest, magst du Recht haben, aber mein Blick, und der Blick der Liebe generell, sieht die Schönheit wesentlich umfänglicher.“ erklärte Geronimo. „Du siehst also auch meine schöne Seele. Ja, und der Adel, der mir innewohnt. Nenn mich in Zukunft, bitte, immer von Grohmann.“ scherzte ich, „Die Uta bedeutete ja einen revolutionären Wandel in der Darstellung von Persönlichkeit und psychischem Ausdruck, gehört das auch zu deinen Schönheitsimpressionen bei mir? Aber du hast schon Recht, das Schöne allgemein, umfänglich zu erkennen, das würde Platons Vorstellungen entsprechen und nicht die heute gebräuchliche Vulgärkonnotation von der sogenannten 'platonischer Liebe'. So sehe ich es auch. Dann wärst du sicher mein Ekkehard, auch wenn du zum Geschlecht der Isobaren gehörst, die ja an sich keinen ästhetischen Wert verkörpern, aber du bist für mich das denkbar schönste Isobärchen überhaupt und liegst voll auf meiner Luftdrucklinie.“ kommentierte ich.

 

Utas Stiftung – Seite 42 von 42

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Tag der Veröffentlichung: 03.07.2014

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